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Unsere Erde steckt seit Anbeginn der Zeit voller mystischer Geheimnisse. Ihre Bewohner wissen wenig bis gar nichts darüber, denn Primus, Oberhaupt aller Schutzwächter, und Angelo Corondall, Hüter der Elemente, haben es sich zur Aufgabe gemacht, die Menschen vor jeglicher Gefahr zu beschützen. Insbesondere der, die aus dem tiefsten Kern des Indemalum aufzusteigen versucht. Als Angelo nach über 20 Jahren Frieden von Pater Janus, seinem einzigen menschlichen Verbündeten, die schreckliche Nachricht überbracht bekommt, dass Er zurück ist, muss er trotz aller weltlichen und familiären Umstände einen Weg finden, um seine Allianz, die Balance-Wächter, wieder vollständig zusammenzuführen. Wird es ihm gelingen, Feuer, Wasser, Eis, Luft und Erde im Kampf gegen seinen Erzfeind und dessen graugeflügeltes Gefolge aufzustellen und werden ihnen andere Allianzen mit besonderen Fähigkeiten zur Seite stehen? Wird sich die Prophezeiung einer alten Schriftrolle erfüllen oder wird die Erde, wie wir sie heute kennen, schachmatt gesetzt?
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Seitenzahl: 681
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Ein guter Anfang ist die halbe Arbeit
Auf zu neuen Ufern
Familienangelegenheiten
Pizza und andere Probleme
Die Wahrheit kann schmerzhaft sein
Entscheidungen
Wer ich bin
Metamorphose
Niemandsland
Tot oder lebendig
Die gute alte Zeit
Als das Wasser Feuer fing
Die nächste Instanz
Alte Gesetze, neue Regeln
Mein Wille ist dein Wille
Russisch Roulette
ÜBERSICHT
Auf einer alten Schriftrolle stand Folgendes geschrieben:
Wenn die Erdenzeit gekommen ist, in der Feuer und
Wasser das erste Mal aufeinanderprallen, werden sich die
Elemente mit all ihrer Kraft verbinden. Das
temperamentvolle und leuchtend heiße Feuer dringt in die
zarte Gefühlswelt des beruhigenden und klaren frischen
Wassers ein. Kontaktfähigkeit entsteht, die keinerlei
Realitätssinn dieser Welt mehr erfordert.
<< Feuer brennt in Wasser – Wasser fließt in Feuer >>
Das Universum selbst zählt die Energie beider Elemente
von diesem Tage an als eine, damit daraus in einer
Nachtgleiche, eine neue Schöpfung entstehen kann.
Genau das ist es, was wir jetzt gebrauchen könnten, dachte sich Angelo Corondall, der Anführer der Balance-Wächter. Es war für ihn unfassbar, dass er heute Abend diese unerfreuliche, wenn nicht sogar schreckliche Nachricht von seiner geflügelten Botin überbracht bekommen hatte. Pandora, die kleine weiße Brieftaube, war darauf abgerichtet worden, einen zusammengerollten Zettel in ihren Schnabel aufnehmen zu können und damit zu ihrem Heimatschlag, in ihrem Fall ein großer goldener Käfig, zurückzufliegen. Dabei nutzte sie den Stand der Sonne und Sterne, sowie das Magnetfeld der Erde, als Kompass. Vielleicht verwendete sie aber auch nur rein optische Anhaltspunkte, das kann leider niemand so genau sagen.
Dass ihr Name der heutigen Überbringung alle Ehre machen sollte, konnte Angelo beim bloßen Öffnen allerdings noch nicht wissen.
Während Pandora in ihrem Käfig damit begann, ihre Belohnungskrümel zu picken, las er die Worte, die in dem Brief standen.
Nach über zwanzig Jahren Frieden auf der Erde schien das Gleichgewicht zum ersten Mal wieder ernsthaft in Gefahr zu sein.
Pater Janus, Vorstand des ortsansässigen Mönchsordens und einziger menschlicher Vertrauter von Angelo, berichtete in seinem Brief, den er immer in seinem Klostergarten einer Wächterstatue in die gefalteten Hände legte, davon, dass die Menschen in Atlanta vermehrt von ‚Vorfällen‘ sprachen. Viele kamen von alleine zu ihm und klopften sogar des Nachts noch an die Tore. Andere riefen ihre Erlebnisse lautstark in die Messe, ehe sie auf Knien vor dem heiligen Altar zusammenbrachen und darum beteten, nicht vollkommen wahnsinnig zu werden.
Pater Janus war bemüht, sie mit der derzeit vorherrschenden Sommerhitze zu beruhigen, doch die Familie, die es gestern am Rande der Stadt erwischt hatte, konnte selbst er nicht mehr täuschen.
Aus dem vorläufigen Protokoll ging folgendes hervor: Der Vater hörte mitten in der Nacht seltsame Geräusche. Deshalb stand er auf und nahm sein Schrotgewehr aus dem Schrank heraus. Wenn es sich um Einbrecher handeln sollte, dachte er, dann würde es hoffentlich ausreichen, sie mit einem Warnschuss in die Flucht zu schlagen. Als er kurz darauf die große Holztreppe hochgehen wollte, musste er für einen Moment innehalten. Wieder und wieder schloss und öffnete er die Augen, denn was er da sah, konnte unmöglich sein.
Eine riesige Kratzspur führte an der Wand entlang bis in den unteren Bereich des Hauses. Familienbilder hingen schief oder waren mehrfach durchtrennt worden.
Plötzlich bellte draußen im Garten der dort angeleinte Schäferhund.
Der Vater lief so schnell er konnte die Treppe hinunter, öffnete ruckartig und ohne lange zu zögern die Terrassentür, trat ins Freie und blickte sich, mit dem Gewehr im Anschlag, nach allen Seiten um. Ein kurzer Knall durchdrang die Stille der Nacht, doch es handelte sich dabei nicht um einen versehentlich abgefeuerten Schuss, sondern um die gläserne Tür, die hinter ihm wieder zugedrückt wurde. Als er sich umdrehte, musste er erschrocken zusehen, wie diese, wie von Geisterhand, mit dem schweren Eichenholztisch des Wohnzimmers verbarrikadiert wurde.
Als Nächstes konnte er mit Erschrecken beobachten, wie ein übernatürlich großer Vogel, oder vielleicht sogar eines dieser Fabelwesen, die man sonst nur in diversen Büchern finden kann, und die meist nur der zu lebhaften Fantasie des Menschen zugeordnet werden, sich unglaublich schnell die Treppe nach oben bewegte.
Erst als der Vater die Schreie seiner Frau und kurz darauf die seiner beiden Söhne vernahm, veranlasste ihn das durch Panik aufkommende Adrenalin zu handeln.
Da die vordere Haustür wie jede Nacht verschlossen war, versuchte er mit dem Gewehrgriff das Glas der Terrassentür einzuschlagen.
Vergeblich!
Der große Blumentopf aus Keramik hingegen brachte diese zum sofortigen Zersplittern.
Der Vater schwang sich über die Tischplatte zurück ins Innere des Hauses, und als er den Treppenansatz erreichte, standen seine beiden Kinder bereits am oberen Geländer. Sie bewegten sich keinen Millimeter, ihre Blicke waren starr auf die halb geöffnete Schlafzimmertür gerichtet.
„Kinder, was ist passiert?“, rief ihnen der Vater schon von der Treppe aus zu. Und dann fügte er hinzu: „Martha?”
Oben angekommen, gab er der Tür mit der Hand einen Schubs und erst jetzt erfassten seine Augen ein solch unvorstellbar grauenvolles Bild, welches er sein ganzes Leben nie mehr vergessen würde.
Die Laken lagen auf dem Boden verteilt und seine geliebte Frau lag mit starren, ausdruckslosen Augen, die an die Zimmerdecke gerichtet waren, inmitten eines roten Blutmeeres.
Ihr Nachthemd und die darunterliegende Haut waren genauso zerrissen, wie die Wand und die Bilder. Auch von ihrem eigentlich so wunderschönen Gesicht war kaum noch etwas zu erkennen.
Der Vater ließ das Gewehr fallen und sackte im Türrahmen vor Verzweiflung auf den Boden. Als er wieder aufsah, entdeckte er über dem Bett die mit Blut geschriebenen Worte:
DAS IST ERST DER ANFANG!
Der Brief schloss mit den Worten: „Wir wissen beide, mein geschätzter Freund Angelo, was dieses Zeichen zu bedeuten hat. Es ist nicht der Anfang, sondern das bevorstehende Ende.
Die Mönche haben bereits mit den Gebeten begonnen, und ich bitte Euch inständig, auch dieses Mal, uns Menschen zu helfen.
Hochachtungsvoll Pater J.“
Dieser lag noch immer geöffnet auf dem Schreibtisch vor Angelo, der aus dem Nachdenken gar nicht mehr herauszukommen schien.
Kann es wirklich sein, dass sich mein Erzfeind Viktorius, Anführer der Maltriten, nicht mehr an den festgelegten Vertrag halten will und tatsächlich einen neuen Versuch startet, die Erde Stück für Stück für sich selbst und seine dämonenhaften Grauflügler in Besitz zu nehmen?
Seine weiteren Gedanken führten ihn unaufhaltsam an den Ort des Geschehens von damals zurück, deshalb beschloss er aufzustehen und sich ein Glas Whiskey einzufüllen.
