111 Gründe, offen zu lieben - Cornelia Jönsson - E-Book

111 Gründe, offen zu lieben E-Book

Cornelia Jönsson

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Beschreibung

Florian liebt Annika, Annika liebt Florian und Margit, Margit liebt Annika und Johannes, Johannes liebt Margit und viele andere Frauen. Cem liebt keinen, wohnt aber mit allen zusammen. Annika ist schwanger mit einem Kind, das erstaunlich viele Eltern haben wird. Die Liebe ist ein Kriegsschauplatz zuweilen und Beziehungen zu verändern ist anstrengend, aber im Großen und Ganzen möchte keiner der Protagonisten auch nur auf einen der anderen verzichten. Wie bereichernd es ist, mehr als einen Menschen in sein Herz, sein Bett, seine Wohnung, sein Arbeitszimmer zu lassen, erzählen Florian, Cem, Margit, Annika, Johannes und diverse andere in 111 Kurz-Kapiteln, die zeigen, dass es viele Gründe gibt, offen zu lieben. (Alles frei erfunden und auf realen Ereignissen beruhend.) Das traditionelle Beziehungskonzept von zwei Menschen, die sich ein Leben lang im Herzen, im Bett und im Geiste genügen, ist in der heutigen Zeit nicht mehr für alle passend. Denn jeder Mensch hat viele verschiedene Bedürfnisse, die ein einziger Partner oft nicht erfüllen kann. Die Öffnung einer Beziehung ist eine flexible Alternative, wenn man mehr als einen an seinem Leben teilhaben lassen will. Cornelia Jönsson und Simone Maresch zeigen in ihrem Buch in 111 Kurz-Kapiteln, dass man sich lieben kann, ohne sich gegenseitig zu beschneiden, dass es möglich ist, mehr als eine Beziehung gleichzeitig zu leben. Und es ist nicht nur möglich, es bereichert sogar das Leben aller Beteiligten. Cornelia Jönsson hat sich durch mehrere erfolgreiche Romane und Sachbücher schon eine beachtliche Fangemeinde erschrieben. Zusammen mit Simone Maresch hat sie sich nun wieder eines Themas angenommen, das die beiden unmittelbar betrifft, denn sie leben beide in offenen Beziehungen, die mehr als nur eine Liebe zulassen. Ein Plädoyer für ein modernes Beziehungskonzept!

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Seitenzahl: 331

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Cornelia Jönsson und Simone Maresch

111 GRÜNDE, OFFEN ZU LIEBEN

Ein Lobgesang auf offene Beziehungen, Polyamorie und die Freundschaft

Schwarzkopf & Schwarzkopf

»Wagen wir, die Dinge zu sehen, wie sie sind.«

Albert Schweitzer

Vorwort

Wir sind keiner unserer Protagonisten. Oder alle. Wir gleichen den meisten von ihnen dahingehend, dass wir mehr als eine Liebesbeziehung leben. Wir haben niemals beschlossen, offene oder polyamouröse Beziehungen zu führen. Wir sind da reingeschlittert. Weil es uns passiert ist, dass wir uns in jemanden verliebt haben, während wir gleichzeitig noch jemand anderen liebten. Das passiert vielen, das ist ganz alltäglich. Aber wir beschlossen, weder auf die alte noch auf die neue Liebe verzichten zu wollen. Geht nicht, sagten alle. Doch, dachten wir. Und es ist bekannt, wie viele Wände sich in Schall und Rauch auflösen, wenn man mit dem Kopf dagegenrennt. Ist man erst einmal auf der anderen Seite, lichten sich manche Nebel. Das alte Gespenst Eifersucht entpuppt sich als schmutziges Bettlaken mit Löchern. Lästig, aber ungefährlich. Hat sich der Blickwinkel einmal geändert, ändert sich vieles: Wir entreißen der Erotik die Macht, über unsere Beziehungen zu herrschen, indem sie zerstört, wo sie sich öffnet. Wir erliegen nicht mehr dem Glauben an die Unteilbarkeit der Liebe. Wer damit anfängt, mehr als einen zu lieben, und merkt, dass er es kann, der verliert nichts, wenn es andere ebenso halten. Wir glauben nicht mehr, dass Liebe durch Unfreiheit erkämpft werden muss. Wir unterteilen unsere Beziehungen nicht mehr in »wichtiger« und »weniger wichtig«, wobei Lebenspartner sehr wichtig und Freunde viel weniger wichtig sind.

Das alles ist ganz alltäglich. Das ist ganz normal. Es geht um Liebe und den Wunsch, trotz Liebe man selbst bleiben zu können oder gar zu werden. Dennoch – und das ist verwunderlich – gibt es kaum Bücher zum Thema. Deshalb schreiben wir jetzt eins.

Simone Maresch und Cornelia Jönsson

Kapitel 1

Was sich liebt, das mehrt sich

Grund Nr. 1

Weil wir viele sind

Alles ist groß, bunt und neu. Eine Wand der Küche ist orangefarben, davor steht ein grünes Sofa. In Annikas Zimmer ist eine Wand rot und davor hat sie ihr Bett mit der roten Bettwäsche geschoben.

Sie sind gerade innerhalb von Berlin umgezogen. Von Kreuzberg nach Neukölln. Weil sie sich vermehrt haben. Margit wird jetzt mit Cem, Florian und Annika zusammenwohnen. Zumindest so halb, wenn sie nicht gerade bei ihrem Noch-immer-Mann Johannes und den fast erwachsenen Kindern übernachtet.

Margit ist Lehrerin und sechsundvierzig. Sie liebt Johannes, auch wenn sie nicht mehr mit ihm schläft. Sie liebt auch Annika seit anderthalb Jahren, mit der sie durchaus schläft, und zwar manchmal ziemlich grob, denn die beiden sind Sadomasochistinnen. Annika ist siebenundzwanzig und Taschenproduzentin. Sie macht eigene Entwürfe von Taschen und stellt sie selbst her. Später verkauft sie sie in ihrem Laden gemeinsam mit Florian.

Florian ist auch siebenundzwanzig und seit zehn Jahren (mit Unterbrechung) Annikas Freund. Die Unterbrechung hing mit Florians damaligem Freund Casper zusammen, den es inzwischen nicht mehr gibt. Es gab stattdessen zwei »Ich glaube, ich bin verliebt«-Beziehungen, erst zu einem Mann, dann zu einer Frau. Der Mann fand »Ich glaube, ich bin verliebt« zu wenig, die Frau zu viel. Momentan ist Florian bloß mit Annika zusammen. Cem, der vierte Mitbewohner, ist ein zweiunddreißigjähriger schwuler Casanova auf dem Weg zur philosophischen Habilitation, der an »Liebe und dem ganzen Kitsch« nicht interessiert ist. Ihm ist es wichtig, Privates und Sexuelles zu trennen, weswegen seine Mitbewohner seine Lover höchstens einmal von der anderen Straßenseite aus zu sehen bekommen.

