Zwischenzeiten - Maren Witte - E-Book

Zwischenzeiten E-Book

Maren Witte

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Beschreibung

Ist es möglich, durch eine fremde Stimme am Telefon, seiner großen Liebe zu begnen? Dies geschah in Hamburg dem Fotografen aus Chile und der Restauratorin Verena-Esperanza. Spüren doch beide, was lange Trennungen bedeuten, bedingt durch seine gefahrvollen Expeditionsreisen als Tierfilmer durch Südamerika. Wenn die Anaconda tanzt im Amazonas, riecht es in Hamburg nach Frühling. In diesen Zwischenzeiten knistert es heftig zwischen dem Spanier Roberto und Verena. Gerät ihre Liebe zu Antonio ins Wanken?

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Die Autorin entführt ihre Leserinnen und Leser von Hamburg nach Spanien, sowie ganz in den Süden von Lateinamerika und tief in den Dschungel von Amazonien.

Romanfiguren Die Familien in Hamburg, Spanien, Chile:

Verena-Esperanza Jensen, geboren 1973 in Hamburg. Sie wächst hier und in Spanien auf. Verena ist Kunstrestauratorin von alten Gemälden.

Patricia Rodríguez Jensen, geboren 1945 in Spanien, Ehefrau von Hans Jensen, Mutter von Verena.

Hans Jensen, geboren 1937 in Flensburg. Ehemann von Patricia, Vater von Verena. Sie leben in Hamburg und Spanien. Hans hat einen Weinhandel in Hamburg.

Oma Dora Jensen, Mutter von Hans, Großmutter von Verena.

Eva-Lotta Jensen, geboren 2002 in Hamburg. Tochter von Verena und Antonio.

Maria gehört als Haushaltshilfe zum Weingut der Familie Rodríguez. Sie ist Verenas enge Vertraute.

Antonio Botero, geboren 1973 in Santiago de Chile. Erwächst in Hamburg bei seiner Tante Alex (Alejandra) auf. Er ist ein erfolgreicher Fotograf, Tier- und Naturfilmer.

Matilda Botero, geboren 1945 in Chile, Ehefrau von Ernesto, Mutter von Antonio.

Ernesto Botero, geboren 1940 in Chile, Vater von Antonio. Er ist Journalist, wird 1973 in Santiago beim Militärputsch verhaftet.

Alejandra (Tante Alex), geboren 1945 in Chile, Zwillingsschwester von Matilda. Sie lebt seit 1967 mit Ehemann Pedro in Hamburg.

Carla Botero aus Santiago de Chile, Schwester von Ernesto.

Weitere wichtige Personen:

Roberto Suárez, geboren 1949, er lebt in Cáceres der Extremadura in Spanien. Erfolgreicher Künstler von Skulpturen. Spezialisi/Restaurator christlicher, sowie maurischer Kunstwerke.

Melli (Melanie), Tischlerin, seit Jugendzeit ist sie die engste Freundin von Verena. Alex, Tischlermeister, er und Melli gehören zusammen. Freddy ist Metaller. Die vier haben gemeinsam im Stadtteil Hamburg St. Pauli eine Werkstatt.

Walter, Kollege und bester Freund von Anton (wie Antonio in Hamburg auch genannt wird). Sie arbeiten zusammen auf ihren Foto- und Filmexpeditionen in Europa und Südamerika.

Pablo und Alfredo, zwei Chilenen aus Santiago, sind Fluchthelfer kurz vor und nach dem Militärputsch 1973.

Inhalt

Was hast du in meinen Träumen zu suchen

Durchlässigkeit

Spanien – Franco

Logroño

Wide Welten

Rizo – Locke

Im Bauwagen

Alhambra von Granada

Antonio in Logroño

Chile 1973

Von Chile nach Hamburg und zurück

Santiago de Chile

Chiloé 1997 und 1973

Hamburg riecht nach Frühling

Bis nach Feuerland

Aufräumen im Kopf, im Herzen und Bauch

La Rioja – Weinlese im Riojatal

Antonio – Ende September 1997

Kommen – Bleiben – Gehen

Warten – vertrödelte Zeit

Extremadura – extrem trocken

Pantanal Brasilien

Papierflieger

Jaguar und Tapire

Dopamin pur – Morsezeichen von Antonio

Roberto – Kloster oder Marokko

Abenteuerliche Neigungen

In mir die ganze Welt – und Du

Peru – wenn die Erde dampft

Lebenslinien

Eva-Lotta

Affenfleisch mit Curare

Buschflieger und Iquitos

Oma Dora meint – es reicht

Die Gesetze der Zeit

Drogengefängnis – Yurimaguas

Viele Monde kamen und gingen

Was hast du in meinen Träumen zu suchen

Hamburg 2003

Keine Ahnung, warum ich dir immer noch schreibe. Sende seit langer Zeit keinen dieser Briefe mehr ab. Wohin sollte ich sie auch schicken? Was hast du in meinen Träumen noch zu suchen? Ich gab mir Mühe, wieder einzuschlafen, während deine Hand sachte meine Gedanken streichelte. Morgen geht die Sonne wieder auf. Das will ich ihr auch geraten haben.

Sommer 1996

Das Telefon klingelt aufdringlich. Sie legt den Hobel aus der Hand, hebt den eingestaubten Hörer in der Werkstatt ab. Eine sehr angenehme männliche Stimme erreicht ihr Ohr: „Hallo Tante Alex, du bist ja zu Hause, was gibt es zu essen? Egal, ich komm rum?“ „Hier ist die Tischlerwerkstatt von Freddy und Alex. Und Alex ist ein Mann und nicht deine Tante.“ „Oh, da habe ich ja unverschämtes Glück, so einer schönen Frau akustisch zu begegnen. Hat diese Schöne auch einen Namen?“ „Natürlich, aber du solltest jetzt lieber deine Tante anrufen, sonst ist sie möglicherweise gleich weg und nix mit futtern. Überfällst du fremde weibliche Stimmen am Telefon immer gleich mit -Schöne Frau-? Du weißt doch gar nicht wer ich bin und schon gar nicht, wie ich aussehe.“ Verena hat plötzlich Spaß an dieser lockeren Plauderei mit einem wildfremden Mann. Sie schätzt ihn nicht älter als Ende zwanzig. „Doch, das weiß ich längst, du bist wunderbar und sehr schön, ich hör doch deine Stimme und was du sagst. Du bist schlagfertig, flexibel und hast Humor.“ „So, so, ich lass das fürs erste mal so stehen; doch das mit fremden Telefonstimmen kann täuschen. Wie würdest du dich denn einem wildfremden Menschen, vorzugsweise einer Frau, so beschreiben? Zum Beispiel: biologischer Freilauf mit viel Fantasie?“ „Naja, so ähnlich. Ich kann alles. Also fast alles. Bin faul und bequem. Reicht dir das fürs erste?“ „Na klar, Supervita, genau was mir gefehlt hat.“ „Ach ja? Ich mag Octopus, und du?“ „Esse ich fast täglich.“ „Gute Aussichten, meine Frau sollte mit mir übereinstimmen.“ „Aha, und dir den Rest von den Augen ablesen!“ „Genau, oder so ähnlich.“ „Weißt du was, du bist ein Egoist und großer Junge und ich muss jetzt weiter arbeiten. Bin nämlich im Gegenteil zu dir nicht faul und bekomme bei keiner Tante etwas zu essen.“ „Warte, warte, können wir uns sehen? In einer Stunde am Alten Elbtunnel.