Das Glas in der Hand haltend trat Angelo an eines der großen Fenster seines sich über zwei Etagen erstreckenden Penthouse und blickte gedankenverloren über die Dächer der Stadt.
Regentropfen begannen an die Scheibe zu prasseln und je mehr die Abendlichter der Stadt verschwammen, desto klarer wurden die Bilder der Erinnerung in seinem Kopf.
Er sah nur allzu deutlich, wie Viktorius, als auch seine eigenen Leute und unzählige Schutzwächter, einer nach dem anderen, in diesem erbitterten Kampf ihr Leben lassen mussten.
Am Ende war nichts weiter übriggeblieben als ein Feld der totalen Verwüstung, des Verlustes, und des Todes.
Da es Angelos Bestimmung von Anbeginn war, der Hüter über alle Elemente zu sein, verlieh er diese auch immer wieder weiter an seine ihm unterstellten Balance-Wächter.
Es entwickelten sich mit der Zeit starke, geflügelte Krieger aus ihnen, ausgestattet mit der zusätzlichen Kraft eines ihnen besonders zugeteilten Elementes.
Ihre Hauptaufgabe besteht darin, die Menschen vor allen dunklen Mächten zu beschützen und dafür zu sorgen, dass die Bewohner der Erde zu jeder Zeit ein normales Leben führen können, ohne auch nur ansatzweise jemals etwas über die wahre Existenz von ‚Gut und Böse‘ zu erfahren.
Am schlimmsten traf Angelo an diesem unheilvollen Tag jedoch der Verlust von Adem. Sein langjähriger Freund und Balance-Wächter, mit der Kraft des Elementes der Erde ausgestattet, wurde bei dem direkten Versuch, eine Maltritin anzugreifen, von genau dieser in einen Feuerball eingehüllt, der wie aus dem Nichts aus ihrem Mund kam.
Die Flammen aus dem tiefsten Kern des INDEMALUM nahmen sofort von seinem Körper Besitz und er stürzte ungebremst zu Boden.
Nicht, dass dieses Schauspiel schon tragisch genug gewesen wäre, nein, Adems Sohn Ray, der sich in der Einlernphase seines Wächter-Daseins befand, musste als gerade mal Zehnjähriger mit eigenen Augen ansehen, wie sein Vater lichterloh und bei vollem Bewusstsein verbrannte. Die derzeitige Wächterin des Wassers kam zwar sofort herbeigeflogen, doch leider konnte Adem von keiner Macht dieser Welt mehr geholfen werden.
Der instinktive Rettungsversuch führte sogar dazu, dass die Wächterin von vier weiteren Grauflüglern angegriffen werden konnte.
In der Luft wurde sie von genau diesen an Armen und Beinen gepackt und ihr schmächtiger Körper gnadenlos in der Mitte auseinandergerissen.
Angelo hatte heute noch vor Augen, wie Ray nach diesem schockierenden Erlebnis unter Tränen in das angrenzende Waldstück verschwand.
Im Nachhinein betrachtet, hatte es jenem mit hoher Wahrscheinlichkeit an diesem Tag das noch so junge Leben gerettet.
Angelo spürte den Tod seiner Balance-Wächterin klar und deutlich, denn es war üblich, dass die Elemente bei Ableben eines Wächters immer wieder zu ihm zurückkehrten.
Er selbst spürte ihre Qualen und ist somit zumindest einmal in dieser Nacht im Geiste gestorben.
Körperlich hatte ihn das Schicksal verschont, denn als Angelo sich hasserfüllt und mit blinder Wut Viktorius zuwenden wollte, um ihn ein für alle Mal auszulöschen, konnte er diesen elenden Feigling nirgendwo mehr entdecken.
Beim erneuten Umblicken konnte er dafür aber zwischen all den Leichen, seine über alles geliebte Gefährtin Grace, die Wächterin der Luft, ausfindig machen. Sie war nur bewusstlos, und ihr Bein steckte unter einem großen Stahlrohr fest.
Nachdem er sie befreit und stützend einen Arm um ihre Hüfte gelegt hatte, überkam ihn ein Gefühl von Dankbarkeit. Er würde nun doch nicht ganz allein aus diesem grausamen und unnützen Kampf herausgehen.
Angelo schloss die Augen.
Der Regen wurde stärker, doch der Film in seinem Kopf hatte noch kein Ende gefunden.
Um ihn und Grace herum war alles ganz still, und die vereinzelten Flammen der in Brand gesteckten Häuser und Bäume verhinderten eine totale Finsternis.
Doch für Angelo konnte diese Nacht nicht schwärzer sein.
Einige der Menschen, denen er Schutz angeboten hatte, wollten trotz der Warnung der Mönche, weder ihre Häuser noch die Stadt rechtzeitig verlassen.
Ihr tiefer Glaube an das Gute veranlasste sie zu bleiben.
Sie wollten die Balance-Wächter, die sie wie wahrhaftige Helden verehrten, mit ihren eigenen Augen sehen, und wenn möglich, gegen das Böse unterstützen, nur um kurz darauf im Kampf durch maltritische Hand sterben zu müssen.
Als Angelo mit Grace den schrecklichen Ort in die dichten Verzweigungen des Waldes verlassen wollte, vernahmen sie plötzlich ein klägliches Weinen.
Da sie kaum in der Lage war, sich selbst auf den Beinen zu halten, beschloss Angelo, noch einmal allein zurückzulaufen, um sich zu vergewissern, dass er nichts übersehen hatte. Schon gar nicht einen dieser elenden Grauflügler, die imstande waren, einem wer weiß was vorzugaukeln.
Das Weinen, das nur mehr ein Wimmern zu sein schien, kam aus einem der Häuser, das äußerlich kaum Spuren davongetragen hatte. In dessen Inneren sah es jedoch so aus als wäre ein Tornado hindurchgefegt.
Nur mit viel Mühe gelang es Angelo durch umgestürzte Möbel, wie Schränke, Tische und Stühle, bis an das letzte der vielen Zimmer vorzudringen. Dort angekommen, musste er zunächst einen ganzen Stützbalken wieder in aufrechte Position bringen, um die Tür öffnen zu können.
Sein Blick schweifte durch den Raum.
Der durch das Fenster einfallende Mondschein half ihm dabei, sich ein wenig besser orientieren zu können.
Als er weiter eintrat, sah er an der rechten Wandseite eine Wiege stehen. Angelo schloss die Augen und atmete tief durch.
Er fragte sich, ob es noch etwas gäbe, das diese Nacht an Grausamkeiten überbieten könne.
Wenn es sich hierbei um ein Menschenkind und keinen Maltriten handelt, dann werde ich es trotzdem töten müssen. Erstens hat es keine Eltern mehr, die es großziehen können und zweitens könnte es von Viktorius selbst oder einem seiner Grauflügler mit einer bösen Macht infiziert und absichtlich zurückgelassen worden sein.
Nach einiger Zeit trat Angelo näher an die Wiege heran und zwang sich einen Blick hineinzuwerfen.
Eine gefühlte Ewigkeit sah er auf das Baby herab, welches ihn ebenfalls mit großen Augen anschaute.
Die kleinen Händchen bewegten sich oberhalb der weißen Seidendecke und die Füßchen strampelten synchron darunter. Die mit rosa Schleifen verzierte Umrandung ließ Angelo zu dem Schluss kommen, dass es sich bei diesem Kind, mit den dunklen Haaren auf dem Köpfchen, um ein Mädchen handeln musste.
„Welch ein zerbrechliches kleines Wesen du doch bist”, flüsterte er leise vor sich hin.
Nur allzu gern hätte Angelo es berührt oder sofort in seine Arme genommen, doch er wusste, dass er dieses Wagnis in gar keinem Fall eingehen durfte.
Ihr fröhliches Lächeln machte es ihm nicht gerade leichter, als er daran dachte, was gleich mit ihr geschehen werde.
Dieses Mädchen wird gleich nichts mehr von dem süßen Leben in sich spüren, welches eigentlich da draußen auf sie gewartet hätte. Das Leid und die Schattenseiten der Welt werden ihr aber auch niemals bekannt sein und somit für immer erspart bleiben.
Von tiefem Schmerz erfüllt legte Angelo seine linke Hand auf die Brust des Kindes. Den Blick wendete er ab, denn er wollte es nicht sehen.
Sollte das Indemalum das Kind bereits infiziert haben, würde gleich die geballte Kraft des Wassers durch ihren kleinen Körper fließen und diesen gemeinsam mit dem Bösen in tausend Stücke reißen.
Bei diesem Gedanken lief Angelo eine Träne über die Wange, denn er war nun mal kein skrupelloser Mörder.
In seiner Handfläche konnte er das schnelle und aufgeregte Pochen des kleinen Herzens fühlen.
Jetzt war er in gewisser Hinsicht froh, dass er genau dieses Element einsetzen konnte, denn das Wasser steht für absolute Reinheit und nur diese Art von Erlösung, sollte dem unschuldigen Mädchen zuteilwerden.
Mit gesenktem Blick, der Wiege abgewandt, sprach Angelo mit stockender Stimme die alten Worte: „Femina cor ona ego dare aquaum.”
Im selben Moment spürte und sah er die Kraft des Elementes.
In seinem Herzen begann diese in ihrer von je her zugeordneten Farbe zu leuchten. Das blaue Wasser jagte regelrecht durch die Adern über seine Brust, den linken Arm hinab, bis in seine dem Kind aufgelegte Handfläche.
