1517 - Heinz Schilling - E-Book

1517 E-Book

Heinz Schilling

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Beschreibung

"1517" ist das etwas andere Buch zum Reformationsjahr. Es schaut nicht auf den Bauchnabel Wittenberg, sondern auf die ganze Welt. Wie sah diese Welt zur Zeit Luthers eigentlich aus? Heinz Schilling, einer der großen Kenner der Epoche, nimmt uns mit auf eine faszinierende Zeitreise, die uns nach Italien und Spanien, zu den Osmanen, an den chinesischen Kaiserhof und ins Reich der Azteken führt. In diesem Buch wird das Zeitalter der Reformation aus einem ungewohnten Blickwinkel betrachtet. Es nimmt die Ereignisse von 1517 als Ausgangspunkt für eine Erkundung der Welt, in der Luther und seine Zeitgenossen lebten. Fremde Länder und Kontinente rücken dabei ins Licht, Machtkonstellationen und Lebensverhältnisse werden besichtigt, wir lernen den Geld- und Warentransfer kennen, die Erfindungen der Gelehrten und die Entdeckungen der Abenteurer. Neben die religiösen Kämpfe tritt der nach wie vor lebendige Glaube an Magie, Hexen und Dämonen. Spannend, kurzweilig und höchst informativ präsentiert Heinz Schilling einen der originellsten Beiträge zum Reformationsjahr.

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HEINZ SCHILLING

1517

WELTGESCHICHTE EINES JAHRES

C.H.BECK

ZUM BUCH

«1517» ist das etwas andere Buch zur Reformation. Es schaut nicht nur auf den Bauchnabel Wittenberg, sondern auf die ganze Welt. Wie sah diese Welt zur Zeit Luthers eigentlich aus? Heinz Schilling, einer der großen Kenner der Epoche, nimmt uns mit auf eine faszinierende Zeitreise, die uns nach Italien und Spanien, zu den Osmanen und Moskowitern, an den chinesischen Kaiserhof und ins Reich der Azteken führt. Sein wunderbares Buch öffnet die Augen dafür, dass Anfang des 16. Jahrhunderts nicht allein das Christentum, sondern eine ganze Welt in Bewegung war.

In diesem Buch wird das Zeitalter der Reformation aus einem ungewohnten Blickwinkel betrachtet. Es nimmt die Ereignisse von 1517 als Ausgangspunkt für eine Erkundung der Welt, in der Luther und seine Zeitgenossen lebten. Fremde Länder und Kontinente rücken dabei ins Licht, Machtkonstellationen und Lebensverhältnisse werden besichtigt, wir lernen den Geld- und Warentransfer kennen, die Erfindungen der Gelehrten und die Entdeckungen der Abenteurer. Neben die religiösen Kämpfe tritt der nach wie vor lebendige Glaube an Magie, Hexen und Dämonen. Spannend, kurzweilig und höchst informativ präsentiert Heinz Schilling mit seinem fulminanten Buch einen der originellsten Beiträge zum Reformationsjahr.

ÜBER DEN AUTOR

Heinz Schilling ist em. Professor für Europäische Geschichte der frühen Neuzeit an der Humboldt-Universität zu Berlin. Zuletzt erschien von ihm 2012 seine viel gerühmte Biographie «Martin Luther. Rebell in einer Zeit des Umbruchs», die mittlerweile in der vierten Auflage vorliegt und eine Gesamtauflage von 40.000 Exemplaren erreicht hat.

INHALT

PROLOG

Bergamo, Dezember 1517 – eine Schlacht der Geisterheere

Yukatan Frühjahr 1517/Mexico Karfreitag 1523 – die grausame Wiederkehr der Götter