Sie werden sich noch einmal vermehren. Das weiß allerdings bislang bloß eine von ihnen und es ist ja auch egal. Man kann schließlich öfter umziehen. Wer weiß, wie lange rote und orangefarbene Wände zu ertragen sind.

Eigentlich sind sie allesamt so erschöpft von den Strapazen des Umzuges, dass sie zur Einweihung bloß ein kleines Essen in intimer Runde geben wollten. Aber das gestaltete sich schwierig. Denn Margit, Annika, Florian und in gewisser Weise auch Cem leben polyamourös. Das bedeutet, sie sind prinzipiell dazu bereit, mehr als eine Person zu lieben und dies auch ihren Partnern zuzugestehen. Sie versuchen, ihre Beziehungen nicht allzu hierarchisch zu ordnen. Das bedeutet, der Mensch, dem sie erotisch-romantisch verbunden sind, muss nicht unbedingt stets Vorrang haben vor den Menschen, mit denen sie zwar nicht schlafen, zu denen sie aber eine enge Freundschaft pflegen, oder mit denen sie glücklich zusammenwohnen oder zusammenarbeiten. Polyamourös zu sein heißt für sie auch, Beziehungen so zu führen und zu genießen, wie sie sich anbieten. Nicht in jeder glücklichen Beziehung muss Sex vorkommen, genauso wie nicht jede glückliche Beziehung mehr als Sex beinhalten muss und nicht jeder Partner täglich persönlich präsent sein muss.

Polyamourös zu leben meint vor allen Dingen: viele zu sein. Neben sich selbst müssten die vier zu dem intimen Abendessen in kleiner Runde auf jeden Fall Johannes einladen, Margits Mann – fünf. Und Johannes müsste ein oder zwei derzeitige Geliebte mitbringen dürfen – sieben. Außerdem sollten Lore und Anton, die beiden Kinder, kommen – neun. Und da Anton derzeit keinen Schritt ohne seine Freundin Suse unternimmt, käme auch die mit (Lore hingegen findet, es muss doch im Leben auch andere Inhalte als Knutschen geben, zum Beispiel Roller, Rockmusik, Karate) – zehn. Margits beste Freundin Erika müsste auch eingeladen werden – elf. Erika ist unglücklicher Single und man sollte irgendjemanden, einen Freund von Johannes oder einen Kollegen aus der Schule, einladen, der ihr gefallen könnte – dreizehn. Annikas engste Freundin Katinka würde auf jeden Fall kommen – vierzehn. Und in ihrem Gefolge sicherlich eine derzeitige große Liebe – fünfzehn. Es müssten auch Hannah, Albrecht, Susanne und Peter eingeladen sein, ein polyamouröses Geflecht Ende fünfzig, das Florian und Annika in einem entsprechenden Forum kennen- und mögen gelernt haben – neunzehn. Und das Dreiergespann Hatice, Conzuela und Sabine, mit dem sich Margit und Annika jüngst angefreundet haben – zweiundzwanzig. Außerdem Cems Lieblings-Drama-Pärchen Abed und Lars – vierundzwanzig.1 Und dann noch ein paar Freunde. Und die neuen Nachbarn natürlich, damit keiner die Polizei ruft und einem stattdessen später jemand mit Eiern aushilft. Vierundzwanzig plus x. Somit ist das kleine Essen in intimer Runde erledigt und es gibt doch wieder Kartoffelsalat, Börek, Tortilla und Verwandtes in der Küche. Und alles ist groß, bunt und neu.

Grund Nr. 2

Weil wir nichts ausschließen

Es ist Mitternacht. Die Badewanne wurde bereits einmal leer getrunken und wieder aufgefüllt, die Buletten ertrinken in Guacamole, der Küchentisch steht Kopf. Abed und Lars haben ihren ersten handfesten Streit hinter sich (»Willst du unseren Gästen wirklich Pappgeschirr vorsetzen?«, hatte Annika Cem am Nachmittag gefragt und er hatte geantwortet: »Glaube mir, ich weiß, was ich tue.«). Margit hat aus Versehen von den Haschkeksen ihrer Kinder genascht (»Mann, Mama, du hast gesagt, du machst Diät!«, fauchte Lore Margit an, als diese aufs Sofa wankte), und versucht jetzt immerhin nicht mehr Suse, ihre Schwiegertochter in spe, in ein Gespräch über Verhütung zu verwickeln. Florian flirtet vor Begeisterung stotternd mit einem blonden Mädchen, von dem keiner genau weiß, wo es herkommt (»Direkt aus dem Himmel, ich sage es dir!«, vermutet Florian verträumt auf Chilischoten kauend), bis sich herausstellt, dass die Blonde die jüngste Eroberung von Johannes ist, mit dem sie dann auch kichernd in Florians Zimmer verschwindet (»Alter, das stört dich doch nicht?«, fragt Johannes Florian, während er ihn verschwörerisch grinsend gegen den Arm boxt. Florian ächzt und faucht im Anschluss Margit an: »Du bist dafür verantwortlich, dass dein Mann seine Schweinereien wegputzt, ja!«, woraufhin Margit die nächste halbe Stunde vor sich hin kichert). Annika lässt sich von Erika sagen, dass sie ihr Leben genießen soll, solange sie jung genug dafür ist (Johannes’ verkupplungswilliger Freund spricht leider keine romanischen Sprachen, was Erika untragbar findet. Und Dr. Hansemann, geplante Anlaufstelle für Erika und Kollege aus der Schule, trägt braune Schuhe zum schwarzen Anzug, wodurch er sich ebenso unrettbar Erikas Missachtung ausliefert. Also hat die Gute trotz redlicher Bemühungen der WG außer der einen oder anderen Sektflasche niemanden abbekommen heute Abend). Annika nimmt zur Kenntnis, dass Hatice, Conzuela und Sabine weiterhin mit ihr befreundet bleiben werden, obwohl sie schon wieder mit Männern zusammenwohnt, erfährt, dass Hannah eine spirituelle Verbindung zu ihrem verstorbenen Mann aufrechterhält und ihn ganz deutlich spürt, gerade wenn sie Sex hat, was ja irgendwie auch polyamourös ist und göttlich auf jeden Fall, und dann kommt endlich Katinka. Katinka bringt jemanden mit, den sie als »Das ist Lukas. Lukas, sag mal Hallo!« vorstellt. Als Lukas, nachdem er »Hallo« gesagt hat, zum Bierangeln im Bad verschwindet, flüstert Katinka Annika breit grinsend zu: »Er ist Single!«, was für die monoamore Katinka begrüßenswert und durchaus nicht die Regel ist. Katinka war jahrelang nahezu genial darin, sich in vergebene Männer zu verlieben. Das ging nie gut aus.