Erst als das strömende Gefühl versiegte und das Leuchten erlosch, wusste Angelo, dass es vollbracht war.
Mit fest zusammengekniffenen Augen wartete er auf die Reaktion, einen Knall oder ähnliches, damit das Grauen ihn endlich dort hatte, wo es den Hüter der Elemente schon immer haben wollte – auf seinen Knien.
Ein von Viktorius und dessen dunklen Gefolge gefürchteter, doch im Glauben gebrochener Mann, dessen Grundmauern erschüttert, wenn nicht sogar zum völligen Einsturz gebracht worden waren.
Schachmatt!
Plötzlich hörte Angelo statt des erwarteten Geräusches ein aufeinanderfolgendes Hicksen und irgendetwas umklammerte zusätzlich seinen Daumen.
Es waren die Händchen des Mädchens und die eingeflößte Wassermenge schien nichts weiter als einen schlimmen Schluckauf in ihr hervorgerufen zu haben.
Angelo wusste nicht so recht, wie er mit der neuen Situation umgehen sollte.
Erstens hätte diese Kleine nicht mehr daliegen dürfen, zweitens steckte nun die geballte Kraft des Wassers in ihr, was drittens wiederum unmöglich schien, da sie ein Menschenkind war.
Viel Zeit zum Grübeln blieb ihm aber nicht, denn die Decke des Zimmers knackste und knarrte und der Putz rieselte sowohl auf Angelos Kopf als auch auf die Wiege herab.
„Ach, was soll’s”, hörte er sich selbst, nach all den Jahren, klar und deutlich sagen.
Mit dem Whiskey-Glas in der Hand, noch immer vor dem Fenster stehend, kehrte er langsam, aber sicher aus seinen Erinnerungen zurück.
Angelos Ohr vernahm das Schwingen von großen, schweren Flügeln und kurz darauf folgte das bekannte Landungsgeräusch.
Ein kurzer Blick in den oberen Bereich seines Penthouse bestätigte ihm die Anwesenheit eines Balance-Wächters.
„Oh bitte, Dad! Du hast doch Mum und mir hoch und heilig versprochen, dass du die Finger von diesem Teufelszeug lässt.”
„Jack! Ich finde es auch schön, dich zu sehen”, antwortete Angelo entnervt seinem Sohn, dem amtierenden Wächter des Eises.
Dieser kam durch eine sich bei Elementerkennung automatisch öffnende Dachluke, im wahrsten Sinne des Wortes, hereingeschneit.
„Mum sagte mir, dass du mich in einer dringenden Angelegenheit sprechen möchtest. Was soll ich sagen, hier bin ich, trotz des Sauwetters. Eigentlich wäre ich auf einer angesagten Party mit vielen heißen Frauen und …”
„Wir haben ein ernstzunehmendes Problem. Wenn du also so freundlich wärst und mich heute Abend ausnahmsweise mal mit deinen Sprüchen verschonen würdest. Ich wäre dir wirklich sehr dankbar”, unterbrach Angelo Jack, der gerade dabei war, seine Flügel in den Hautöffnungen der Schulterblätter verschwinden zu lassen.
Es ist sehr praktisch, denn so können sich die Wächter wie ganz normale Leute unter den Menschen bewegen.
Einziger Nachteil besteht darin, dass in Kleidung, an genau diesen Stellen, immer kaum sichtbare Einschnitte gemacht werden müssen. Egal ob bei Shirts, Hemden, Pullovern oder Anzügen.
Jack tat es sichtlich weh, dass er diese Prozedur sogar seiner nagelneuen Saint Lauren Lederjacke antun musste, aber es führte nun mal kein Weg daran vorbei.
Lässig stieg Jack die Stufen der Wendeltreppe hinab und stellte sich neben seinen Vater ans Fenster.
„Was ist denn passiert? Also, falls dir wieder so ein graugeflügeltes ‚Etwas‘ Kopfschmerzen bereitet, dann mache ich mich auf den Weg und erledige die Sache für dich. Kurz, schnell und sauber. Wie immer.”
Angelo nahm einen Schluck von seinem Whiskey. Das Eis darin war längst geschmolzen.
„Wenn die Sache nur so einfach wäre. Bist du vielleicht so freundlich?”
Jack verstand und nach nur einem Handwisch über das Glas befanden sich zwei exakt geformte Eiswürfel darin.
Angelo nickte dankend, dann fuhr er fort: „Erinnerst du dich an die Geschichte, die ich dir und Jara immer erzählt habe, als ihr noch Kinder wart? Viele Abende verbrachten wir am Strand. Die Wellen rauschten, der Wind wehte uns sanft ins Gesicht und die langsam untergehende Sonne tauchte den Himmel in leuchtende, warme Farben. Bis das Lagerfeuer brannte, spielten du und deine Schwester unentwegt Fangen. Euer ausgelassenes Lachen erklingt noch heute wie eine wunderschöne Melodie in meinen Ohren.”
Jack betrachtete seinen Vater von der Seite, denn immer, wenn er in dieser speziellen Art zu reden begann, schien ihm etwas sehr wichtig zu sein und viel zu bedeuten.
„Ja, ich erinnere mich. Auch an das Fangspiel, denn darin war ich grundsätzlich besser als Jara. Ich hatte sie meist nach dem Anlaufen eingefangen, während sie eine gefühlte Ewigkeit brauchte, um mich zu erwischen.”
Angelo musste schmunzeln. „Das stimmt. Aber Jara ist niemals müde geworden, dir hinterherzulaufen, und hat es solange nicht aufgegeben, bis sie es letzten Endes doch irgendwie geschafft hatte. Obwohl euch ein Geschlechterunterschied und vier Jahre trennen, habt ihr den größten Teil eurer Zeit zusammen verbracht. In dir hat Jara schon sehr früh ein Vorbild und etwas Besonderes gesehen. Ist sie gefallen, warst du meist als Erster zur Stelle, um sie wieder aufzuheben. Du hast ihr die Tränen selbst mit schmutzigen Händen aus dem Gesicht gewischt und sie durch deine Faxen schnell wieder zum Lachen gebracht.”
Jack grinste, während er sich vom Fenster in Richtung der Zimmerbar bewegte.
Statt nach einer der alkoholhaltigen Flaschen zu greifen, öffnete er eine danebenliegende Klappe, worin sich unter anderem das Kühlfach befand.
Daraus schnappte er sich eine Dose Cola und ließ sich damit auf dem großen braunen Ledersofa nieder.
„Das, was du da erzählst, ist alles richtig und auch sehr schön gewesen, doch ich kann mir nicht vorstellen, dass du mich deswegen so dringend sprechen wolltest, nur um mit mir in Erinnerungen zu schwelgen.”
„Du hast recht. Darum bist du nicht hier”, antwortete Angelo, der sich ebenfalls vom Fenster abgewandt hatte.
„Du bist hier, weil ich deine Hilfe brauche. Nicht nur deine, sondern die von allen Balance-Wächtern. In meiner Geschichte habe ich euch oft von Feuer, Wasser, Luft, Erde und Eis erzählt. Wie sie die Erde am Leben erhalten, und dass es ohne diese Elemente nur ein kalter und grausamer Ort wäre. Nur mehr der Mann mit dem Tor zum Indemalum, in seinen ansonsten so toten Augen, würde dann über alles der alleinige Herrscher sein.”
„Den Teil fand ich immer toll und furchteinflößend zugleich. Na ja, mittlerweile weiß ich zum Glück, dass du damit einfach die Maltriten und Grauflügler in einer Person zusammengefasst hast. Das war brillant ausgedacht, Dad. Ich werde das hoffentlich einmal meinen eigenen Kindern mit so einer energiegeladenen Spannung weitererzählen können.”
Mit auf dem Rücken verschränkten Armen ging Angelo im Raum auf und ab. Er wusste, dass irgendwann der Tag der Wahrheit kommen würde, aber er hoffte, dass es nicht so bald passieren würde.
Heute war der Tag gekommen, und ihm blieb gefühlt keine andere Wahl.
„Jack, diesen Mann gibt es wirklich. Er trägt die Schuld an allen Vorkommnissen. Er setzt diese Brut in die Welt und terrorisiert seit Anbeginn der Zeit die Menschen. Er will sie auslöschen und die Erde für sich und sein Gefolge einnehmen. Er allein ist dafür verantwortlich, dass deine Mutter schon seit zwei Jahrzehnten hinken muss, und er hat Adem auf dem Gewissen, meinen bisher treuesten Freund. An seinen Händen klebt das Blut von Vielen und jetzt ist er zurückgekehrt, um noch einmal zu versuchen, was ihm beinahe schon gelungen wäre.”
Jack stand vor Entsetzen der Mund offen und sein Körper saß wie eine versteinerte Statue auf dem Sofa.
Angelo kam vor ihm zum Stehen.
„Du bist hier, weil du dich ab jetzt für einen noch größeren Kampf bereitmachen musst. Wir brauchen alle Elemente, denn nur vereint haben wir eine Chance, das aufkommende Indemalum in seinen Kern zurückzudrängen und hoffentlich ein für alle Mal darin einschließen zu können. Wir haben uns lange Zeit in Sicherheit gewiegt, vielleicht ein wenig zu sehr, aber das heißt nicht, dass wir nicht imstande sind, wieder die Allianz zu bilden, die wir schon immer waren. Die ganze letzte Nacht über versuche ich schon die Balance-Wächter zusammenzustellen. Da bist zum einen du mit der Kraft des Eises, deine Mutter mit der Kraft der Luft und Ray, mit der Kraft des Feuers.”