Ich habe da jetzt noch zu tun. Du erkennst mich mit zwei Fotoapparaten um den Hals auf so einer alten BMW Maschine. Por favor(l) schöne Frau.“ „Tse.“

Verena legt amüsiert den Hörer auf. Nimmt den Hobel wieder zur Hand und zieht ihn schwungvoll über das Werkstück. Wenn Melli (Melanie) und Alex von der Baustelle kommen, will sie die Teile hier fertig haben. Oder ist noch Luft für eine kleine Auszeit. Blick auf die große Wanduhr, kurz vor zwei. Sie könnte gegen vier wieder hier sein und vor fünf Uhr kommen die beiden nicht. Sie klopft sich die Holzspäne vom Blaumann und sucht Freddy in seiner Ecke. Er schweißt Metallgestänge zusammen. Verena tippt ihm von hinten auf die Schulter. Er schiebt sein Schutzvesier hoch, dreht sich um: „Was gibt’s Verena. Bin hier gleich durch, dann können wir drüben Pasta und zwei kleine Schwarze nehmen.“

„Ne, heute nicht Freddy, bin mal zwei Stunden weg.“ Er nickt, schiebt sein Visier wieder runter, macht konzentriert weiter. Verena schlängelt sich an den großen Werkbänken vorbei, wirft hinten kurz einen Blick in ihr Atelier und verschwindet durch die Saloon-Schwingtür. Bevor sie die Treppe zu ihren Räumlichkeiten hochläuft, zieht sie die Arbeitsschuhe aus, pellt sich aus dem mit Leim verklebten Overall und lässt alles an der Treppe unten liegen. Oben wirft sie ihre restlichen Kleidungsstücke aufs Bett und hüpft unter die Dusche. Der Rock ist zu kurz, die Bluse ist weit, sie knotet die Enden vorne zusammen. Sandalen? Nein weiße Turnschuhe! Sie fahrt sich mit den Händen durch ihre kurzen, lockigen Haare, die wie immer etwas wild in alle Himmelsrichtungen wollen. Schiebt die Sonnenbrille hoch, O.K., so geht es. Im Hof springt sie auf ihr Fahrrad, radelt die Juliusstraße runter, lässt die Rote Flora links liegen und biegt rechts ab. Ich guck mir den Typen nur mal aus der Ferne an. Bei ihrem Lieblingsbäcker hält sie an, bestellt sich einen Croissant und einen Capuchino, setzt sichdraußen an einen der Bistrotische. Sie schaut sich fröhlich die vorbeieilenden Leute an und denkt gerade -was für einen spontanen, blöden Einfall ich mal wieder habe, sich irgendsoein männliches Wesen von Weitem anzusehen.- Es ist so, wenn sie eine fremde Stimme am Telefon hört, stellt sie sich sofort den Menschen dazu vor. Interessante Studien, sie kann nicht davon lassen. Es waren allerdings zumeist die totalen Nieten dabei, ob Frauenstimmen oder die von Männern. Am häufigsten natürlich Lieferanten, Kunden, Auftraggeber, Versicherungsfuzzis oder Banker. Private Treffen sind nie dabei gewesen. Naja, sie ist nun nicht gerade auf der Jagd. Ihr Leben gefallt ihr momentan sehr gut, nach der Trennung von Oliver vor zwei Jahren. Fahrradbremsen quietschen, Caro steigt von ihrem Drahtesel. Freudige Begrüßung, sie setzt sich zu Verena an den Tisch. „Das ist aber nicht deine Mittagspause, die machst du doch sonst in Arbeitsklamotten. Du siehst so abenteuerlustig aus in dem knackigen outfit. Hast du ein date um diese Zeit?“ „ Ne, will nur eine Figur aus der Ferne belauern, ich glaube nichts Aufregendes.“ „Ach hast du wieder Telefonstimmen psychlogisch ausgewertet. Sei vorsichtig! Ich muss weiter, „Ciao bella.“ „Adiós guapa.“(2)

Verena fahrt erst einmal am Alten Elbtunnel vorbei bis zu den ersten Hafenstraßenhäusern. Ein abgestelltes Motorrad hat sie drüben schon gesichtet, aber ohne Mann dazu. Verena geht auf die andere Straßenseite. Plaziert sich so, dass sie das Motorrad und die zwei Lastenfahrstühle vom Elbtunnel im Blick hat. Es dauert nicht lange, da erscheinen zwei junge Männer aus einem der Fahrstühle. Dem einen hängt je ein Fotoapparat über einer Schulter. Das eine Teil mit einem riesigen Teleobjektiv. Die beiden stehen noch im Gespräch zusammen. Die Kameras wechseln den Besitzer. Sie verabschieden sich. Der Kleinere von beiden, jetzt mit den Kameras, entfernt sich in Richtung Baumwall. Verena schiebt ihr Rad näher an die BMW Maschine und ruft nur ein: „Moin!“ „Oh, hallo schöne Frau, jetzt bin ich aber baff, dass du wirklich gekommen bist, hast es nicht so weit?“ Soll man sich die Hand geben? Beide zögern kurz. Dann streckt er ihr seine entgegen: „Ich bin Anton, also eigentlich Antonio.“ Als sie seine Hand ergreift, läuft ihr ein Schauer durch den ganzen Körper: „Verena-Esperanza.“(3) „Spanisch?“