Annika fand es schon immer grausam, dass man jemanden liebt und küsst und intimste Momente mit ihm erlebt, die sich zu Ewigkeiten weiten in einer Berührung, und am nächsten Tag wird der Betreffende bestenfalls vom anderen Ende der Bar her flüchtig angelächelt. So darf man nicht mit Menschen umgehen, findet Annika. Jemanden plötzlich ins Abseits des eigenen Lebens zu drängen, nachdem er die Nacht zuvor vielleicht noch in dessen Zentrum verbrannt ist und das übernächste Nacht wieder tun soll. Jemanden in die Nichtexistenz zu stoßen, dessen Existenz einem doch eigentlich so wichtig ist. Man verleugnet sich selbst, indem man den Geliebten verleugnet (und auch Begehren ist eine Form von Liebe).

Annika, Margit und Florian schließen niemanden aus. Sie kennen das selbst von früher. Die allumfassende Einsamkeit, wenn es einen Ort gibt, an dem man nicht sein darf, obwohl doch dort ein geliebter Mensch ist. Und auch das nervöse Nagen an den eigenen Eingeweiden, wenn jemand unaussprechbar ist, der einem am Herzen liegt, und man redet über dies und das und möchte die ganze Zeit über brüllen: »Das bin nicht ich, denn ich habe gestern Nacht in den Armen eines Menschen gestöhnt, von dem ihr nicht wissen dürft!«

Sie wollen das nicht mehr. Wer ihnen wichtig ist, der soll offensichtlich sein. Wer in ihren Herzen lebt, der soll auch in ihren Wohnungen, an ihren Arbeitsplätzen, bei ihren Familien und Freunden sein dürfen. Glück möchten sie mitteilen genauso wie die Bewegungen ihrer Gefühle, die doch machen, dass sie selbst sind, wie sie gerade sind. Sie stehen hinter, zu und bei jedem, den sie lieben, ob freundschaftlich, sexuell, romantisch oder wie auch immer.

Sie kritisieren Cem ständig dafür, dass er diese Dinge so ganz anders handhabt. Cem lächelt dann spöttisch, weil es ihm schwerfällt, anders als spöttisch zu lächeln, und sagt: »Wenn ich mich an einen Namen erinnere, dann seid ihr die Ersten, die ihn erfahren, das wisst ihr.«

»Es kommt der Tag, an dem auch du dich verliebst«, prophezeit Florian in solchen Situationen. Darauf erwidert Cem in der Regel: »Es kommt der Tag, an dem das Lieben auch dir gewaltig auf die Nerven geht.«

Grund Nr. 3

Weil wir uns erweitern

Annika findet diesen Lukas, den Katinka angeschleppt hat, durchaus sympathisch. »Den kannste gern öfter mal mitbringen«, raunt sie Katinka zu, die strahlt wie ein Honigkuchenpferd. Annika weiß aber aus Erfahrung, dieses Grinsen ist keine Garantie dafür, dass Lukas länger als ein paar Monate in Katinkas und damit auch in Annikas Leben bleiben wird. Jens beispielsweise ist kürzlich daraus verschwunden, weil es mit ihm und Katinka sexuell nicht so richtig harmoniert hatte. Annika mochte auch Jens, diesen verschrobenen, schüchternen Pianisten, sehr gern. Sie fände es nicht verkehrt, Lukas und Jens gemeinsam hier auf ihrer Party zu haben. Sie könnte sich vorstellen, dass die beiden sich gut verstünden. Jens hat aber die Trennung nicht sonderlich gut aufgenommen. Man gewöhnt sich an Katinkas Männer, die manchmal wirklich gar nicht so übel sind, und dann verschwinden sie wieder. Würde Katinka polyamourös leben, würde anstelle des ständigen Auswechselns Erweiterung passieren. Annika findet es prinzipiell schön, wenn es möglichst wenige Verschwundene im Kreis der ihr Lieben gibt, wenn sich stattdessen dieser Kreis stetig aufplustert und dehnt und weitet.

»Süße, aber du siehst es mir nach, wenn ich mein Liebesleben nicht nach deinen Wünschen ausrichte?«, fragt Katinka, bevor sie ihre weißen Zähne in eine rote Erdbeere haut. Und Annika fällt irgendwie nichts ein.

Grund Nr. 4

Weil uns nie die Partygäste ausgehen

Margit lehnt inzwischen entspannt an der Küchentür und beguckt sich vergnügt die aus allen Himmelsrichtungen zusammengepatchworkte Menschenmenge, welche sich in einer zweiten Fresswelle – die Haschkekse sind alle – über die Mitternachtssuppe hermacht, lacht, sich wechselweise interessant findet und allgemein das Leben genießt.

Wie anders das doch aussehen würde, wenn sie mit Johannes zu zweit allein verharrt wäre. Die Menge der Freundinnen und Freunde von früher dezimiert sich mit den Jahren durch Umzüge, Lebensplanungs- und andere Unvereinbarkeiten oder allgemeine Gedankenlosigkeit. Die Gruppe der neuen Freunde hätte sich auf die Kollegen reduziert, mit denen sie gerade noch auskommen. Würden sie jetzt und hier eine Party planen, nur sie und Johannes, wie gelangweilt würden sie sich durch einen Abend quälen, an dem jeder jeden mehr oder weniger kennt oder – schlimmer! – zu kennen glaubt.

Annika gerät in ihr Blickfeld, die gerade emsig mit Suse, der Freundin ihres Sohnes, über die Vor- und Nachteile gewisser Verhütungsmethoden diskutiert. Sie steht Rücken an Rücken mit Florian, der im Kreise der Lesben-Triade die genaue Rezeptur des Bulgur-Granatapfel-Salates erörtert.

Annika und Florian, das weiß Margit, fühlen sich inzwischen auch vom Gespenst eines monochromen Lebens gefährdet. Sie sitzen tagsüber hinter Nähmaschine und Tresen ihres kleinen, florierenden Unternehmens und sind abends oft zu müde, um sich noch in irgendwelche Clubs oder angesagte Kaschemmen aufzumachen, um neue Menschen kennenzulernen, wie sie das bis vor zwei Jahren noch regelmäßig taten. Als ob sie da neue Menschen wirklich kennengelernt hätten. Oder solche gefunden hätten wie Margit, ihre Kinder, ihre Kollegen.

Cem wiederum, der die illustren Versammlungen quer durch möglichst viele intellektuelle, gesellschaftliche, politische und erotische Richtungen immer besonders zu genießen scheint, würde ohne die WG in seinem Uni-Jargon stecken bleiben und am Ende denken, dass alle Menschen sechs Monate Ferien im Jahr haben.