„Dann fehlen also nur noch Wasser und Erde, wenn ich dich richtig verstanden habe”, antwortete Jack, der langsam, aber sicher seine Fassung zurückerlangte und auch wieder imstande war von seiner Cola zu trinken.
„Also die Sache ist die, es stimmt tatsächlich, dass mir das Erdelement fehlt. Mit Fehlen meine ich keine Person, der ich es als Wächter abgetreten hätte oder abtreten könnte, nein, ich meine damit, dass es mir komplett fehlt. Adem ist der Letzte gewesen, dem ich es überlassen hatte, nur anscheinend ist die Kraft selbst nach seinem Tod nicht wieder zu mir zurückgekehrt. Ich grübele schon seit Jahren, wie das überhaupt sein kann. Das Wasserelement, nun – wie soll ich es dir am besten sagen?
Ich fasse mich jetzt einfach mal kurz: Die Kraft des Wassers besitzt - Jara.”
Den Schluck, den Jack gerade zu sich nehmen wollte, spuckte er in hohem Bogen wieder aus. So sehr versetzte ihn der letzte Satz seines Vaters in Aufruhr.
„Wie bitte? Das ist unmöglich! Das kann nicht sein!”
„Ich weiß, das ist jetzt viel und bestimmt auch nicht leicht zu verstehen, doch bitte lass es mich erklären”, entgegnete Angelo, mit einer in Richtung Boden führenden Handbewegung, zu seinem aufgebrachten Sohn, damit dieser sich doch bitte etwas beruhigen sollte.
„Ich weiß nicht, was es da noch groß zu erklären gibt. Ich dachte all die Zeit, dass meine kleine Schwester ein Versuch von euch war, wenigstens ein Kind ohne die Kraft eines Elementes, aufwachsen zu sehen, auch wenn du für mich vier Jahre zuvor bereits beschlossen hattest, dass ich einmal das Familienerbe antreten werde. Ich habe dich und Mum die ganze Zeit über bei eurer ‚Heilen Welt-Aufrechterhaltung‘ unterstützt und jetzt erfahre ich so ganz nebenbei, dass alles inszeniert, wenn nicht sogar erstunken und erlogen war. Ach, und nicht zu vergessen, Jack, verstecke immer deine Kräfte vor Jara so gut es geht, sie ist zwar die Wächterin des Wassers, aber das musst du unbedingt vor ihr verschweigen. Tut mir leid, Dad, aber das ist wirklich zu viel! Wenn es die Wahrheit ist, was hast du dir dabei gedacht? Warum hast du sie mir als ganz gewöhnliches Kind präsentiert? Oh warte, bitte sag mir zur Krönung nicht auch noch, dass du etwas mit einer anderen Frau hattest und du deine daraus hervorgegangene Tochter dann wie ein Kuckuckskind in unsere Familie eingeschleust hast!”
In seinem vor Unverständnis nur so strotzendem Zorn war Jack aufgestanden und direkt vor seinen Vater getreten.
Angelo, der sonst die Ruhe selbst war, konnte weder den Blick in den Augen seines Sohnes ertragen, noch die Worte, die jener ihm entgegenbrachte.
Zum ersten Mal in seinem Leben erhielt Jack von seinem Vater eine gewaltige Ohrfeige.
Angelos Gesichtszüge verrieten, dass er selbst um einiges mehr unter diesem Schlag litt. „Sprich nicht weiter! Hörst du! Ich würde Grace nicht betrügen. Niemals! Eher sterbe ich, als ihr so etwas anzutun.”
„Es tut mir leid, Dad”, war alles, was Jack in diesem Moment hervorbringen konnte.
Mit gesenktem Haupt setzte er sich zurück auf das Sofa und ließ sich nach hinten fallen.
Da Angelo wusste, dass es jetzt an der Zeit war, Rede und Antwort zu stehen, erzählte er seinem Sohn in aller Ruhe, wie sich alles zugetragen hatte.
Eine Sache verstand Jack am Ende trotzdem nicht.
„Und wieso kam Jara dann noch niemals von der Insel runter, beziehungsweise warum hast du sie nicht gelehrt, mit ihrer Kraft umzugehen, wie du es bei mir getan hast?
Wie soll uns dieser Umstand jetzt helfen können? Weiß Mum davon, und hat sie das all die Jahre über für gutgeheißen?”
„Eins nach dem anderen. Ich war noch nicht ganz fertig”, bremste Angelo die wilde Fragerei.
Er fuhr fort: „Also das Haus ist nach mir komplett in sich zusammengefallen. Nur mit Mühe und Not schaffte ich es gerade noch rechtzeitig, mit deiner Schwester auf dem Arm, da rauszukommen. Deine Mutter wartete bereits voller Sorge an genau der Stelle, an der ich sie zurückgelassen hatte. Und um gleich mal eine deiner Fragen zu beantworten, nein, sie war keineswegs begeistert oder hat es für gutgeheißen. Im Gegenteil, sie ermahnte mich sofort, dass ich doch wüsste, was zu tun gewesen wäre. Darauf entschloss ich mich, ihr das in eine Seidendecke eingewickelte Baby einfach in die Arme zu drücken. Mit großen entsetzten Augen sah mich deine Mutter an, doch meine Worte hätten niemals ausgereicht, um ihr verständlich erklären zu können, warum ich nicht in der Lage gewesen war, mich an die üblichen Vorgehensweisen zu halten. Grace funkelte mich weiter böse an, doch als das Bündel wieder zu hicksen begann, wagte Grace einen vorsichtigen Blick in die Decke hinein.
Die wütenden Stirnfalten verschwanden eine nach der anderen, und das folgende Lächeln reichte deiner Mutter bis über beide Ohren. Das letzte Mal hatte ich dieses unendliche Strahlen, das ganz tief aus ihrem Inneren zu kommen scheint, bei deiner Geburt auf ihrem Gesicht gesehen. Als ich ihr nach kurzer Zeit Recht gab und sie mir das Mädchen hätte zurückgeben sollen, damit ich die Sache bis zum Ende hätte erledigen können, hätte sie plötzlich, so sehr sie mich auch liebt, eher mich getötet.
Deine Mutter ist mit deiner Schwester auf dem Arm losmarschiert, obwohl sie selbst kaum laufen konnte. Ich blieb direkt hinter den beiden, damit nicht von irgendwoher doch noch Gefahr lauern konnte. Die Worte ‚Nein, nein, mein kleiner Schatz, der böse Mann wird dir nichts tun, da brauchst du überhaupt keine Angst haben, mein kleiner Schmetterling‘, die deine Mutter damals an Jara richtete, konnte ich allerdings ziemlich genau verstehen und ich glaube, das war auch so beabsichtigt.
Den Rest der Geschichte kennst du, denn von diesem Tag an waren und sind wir vier eine Familie.”
Jack hörte seinem Vater gebannt zu, denn sein Kopf war damit beschäftigt, die neuen Informationen aufzunehmen.
Er war damals vier Jahre alt, als Jara von seinen Eltern mit in die Familie gebracht wurde und Fragen, wie zum Beispiel: „Wo kommt die denn plötzlich her“, hätte er zu diesem Zeitpunkt nicht gestellt, denn meist hatten die Erwachsenen so oder so in allen Punkten recht. Außerdem liebte er Jara von Anfang an. Da änderte auch jetzt die Tatsache, dass sie gar nicht seine leibliche Schwester ist, nicht das Geringste an seinen Gefühlen zu ihr.
Angelo berichtete ihm noch von Pater Janus Brief und dass schnelles Handeln jetzt das A und O sein wird.
„Jack du musst deine Schwester davon überzeugen, die Insel zu verlassen und dann kommst du zusammen mit ihr und deiner Mutter wieder hierher zu mir. Ich werde mich in der Zwischenzeit auf die Suche nach dem fehlenden Element der Erde machen. Wenn Jara dann soweit ist, wird sie Ray zu uns zurückbringen und …”
„Ray? Du willst Jara zu diesem Egoisten schicken, und dann soll sie womöglich auf die Knie gehen, damit der feine Herr sich hierher bequemt? Nichts da, das kann ich regeln, ich werde in seiner Pizzeria vorbeischauen und ihm mal gehörig den Kopf waschen. Dem bleibt dann gar keine andere Wahl mehr als … ”
Angelo legte eine Hand auf Jacks Schulter. „Nein, das wirst du nicht tun. Das ist nicht deine Aufgabe, und so wie ich dich und Ray kenne, wird daraus nur wieder das reinste Chaos entstehen. Ich erwarte von ihm, dass er aus voller Überzeugung heraus der Wächter des Feuers sein will, und nicht, weil er sich dazu gezwungen fühlt.“
„Ich hoffe, du weißt, was du da tust”, waren die letzten Worte, die Jack an seinen Vater richtete, ehe er die Wendeltreppe nach oben ging, seine Flügel ausbreitete und sich durch die Luke in den sternenklaren Nachthimmel erhob.
„Das hoffe ich auch mein Sohn, das hoffe ich.”
DAMALS
Auf der Erde gibt es unzählige Inseln. Viele davon sind groß, andere wiederum ganz klein und die meisten davon liegen mitten im Zentrum eines großen Meeres. Da fast alle schon bewohnt waren, beschloss Angelo sich eine neue zu erschaffen.