„Halb, mütterlicherseits, und wieso eigentlich Antonio?“ „Chile, Mutter und Vater, der ganze Ahnenkatalog bis zu den Ureinwohnern. Wollen wir ein paar Schritte in die Große Elbstraße laufen, Capuchino beim Italiener?“ Verena schaut auf die Uhr: „O.K., Capuchino ist großartig. Ich muss dort sowieso noch Fische aus dem Nordmeer holen.“ Anton packt seinen Helm in die Box, lässt sein Motorrad stehen: „Du kochst?“ „Unter anderem. Bist du immer so reserviert und hast nur anonym an der Strippe den lockeren Spruch drauf?“ „Du bist damit angefangen, von wegen hanseatisch reserviert. Ganz ehrlich, ich war fast sprachlos, angenehm überrascht, dass meine Einschätzung deiner Stimme am Telefon genau passt, also perfekt ist. SchöneFrau.“ „Gracias(5) hombre.(7) Bin auch nicht schockiert.“

Beim Italiener stehen draußen Tische. Ach wie schön, sie setzen sich und bestellen den Aufgeschäumten. Das Handy von Verena klingelt, sie kramt es aus ihrem Rucksack. Melli ist dran: „Wo steckst du chica?“(8) „Em ja, sitze hier mit einem gewissen Anton, einem Weltfotografen, bei Capuchino in der Großen Elbstraße. Sorry, ich komme demnächst.“ „Bleib gefälligst wo du bist und mach dir eine schöne Stunde. Ich will nachher alles wissen und herrliche Fotos von dir und diesem gewissen Anton sehen. Kannst du uns noch bei den Fischimporteuren von den Grätenviechern mitbringen? Habt ihr schon geknutscht?“ „Mach ich, also das mit den Gräten. Bis neulich.“ „Ciao bella.“ Anton schaut sie fragend an und meint, ob sie in die Tischlerei muss. Verena verneint, sie hätte nicht so feste Arbeitszeiten; doch er möge ihr lieber von seinem Fotojob erzählen und wieso er von Chile in Hamburg gelandet sei. Er lehnt sich mit einem Lächeln zurück. Beinahe verlegen zieht er eine Hand durch seine schwarzen vollen Haare. Seine Arbeit sei nicht so spektakulär, von Chile gäbe es eine lange und eine kurze Version. „Das bleibt dir überlassen, ich höre gerne zu.“ „Dann bestell ich jetzt für uns einen Oktopus-Salat.“ Verena muss herzhaft lachen. „Nicht schlecht Antonio. Ich wünsche mir die lange in Etappen.“ „Das hieße ja, wir treffen uns wieder?“ Und zur Bedienung: „Einen großen Oktopus-Salat mit Brot und zwei Wasser bitte.“ Sie ist sehr interessiert an seinem Fotojob. Er winkt ab, ist gerade dabei intensiv an seinen beruflichen Zukunftsplänen zu arbeiten. Er will mehr über die Werkstatt wissen. „Kannst du dir ja mal alles anschauen.“ Die Zeit rennt. Verena ruft Melli nochmal an. Am anderen Ende ist Freddys Stimme: „Ich soll fragen, ob schon Erfolge zu verzeichnen sind?“ „Der einzige Erfolg ist, es gibt heute keinen Fisch mehr. Wir sehen uns noch.“ Melli: „Wir haben draußen den Grill angeschmissen, von gegenüber haben sie auch etwas Schmackhaftes beigesteuert. Sitzen alle im Hof mit Bierchen. Bring ihn mit.“ „Beso(9) Melli, weiß nicht, bis gleich.“ Anton war drinnen und hat bezahlt, kommt mit zwei Espressi wieder, hält ihr eine Tasse hin. „Kleiner Absacker. Du willst wohl los. Musst du noch zu den Fischhändlern?“ „Nein, da gibt es jetzt nichts Gescheites mehr. Die Freunde sitzen bereits mit Gerstensaft im Hof, auf dem Grill liegen sicher schon schlimme Würstchen. Wenn du willst, gehen wir zusammen zu deiner Machine, ich schiebe meinen Esel. Darf ich vorstellen, - Moreno.“ - „Super, Esperanza.“(3) Sie lächelt ihn offen an: „So hat mich schon lange keiner mehr genannt.“ „Dann wird es aber Zeit, dein Name verspricht mir doch Hoffnung auf das Leben, die Zukunft, vielleicht auch die Liebe?“ Er nimmt ihr die leere kleine Tasse ab, stellt beide auf den Tisch. Grüßt nach hinten zum Kellner, der ihm zuzwinkert. Er möchte ihr Rad, also Moreno, schieben. Sie stutzt kurz, ist solche männliche Zuvorkommenheit gar nicht mehr gewohnt und fragt sich -was wohl sonst noch hinter der Stirn von diesem Mann mit den sirupdunklen Augen und schwarzem Haarschopf so steckt. Kurz vorm Elbtunnel steuert Anton einen Zaun an: „Schließ dein Rad doch hier an, ich fahr dich nach Hause.“ „Was? Ich soll auf die Maschine da, mit diesem kurzen, engen Rock?“ „Na, ob du damit auf deinem Moreno oder auf meiner Maschine sitzt, ist doch pipenhagen. Zweiten Helm habe ich immer dabei. Na los! Wohin?“ „Schanze.“ „Festhalten! Lieber Linksoder Rechtskurven?“ „Links! Juhu! Jetzt vor der Flora links rein. Da vorne halten!“ „Wo wohnst du denn, ist das die Juliusstraße?“ „Ja, ich wohne da drüben im Hinterhof, wo auch unsere Werkstatt ist. Willst du mit rein?“ Er sieht etwas skeptisch in Richtung Toreinfahrt und nickt. „Die Maschine kannst du in den Hof schieben, wenn du willst.“ Macht er, hier steht sie wirklich nicht so günstig. Auf dem Kopfsteinpflaster im Hof werden sie von einer größeren Runde, die um den Grill sitzt begrüßt, mit einem einladenden: „Setzt euch!“ Verena hebt beide Hände: „Moin, später, Anton will erstmal die Werkstatt sehen.“ Er schaut sich erstaunt drinnen um und meint: „Riecht nach frischem Holz, aber irgendwie auch nach Rost.“ „Feines Näschen hast du. Alex und Melli sind die Baum-Spezialisten. Ich spring nur mit ein, wenn die Auftragsbücher platzen. Hier in der Ecke arbeitet Freddy, der Metaller. Mein Atelier ist weiter durch. Ich bin eigentlich Restauratorin, aber tischlern habe ich auch drauf.“ „Restaurieren für was?“ „Ooch, so alte Schinken für Kirchen, Museen und Galerien, oder auch private Aufträge.“ „Ich hätte dir mehr eigene Kreativität zugetraut.“ „Du hast mich also gleich in deine unterste Schublade abgelegt? Warte doch die Pausen ab.