Auch nächstes Jahr oder in fünfen und auch immer wieder zwischendurch wird ihm die praktizierte Viel-Liebe seiner Mitbewohner bunte, spannende Mitmenschen ins Nest seiner WG legen. In einem plötzlichen, für ihn völlig ungewohnten Überschwang umarmt Cem gerade jetzt den verdutzten Johannes, der zufällig neben ihm nach Suppe ansteht, so heftig, dass Knochen knacken, sagt: »Frohe Ostern!«, und kann sich selbst gerade noch daran hindern, dem anderen einen schmatzenden Kuss auf die Backe zu drücken.

Grund Nr. 5

Weil auch genügend Leute zum Aufräumen bleiben

Wie viele Gäste hatten wir eigentlich?«, fragt Annika am nächsten Morgen, der eigentlich ein Nachmittag ist, als sie unter den Resten der Party nach dem Espressomaschinchen und genügend Kaffeegefäßen für alle gräbt. »Keine Ahnung …«, meint Florian, der gerade aus dem Bad kommt, wo er inmitten der Etiketten mehrerer Bier- und Sektsorten geduscht hat – eins klebt noch an seinem Fuß. »Entscheidend ist aber«, er hebt den Zeigefinger und ein etwas boshaftes Leuchten erscheint in seinen Augen, »… wer noch da ist.« Er macht sich auf die Suche nach dem, was Cem »die Essenz der Party« zu nennen pflegt. Nach denen also, die in dem über mindestens eine Nacht lang köchelnden Sud aus Alkohol, Haschkeksen, guten Gesprächen und Herdengefühl in den frühen Morgenstunden nicht mehr entkommen sind und demzufolge heute beim Aufräumen helfen werden. Er kehrt so reich an Beute von seiner Suche zurück, dass Annika das Espressomaschinchen dreimal füllen muss, bis sich alle den ihnen zugewiesenen Aufgaben widmen können. Sie selbst dirigiert lieber und freut sich, dass Suse, die gestern noch ergeben an ihren Lippen hing, als sie die unbestrittenen Vorteile von Kondomen gegenüber der Pille pries, heute ebenso ergeben die Weingläser spült.

Grund Nr. 6

Weil wir immer mehr lieben, je mehr wir lieben

Annika sitzt mit ihrem Zeichenblock im Café neben ihrem Taschenladen und skizziert, was ihr so in den Kopf kommt. Kindergartentaschen, beispielsweise, weil der Nachwuchs ja auch hauptstädtisch aussehen soll. Oder Papa-Wickeltaschen, denn der Mann von heute will zwar sehr wohl Vater sein, sich aber deswegen noch lange nicht mit Patchwork in Rosatönen sehen lassen. Oder Berufstätige-Mütter-Taschen, da frau zuweilen neben Mac und Blackberry auch noch Windel, Fläschchen und Ersatzschnuller dabeihaben muss.

Als Florian und sie versucht hatten, sich für ihre frischgeborene Idee mit dem Taschenladen Geld zu leihen, hatten die befragten Eltern, Großeltern und probeweise antelefonierten Banker behauptet, von einem Geschäft, welches nur Taschen anzubieten habe, könne man nur schwierig eine und quasi gar nicht zwei Existenzen sichern. Taschen gäbe es schließlich genug, man könne die Tasche an sich ja nicht neu erfinden. Annika, nun bockig, setzte sich hin und entwarf aus dem Stegreif zehn verschiedene Modelle zu verschiedensten Zwecken, teils multifunktional, sie kombinierte etliche Materialien miteinander und bis auf einige etwas eigenwillige Modelle – Biker-Satteltaschen mit hellgrünen Glitzerapplikationen beispielsweise – hatten alle auf den vielen Märkten der großen Stadt reißenden Absatz gefunden. Das müsse Annika erst einmal einige Zeit durchhalten, hatten die potenziellen Geldgeber daraufhin gemault, immer wieder neue Ideen, das sei nicht so leicht, wie sich die jungen Leute das vorstellen würden. Aber seitdem hatten die Taschen-Ideen nicht mehr aufgehört, aus ihrem Kopf zu purzeln. Wenn man sich auf etwas einlässt, sich darum kümmert und mit ein wenig Talent und Mühe an die Sache geht, dann wird aus einem bisschen erst ein Häufchen, dann ein Berg und schließlich eine unversiegbare Quelle.

Als Annika Margit in ihren frisch verliebten Zeiten davon erzählt hatte, hatte diese weise genickt. Sie habe sich, als sie das zweite Kind erwartete, große Sorgen gemacht, ob sie den Neuankömmling genauso innig, unzerstörbar und überschwänglich lieben und vergöttern könnte wie ihren Erstgeborenen. Und siehe da, die mütterliche Liebe wurde mehr, wurde unerschöpflich.

Annikas Sorge, als sie sich in Margit verliebte, war eine ähnliche gewesen: Würde sie Florian trotzdem weiter lieben? Oder war das Becken, in dem ihre Liebe schwamm, so klein, dass unmöglich zwei Menschen sich gleichzeitig darüber beugen könnten? Es hatte sich gezeigt, dass Annikas Liebe keine abgestandene Brühe in engem Gefäß ist, sondern so etwas wie ein Quelle, die naturgemäß niemals versiegt. Die Liebe teilte sich nicht. Sie verdoppelte, sie vermehrte sich bis zum Überlaufen. Sie ist schillernd: immer ein wenig anders, aber niemals weniger.

Cem hat natürlich eine Theorie dazu, warum das so ist. »Mutmaßlich«, so Cem, »gibt es im Gehirn einen Bereich für ›Liebe‹ und ›Menschen‹ ebenso wie für ›Taschen‹ oder ›Kochrezepte‹. Je mehr wir diesen Teil beschäftigen, umso mehr vernetzt er sich und nimmt schließlich auch mehr Platz ein. Areale, die oft benutzt werden, werden größer, diejenigen hingegen, die man vernachlässigt, schrumpfen. Das ist wie mit Muskeln, was ihr feststellen würdet, würdet ihr es in Betracht ziehen, euch von Zeit zu Zeit sportlich zu betätigen.«

Vermutlich gibt es sogar ebenso viele Arten zu lieben wie Menschen, die es tun. Mehr als eine Liebe zu leben bedeutet also nicht etwa, ein knappes Gut aufzuteilen und dem einen geliebten Menschen etwas wegzunehmen, um es einem anderen zu geben. Es bedeutet stattdessen, zu mehr Liebe und mehr Liebesvielfalt Zugang zu finden.

Grund Nr. 7

Weil jede Beziehung, die uns guttut, ihre Berechtigung hat

Von ihrem eigenen Schaffensdrang beschwingt, trabt Annika in den Laden zurück, wo Florian gerade strahlend ein »Suuuper!« in den Telefonhörer brüllt. Er legt auf und tanzt um Annika herum. »Es hat geklappt! Es hat geklappt!«

Da schellt das Telefon erneut. Florian geht dran, reicht den Hörer aber sofort an Annika weiter. Es ist ihre Mutter, die Florians Freudenschreie im Hintergrund hört und leicht pikiert nachfragt, was er denn habe.