Nur wenige Monate nach den tragischen Erlebnissen ließ er eine eigene kleine Insel im zweitgrößten Weltmeer, dem Atlantischen Ozean, für sich und seine Familie anlegen.
Das Klima auf Corondall Island war nahezu perfekt, denn die hohe Luftfeuchtigkeit tat in erster Linie der Gesundheit gut. Einer von vielen Gründen, warum sich Angelo zusammen mit Grace für solch ein Leben entschieden hatte.
Jara und Jack kannten, seit Kindertagen, keinen klassischen Schnupfen und ein grippaler Infekt war somit auch völlig ausgeschlossen gewesen.
Nach der tragischen Zeit des Kampfes war den Corondalls auf der Insel im Großen und Ganzen sehr viel Positives widerfahren.
Grace konnte ihre Mutterrolle ausleben und in vollen Zügen genießen. Nebenbei sich selbst von den Gedanken an die Nacht und von ihrer dort herrührenden Verletzung erholen.
Angelo war bis zum heutigen Tag der stolze Mann und Vater, der es geschafft hatte, seiner Familie ein beständiges Leben zu ermöglichen.
An alles hatte er damals gedacht. Ein schönes modernes Haus, in dem sie lebten, und mehrere kleinere Häuser, auf der gesamten Insel verteilt, in denen von ihm persönlich ausgewählte Menschen einziehen durften.
Viele sehr arme Leute brachte er aus Atlanta mit hierher.
Sie mussten allerdings ein gutes Wesen und eine reine Seele haben. Das war die einzige Bedingung, die er an sie stellte.
Durch das Reichen der linken, anstatt, wie gebräuchlich, der rechten Hand zu einer Begrüßung, konnte Angelo, die Seele der Menschen zumindest einschätzen.
Wenn es bei einem ganz normalen Händedruck blieb, dann war alles in bester Ordnung. Sollte sich jedoch auch nur eine der fünf Elementfarben in seiner Handfläche zu erkennen geben, dann hatte diese Person in ihrem Leben, zu irgendeinem Zeitpunkt, etwas Verbotenes, wenn nicht sogar abgrundtief Böses getan.
Da die meisten Inselbewohner vor dem Abrutschen in die Armut ganz normalen Berufen nachgingen, füllte sich Corondall Island nach und nach mit den wichtigsten Anlaufstellen, die es für ein einigermaßen zivilisiertes Leben braucht.
Bauern, Bäcker, Metzger, drei Ärzte – einer für die Erwachsenen, einer für die Kinder und einer für die Tiere, ein mittelgroßer Drogeriemarkt und ganz neu – eine eigene kleine Boutique.
Auf Letztes hatte Grace bestanden, denn auch, wenn sie sich bislang immer um die Kleidung ihrer Tochter gekümmert hatte, wird diese sich bestimmt auch mal gerne selbst das ein oder andere Teil aussuchen wollen.
Die Bezahlung war zum Glück ziemlich einfach gehalten.
Da Angelo und Grace es sich als oberstes Ziel gesetzt hatten, ihre Kinder fernab von weltlichem Übel großzuziehen, beschlossen sie, auch auf des Menschen wohl größtes Laster, das Geld, gänzlich zu verzichten.
In der Stadt und auf den Konten hatten sie, dank Primus mehr als genug davon, was wiederum gewährleistete, lebensnotwendige Dinge nach Corondall Island liefern lassen zu können.
Diese Aufgabe übernahm ein Frachtschiff, das einmal pro Monat knapp vor der Insel anlegte.
Auf einen Hubschrauberlandeplatz verzichtete Angelo.
Auch wenn benötigte Materialien und Vorräte schon längst bezahlt waren, ehe sie ihr Ziel erreichten, wollten Angelo und Grace, von Anfang an, dass Jara und Jack lernten, dass man nicht alles im Leben umsonst haben kann.
Für vieles arbeiteten die Menschen hart und man muss es sich erst verdienen, beziehungsweise leisten können.
Genau wie Grace damals der ‚Familienname‘ für die Insel in den Kopf geschossen war, genauso schnell hatte sie die Idee mit dem Wert der Muscheln, als neue Bezahlung.
Eigentlich sollte jedem diese Denkweise naiv, wenn nicht sogar etwas lächerlich erscheinen, doch Angelo liebte seine Frau und Gefährtin für ihre Hingabe zur Natur.
Auch bewundert er sie für ihre selbstlose Art, sich nicht von festgefahrenen Vorgaben im Leben beeindrucken zu lassen.
Die Kinder mussten folglich Stunden damit verbringen, die am Strand angespülten Muscheln einzusammeln. Zu Hause wurden diese dann von Meeresablagerungen und feinem Sand gesäubert. Hatten sie dies gemacht, so konnten sie sich kaufen was immer ihr Herz begehrte.
Am allerliebsten entschieden sich die beiden für vorgefertigte Tütchen mit leckeren Naschereien. Davon gab es pro Monat gerade mal vier Stück, zum Greifen nahe, ausgestellt im Schaufenster des kleinen Bäckers.
Angelo hielt es für das Beste, die Menge der Süßigkeiten so gering wie möglich zu halten, denn abgesehen davon, dass Grace das Zeug nicht als gesund empfand, hätte er über kurz oder lang einen Zahnarzt finden müssen, der bereit dazu gewesen wäre, sich, bis an sein Lebensende, auf der Insel aufzuhalten.
Das Sammeln der Muscheln gestaltete sich auch gar nicht so leicht, wie man zunächst vielleicht annehmen würde.
Tausende werden mit nur einer einzigen Welle angespült, doch fast genau die gleiche Anzahl wird mit dieser wieder in die schier unendlich wirkende Weite des großen Meeres hinausgezogen.
Die auf Corondall Island festgelegten Preise waren der realen Welt eher wenig bis gar nicht angepasst.
Nur eine von den besagten Tütchen zum Beispiel kostete hundert Muscheln. Kleidung und Sonstiges bewegte sich sogar in tausender Bereichen.
Als Kinder sollten sich weder Jack noch Jara in der Lage fühlen, die verschiedenen Dinge, ohne die elterliche Erlaubnis, besorgen zu können.
Da Jack der Größere und somit schneller im Einsammeln war, bekam er meist drei von den heißersehnten Tüten ab und Jara nur eine. Die Muscheln von seiner Schwester konnte er aber in Sachen Sauberkeit und Glanz meist nie übertreffen.
Jack hatte nicht die Geduld, um stundenlang dazusitzen und mit einem kleinen Pinsel alles lupenrein zu putzen.
Eines Tages kam es dann aber dazu, dass die Kinder ihren ganz eigenen Weg fanden, um dieses Problem aus der Welt, beziehungsweise von der Insel, zu schaffen.
Sie entschieden, dass Jack von nun an die Muscheln sammelt und Jara sie anschließend säubert.
Wenn diese Prozedur, bis vierhundert Stück, geschafft war, lief er los und kaufte alle Tütchen auf einmal.
Stolz überreichte Jack seiner Schwester dann ihren wohlverdienten Anteil. Jeder erhielt zwei.
Angelo empfand diesen Zusammenschluss zu einer Art ‚Kleinunternehmen mit geteiltem Gewinn‘ seiner Kinder mehr als löblich.
Desto mehr tat ihm der Tag weh, an dem er Jack mit in die Stadt nehmen und ihn abrupt aus seiner heilen Kinderwelt herausreißen musste.
Mit neuneinhalb Jahren begann bei ihm die Kraft des Eises, die durch seine jungen Adern floss, größer zu werden und sich mehr und mehr an die Oberfläche zu drängen.
Jack hatte das Element am Tag seiner Geburt, von seinem Vater, als erster Nachkomme der Corondalls, quasi gleich mit vererbt bekommen.
Als Jack Jara eines Nachmittags nachgelaufen war, weil sie ihn geneckt hatte, packte er sie an den Armen und wollte sie, wie so oft, mit sich auf den Boden fallen lassen.
Meist kugelten sich die beiden dann eine ganze Weile, ehe sie erschöpft nebeneinander lagen und lachend nach Luft rangen.
Dieses Mal war es jedoch völlig anders gewesen, denn in dem Moment, als Jack seine Schwester unter sich hatte, wurden seine Hände durch die Anstrengung eiskalt und die Handflächen leuchteten in sehr hellem Blau auf.
Der, durch die Kälte hervorgerufene, Schmerz schoss in Jaras Nervenbahn und sie krümmte sich, als hätte sie einen schweren Anfall erlitten, unter dem Körper ihres Bruders.
Grace, die das Schreien bis ins Haus hören konnte, eilte so schnell wie möglich nach draußen.
Beim Anblick ihrer Kinder wäre ihr beinahe das Herz stehengeblieben, doch sie handelte instinktiv und hob ihre rechte Hand. Mit einem, wie aus dem Nichts hervorgerufenen, Windstoß gelang es ihr, Jack von seiner Schwester zu lösen und diesen hoch in der Luft schweben zu lassen.
Völlig unter Schock verlor Jara noch in dieser Sekunde das Bewusstsein.
Als Jack von seiner Mutter wieder sanft auf dem Boden abgesetzt wurde, sackte er auf die Knie. Er schlug die Hände vor das Gesicht und brach in bittere Tränen aus.