Den Egoisten nehme ich zurück, den -Großen Jungennicht. Jetzt mit dem Zusatzt -ungeduldig-“ Sie zeigt in ihre Atelierecke mit großer Arbeitsplatte und mehrere zugehängte Staffelein stehen herum. Dann hält sie ihm die Saloon-Schwingtür auf. Er sieht sich in einer geräumigen Diele mit alten Stallfenstern um. Steigt hinter ihr die Metalltreppe hoch. Pfeift durch die Zähne, als er sich oben in einem großzügigen, offenen, hellen Raum befindet. Blitzschnell mit seinem optischen Fotoblick alles wahrnimmt. Direkt gegenüber an der Wand gibt es ziemlich hoch nur waagerechte, längliche Oberfenster, darunter ein riesiges Bett mit Moskitonetz. Eine Küchenzeile mit auffälligem silberfarbenen Kühlschrank, wie aus den 50ern, einen Flügel mit zwei Notenständern, in der Raummitte ein großer Holztisch, Stühle im Raum verteilt. Zwei Sofas, daneben Gemüsekisten aus Übersee, wie sich an manchen aufgedruckten Schriftzügen erkennen lässt. Auch zwei halbierte Matjestonnen bei den Sofas mit modernen Lampen. Anton schaut an vier kantigen Holzsäulen bis unter die Decke, unterbrochen von einigen Querbalken. An einer Säule sind Macheten,(71) Säbel und Schwerter befestigt. Mitten im Raum hängt von der Decke eine Strickleiter zu einer Dachluke. An den Seiten große Fenster, unter einem steht eine großzügige Arbeitsplatte, auf der Zeichnungen ausgebreitet und Papierrollen liegen. Verena ist an ihrer Musikanlage zugange: „Magst du außer Oktopus auch Opern?“ „Nicht jede, aber Mozart muss dich gekannt haben.“ „Du meinst, ich könnte heute noch deine -Königin der Nacht- werden?“, „Ist das ein Angebot? Auch gerne mit Gesang.“, „Ich mach uns mal einen Espresso, oder brauchst du eher eine Abkühlung?“ Er geht zum Flügel, öffnet den Deckel und schlägt kurz die -Kleine Nachtmusik- an. Sie schaut sich zu ihm um: „Ist dir der Spatz in der Hand eigentlich generell genug oder willst du auch die Taube?“ „Espresso jetzt eher nicht, ich habe noch Hunger!“ „Auf Turmtauben?“ „Nee, auf dich.“ Verena kommt aus der Hocke hoch: „Liest du mir hinterher Rilke vor?“ „Hinter was?“ „Es gibt da ja unterschiedliche Ausdrucksformen. Weißt du, körperliche Liebe machen, ist für mich nicht mal eben schneller Sex.“ Verena hört innerlich Mellis Stimme: mach jetzt keinen falschen Fehler. Aber egal was du machst oder was auch nicht machst, ich steh dir bei. Anton lässt seinen Kopf seitlich hin und her kippen: „Nee, ist richtig, ich weiß was oder wie du es meinst. Das würde sich von selbst ergeben. Willst du sonst noch etwas von mir wissen? Ob ich gewaschene Füße habe, weil ich natürlich die Socken ausziehe.“ „Ich muss nicht alles wissen. Oktopus, Mozart, keine Socken beim Sex ist ja nun klar, das reicht fürs erste. Weiteres würde sich von selbst ergeben, wie du sagst. Oder noch, schnarchst du?“ „Generell oder danach?“ Er hält sie längst in den Armen. Eine weiche, warme Körperberührung. Eine Stimme, wie Gesang an ihrem Ohr: „Paloma-Esperanza,(4/3) te quiero.“(67 hier: ich will dich). Ein erster zarter Kuss. Verena zieht ihn zum Bett, sie öffnet das Moskitonetz, ihre Klamotten fliegen durch die Gegend. Leidenschaftliche, wilde Küsse, dann beiderseitige, liebevolle Zärtlichkeiten, den ganzen Körper des anderen erforschen. Die Haut spüren, das Aroma vom anderen in sich aufnehmend, treiben sie, für Verena, in ungeahnte Höhen. Lange Zeit nach diesem Tsunami liegen sie ineinander verschwitzt in den Laken. Verena küsst ihm Stirn, Nase, Mund und rollt sich an die Bettkante. Er will nach ihr greifen, doch sie springt hoch und unter die Dusche. Eingewickelt in ein Badetuch steht sie am Bett und betrachtet dieses doch wirklich wunderbare Mannsbild. Er liegt mit geschlossenen Augen, einem leichten Lächeln um den Mund völlig entspannt in ihren Kissen. Sie muss sich mal kurz in den Arm kneifen, dass diese zwei Stunden eben keine Träume waren. Also traumhaft war es schon. Verena hört Stimmen aus der Werkstatt, wirft ihm ein Handtuch auf den Bauch. „Antonio, Dusche ist frei.“ Er streckt sich genüsslich und setzt sich auf. Sie lächeln sich an. Verena zieht die Augenbrauen hoch: „Noch hungrig?“ „Flüssige Nahrung reicht! Erstmal äußerlich.“ Er legt sich das Handtuch um die Hüften. Verena zeigt auf die Tür zum Bad. Sie bereitet Limonenwasser vor. Anton kommt nackt mit nassen Haaren aus der Dusche, trinkt das Glas Wasser in einem Zug leer, welches Verena ihm hinhält. „Noch sowas, wäre super.“ „Such du erstmal deine Klamotten zusammen, liegt alles irgendwo vorm Bett.“ Er grinst, nimmt ihren Kopf zwischen seine Hände, küsst sie auf den Mund.

„Hmm, herrlich.“ Sie schaut amüsiert seinem Knackarsch, mit den Grübchen an den Seiten, hinterher. „Ich muss noch in die Redaktion mi cariño.(11) Telefonieren wir morgen?“ Schnell gluckert noch ein Glas Wasser durch seine Kehle. Ein schneller Abschiedskuss, dann flitzt er behände, eine Melodie pfeifend die Treppe runter. „Königin der Nacht,“ murmelt Verena.