»Warum freust du dich so?«, fragt Annika folgsam und weil es sie natürlich auch interessiert.

»Ich darf mitspielen!« Florian hopst herum.

Da weiß Annika sofort Bescheid und erteilt ihrer Mutter großzügig Auskunft. »Seine Wunschmannschaft hat ihn akzeptiert, also Fußball, weißt du.«

»Aha.« Annikas Mutter am anderen Ende klingt etwas lahm. Annika erinnert sich an klassische Streitigkeiten um die sonntägliche Freizeitplanung der Familie (den Sonntag verbrachte die Familie gemeinsam, auf Biegen und Brechen und ohne Erbarmen), die schließlich erst nach dem Eingreifen einer zwischenmenschlich begabten Freundin der Mutter ein Ende fanden.

»Männer brauchen ihre Männersachen, kluge Frauen akzeptieren das!«

Annikas Mutter wollte definitiv auch klug sein. Deswegen sagt sie jetzt zu ihrer Tochter: »Männer brauchen …«

»Ja, Mama, ich weiß«, schneidet Annika ihr das Wort ab. »Schon klar! Was wolltest du denn eigentlich?« Dabei grinst sie und genießt es ganz bewusst, die Information, dass es sich bei Florians Wunschmannschaft um die Thekenmannschaft einer angesagten Schwulensauna handelt und dass Florian den Kapitän dieser Mannschaft bereits seit geraumer Zeit anhimmelt, erst mal für sich zu behalten und in einem Moment damit rauszurücken, in dem sie die Mutter gezielt verblüffen und/oder zum Schweigen bringen möchte. Sie plaudern also ein wenig über Belangloses und legen dann auf.

Annika umarmt Florian, küsst ihn ausgiebig und beschließt, für ihn eine extrasupertolle Fußballtrainingstasche zu entwerfen. Sie kann zwar selbst mit Fußball gar nichts anfangen. Sie findet auch den besagten Spielführer eher belanglos. Aber Florians Freude ist dermaßen ansteckend und entwaffnend, dass sie sich einfach mitfreuen muss. Annika fragt sich wirklich und ernstlich, warum es eigentlich für die meisten Frauen überhaupt nicht schwierig ist, dem Liebsten die Fußballkumpels zu gönnen, eine Geliebte aber nicht infrage kommt. Nicht, dass Annika begeistert wäre von Florians Fußballbegeisterung. Denn er wird sich blaue Flecke holen und deswegen rumjammern und es wird ein paar Ohne-Florian-Sonntage mehr geben. Und dass man Fußball »brauchen« kann wie die Luft zum Atmen, ist ihr nicht eingängig. Im Gegensatz zu Sex und Liebe zum Beispiel. Aber: »Menschen brauchen schließlich ihre Menschensachen und kluge Menschen akzeptieren das!«

Grund Nr. 8

Weil wir »klein« anfangen (können)

Florian ist kribbelig im Bauch und hibbelig in den Beinen. Großartige Voraussetzungen für das erste Training mit der neuen Mannschaft. »Aufgeregt?«, fragt Annika, die gerade noch schnell den Reißverschluss-Pinörkel an seiner neuen Tasche mit einem kleinen Fußball aus Filzresten versehen hat und ihm jetzt beim Packen des ganzen Zeugs hilft.

Florian atmet tief durch und nickt.

»Schön … oder?«, fragt Annika weiter.

»Klar …«, sagt Florian. Aber er hat auch ein bisschen Angst. Es ist nie so leicht, eine neue Liebe oder besser: eine, die es werden könnte, zu umwerben, wenn man einerseits das, was die meisten Monoamoren wollen, nämlich die libidinöse Ausschließlichkeit, nicht bieten kann, und andererseits aber durchaus ein gesteigertes Bedürfnis nach Vertrautheit, Dauer und Liebe im großen Geschenkkörbchen der Seele hat.

Annika sieht ihm die vorauseilende Besorgnis an und fürchtet um die Freude, die er haben könnte. »Du kannst ja …«, versucht sie. Aber Florian winkt ab. Er muss es schließlich hinkriegen und nicht sie und im Übrigen ist er schließlich nicht irgendwer. Er ist Florian, der Verführer, der Beste von allen, der erotischste, weichste, herzlichste und klügste Freund, den man nur haben kann. Also bloß nicht kleinmütig werden!

Er küsst sie, sagt »Dankedankedanke!« und macht sich auf den Weg, der immerhin lang genug ist, dass er sich noch ein paar zielfördernde Gedanken machen kann, bevor er sich ins Herzgetümmel stürzt.

Auf der Einweihungsparty hat er sich lange mit Hatice, Conzuela und Sabine unterhalten. Hatice und Conzuela waren fünf Jahre zusammen und hatten seit einem Jahr keinen erfüllten Sex mehr gehabt, als sie Sabine kennenlernten. Sie hatten im Freundinnenkreis herumgefragt: Was sollen wir machen, um wieder mehr Lust aneinander zu haben? Weniger arbeiten sollten sie, mehr bewusste Beziehungszeit miteinander verbringen, aufmerksam sein, sich schön machen, Spiele ausprobieren und so weiter. Eine Dritte dazunehmen, schlug eine vor. Irgendwie hatten Hatice und Conzuela beide sofort das Gefühl, mit dieser Methode den größten Erfolg zu erzielen. Gleichzeitig wollten sie aber nichts von einer offenen Beziehung wissen, hatten Angst, selbst zu kurz zu kommen, die andere zu verlieren, eifersüchtig zu werden. Doch gemeinsam mit einer Dritten zu schlafen, das müsste gehen. Sie fanden Sabine über eine Kontaktanzeige. Sie setzten strenge Regeln fest. Zungenküsse mit Sabine waren verboten, die jeweils andere durfte nicht vernachlässigt werden, es musste sich beständig nach dem Befinden sämtlicher Beteiligten erkundigt werden und wenn eine abbrechen wollte, wäre das völlig in Ordnung.

In der ersten Nacht zu dritt waren Conzuela und Hatice so sehr damit beschäftigt, die jeweils andere nicht zu verletzen, dass sie Sabine kaum wahrnahmen. Sonderlich erotisch war diese Nacht demzufolge nicht. Wenn Hatice Sabine berührte, hielt Conzuela die Luft an und umgekehrt. Sie konnten allerdings nicht sagen, ob aus Schmerz oder aus Lust.

Nach ein paar Wochen versuchten sie es noch einmal und da war es besser. Beim dritten Mal wurde es schön. Beim vierten Mal waren sie anschließend tagelang berauscht von diesem Glücksgefühl, vier Hände, vier Brüste, zwei Münder geschenkt bekommen zu haben.