Er verstand einfach nicht, was da gerade geschehen war, denn das Letzte, was er jemals tun wollte, war, seiner Schwester ernsthaft wehzutun.
„Ist sie meinetwegen tot?”, hörte Grace ihn noch oft in ihrer Erinnerung fragen.
Als Angelo zurück auf die Insel kam, wurde ihm, von seiner Frau, alles bis ins kleinste Detail erzählt.
Er konnte zunächst nichts weiter tun, als stumm dazusitzen und zuzuhören.
Plötzlich erhob er sich, küsste Grace die Stirn und begab sich in das Kinderzimmer von Jara. Der sanfte Abendwind wehte durch das offene Fenster und ließ den Stoff des weißen Vorhangs fast schwerelos auf- und abschweben.
Als Angelo sich zu seiner kleinen fünfjährigen Tochter aufs Bett setzte, prüfte er zunächst ihre Temperatur - alles bestens.
Dann legte er die Handfläche auf ihre Brust, um ihren Herzschlag fühlen zu können. Ein wenig schnell, aber das lag gewiss mehr am Schock als an der Kraft des Eises.
Liebevoll drückte er ihr einen Kuss auf die Wange, dann stand er auf.
Nachdem er Jaras Zimmer verlassen hatte, öffnete er die gegenüberliegende Tür, um auch nach Jack zu sehen.
Allerdings konnte er seinen Sohn zunächst nirgendwo finden.
Erst ein leises Schluchzen brachte den Vater auf die richtige Spur.
Angelo ging zum Kleiderschrank und zog die zwei Holztüren nach beiden Seiten auf. Er fand Jack, zusammengekrümmt und noch immer bitterlich am Weinen in der hintersten Ecke sitzen. Mit beiden Armen hob er seinen Sohn aus seinem Versteck und schloss ihn ganz fest in seine Arme.
Mehr brauchte es in diesem Moment nicht, denn der Anführer der Wächter wusste nur allzu gut, wie verstörend die Elements-Erkennung das erste Mal sein kann, noch dazu in Zusammenhang mit einem unglücklichen Unfall.
Er wusste außerdem, dass Jara nun schon zum zweiten Mal großes Glück gehabt hatte. Wäre Grace nicht rechtzeitig dazugekommen, dann hätte Jack völlig unbewusst ihren kleinen Körper innerhalb weniger Minuten erfrieren lassen können.
Ab morgen wird sich das alles ändern, denn ich werde dich lehren, mein Sohn, wie du mit der Kraft und der damit verbundenen Verantwortung umgehen musst, denkt sich Angelo, dem bereits selbst eine Träne über die Wange lief.
HEUTE
Wie an fast jedem Abend der vergangenen Jahre saß Jara in ihrem weißen sommerlichen Kleid auf einem Felsvorsprung. Das Rauschen des Wassers und das Geräusch der sich am Stein brechenden Wellen waren ihr vertraut.
Der warme Wind verfing sich spielerisch in ihren langen schwarzen Haaren und strich ihr dabei sanft über die glatte gebräunte Haut.
Ihr Blick galt der Weite des Horizonts und der langsam untergehenden Sonne, die sogar imstande war, das sonst tagsüber so strahlend blaue Wasser in ein rotgelbes Meer, bestehend aus heißen und stark lodernden Flammen, zu verwandeln.
Ohne, dass Jara die Augen schließen musste, war da sofort wieder dieser Traum. Er verlief immer gleich.
Sie sieht sich selbst, wie sie von dem großen Felsen aus Anlauf nimmt. Ohne zu zögern, springt sie von der Felskante ab und fällt meterweit ungebremst in die Tiefe.
Erst dann, wenn sie ihre Arme wie große Schwingen ausbreitet, beginnt sie langsamer zu werden und kurz darauf zu schweben.
Wenn die Angst und das Gefühl des Fallens überwunden sind, schießt sie pfeilschnell und mit aller Kraft, die sie in ihren Armen aufbringen kann, bis hoch hinauf in die Wolken. Von hier oben aus kann sie den Strand und eigentlich die gesamte Insel überblicken.
Wenn Jara kurz darauf über das gigantische Feuermeer der Sonne entgegenfliegt, dann fühlt sie sich wie in einem Rausch ähnlichen Zustand. Eine kaum hörbare Stimme scheint sie zu rufen und unbeirrt zu sich zu ziehen.
Noch während sie die immer stärker werdende Wärme in der Luft genießt, verändert sich ihr Traum schlagartig.
Das Wasser unter ihr beginnt aufbrausender und schneller zu fließen. Ein massives Erdbeben reißt einen tiefen Spalt inmitten des Meeres auf und die Fluten teilen sich an dieser Stelle sofort in zwei riesige Wasserfälle.
Das Gefühl des leichten Schwebens und die Wärme verschwinden aus Jaras Körper.
Sie spürt die aufkommende Angst in ihrem Herzen, das sofort wie wild zu schlagen beginnt, denn jeden Augenblick wird sie in diesen schwarzen, schier endlos wirkenden Abgrund stürzen und nichts und niemand kann auch nur das Geringste dagegen tun.
In ihren Gedanken ist es das wahrhaftige Böse selbst, das sie zu sich hinabzieht.
Dieser schreckliche Mann aus den Geschichten ihres Vaters, der es nicht duldet, wenn man auf der Erde glücklich ist.
Mit letzter Kraft versucht sie sich diesem unsichtbaren Sog, der nun vollends von ihr Besitz ergreift, zu entziehen.
Verzweifelt streckt sie ihre Hände weit nach vorne in Richtung des Horizonts, der heiß glühenden Feuerscheibe, entgegen.
Es kommt ihr so vor, als würden die Strahlen ihre Arme berühren und sie festhalten wollen, doch, genau wie die vorigen Male, schaffen sie es einfach nicht.
Jara stürzt hinab in die Schwärze.
Rechts und links begleitet sie das Geräusch der fallenden Wassermassen. Erst jetzt beginnt sie aus voller Kehle zu schreien, auch wenn sie weiß, dass es absolut keinen Sinn ergibt.
Es ist und bleibt ein schier endloser Fall in ein ungewisses und absolutes Nichts.
Aus nächster Nähe erklang jetzt eine vertraute Stimme:
„Hey Jara, ganz ruhig. Ich bin es. Hörst du mich?”
Endlich riss der Alptraum ab.
Mit weit geöffneten Augen und schnellgehender Atmung wusste Jara plötzlich wieder, wo sie sich eigentlich befindet.
Sie spürte den festen Druck von zwei Händen auf ihren Schultern, und als sie sich umdrehte, konnte sie in das besorgte Gesicht ihres Bruders blicken, der genau hinter ihr auf dem Felsen kniete.
Ohne lange zu überlegen, fiel sie Jack in die Arme.
Nur mit viel Mühe gelang es ihm, das Gleichgewicht für sie beide halten zu können.
„Jack? Was machst du denn hier? Ich dachte, du kommst nicht vor nächster Woche.”
„Ja, so war es auch von mir geplant. Aber ich dachte mir, dass ihr euch freut. Wie ich merke, ist mir bei dir die Überraschung schon richtig gut gelungen”, antwortete Jack seiner Schwester, die sichtlich bis über beide Ohren strahlte.
„Geht es dir gut? Als ich hier am Strand ankam, hat es nicht so ausgesehen. Du hast wild um dich geschlagen.
Ich dachte schon, du kämpfst vielleicht gegen eine Biene oder ähnliches, aber als ich näherkam und dir sogar schon gewunken hatte, wirktest du völlig weggetreten und wie in einer Art Trance gefangen.”
„Alles bestens. Wirklich. Schau mich bitte nicht so an.
Komm, wir gehen nach Hause. Mum wird begeistert sein, dich zu sehen.”
Bei diesen Worten stand Jara schwungvoll auf, nahm ihren Bruder an der Hand und zog ihn mit sich.
Grace, die in der Küche damit beschäftigt war, einen leckeren Apfelkuchen von dem heißen Backblech zu lösen, konnte kaum glauben, wen sie da durch das Fenster geradewegs auf das Haus zukommen sah.
So schnell wie möglich befreite sie ihre Hände von den Backhandschuhen, warf diese auf die Arbeitsplatte, und eilte anschließend nach vorne zur Eingangstür.
„Jack! Ach, ich freue mich so sehr, dich zu sehen. Was machst du denn hier? Mit deinem Erscheinen habe ich gar nicht gerechnet.”
Mutter und Sohn nahmen sich fest in die Arme.
„Ich weiß Mum, aber auf der Arbeit ist diese Woche nicht viel los gewesen”, antwortete Jack keuchend, nachdem Grace sich von ihm gelöst und er wieder das Gefühl hatte, atmen zu können.
„Kommt rein, ich habe Kuchen gebacken. Wirst du für länger bleiben? Kommt dein Dad heute auch noch?”
Grace war bemüht, nicht allzu aufgeregt oder gar hastig zu sprechen, denn sie wusste genau, dass der unangekündigte Besuch von ihrem Sohn mit Sicherheit nichts Gutes zu bedeuten hatte.
Vor allem hoffte sie, dass ihrem Mann nichts zugestoßen war, deshalb auch immer die Frage, ob er denn noch kommt - quasi als geheimes Codewort.
„Nein, soweit ich weiß, wird Dad heute nicht persönlich kommen, aber er lässt dich in jedem Fall lieb grüßen.