Melli kommt die Treppe hoch. „Na, der hatte es ja eben eilig.“ „Muss noch in die Redaktion sagt er.“ „Aha, wird es was Ernstes chica? Telefonstimme und du warst durchgeknallt. Bist du noch zu retten? Sowas habe ich bei dir ja noch nie erlebt. Alle roten -Achtung-Blinklampen- hatten Kurzschluss?“ „Du meinst, ich hatte nur Entzugserscheinungen?“ „Glaube ich nicht, eher sicheres Bauchgefühl. Ich wünsche dir, der ist anders, nicht wie die letzten Reinfälle.“ „Wird sich zeigen. Ich weiß auch nicht, schon seine Stimme am Telefon. Unsere erste Begrüßung an seiner Maschine am Elbtunnel war ja nur ein Händedruck, wobei er meine Hand zwei Sekunden zu lange hielt und mir lief ein Schauer über den Rücken. Unsere Gespräche waren humorig, ernsthaft, aufregend interessant. Seine Wurzeln stecken in chilenischer Erde.“ Melli hat mit offenen Augen und Ohren zugehört. Nimmt Verena in die Arme: „Erstmal freu ich mich riesig. Das hat dir mal gutgetan. Du bleibst dran und bestimmst das Tempo. Von dem wollen wir alles wissen. Das sollten wir sofort mit einem kleinen Schluck Puffbrause begießen.“ Verena gibt Melli einen Kuss auf die Wange und löst sich von ihr. „Das mit langsam ist mir heute ja schon mal nicht gelungen. Ich hätte nur einen tinto Rioja.“

„Auch gut. Ah ja du Rioja, wie geht es deiner Mutter aus dem Tal der besten Rotweine?“ „Meiner Mutter geht es gut. Sie hat für mich wohl eine umfangreiche Sache in einer Kirche ausgemacht. Große Wandbilder sind zu restaurieren. Ich warte auf Fotos von dem dortigen Denkmalschutzamt.“ „Du wirst also bald nach Spanien fahren?“ „Mal schauen. Das kann alles noch dauern und ich muss mir die Sache zuvor ansehen und einschätzen, ob das für mich möglich ist. Das würde eine ziemlich lange Zeit inanspruch nehmen.“ Verena nippt an ihrem Rotwein und versinkt in grüblerische Gedanken. Melli kennt diesen Blick von ihr, wenn sie in andere Welten abtaucht. Sie winkt der Freundin zu und verschwindet nach unten.

Durchlässigkeit

Herbst 1996Bereits schon etliche Wochen verbringen Verena und Antonio einfach gerne Zeit miteinander, nicht nur im Bett. Die Zeit ist ein unbewohnter Ort. Ist diese Liebe heutzutage altmodisch? Fragt sich Verena manches Mal, wenn sie bemerkt, dass ihre Zuneigung zu Antonio an nie gekannte Gefühle gelangt, wie sie es in ihren früheren Verliebtheitsphasen noch nie empfunden hat. Verena wusste gar nicht, in welche tiefe Schichten sie bei sich eintauchen kann.. Es ging ihr nicht jedes Mal so, wenn sie zusammen waren. Aber heute, an diesem bereits herbstlichen ersten Oktobertag, wenn das Laub sich verfärbt. Schon morgens die Schiffe auf der Elbe lang anhaltend lauttuten, ihre Signale in die Luft dröhnen lassen; dann weiß man in Hamburg, es ist dicker Nebel. Der Herbst ist nicht nur bunt, er hat auch etwas magische Melancholie. So ist auch die Liebe. Bunte, bewegte Leichtigkeit, auch Tiefe und Schwere.

Antonio hat zum Beispiel für manche seiner Fotomotive, die Sicht dahinter, eine gewisse Durchlässikeit, wie er es beschreibt. Es können für den Betrachter ganz simple, realistische Gegenstände sein. Antonio sieht oder spürt etwas ganz anderes, etwas Magisches, eben dahinter. Und diese Durchlässigkeit fühlt er in bestimmten Momenten auch bei ihr, versucht er Verena zu erklären. Sie meint, das hängt wohl mit den eigentlichen Wurzeln seiner Urahnen zusammen. Er: „Ja also dieser magische Realismus, das Vernebelte, fast Aufgelöste zwischen Wirklichkeit und Mythos. Das findet man in der Lateinamerikanischen Kunst, besonders in der Literatur.“ „Auch in manchen deiner Porträtaufnahmen,“ findet Verena. Anton: „Liebe, wie soll man die definieren. Manchmal zwinge ich mich, das mit uns ganz nüchtern zu betrachten. Gelingt mir aber nicht. Also überhaupt nicht!“, „Mir auch nicht. Und das will ich auch gar nicht. Ich möchte mit dir etwas besprechen,“ kommt von Verena. „Ich auch mit dir, aber du zuerst.“ „In drei Tagen werde ich nach Spanien fahren, ich habe einen großen Auftrag, den meine Mutter für mich eingefädelt hat. In einer Kirche sehr alte Malereien restaurieren. Ich werde bei meiner Familie auf dem Weingut in Logroño wohnen.“ Ihre Mutter hatte gestern abermals angerufen, dass alles in ihrem Haus für sie vorbereitet sei und die Kirchengemeinde ausreichend Gelder zusammen hat, damit Verena und die drei anderen Restauratoren beginnen können. „Heute Abend will ich meine Mutter anrufen, dass ich in vier Tagen dort sein werde.“ „Das passt ja gut zu meinem Auftrag,“ strahlt Antonio: „Ich muss dann mit Biologen und anderen Tierund Naturfilmern nach Südfrankreich in die Pyrenäen. Das soll eine große Serie “Wilde Welten“ werden. Es sind erst einmal sechs Wochen geplant.“ „Seid ihr denn auch auf der spanischen Seite der Pyrenäen? Logroño ist dann nicht mehr so weit entfernt.“