Sabine kam vielleicht einmal im Monat abends vorbei, sprang zu den beiden anderen ins Bett und fuhr anschließend nach Hause. Bis es einmal Winter war und verschneit und die beiden anderen Sabine unter diesen Umständen den nächtlichen Fahrradritt nicht zumuten wollten. »Ich kann auf dem Sofa schlafen«, sagte Sabine, aber als sie die Decke gemeinsam bezogen, kam ihnen das komisch vor. Sich an einem Körper zu betrinken und ihn anschließend auf das Sofa zu schicken. Sie krochen zu dritt zurück ins Bett.

Von da an blieb Sabine immer über Nacht und zum Frühstück. Die Frühstücke wurden länger, gingen in Spaziergänge über, in Kuchenbacken, Abendessen, wieder Frühstücken. Bis sie vier Tage blieb.

Nach einem Jahr war ihnen allen klar, dass Hatice und Conzuela Sabine liebten und von ihr zurückgeliebt wurden. Nach anderthalb Jahren suchten sie sich eine Wohnung zu dritt.

Abed und Lars hingegen hatten großmundig von Anfang an verkündet, nicht die geringste Angst vorm bösen Dritten zu haben. Offene Beziehungen fanden sie cooler als fades Zweierlei. Und zwar richtig und ohne Kompromisse, weil sie schließlich aufgeklärte Jungs waren, die Eifersucht und den ganzen bürgerlichen Besitz-Scheiß schon längst hinter sich gelassen hatten. Als Lars das erste Mal sagte: »Ich habe das ganze Wochenende mit XY gepoppt, und ich bin ja sooo verliebt«, warf Abed Lars’ Kamera durch den gläsernen Esstisch und fegte anschließend das neue Notebook vom Sofa und trampelte darauf herum. Als Abed zwei Wochen später sagte, er habe ein Date, schloss Lars ihn im Badezimmer ein. Jetzt werden sie es wohl doch erst einmal etwas langsamer angehen lassen.

Florian lacht noch immer über die beiden, als er die Umkleidekabine betritt. Was entscheidend dazu beiträgt, dass er entspannt, lebensfroh und begehrenswert wirkt, woraufhin der schöne Markus ihn beim Tipp-Topp um die Aufstellung fürs erste Spiel als Ersten wählt. Florian grinst immer noch, als sie sich auf dem Platz verteilen. Der Anfang ist gemacht.

Grund Nr. 9

Weil wir abgesichert sind

Margit und Annika kommen leicht fröstelnd von ihrem ersten Seetag heim. In ihrer Küche steht die Geschirrspülmaschine auf dem Kopf. Florian und Abed fingern rotgesichtig und schnaufend an ihr herum. Abed hat vor dem Studium eine Mechanikerlehre gemacht und Florian besitzt ein großes Herz für verletzte Gegenstände. Die Küche sieht nicht sonderlich einladend aus. Aber die Tür zu Cems Zimmer steht offen. Cem, der körperliche Arbeit abstoßend findet, liest Zeitung. »Die Geschirrspülmaschine versagt den Dienst«, erklärt er. »Ich würde euch ja gern ein Glas Wein anbieten« – auf seinem Schreibtisch ruht in einem silbernen Kühler eine Flasche Riesling – »wenn ihr es schafft, euch Gläser zu organisieren.« Das sieht erst einmal nach einem schwierigen Projekt aus, wegen der Geschirrspülmaschinen-Blockade. Stattdessen grabschen die beiden Frauen händeweise Eiswürfel aus dem Kühler, die sie sich gegenseitig in den Ausschnitt stecken, woraufhin sie quieken und kichern. Cem möchte ihnen schon anbieten, den Kühler doch in eines ihrer eigenen Zimmer mitzunehmen, als die erfolgreichen Handwerker mit stolzgeschwellter Brust im Türrahmen erscheinen. Jetzt kann man doch Gläser holen und eine neue Flasche. »Was haben wir für ein Glück, dass ihr so geschickt seid!«, ruft Annika aus. »Wir hätten niemals eine Reparatur bezahlen können.«

»Doch, ich schon«, sagt Margit.

»Ich auch«, ergänzt Cem.

Annika denkt, die Sicherheiten, die mit den alten Familienverbänden verschwanden, kehren in polyamourösen Kontexten wieder. Es findet sich immer irgendeiner, der irgendetwas kann, und sei’s auch bloß bezahlen. Florian hält Annika ein Glas Weißwein hin, das sie nicht annehmen kann. Sie hält diesen Moment für einen günstigen zur Verkündung einer Tatsache, die ihr seit ein paar Wochen im Bauch liegt.

»Ich bin schwanger!«

»Von mir?«, fragt Florian.

»Von mir sicher nicht«, beruhigt ihn Margit.

»Ich habe damit ebenfalls nichts zu tun«, sagt Cem und auch Abed fuchtelt abwehrend mit den Händen.

Florian ist ganz aus dem Häuschen und die anderen freuen sich auch. Alle umarmen Annika und tanzen durch Cems Zimmer (Florian und Abed zumindest).

Grund Nr. 10

Weil Polyamorie Single-freundlich ist

Samstagabend ist Bundesliga-Abend. Schalke wird die Bayern plattmachen. Cem und Florian haben es sich mit Bier und Pizza vorm Fernseher gemütlich gemacht. Schalke hat ein paar Anfangsschwierigkeiten, was das Plattmachen betrifft. Florian ist den Tränen nahe, aber Cem sagt, seiner Einschätzung nach sei Schalke eine dieser Mannschaften, die erst bei 0:3 beginnen, sich ernsthaft Mühe zu geben. Im Kopf rechnet er derweil schon aus, wie sich welches Ergebnis auf die gesamte Tabelle auswirken würde. Nachdem er damit fertig ist, freut er sich über den jaulenden Florian an seiner Seite. Als zweiunddreißigjähriger Single-Schwuler hat man Samstagabend nicht allzu viele Freunde. Die ehemaligen Kommilitoninnen, die vor Jahren nichts spannender fanden, als Cem am Wochenende ins schwule Nachtleben zu begleiten, sind jetzt bloß noch im Beisein ihrer Partner, oder, schlimmer noch, ihrer der verständlichen Sprache noch nicht mächtigen Kinder zu treffen. Die schwulen Freunde kuscheln entweder gemeinsam im Eigentumswohnungsglück oder begeben sich, zunehmend nervös, auf die immer gleiche Jagd, die Cem nicht jedes Wochenende mitmachen möchte.