Außerdem bin ich ja in seiner Stellvertretung da, um bei den Damen nach dem Rechten zu sehen. Mach’ dir keine Sorgen, Mum, es geht ihm gut, denn er hat mich sogar nach der Arbeit noch bis an die Schiffsanlegestelle begleitet”, antwortete Jack, der gerade dabei war, sich im Flur seine Schuhe auszuziehen.
„Ich habe gar kein Schiff kommen oder wieder auslaufen sehen. Dabei bin ich doch die ganze Zeit über am Strand gewesen”, warf Jara nachdenklich ein.
„Schatz, bist du so lieb und würdest aus dem Keller eine Flasche Mineralwasser holen? Ach, und zwei Zwiebeln, die brauch’ ich für das Abendessen”, bat Grace ihre Tochter schnell, denn sie wollte unbedingt vermeiden, dass noch mehr derartige Fragen in den Raum gestellt wurden.
Außerdem hatte sie das dringende Bedürfnis mit Jack ein paar Worte allein zu wechseln.
Begeisterung sah anders aus als wie Jara sie gerade verkörperte, doch sie würde niemals ihrer Mutter eine solche Bitte ausschlagen.
Mit einem kurzen Seufzer begab sie sich schlendernd in die hintere Hälfte des Hauses, und nur wenige Augenblicke später konnte Grace auch schon die schwere Tür zum Kellerbereich zufallen hören.
Sie zog ihren Sohn mit sich in die Küche. „Jack, was ist los? Wieso hat mir keiner gesagt, dass du kommen würdest? Wir haben das sonst immer untereinander abgesprochen. Hast du gehört, was Jara gefragt hat?”
„Mum, beruhige dich. Ich werde dir alles erklären, sobald sie ins Bett gegangen ist. Das ist keine Sache, die ich dir zwischen Tür und Angel berichten möchte. Vertrau’ mir einfach, dass Dad und ich unsere Gründe haben.”
„Natürlich! Genau dieses Verhalten hast du dir von deinem Vater angeeignet. Immer schön den Ball flachhalten, nur nicht zu viel Informationen. Jetzt will ich dir mal was sagen, mein Sohn. Wir Frauen sind nicht so zerbrechlich wie ihr immer glaubt. Wir können so viel mehr als ihr alle zusammen ertragen, wenn es sein muss. Also behandle mich nicht wie ein dummes Schulmädchen und merke dir meine Worte gut für später, wenn du selbst mal eine Frau und Kinder hast.”
Jack hatte auf einem der Küchenstühle Platz genommen und ihm bleibt nichts weiter übrig, als seine aufgebrachte Mutter zu beobachten wie sie während ihrer Ansprache, zwischen Apfelkuchen und Fenster, hin- und herlief.
„Mum, bitte ich werde dir … ”, versuchte er einen neuen Anlauf, doch seine Worte wurden von Grace im Keim erstickt.
„Du wirst mir sofort sagen was Sache ist, oder ich fliege selbst zu deinem Dad und … ”
Grace stoppt, denn plötzlich stand Jara starr und mit fragenden Augen genau hinter ihrem Bruder.
Die Wasserflasche und die Zwiebeln hielt sie fest in ihren Händen.
Jack drehte sich von seinem Stuhl aus zu seiner Schwester herum und nahm ihr die Sachen ab.
Diese stellte und legte er vorerst auf dem Esstisch ab.
„Ist irgendetwas passiert?”, fragte Jara mit wechselndem Blick zwischen Jack, der mittlerweile seinen Kopf schwer in den Nacken gelegt hatte, und ihrer Mutter.
Ratlosigkeit und die Suche nach Antworten füllten den Raum.
Nach einer halben Ewigkeit fand Grace wieder zu Worten.
„Passiert? Nein. Dein Bruder und ich haben nur über Dad gesprochen und dass er nicht wieder zu viel arbeiten soll.
Du weißt, dass ich mir sonst Sorgen mache, und deswegen meinte ich gerade, dass ich am liebsten selbst wie der Wind zu ihm hinfliegen würde, um mich zu vergewissern, dass er sich auch wohlfühlt. Nicht wahr, Jack?”
Leider war Grace viel zu hektisch im Reden und das Lächeln wirkt aufgesetzt.
Jara konnte der Erklärung ihrer Mutter zwar folgen, doch dieser den erwarteten Glauben zu schenken fiel ihr nicht besonders leicht.
Dass Jack in genau dem Moment aufstand, als Jara sich zu ihm an den Esstisch setzen wollte, und die Küche mit den Worten: „Entschuldigt mich bitte für einen Moment“, verließ, machte die vorherrschende Situation nicht angenehmer.
„Jara, bitte warte hier einen Moment. Ich bin gleich zurück.”
„Moment mal … ”, wollte diese noch auf die verwirrende Verhaltensweise ihrer Lieben antworten, doch Grace war ihrem Sohn bereits in den Vorgarten gefolgt.
„Jack, was ist nur los mit dir? Willst du, dass Jara mitbekommt, dass etwas nicht in Ordnung ist? Wir haben doch nicht umsonst all die Jahre …”
„Doch das haben wir”, unterbrach er seine Mutter schroff.
Grace verschränkte die Arme vor der Brust und ist fassungslos über die Art und Weise, wie ihr Sohn plötzlich mit ihr sprach. „Anscheinend hast du dieses Mal deine guten Manieren in der Stadt zurückgelassen. Ich gehe jetzt zurück ins Haus. Du kannst wieder reinkommen, wenn du dir über dein Verhalten Gedanken gemacht hast, junger Mann!”
Jack war näher an seine Mutter herangetreten. „Mum, was soll das? Behandle mich nicht wie ein kleines Kind, das erst lernen muss, was Recht und Unrecht ist. Und eines weiß ich mit Sicherheit, und zwar, dass es nicht richtig ist, Jara weiterhin so eine Show vorzuspielen. Sie hat ein Recht darauf zu erfahren, wie die Welt wirklich ist und sie muss es sogar.”
Grace kniff die Augen zusammen, dann winkte sie mit der Hand ab. „Von was für einer Welt sprichst du? Etwa von einer, in die sie überhaupt nicht gehört? Eine, die mit Leichtigkeit imstande gewesen ist, dich und dein Leben zu verändern? Soll Jara, genau wie du, all die Schattenseiten und die schrecklichen Kreaturen, die diese Welt beinhaltet, kennenlernen? Zu diesen zähle ich auch die Menschen, die sie bewohnen. Allesamt sind nichts weiter als Egoisten, die kein Gespür mehr für Selbstlosigkeit und wahre Liebe entwickeln können, und die, wie ich finde, selbst schuld an ihrem täglichen Leid tragen.”
„Mag sein, dass die Menschen nicht mehr das sind, was sie einmal waren oder was sie sein sollten. Dennoch sind wir es, die dazu berufen worden sind, sie mit all unserer Kraft und den uns zur Verfügung stehenden Mitteln, vor jeglichen Angriffen des Indemalums zu beschützen. Hast du das wirklich alles verdrängt oder in all den Jahren völlig vergessen? Ich meine, du bist die Wächterin der Luft, aber ich habe nach dem Vorfall mit mir und Jara nie mehr erlebt, dass du deine Kraft je wieder eingesetzt hättest.”
Jack war bemüht die Vorwürfe gegenüber seiner Mutter, so gut es ging, in Grenzen zu halten.
Schließlich hatte er die Vergangenheit bereits von seinem Vater erzählt bekommen. Wie er, oder seine Eltern, das Ganze nun Jara schonend beibringen sollten, das konnte er sich beim besten Willen noch immer nicht vorstellen.
Traurig blickte Grace zu Jack. „Kinder leiden in diesen schlimmen Zeiten am meisten, oder hast du vielleicht vergessen, wie du hier auf der Insel aufgewachsen bist?
Bevor du Atlanta, deine Berufung, wie du es selbst so schön nennst, und das wahre Gesicht der Erde kanntest, warst du ein lebensfroher und ausgelassener Junge.
Schlimm zu sehen und zu hören, dass an irgendeinem Punkt mein Einfluss und meine Erziehung anscheinend ein jähes Ende gefunden haben.”
Jack merkte schnell, dass sich die Unterhaltung in eine völlig andere Richtung entwickelte als es eigentlich von ihm beabsichtigt gewesen war.
Außerdem konnte er die Enttäuschung in den Augen seiner Mutter kaum mehr ertragen. Er kam noch einen Schritt näher und umklammerte Graces Oberarme. „Mum, du weißt, dass ich nichts vergessen habe und es auch niemals werde. Aber … ”
Die Worte wollten einfach nicht über seine Lippen kommen, doch Jack konnte die schwere Last nicht länger für sich behalten. „ER ist zurück.”
Aus Graces Blick wich schlagartig die Enttäuschung.
Ihre Pupillen weiteten sich und die Mundwinkel begannen zu zucken. „Nein, bitte Jack, sag, dass das nicht wahr ist.”
„Ich wünschte, ich könnte es”, antwortete Jack mit gesenktem Kopf kaum hörbar.
Dann wendete er sich von seiner Mutter ab.
Er war erschrocken darüber, dass die bloße Überbringung dieser Nachricht ihn emotional so mitriss. Er, der doch sonst die Coolness in Person ist, musste sich zum ersten Mal seit Kindertagen schwer zusammennehmen, um nicht ungehemmt wie ein kleiner Junge loszuweinen.