Verena wacht bereits im frühen Morgengrauen an diesem Montag im Oktober auf. Ein windiger, etwas regnerischer Montag. Sie macht sich einen kleinen Schwarzen und trinkt ihn heiß in kleinen Schlucken. Denkt dabei an ihre Mutter, dass sie heute an einem Montag Brot backen wird. Verena sieht sie in ihrer weißen Schürze in der großen Küche am hell gescheuerten Holztisch stehen und den Teig kneten. Der intensive Geruch dieser Brotback-Montage zog ihr dort immer in die Nase, welcher sich durch das ganze Haus verbreitete. Eine Stimme weckt sie aus ihrer angenehmen Erinnerung. „Du träumst im Stehen?“ Anton grinst ihr vom Bett kommend entgegen. „Du auch so früh wach? Bin schon unter der Dusche.“ Anton hebt die Hand zum Gruß und macht sich auch einen café solo.(12) Melli hat eine Tüte mit Croissants auf die unterste Treppe gelegt, die Anton hochholt und auf den kleinen Tresen legt, wo Verena bereits sehnsüchtig wartet. Ihre fast einzige Sucht ist nach diesen Dingern, entgegen ihrer sonstigen Einstellung zu gesunder Ernährung. Sie belegt eines mit Butter für Anton. Er beißt herzhaft hinein, als er aus der Dusche kommt und setzt sich Verena gegenüber. Ein paar letzte Wassertropfen springen von seinen Haaren auf die Schultern und rollen wie Perlen über seinen nackten Oberkörper. Verena genießt diese eigentlich unscheinbaren physikalischen Abläufe wie große Ereignisse. Antonio greift ihr in die Locken, streicht über ihre Wange und hebt ihr Kinn etwas an. „Bist du schon in Logroño, du wirkst heute Morgen so abwesend. Übrigens Walter erwartet mich auch schon um 7.00 Uhr in der Redaktion, wir treffen uns mit den anderen bereits eine Stunde später bei irgendeiner Raststätte an der A7. Du willst ja auch früh los, wirst du durchfahren?“, Ja, aber ich mach mir keinen Zeitdruck, vielleicht übernachte ich auch einmal in Südfrankreich. Wenn du willst, bringe ich dich und dein Gepäck zur Redaktion, dann kannst du deine Maschine im Hof stehen lassen.“ „Ami carino,(11) das wäre super.“ Am Baumwall, vor dem Verlagshaus dann ein langer Kuss, bis Walter und andere Kollegen pfeifen. Verena springt in ihren Golf, Anton ruft: „Buen viaje,(13) cuídate.“(14)

Abends ist Verena in Biarritz, sie will aber doch noch über die Grenze, da sie an der Küste vor San Sebastian einen kleinen Ort am Wasser für Übernachtungen kennt. Verena ruft von unterwegs in dem kleinen Hostal an und reserviert für zwei Nächte. „Rosalia, ich bin aber erst gegen 22:00 Uhr bei euch,“ meint Verena entschuldigend. Rosa lacht: „Das kenne ich von dir doch schon. Dein Zimmer ist bereit und Luis macht dir noch einen Fisch. Wir freuen uns.“ Verena ist erschöpft und müde, als sie endlich ankommt. Freut sich über den herzlichen Empfang der beiden Alten. Nimmt eine Dusche und schreibt Antonio und Melli je eine SMS. Später ruft sie dann noch ihre Mutter an, dass sie zwei Nächte bei Rosalia und Luis bleiben wird. Die Tour sei doch sehr lang und anstregend gewesen und es ist so schön hier am Meer. Patricia, ihre Mutter, ist sehr froh, dass Verena schon mal bei den Freunden am Golfo de Vizcaya gelandet ist und sie soll sich noch mal schön einen Tag verwöhnen lassen, bevor sie hoch oben auf Leitern an den Kirchenwänden herumkratzen wird. Verena denkt: So, das wäre erledigt, dann kann ich mich ja jetzt fallen lassen. Wobei sie sich gerne in die Arme von Antonio fallen ließe. Na, der kraxelt ja bereits morgen sicher mit viel Gepäck, wie Zelten und Kameraausrüstung in den Pyrenäen herum. Das wäre mal eine schöne Landschaft zum tagelangen Wandern und draußen die Nächte verbringen, Sternschnuppen zählen. Vielleicht schaffen wir zwei das mal? Träum weiter Esperanza! Luis stellt ihr einen Teller mit einem köstlich gebratenen Merluza vor die Nase. Herrlich! Verena bemerkt erst jetzt, dass sie großen Hunger hat. Den ganzen Tag über gab es ja nur Obst. Und sie wird sich auch schnell wieder an südliche Essenszeiten gewöhnen. Ich bin eben im Herzen Nord- und Südeurpäerin.

Am Mittwoch Morgen lässt sie sich Zeit mit dem Frühstück, eben ganz nordisch. Rosalia setzt sich mit einer Gemüseschüssel zum Putzen zu Verena: „Wenn du noch am Wasser laufen willst, ist es wohl besser du machst es demnächst. Es ist später Sturm aus Nord-West angesagt.“ „Ja jaa, komm trink mit mir noch einen café, dann wander ich los.“ – Herrlich die Luft! Wie auf den Nordfriesischen Inseln. Verena läuft bereits eine Stunde gegen den Wind, dann wird man zurück fast geschoben. Es stürmt recht heftig und der Wind legt an Stärke spürbar zu. Dunkle Wolken brauen sich zusammen. Sie sollte mal langsam umkehren. Macht sie! Verena fühlt die Kälte im Rücken, zieht ihre leichte Wetterjacke über das Sweatshirt und setzt die Kapuze auf. Ein Luftstrom schiebt sie voran, dass sie fast ins Laufen kommt. „Juchu,“ ruft sie den Möven zu. In diesem Moment rollt an ihren Füßen eine Baskenmütze vorbei. Verena sprintet hinterher, kriegt sie aber nicht zu fassen. Mit einem Affenzahn wird sie von einem kleinen struppigen Hund überholt, der schnappt sich die Kappe. Stolz bleibt er stehen,wartet bis Verena rankommt. Sie hockt sich zu dieser kleinen, hässlichen Promenadenmischung runter: „Ist das deine, oder gibt es dazu auch ein Herrchen? Ach, du meinst, ich soll das Teil haben? Steht dir doch vielleicht besser.“ Sie stülpt dem Struppi die Mütze über den Kopf, wobei Ohren und Augen darunter verschwinden. Der Vierbeiner schüttelt sich. „Gut, dann ist das Ding jetzt mein Schmuckstück.“ Sie schiebt sich diese versandete Teerblase über die Locken, etwas schräge keck über das linke Ohr. „Perfekt bei dem Sturm.“ Sie kommt aus der Hocke hoch, der Struppi fangt an zu knurren und guckt Verena mit schrägem Kopf an. „Was jetzt, gefallt dir auch nicht?“ „Vor allen Dingen mir nicht,“ ertönt eine barsche Männerstimme hinter ihr und reißt ihr die Baskenmütze vom Kopf. Verena dreht sich um und schaut in ein grimmiges, von einem schwarzen Bart zugewuchertes Gesicht. Haare, welche auf seinem kahlen Schädel fehlen, ihm wohl runtergefallen und an anderen Körperteilen wieder angewachsen sind. Möchte nicht seinen Rücken sehen. Verena setzt fieses Grinsen auf: „Haben sie schon mal Lachgas genommen?“ „Nein, wieso?“ „Versuchen sie es mal, wird ihnen gut tun“