Perldelta (Zhu Jiang), August 1517 – folgenreiche Unkenntnis des Zeremoniells

Stotternheim 1505 und Wittenberg 1517 – vom drohenden zum gnädigen Gott

1517 – EIN NEUER BLICK AUF DAS EPOCHENJAHR

I. ZWEI WELTREICHE UND EIN DRITTES ROM KÜNDIGEN SICH AN, ABER AUCH EIN STURM GEGEN UNTERDRÜCKUNG UND WILLKÜR

1. Kastilischer Herbst – Herrscherwechsel in Spanien und die Vision habsburgischer Vormacht in der Christenheit

2. Der frühmoderne Fürstenstaat und das Murren der Untertanen gegen die neuen Zwänge

3. Osmanischer Frühling – Triumph am Nil, auf der Arabischen Halbinsel und an den Küsten Nordafrikas

4. Eine wagemutige Reise in das andere Europa – über Polen und Litauen an den Moskowiter Hof

II. UM FRIEDEN UND STABILITÄT DES GELDES

1. Der neuzeitlich bedrängte Frieden – Querela pacis/Klage des Friedens aus dem Kampfgetümmel der Mächte und Dynastien

2. Eine kopernikanische Geldwerttheorie aus dem «entlegensten Winkel der Welt»

III. EUROPA UND DIE WEITERE WELT

1. Alte und Neue Welten

2. Der portugiesische Estado da India und der Zugang zum Reich der Mitte

3. März 1517, die Spanier auf Yukatan – erste Begegnung mit einer amerikanischen Hochkultur

IV. DIE RENAISSANCE UND EIN NEUES WELTWISSEN

1. «Calikutisch leut» und das Rhinozeros Odysseus – Übersee in Europa

2. Kultureller Aufbruch im Zeichen der Antike

3. Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen und ein Ritter-Humanismus in Mitteleuropa

4. Renaissance-Frauen

V. KOLLEKTIVE ÄNGSTE UND SEHNSUCHT NACH SICHERHEIT

1. Wunder, Magie, Hexen und Dämonen

2. Juden und Muslime als Gefahr für die christliche «Reinheit»

VI. DER PAPST IN ROM – ITALIENISCHER SOUVERÄN UND UNIVERSELLER PONTIFEX

1. Urbi et orbi – Rom im Bann des Medici-Papstes

2. Um die Reform der Christenheit an Haupt und Gliedern

3. Ein europäischer Frieden zum Kampf gegen die anstürmenden Osmanen

4. Die Pracht der Renaissance und die Ruine von St. Peter

5. 1517 – ein Jahr des Medici-Papstes

VII. DER MÖNCH IN WITTENBERG – EX ORIENTE LUX ODER DIE MORGENRÖTE DES PROTESTANTISMUS AN DEN GRENZEN DER ZIVILISATION

1. Wittenberg 1517 – Aufbruch «an den Grenzen der Zivilisation»

2. Der Augustinermönch und die deutsche Angst um das ewige Seelenheil

3. Der 31. Oktober – 95 Ablassthesen zur «Ergründung der Wahrheit» an die Kirchenhierarchie verschickt

4. Evangelische Reformation statt frivoler Kirchenkritik ohne Folgen

EPILOG: 1517 – EIN WUNDERJAHR ALS AUFTAKT DER NEUZEIT?

ANHANG

ANMERKUNGEN

PROLOG

1517 – EIN NEUER BLICK AUF DAS EPOCHENJAHR

I. ZWEI WELTREICHE UND EIN DRITTES ROM KÜNDIGEN SICH AN, ABER AUCH EIN STURM GEGEN UNTERDRÜCKUNG UND WILLKÜR

II. UM FRIEDEN UND STABILITÄT DES GELDES

III. EUROPA UND DIE WEITERE WELT

IV. DIE RENAISSANCE UND EIN NEUES WELTWISSEN

V. KOLLEKTIVE ÄNGSTE UND SEHNSUCHT NACH SICHERHEIT

VI. DER PAPST IN ROM – ITALIENISCHER SOUVERÄN UND UNIVERSELLER PONTIFEX

VII. DER MÖNCH IN WITTENBERG – EX ORIENTE LUX ODER DIE MORGENRÖTE DES PROTESTANTISMUS AN DEN GRENZEN DER ZIVILISATION

EPILOG: 1517 – EIN WUNDERJAHR ALS AUFTAKT DER NEUZEIT?