Da er nach einer Weile hinter sich keinen Laut und keinen Atemzug mehr vernehmen konnte, drehte er sich wieder herum. Grace war verschwunden.
Aus geringer Entfernung hörte er jetzt ein lautes Klacken.
Die Haustür war ins Schloss gefallen.
Jara, die von der Unterhaltung zum Glück nichts mitbekommen hatte, war gerade dabei, den Kuchen mit einem Messer in gleich große Teile zu schneiden, als Grace im Laufschritt an der Küchentür vorbeihuschte.
Um eventuell mit ihrer Mutter sprechen zu können, löst Jara ihre Aufmerksamkeit von dem Blech und betrat den Flurbereich.
Leider konnte sie von dort aus nur noch zusehen, wie Grace die marmorierte Treppe hinauf in den ersten Stock eilte. Die Tür des elterlichen Schlafzimmers wurde geöffnet und sofort wieder geschlossen.
Zurück in der Küche überfiel Jara ein Gefühl von tiefer Sorge, denn sowohl ihre Mutter als auch ihr Bruder, verhielten sich immer weniger so, als sie es eigentlich von ihnen gewohnt war.
„Bekomme ich ein Stück von dem leckeren Kuchen?”
Jacks Frage holte sie aus ihren Gedanken zurück.
Er stand angelehnt im Türrahmen.
Obwohl er lächelte, konnte sie deutlich an seinen Gesichtszügen erkennen, dass irgendetwas ganz und gar nicht in Ordnung war.
„Klar. Setz dich doch bitte”, antwortete Jara und griff dabei in den großen Hängeschrank über der Spüle, um zwei mittelgroße Teller herauszuholen.
Sie aßen gemeinsam und nach einer halben Stunde war auch Grace wieder zu ihnen dazugekommen.
Sie tat das, was sie als Mutter in all den Jahren am besten konnte. Nämlich, so-tun-als-ob-nichts-wäre.
Da Jara wusste, dass sie in solchen Momenten auf bohrende Fragen keine oder nur belanglose Antworten erhält, entschied sie sich lieber auf das Schauspiel der beiden einzugehen.
Der Abend verlief ab diesem Moment sogar richtig gut. Es wurde gegessen, getrunken und gelacht.
Als die Uhr 11:00pm anzeigte, spürte Jara plötzlich den Anflug einer großen Müdigkeit.
Merkwürdig, denn eigentlich ist sie durchaus in der Lage bis spät in die Nacht wachzubleiben. Nach dem Duschen saß sie oft noch stundenlang am offenen Fenster ihres Zimmers und schaute dabei mit verlorenem Blick in den weiten, glitzernden und sternenklaren Nachthimmel.
Jara stand von ihrem Stuhl auf. „Entschuldigt mich bitte, aber ich glaube, ich …”, zu mehr kam sie nicht, denn ihre Beine fühlten sich schwammig an und alles um sie herum begann sich zu drehen.
Jack und Grace hatten sich ebenfalls von ihren Plätzen erhoben. Gemeinsam stützten sie Jara, damit diese nicht in sich zusammensacken und auf dem harten Boden aufschlagen konnte.
„Ganz ruhig. Schlaf jetzt, mein kleiner Schmetterling. Dir wird nichts passieren, das verspreche ich dir.”
Wie aus weiter Ferne drangen die Worte ihrer Mutter bis zu Jaras Ohren durch.
Dann Stille.
Dass sie im Wohnzimmer behutsam auf die große Couch gelegt wurde, bekam Jara nicht mehr mit.
In Windeseile verließ Grace den Raum. Sie begab sich nach oben in das Zimmer ihrer Tochter.
Dort angekommen öffnete sie hastig den verspiegelten Kleiderschrank und holte einen langen weinroten Cardigan aus diesem heraus.
Als sie selbst vor wenigen Stunden in ihrem Schlafzimmer war, hatte sie mit Angelo kommuniziert. Das Gespräch verlief leise und gefasst.
Dennoch konnte sie es jetzt kaum mehr erwarten, ihn endlich in ihre Arme zu schließen.
Zurück im Wohnzimmer hob sie den Oberkörper ihrer Tochter ein Stück weit an, wobei ihr Jack sofort behilflich war, um Jara den leichten Strickmantel anzuziehen.
Gesprochen wurde nicht viel.
Das brauchte es auch nicht, denn Jack hatte, nach der Rückkehr seiner Mutter, eine Notiz auf einem Zettel, unter dem Küchentisch liegend, vorgefunden.
Diese konnte er, als seine Schwester mal für kurze Zeit im Badezimmer verschwand, dann auch lesen.
Als Angelo von Graces Aufruhr und über die Tatsache, dass auch sein Sohn anscheinend mit der Situation überfordert ist, im Bilde war, beschloss er, die Angelegenheit lieber selbst in die Hand zu nehmen.
So oder so fühlte er sich für alles, was geschehen war, verantwortlich, daher wollte er es sein, der seiner Frau und seiner Tochter die Wahrheit über Jara und ihr Wesen beichten würde.
Wohl war ihm bei dem Gedanken keinesfalls, doch es war zu einer unumgänglichen Notwendigkeit geworden, ihnen die volle Wahrheit zu sagen.
Jetzt wollte Jack seiner Mutter in ihre heißgeliebte weiße Sommerjacke helfen, doch diese wehrte ab. „Du denkst doch nicht ernsthaft, dass mir kalt werden könnte, oder?
Die Luft ist mein Element, schon vergessen?”
Augenrollend, jedoch schmunzelnd, warf Jack die Jacke über die Lehne der Couch.
Dann beugte er sich zu seiner Schwester hinab und hob sie auf seine Arme.
Höchste Eile war jetzt geboten, denn die verabreichte Menge an Elementblüten-K.-o.-Tropfen, einem Gemisch aus Erdknollen, Feuerstrauchblättern, Eisgrashalmen, Wasserlilienwurzeln und einem Schuss des Nektars der ausschließlich bei jedem zweiten Vollmond blühenden NOCTURN SANGUINIS Rose, würde nicht ewig halten.
Grace hatte sich das kleine Fläschchen vor ein paar Tagen bei einer Magascha, die am anderen Ende der Insel lebt, wegen ihrer Schlafstörungen und der damit verbundenen wirren Träume mixen lassen.
Die gute Kräuterhexe, wie Grace die in die Jahre gekommene Frau selbst liebevoll nennt, hatte sie noch gewarnt, dass es bei übermäßiger Einnahme zu schweren Komplikationen kommen kann. Wenn man sich aber an die Dosis von fünf Tropfen halte, dann schlafe man die ganze Nacht durch, ohne am nächsten Tag überhaupt zu wissen, wie man in sein Bett gelangt ist.
Da die Substanz völlig farb- und geruchlos ist, konnte Jara auch den leicht blumig-seifigen Geschmack in ihrem Wasser kaum ausmachen. Sie fühlte sich sogar zwanzig Minuten nach der unbewussten Einnahme noch topfit.
Im Garten gab Grace zuerst ihrem Sohn und anschließend ihrer, in dessen Armen sehr tief schlafenden Tochter einen liebevollen Kuss auf die Wange. „Ich liebe euch.”
Plötzlich schossen aus ihren Schulterblättern zwei federleichte, weißschimmernde und sehr majestätische Flügel empor und in ihren sonst so grünen Augen begann ein aufbrausender und starker Wind zu toben.
Jack schien nur auf die Aktion seiner Mutter gewartet zu haben, denn nur Sekundenbruchteile später breitete auch er seine großen kristallklaren Flügel aus und seine blauen Augen begannen solange zu schimmern, bis sich tausende von funkelnden Eiskristallen vollends über seine Pupillen gelegt hatten.
Mit nur wenigen Flügelschlägen konnten die beiden sofort den notwendigen Auftrieb erreichen.
Pfeilschnell und für das bloße Auge kaum sichtbar schossen sie hoch empor in den ungetrübten Himmel.
Seit über zwei Stunden saß Angelo nun schon mit Grace auf dem Sofa in der großen Dachgeschosswohnung im vierundsechzigsten Stock eines Wolkenkratzers in Atlanta.
Sie hielt den Brief von Pater Janus in ihren Händen und schaute ihren Mann fragend an. „Und du bist dir sicher, dass Viktorius selbst hinter all dem steckt? Ich kann es mir nur schwer vorstellen, denn er hat den Vertrag vor zwanzig Jahren mit seinem eigenen, wenn auch schwarzem Herzblut unterschrieben. Sollte er sich, aus welchen Gründen auch immer, plötzlich nicht mehr daran halten, dann weiß er doch, was mit ihm geschieht.”
„Wenn du damit meinst, dass sein menschliches Herz bei Vertragsbruch ausbluten würde und seine Seele nie wieder von einem Körper Besitz ergreifen könnte, was wiederum zur Folge hätte, dass er nicht mehr auf der Erde wandeln könnte, dann weiß der gute alte Diabolo das sehr wohl.”
Der besagte Vertrag, von dem Angelo spricht, war einige Tage nach dem erbitterten Kampf zwischen den Astatoren, den Balance-Wächtern und den Maltriten, von dem zu diesem Zeitpunkt noch jungenhaften Pater Janus aufgesetzt worden. Dies jedoch in der Hoffnung, dass es irgendwie eine Möglichkeit gäbe, dass sich beide Seiten zumindest ruhig, wenn auch niemals friedlich gesonnen, unter den Menschen aufhalten können.