Spanien – Franco

Riojatal

Das Haus mit dem umliegenden Weingut der Familie Rodríguez mütterlicherseits von Verena-Esperanza, liegt ein ganzes Stück außerhalb von Logroño. Die Verbindung ihrer Eltern ist über die edlen Tropfen aus dem Riojatal entstanden und so fing alles an. Verenas Vater Hans Jensen, blaue Augen, strohblonde Borstenhaare, sieht auch ohne Vollbart wie ein Wikinger aus und stammt aus Flensburg. Bereits als junger Mann übernahm er den Weinhandel in Hamburg von seinem Vater, der von der Ostfront nicht zurück kam und baute ihn weiter aus. Er bezog schon damals nicht nur deutsche Weine, sondern auch aus Frankreich, Italien, und Spanien. Besonders gute Geschäftsbeziehungen unterhielt Hans mit den Weingütern im Riojatal. Bei den Rodríguez war er in den 60er Jahren sogar dreimal bei der Weinlese dabei. Danach gab es in allen großen Orten und jedem kleinen Dorf am Ebro üppige Weinfeste mit viel Musik und Tanz. In dieser Zeit lernten sich Patricia und Hans kennen. Sie ist 1945 geboren, als jüngste Tochter unter vier Brüdern im Hause Rodríguez aufgewachsen. Mit 20 Jahren war sie bereits sehr tüchtig und selbstständig. Liebling des Vaters. Weil der Deutsche ein exzellenter Weinkenner war und so gute Geschäfte machte, durfte er Patricia heiraten. Ausschlaggebend für ihren Vater Juan war, dass Hans und er beide durch und durch Sozialdemokraten waren. Hans, der 1937 geboren ist, hat die letzten drei Kriegsjahre noch bewusst erlebt. Seine ersten Schuljahre, als es noch Lehrer gab, die verkappte Nazis, zumindest sehr rechts denkendes Kruppzeug waren, wie Hans es nannte. Man verlangte in Logroño von ihm, ein Katholik zu werden, wenn er Patricia heiraten wollte. Und zwar in der Kathedrale von Logroño. Diese strenge Auflage, welche Hans sehr gegen den Strich ging, war allerdings mehr der Wille ihrer Mutter Ana. Wobei auch diese Familie schwer in den Jahren des Spanischen Bürgerkrieges von 1936 – 39 gelitten hatte.

Die blutige Schlacht am Ebro mussten auch Ana und Juan miterleben. Er kämpfte für die Volksfront und Ana sah als Sanitäterin auch viel Elend. Als alles verloren schien, schlugen sie sich mit einigen anderen wochenlang immer nur nachts bis ganz in den Norden durch, über die Pyrenäen nach Frankreich. Doch sie konnten sich dort nicht ewig über Wasser halten. Einige zogen weiter. Juan und Ana schafften es zurück in die Heimat. Beide waren abgemagert, ausgemergelt und krank. Letztendlich gingen die Franquisten als Sieger hervor und der Diktator Francisco Franco kam an die Macht.

Die Alten der Familie Rodríguez hatten das Haus gehütet, wie viele andere hier. Angst zog wie Nebelschwaden über die Weinberge hinweg. Man verhielt sich ruhig und bedeckt, versuchte seine Arbeit zu machen. Nur nicht auffallen. Juan und Ana hatten die Ereignisse zusammengeschweißt. Ihre schlimmen Erlebnisse konnten sie nur gemeinsam durchstehen und langsam verarbeiten. Normal war für sie das Leben noch lange nicht unter der Francodiktatur. Der Faschismus und die katholische Kirche widerten speziell Juan an. Er traf sich wieder heimlich bei wöchentlichen, politischen Gesprächsrunden mit alten Freunden. Ana bekniete ihn, damit aufzuhören, da auch andere bereits von Nachbarn denunziert wurden. „Du wirst noch so gemein von den Franquisten ermordet wie bereits gleich nach Ausbruch des Bürgerkrieges in Madrid Frederico Garcia Lorca und viele andere Intellektuelle und überhaupt alle politischen Gegner.“ „Wir müssen Spanien in unseren Herzen bewahren Ana, verstehst du das denn nicht. Brauchst nichts zu befürchten, wir bleiben in der Versenkung und halten die Füße still.“ „Doch natürlich verstehe ich das, aber ich habe Angst vor dem großen Krieg, dem Hitler, der sich ganz Europa einverleiben will. Nur noch eine Frage der Zeit, wann deutsche Truppen hier einmarschieren.“ „Eben, alles Faschistenschweine. Wie, weiß ich nicht, aber genau das wird Franco verhindern.“

Franco trat aus dem Völkerbund aus. Erklärte Spanien einfach zum neutralen Land. In den 60er Jahren war der Faschismus in Spanien mal mehr mal weniger immer zu spüren, auch die schlechten wirtschaftlichen und familiären Situationen machten den Menschen das Leben schwer. In diesen Jahren wurde allerdings so einiges gelockert. Der Tourismus breitete sich aus. Viele spanische Männer gingen als Gastarbeiter in das wirtschaftlich aufstrebende, demokratische West-Deutschland. Auch junge Frauen machten sich auf den Weg, sie wurden z.T. von Firmen als Arbeitskräfte angefordert. Hans wusste, dass z.B. in Hamburg die Firma Beiersdorf viele Spanierinnen in der Fabrik beschäftigte. Ihm ging das ganze Franco-Regime stark auf die Nerven, es stank ihm mächtig. Er war in Sachen Weinhandel viel unterwegs. Es war nicht einfach für ihn, Patricia und ihre Familie zu überzeugen, dass er mit ihr in Hamburg leben möchte. Verständnis gab es vor allen Dingen von Vater Juan dafür. Wo der Mann seine Arbeit hat gehört er hin, und seine Frau hat natürlich dort bei ihm zu sein.