QUELLENVERZEICHNIS UND LITERATUR

BILDNACHWEIS

PERSONENREGISTER

ORTSREGISTER

Fünfhundert Jahre – fünfzig Jahre

Ulla Fischer und Gottfried Schramm,den Sternen der Freiburger Zeit

PROLOG

Bergamo, Dezember 1517 – eine Schlacht der Geisterheere

In Verdello auf dem Gebiet der oberitalienischen Kommune Bergamo, so verkündeten Briefe und Flugschriften sogleich der Christenheit, war Mitte Dezember 1517 Beunruhigendes zu beobachten: Eine Woche lang formierten sich dort auf einem weiten, vor einem Waldstück gelegenen Feld vier Mal täglich unter wehenden Bannern und von ihrem jeweiligen König angeführt, zwei Armeen mit Bataillonen von Infanterie, Kavallerie und Artillerie. Nachdem die beiden Heerführer im freien Raum zwischen den Schlachtreihen längere Zeit verhandelt hatten, «sah man» – so der ausführliche Bericht der bereits am 23. Dezember veröffentlichen Flugschrift – «den besonders martialisch und ungeduldig wirkenden König seinen eisernen Handschuh von der Hand ziehen und in die Luft schleudern; und sogleich schüttelte er mit einem beunruhigten Gesichtsausdruck sein Haupt und wandte sich direkt an seine in Schlachtordnung formierten Männer. Und sogleich war ein gewaltiger Lärm von Trompeten, Trommeln und Rasseln sowie Schlägen der Artillerie zu hören – ich schätze nach Art der Höllenschmiede; und in der Tat kann dieser Lärm nur von dort stammen. Und dann sieht man, wie die Schlachtlinien sich unter Bannern und Standarten in den Kampf stürzen – mit Ingrimm und gegenseitigen Beschimpfungen, und in einer äußerst grausamen Schlacht schlagen sie sich alle gegenseitig in Stücke. (…) Eine halbe Stunde später ist alles ruhig und nichts Auffälliges mehr zu sehen. Jeder, der den Mut hat, nahe an diesen Platz heranzutreten, sieht eine endlose Zahl von Schweinen, die kurz verharren und dann in dem erwähnten Wald verschwinden.»[1]

Yukatan Frühjahr 1517/Mexico Karfreitag 1523 – die grausame Wiederkehr der Götter

Als die spanischen Konquistadoren im Frühjahr 1517 auf der Halbinsel Yukatan den Majas und sechs Jahre später am Karfreitag in Tenochtitlán/Mexiko den Azteken gegenüber traten, war das für die Angehörigen dieser mittelamerikanischen Hochkulturen ein kosmisches Ereignis, ganz ähnlich wie die Geisterschlacht von Bergamo für die christlichen Europäer. Allerdings deutete man das Erscheinen der Spanier nicht als böses, sondern als gutes Vorzeichen. Denn diese wurden freudig als versöhnt zurückkehrende Götter begrüßt, nachdem zuvor unheimliche Vorzeichen den Zorn der Götter und deren Willen, sich von der Erde zurückzuziehen, bekundet hatten. Ein kurz nach der Ankunft der Spanier in Náhuatl, der Verkehrssprache der Azteken, verfasster Bericht hat das ausführlich beschrieben:[2]

«Das erste böse Omen: Zehn Jahre bevor die Spanier in dieses Land kamen, erschien nachts ein böses Vorzeichen am Himmel. Es war wie die Glut der Morgenröte, wie eine Feuerflamme, wie eine lodernde Feuergarbe. Die Flamme brannte breit und schoss spitz in die Höhe, mitten hinein in das Herz des Himmels, und blutiges Feuer fiel wie aus einer Wunde in Tropfen herab. Die Flamme zeigte sich im Osten und erhob sich zu voller Höhe um Mitternacht. Erst die Sonne besiegte sie mit der Morgenröte. Ein ganzes Jahr lang schien diese Flamme; im Jahr ‹Zwölf Haus› erschien sie uns Nacht für Nacht. Und als sie zuerst gesehen wurde, schrien die Leute vor Angst. Sie schlugen sich auf den Mund, waren bestürzt und verwirrt und fragten: ‹Was kann das bedeuten?›

Das zweite böse Omen: Der Tempel des Gottes Huitzilopochtli stand plötzlich in Flammen. Er brannte von selbst herab, niemand hatte ihn angezündet. Tlacateccan – Haus der Macht – hieß der heilige Platz, auf dem er gebaut war. Und nun steht er in Flammen, seine hölzernen Säulen brennen. Als das Feuer zuerst gesehen wurde, schrien die Leute: ‹Mexikaner, kommt, lauft, wir können es löschen! Bringt Wasserkrüge! Aber als sie Wasser in die lodernde Glut gossen, flammte das Feuer noch höher auf. Sie konnten es nicht ersticken, und der Tempel brannte nieder bis auf den Grund.