Annika und Margit sind heute Abend auf einer Frauen-SM-Party. Wenn sie spätabends oder frühnachts zurückkommen, werden sie erfahrungsgemäß leise in einem ihrer Zimmer verschwinden, aus dem dann Annikas verhaltenes Schreien oder ihrer beider unterdrücktes Gekicher zu hören sein wird. Wären Florian und Annika ein klassisch monogames Pärchen, dann würde Florian den Samstagabend mit Annika verbringen und nicht mit Cem. Bestenfalls wären sie jetzt zu dritt zusammen. Wenn es richtig gut liefe, würde sich Annika nicht gegen das Fußballgucken wehren. Aber selbst dann müsste Cem sich entweder mit ansehen, wie die beiden sich mehr und mehr ineinanderschmiegten und sich albernes Zeugs in die roten Ohren flüsterten, bis er den Eindruck hätte, jetzt aber wirklich zu stören, oder er wäre dazu gezwungen, Schiedsrichter in einem Wust aus sinnlosen Kleinschlachten zu spielen. So hat er Florian für sich allein, während Margit Annika liebevoll blaue Flecken schlägt. Natürlich muss sich nicht ausgerechnet Margit für Cems Zwecke bemühen. Die Quasselstrippe Katinka täte es genauso gut. Oder irgendeine andere Freundin. Einfach irgendjemand, der wichtig genug für einen Samstagabend ist und nicht Florian heißt.

Die Quasselstrippe Katinka sieht das alles ein bisschen anders. Kürzlich rief sie an, um Annika zu sprechen, und als Cem sagte, die sei gerade in Margits Zimmer und aufgrund der Geräusche, die aus selbigem zu vernehmen seien, habe er kein Interesse daran, diesen Raum jetzt zu betreten, sie wisse, wie er zu weiblicher Sexualität stehe, stöhnte Katinka entnervt auf. »Wieso muss ausgerechnet meine beste Freundin zwei Liebesbeziehungen haben? Nie ist sie zu sprechen und man muss sich sechs Wochen im Voraus anmelden, wenn man ein Saturday-Night-Date mit ihr bekommen möchte!«

Cem findet, Katinka erwartet zu viel. Nur Feuerwehrmänner und Notärzte müssen immer erreichbar sein.

Kapitel 2

Du sollst Götter neben mir haben

Grund Nr. 11

Weil Monoamorie heute und hier nicht notwendig ist

Annika und Florian fahren nach Marburg. Sie besuchen ihre Heimatstadt und ihre Eltern, um ordnungsgemäß die baldige Ankunft des neuen Familienmitglieds zu verkünden. Sie werden auch bei Annikas Eltern ehrlich sein und selbst das nicht verschweigen, wonach wohlweislich nicht gefragt werden wird. Florian findet diese offensive Offenheit unnötig. Aber Annika bleibt eisern. Man kann ein Kind nicht in Lügen aufziehen. Der Gedanke ist ihr unerträglich. Man müsste dann dem Kind sagen, es dürfe den Großeltern gegenüber nichts von Onkel Cem und Tante Margit verlauten lassen. Dass das nicht geht, sieht Florian ein. Und er sieht auch, dass die ganze Angelegenheit für Annika sowieso schwieriger ist. Sie hat nicht nur die konservativeren Eltern. Sie liebt auch eine Frau, die fast so alt wie ihre Mutter ist, die also als eifersüchtig beäugte Co-Großmutter ebenso infrage kommt wie als kinderschänderisches Monster. Annika ist weiter weg vom Mainstream deutscher Familienwirklichkeit als irgendjemand sonst. Florian bewundert Annikas Mut zur Offenheit uneingeschränkt.

Die beiden nähern sich der Herausforderung gemächlich. Erst einmal werden sie sich bei Annikas Urgroßmutter Sophie einfinden, die in einem »das Museum« genannten Gründerzeitbau residiert, den sie energisch als ihr ausschließliches Territorium verteidigt. Sie ist fest entschlossen, ihn mit den Füßen voran zu verlassen und sonst gar nicht. Annikas übrige Familie findet diesen Umstand ausgesprochen schade. Das Haus liegt auf dem Schlossberg. Die Burschenschaften in den umliegenden Villen würden sich um das Anwesen reißen. Sophie könnte in eine luxuriöse Seniorenresidenz umziehen, der Erlös für den Hausverkauf könnte dann für alle sinnvoll angelegt werden und Sophie selbst müsste nicht mehr auf jeden Cent achten. »Aber was«, pflegt Sophie in solchen Gesprächen zu fragen, »soll dann aus Fritzi, Einstein, Dr. Schreiber, Hänschen, Samuel, Renate und Knubbel werden?« Eine Entgegnung, die bei Annikas Eltern und Großeltern regelmäßig ein resigniertes Augenverdrehen zur Folge hat. Es handelt sich bei den in dieser Aufzählung Erwähnten größtenteils um Katzen, und die beiden menschlichen Wesen, die sich parasitär, wie die Familie sagt, bei Sophie eingenistet haben, sind der Verwandtschaft zutiefst unsympathisch. Dass Dr. Schreiber Miete zahlt und Hänschen, der als Zivi anlässlich einer vorübergehenden Unpässlichkeit gekommen und als Mitbewohner geblieben ist, Sophie fast alle schweren Arbeiten abnimmt, dass Sophie in beiden Ansprechpartner und Freunde gefunden hat, ignoriert man geflissentlich.

Annika ist ihre Urgroßmutter vor allem deswegen sympathisch, weil sie sich ihre Freiheit, ihren Lebensstil und ihre fortschrittlichen Ansichten redlich erkämpft hat, im Laufe eines langen Lebens, geprägt von Enge, Pflichten und bürgerlichen Ritualen. Zu Liebe, Begehren und Paarung hat sie pragmatische Ansichten: Es gab Zeiten, in denen Frauen Kinderwunsch und Liebe mit einer Ehe ertauschen mussten, um nicht im bürgerlichen Sinne geächtet zu sein. Wenn eine Ehe, die ihnen die Menschenrechte nahm, die sie auf Gedeih und Verderb von ihrem Mann abhängig machte, sein musste, dann war offizielle Monogamie gerade für Frauen eine schicke Idee, fand Sophie. Garantierte sie die Vaterschaft ihres Mannes, konnte sie auf die wirtschaftliche Absicherung zählen, die ihr die Ehe gewährte. Dass man als Mutter auch ohne Kindsvater glücklich werden könnte und sein Leben zwischen der Betreuung des Kindes und dem Beruf hätte aufteilen können, war damals noch undenkbar und hätte auch für die Kinder Ächtung bedeutet. Sophie selbst hatte aus begüterten Verhältnissen heraus einen älteren Mann geheiratet, der ebenfalls einer großbürgerlichen Familie entstammte. Es war für sie selbstverständlich gewesen, gemeinsame Kinder zur Welt zu bringen, einen großen Haushalt verantwortungsbewusst zu führen und dafür zu sorgen, dass es allen im Haus gut ging. Sie achtete ihren Mann, mehr als dass sie ihn leidenschaftlich liebte.