39 Jahre blieb Franco an der Macht, bis zu seinem Tod 1975. Zumindest hatte er dafür gesorgt, dass Spanien wieder eine Monarchie wird, mit dem jungen König Juan Carlos. Er wollte Spanien nicht faschistisch weiterführen. Nicht einfach, doch es gelang, auch gegen die vielen Fracotreuen. Ziemlich abrupt noch in den 70er Jahren fand Spanien in die Demokratie und den Anschluss an Europa.

Logroño

Verena ist wieder unterwegs, sie hat Pamplona links liegen gelassen. Sie fahrt keine Autobahn, sondern auf Straßen durch schöne Landschaften. Seit Verena denken kann, und da war sie noch sehr klein, war sie mit ihren Eltern jedes Jahr im Sommer in Spanien. Das waren herrliche Zeiten bei den Großeltern. Es waren heiße Sommer wie in Zentralspanien. Geringe Niederschläge, da sich zur Küste der Biskaya hin das Kantabrische Gebirge dazwischen schiebt.. Am Tage war ich oft mit abuelo(15) Juan in den Weinbergen. Abends konnte ich manchmal still zwischen den Füßen meiner abuela(15) Ana sitzend den Gesprächen der alten Frauen zuhören, wenn sie sich mit ihren Handarbeiten vor der Tür trafen.

Nun ist aber bereits Oktober 1996 und für Verena gibt es keine Vergnügungs-Kinder-Sommer mehr. Sie hat ein etwas mulmiges Gefühl, wegen der hohen Ansprüche, die hier auf sie warten. Ausgerechnet in der Kathedrale von Logroño will und muss sie sich den Anforderungen stellen. Verena will nicht erst durch die Stadt, sie biegt vorher in Richtung Weingut ihrer Familie ab. Wenn sie hier ist, fühlt sie sich sofort als Spanierin.

Kindheitserinnerungen kommen in ihr hoch: Ich glaube, ich rieche den Ebro schon.Mit diesem Fluss fühle ich mich von klein auf verbunden. Ich wanderte oft ganz alleine an seinem Ufer zu meiner Lieblings stelle, wo der Ebro eine kleine Kurve macht. Ihm konnte ich alle meine Sorgen und Nöte erzählen, er hat mir zugehört, mir geantwortet. Oft haben wir uns lange unterhalten und ich wusste immer, wie ihm gerade zumute war. Ob er sanft und leise daherkam oder wild, laut und wütend. Der Ebro vertraute mir auch an, dass er schon sehr finstere, traurige Zeiten hatte. Als er ganz rot vom vielen Blut war. Dann tröstete ich ihn und versprach ihm, dass er nie wieder so viele Leichen und Blut transportieren muss. Auch von meinen lustigen Erlebnissen sprach ich zu ihm. Er verstand mich sofort. Dann wurden seine kleinen Wellen ganz flink, leuchteten vom Sonnenlicht, sie blinzelten mich an, wie fröhliches Lachen. Opa Juan ist mir mal hinterhergeschlichen und hat meine Gespräche belauscht. Abends bei Tisch hat er dann verkündet: -Ich wäre wohl mit dem Ebro verheiratet, ich würde ihm Blumen schenken- Ich protestierte: -Der Ebro ist ein Fluss, den kann man nicht heiraten. Wenn man das tut, würde sich das Wasser stauen und es könnte nicht mehr fließen. So ist das überhaupt mit dem Heiraten. Aber wir sind gute Freunde und ja, ich bringe ihm manchmal Blumen mit meinen Wünschen, er trägt sie für mich bis in das große Meer in die weite Welt. Oma Ana hat mich verstanden und gemeint, ich sei ein spanisches Naturkind. Ihr konnte ich auch anvertrauen, dass ich etwas eifersüchtig auf ihre und Mamas dunkle Augen bin. Sie riet mir, wenn ich jeden Tag ganz viele von den dunkelblauen Weintrauben esse, bekomme ich auch so schöne spanische Augen, wie sie, Mama und fast alle anderen hier! Ich kriegte Durchfall und meine Augen blieben bernsteinfarben, wie die von Oma Dora aus Flensburg.

1969 sind Patricia und Hans nach Deutschland übergesiedelt.

Hans bestand darauf, dass sie in Hamburg nochmals vor dem Standesamt heiraten und er trat aus der katholischen Kirche wieder aus. Die Wohnung im Stadtteil Eppendorf war im Eppendorfer Weg, Hochparterre mit einem kleinen Garten nach hinten raus. Mehrere Kellerräume waren ein Weinlager. Später war das Lager und ein Geschäft dazu im Bezirk Hamburg-Altona. Patricia hatte große Schwierigkeiten mit der Sprache und überhaupt sich zurechtzufinden. Im Laden mochte sie auch nicht arbeiten, obwohl die Leute alle hier sehr nett und offen zu ihr waren. Sie hatte Heimweh. Sie mochte die große Stadt mit dem riesigen Hafen und seinen Schiffen nicht. Hatte sie ihr Selbstbewusstsein in den Weinbergen gelassen? Als im August 1973 ihre Tochter Verena-Esperanza geboren wurde, ging es ihr besser. Ein Sommerkind. Hans war froh. Doch das Heimweh kam wieder und hielt sich hartnäckig. Patricia blieb jeden Sommer mit Verena länger in Logroño. Entfernte sich immer mehr von Hamburg und innerlich von Hans. Als Verena gerade fünf Jahre alt war, kam Patricia alleine zurück. Sie wollte, dass ihre Tochter in Logroño eingeschult wird. Sie hatte sie bereits in einer katholischen Schule angemeldet. Franco ist seit drei Jahren tot und in Spanien wird alles besser werden war ihr Argument. Hans war außer sich. Vor allen Dingen wollte er nicht, dass Verena bei den Nonnen in die Schule geht. Patricia zog wieder ganz nach Logroño zurück, ihre Eltern bräuchten sie auf dem Weingut behauptete sie nachdrücklich. Man einigte sich darauf, dass Verena die ersten vier Grundschuljahre in Spanien verbringt. Patricia und Hans lebten getrennt, ließen sich 1980 in Hamburg scheiden.