Das dritte böse Omen: Ein Blitzstrahl traf den Tempel Xiuhtecuhtlis, des Feuergottes. Nur ein feiner Regen fiel an jenem Tag, und kein Donner war zu hören. Darum nahmen wir den Blitzstrahl als ein böses Zeichen und sagten: ‹Die Sonne selbst hat den Tempel getroffen.›

Das vierte böse Omen: Feuer zog über den Himmel, als die Sonne noch schien. Es zog in drei Streifen dahin, von Westen nach Osten, und schüttete einen roten, heißen Funkenregen aus. Als die Leute den langen Schweif durch die Lüfte fegen sahen, schrien ihre angstvollen Stimmen, wie tausend rasselnde Schellen.

Das fünfte böse Omen: Der Wind peitschte das Wasser, bis es aufschäumte. Es kochte vor Zorn, es zerkochte sich selbst in Raserei. Es rollte von weit her heran, stieg hoch in die Luft und schmetterte gegen die Mauern der Häuser, riss sie weg in die Fluten. Das geschah an unserem See, in Mexiko.

Das sechste böse Omen: Nacht für Nacht hörte man eine weinende Frau. Um Mitternacht irrte sie umher und weinte und schrie laut und klagend: ‹Meine lieben Kinder, wir müssen fliehen aus dieser Stadt, ins Elend!› Und manchmal schluchzte sie: ‹Meine Kinder, wohin soll ich euch bringen?›

Das siebte böse Omen: Ein seltsamer Vogel wurde in den Netzen gefangen. Er glich einem Kranich. Man brachte ihn zu Morecuhzoma (dem Kaiser der Inkas, H. Sch.) in das Schwarze Haus. Der Vogel trug einen Spiegel in der Federkrone seines Kopfes; und der Nachthimmel spiegelte sich darin wider. Es war erst Mittag, aber die Sterne und Mamalhuatzli, der Feuerbohrer, schienen doch in dem Spiegel. Als Morecuhzoma die Sternbilder sah, deutete er das als großes, unheilvolles Vorzeichen. Doch als er zum zweiten Male in den Spiegel blickte, sah er in der Ferne ein Schlachtfeld. Männer, in Reihen ausgerichtet wie Rohrschäfte, kamen eilig heran. Sie waren zum Kriege gerüstet und ritten auf den Rücken von Hirschen.

Morecuhzoma berief seine Zeichendeuter und Weisen und fragte: ‹Könnt Ihr erklären, was ich gesehen habe? Geschöpfe wie menschliche Wesen, sie liefen und fochten!› Aber als sie in den Spiegel sahen, um das Bild zu deuten, war alles verschwunden, und sie sahen nichts.

Das achte böse Omen: Missgestaltete Wesen erschienen auf den Straßen der Stadt, Menschen mit zwei Köpfen auf einem Leib. Man brachte sie in das Schwarze Haus zu Morecuhzoma. Doch als er sie ansah, verschwanden sie spurlos.»

Diese und «andere merkwürdige Zeichen kurz vor der Ankunft der Spanier» konnten die Azteken, so eine andere Stimme, nur so verstehen, «dass die Götter vom Himmel herabgestiegen wären, und Nachrichten flogen durch die Provinz bis in die kleinsten Dörfer. (…) und schließlich wurde die Ankunft eines seltsamen neuen Volkes berichtet und bestätigt, besonders in Mexiko, der Hauptstadt dieses Reiches».[3]