Die Monogamie, die Sophie gelebt hatte, tradierte hier einen römisch-jüdisch-christlichen Fortschritt, nämlich den, die Frauen nicht mehr als »Besitz« der Männer ihrer Familie zu betrachten, die als Gebärerinnen des Nachwuchses zu funktionieren hatten, sondern Mann und Frau als Repräsentanten ihrer Familie zu verheiraten. Besitz und Erbfolge waren auf diese Weise klar herzuleiten und wurden hierarchisch von den älteren Generationen in die Zukunft hinein bestimmt. Die Monogamie erwies sich jedoch nicht nur im Dienste des Patriarchats als nützliches Instrument. Auch der Kapitalismus erfreute sich daran, dass die Einehe, die kleine Familie, das mehr oder weniger idyllische Zuhause, etwas waren, für deren Erhalt die Menschen schufteten bis zum Umfallen und das sie gleichzeitig hinreichend glücklich machte, um ihnen jede Lust auf Revolutionen und andere Muckereien auszutreiben. Inzwischen sind Frauen zumindest rechtlich gleichgestellt. Männer können ihre Vaterschaft entweder per Gentest nachweisen oder klugerweise als soziale Vaterschaft transformiert sinnvoll leben. Im Übrigen gilt es, dem neoliberalen Turbokapitalismus anderes entgegenzusetzen als blutige Revolutionen. Die Monogamie als umfassender Massenversuch ist zumindest insofern überlebt, als dass sie mehr Menschen unglücklich und arm macht als glücklich und reich.

So sieht es zumindest Sophie.

Annika und Florian sind sich darin einig, dass ihr kleines, feines Taschengeschäftchen immer ihnen beiden gehören soll. Ebenso klar ist ihnen, dass sie ihr Kind gemeinsam aufziehen werden. Ob sie das allerdings bloß zu zweit tun werden, ist noch unklar. Der Kapitalismus ist ihnen kurzfristig egal. Die Revolution auch. Ihre Liebe und Leidenschaft aber nicht.

Grund Nr. 12

Weil Polyamorie eine alte Idee ist

Jetzt gerade würde Annika viel darum geben, Alkohol trinken zu können, und zwar in rauen Mengen. Stattdessen stiert sie in den Rooibos-Zitronentee, den Florians Mutter gekocht hat, und schaukelt auf der knarzenden Hollywoodschaukel so hektisch auf und ab, dass sich Florian woanders hinsetzt.

»Wenn man wenigstens mit ihnen diskutieren könnte!«, stöhnt sie. »Aber sie ignorieren unser Leben einfach. Sie tun so, als seien wir, wie sie uns haben möchten, und blenden alles aus, was dieses Bild stört. Mein Vater grinst desinteressiert vor sich hin und verschwindet nach fünf Minuten in sein Arbeitszimmer so wie bei jedem ernsthaften Gespräch, seit ich denken kann, und meine Mutter gibt vor, uns nicht zu hören, und redet bloß vom Enkelkind.«

Annikas Vater hat Florian heute Morgen vor dem Bad abgefangen. »Du kannst wirklich mit anderen Frauen schlafen, ohne dass sie wütend ist, einfach so?«, hatte er gefragt und Florian hatte genickt. So in etwa war es ja. Der Vater hatte gekichert, den Kopf geschüttelt und war ins Bad gegangen und tat Florian leid.

»Und ich sage also immer wieder: ›Mama, hallo, ich habe eine Freundin und die ist fast so alt wie du‹, und sie lächelt dann so bescheuert tiefgefroren und irgendwann sagt sie, das würde sich ja sicher ganz von allein geben, wenn das Kleine erst mal da ist! Mann, Mann, Mann!« Annika holt Luft. Sie redet viel zu schnell, wenn sie sich aufregt. »Statt dass ich ihr aber die Meinung sage oder mich einfach mal durchsetze oder sie irgendwie zwinge, zu registrieren, wer ich bin, breche ich in Tränen aus!«

Und das tut sie jetzt wieder, vor lauter Wut. So war es immer, so wird es wohl bleiben. Dabei hat alles so wunderschön angefangen gestern Nachmittag auf der sonnigen Terrasse von Sophie, der Tränen über die weißen Wangen kullerten vor Rührung über Annikas belebten Bauch. Als sie von Margit und Cem und Casper früher und so weiter erzählten, da haben ihre Augen geleuchtet und sie war wunderschön und zeitlos jung.

Sophie saß auf ihrem gepolsterten Gartenstuhl, graues Haar unter weißem Hut, Perlenstecker, Perlenkette, eine Katze auf den Füßen, eine auf dem Schoß.

»Ich hatte lange Zeit einen Gärtner, den kennst du auch, Annika, den Bernhard.« Annika nickte. »Bernhard war eigentlich Tischler, nicht Gärtner. Der kam bloß wegen mir zu uns.« Sophie lächelte. »Ich weiß nicht, ob ich den Bernhard geliebt habe. Ich weiß das auch nicht bei meinem Mann. Was ist schon Liebe.«

»Wusste Urgroßvater von dem Gärtner?«

»Ich denke schon. Doch wir haben nie darüber gesprochen, wozu auch. Es war zu keiner Zeit meine Absicht, ihn zu demütigen, und nicht die seine, mir die Lebensfreude zu rauben. Wir gaben uns Mühe, diskret zu sein, Bernhard und ich, auch nach dem Tod meines Mannes. So etwas gehört sich einfach. Jetzt sind sie beide weg. Bloß mich hält man noch auf Erden fest.«

»Zum Glück!«, rief Annika.

»Das Perfide an meiner Erzeugerin«, erklärt sie jetzt Florians Mutter, »ist ihre Doppelmoral. Ihre tolle Kirche, wo sie jeden Sonntag hinrennt, das ist doch auch ein polyamouröser Verein, eigentlich. Also, Jesus und die Jünger – ich bitte dich! Und jetzt die Mönche und die Nonnen – das sind doch polyamouröse Lebensgemeinschaften. Ohne Sex vielleicht, wobei man das nicht weiß, aber darum geht’s ja nicht!« Annika ist in Rage. »Außerdem: Papas alte Griechen haben doch auch allesamt Jungs gevögelt, während sie eigentlich Ehefrauen hatten, sagt Cem. Und geistig ausgetauscht haben die sich sowieso nur mit ihren Freunden.2 Margit wiederum liest andauernd Bücher über chinesische Frauen, die für ihre Männer Geliebte suchen.3«

»Du kannst doch die christlichen Gemeinschaften nicht mit uns vergleichen!«, widerspricht Florian. »Und die Griechen – das war doch was vollkommen anderes!«

»Nein! Das Prinzip ist dasselbe. Es gibt nicht bloß einen einzigen Menschen als Lebensmittelpunkt!«, beharrt Annika.