Perldelta (Zhu Jiang), August 1517 – folgenreiche Unkenntnis des Zeremoniells

Der Sekretär der Provinzregierung des Kantons Gu Yingxiang legt Rechenschaft über die Begegnung mit einer portugiesischen Gesandtschaft ab: «Als ich im Jahre Chengte ting-ch’ou (= 1517) Sekretär der Provinzialregierung in Kanton war und stellvertretend die Angelegenheiten des Kommissars für den Seehandel verwaltete, waren da plötzlich zwei große Seeschiffe, die direkt ins Kanton hineinfuhren. Sie sagten, dass sie aus dem Lande Folangchi («Franken», Bezeichnung für alle Europäer) Tribut brächten. Ihr Schiffsherr hieß Chiapitan (Kapitän). Die Leute hatten alle hohe Nasen und tiefliegende Augen. Ihren Kopf hatten sie mit weißem Tuch umwickelt entsprechend der Kleidung der Mohammedaner. Ich erstattete sofort dem Generalgouverneur, der gerade in Kanton weilte, Bericht. Da diese Leute die Sitten nicht kannten, ordnete ich an, dass sie sich drei Tage lang im Quanghsiao-Szu (Moschee) in den Zeremonien üben und dann zur Audienz geführt werden sollten. Da es nicht in den Gesammelten Statuten des Mingh-Reiches steht, dass dieses Land Tribut bringt, legte ich einen vollständigen Bericht darüber dem Thron vor. Als der Hof seine Genehmigung erteilt hatte, schickten wir sie zum Ministerium. Da zu jener Zeit Kaiser Wu-Tzung auf einer Reise in den Süden war, blieben sie ein Jahr im Gästehaus für fremde Tributgesandtschaften. Nachdem der jetzige Kaiser den Thron bestiegen hatte, wurde in Anbetracht ihrer Respektlosigkeit der Dolmetscher zum Tode verurteilt, und sie kehrten unter Gewahrsam nach Kanton zurück.»[4]

Stotternheim 1505 und Wittenberg 1517 – vom drohenden zum gnädigen Gott

Das Mönchsgelübde des Jurastudenten Martin Luther: «Am 2. Juli 1505» – so der Reformator rückblickend – «bei Stotternheim nahe Erfurt durch einen Blitz erschüttert (consternatus), geriet ich in Angst und Schrecken (in terrore) und rief aus: Hilff du, S. Anna, ich will ein monch werden!» – Ich bin «vom Himmel durch Schrecken gerufen, nicht etwa freiwillig oder aus eigenem Wunsch Mönch geworden. Noch viel weniger wurde ich es um des Bauches willen, sondern von Schrecken und Furcht vor einem plötzlichen Tod (terrore et agone mortis subitae) umwallt, legte ich ein gezwungenes und erdrungenes Gelübde ab.»[5]

Aus den 95 Thesen vom 31. Oktober 1517 und deren «Erläuterungen» von 1518:

These 32: «Wer glaubt, durch Ablassbriefe seines Heils sicher zu sein, wird auf ewig mit seinen Lehrmeistern verdammt werden. (…) Denn wir haben keine andere Hoffnung auf das Heil als ganz allein Jesus Christus, und es ist ‹kein ander Name unter dem Himmel gegeben, darin wir sollen selig werden.› (Apg. 4,12; 15,11) Darum fort mit dem Vertrauen auf tote Buchstaben, auf Ablass und kirchliche Fürbitten!»

These 37: «Jeder wahre Christ, gleichviel ob lebendig oder tot, hat an allen Gütern Christi und der Kirche teil: Gott hat sie ihm auch ohne Ablassbrief gegeben.» – «Es ist unmöglich ein Christ zu sein und Christus nicht zu haben, hat man aber Christus, so hat man alles, was Christi ist. (…) Und darin besteht die christliche Zuversicht und die Frömmigkeit unsers Gewissens, dass unsere Sünden durch den Glauben nicht mehr unsere, sondern Christi Sünden sind, auf den Gott unser aller Sünden gelegt hat. Er trug unsere Sünden, er ist das Lamm Gottes, das der Welt Sünde trägt, und umgekehrt wird alle Gerechtigkeit Christi unsere Gerechtigkeit. (…) Diese liebliche Gemeinschaft, dieser fröhliche Wandel vollzieht sich nur im Glauben, und den Glauben kann sich der Mensch nicht geben oder nehmen. Darum halte ich es für völlig klar, dass diese Gemeinschaft nicht durch die Kraft der Schlüssel (also durch den Papst, H. Sch.), noch durch Gewähren von Ablassbriefen erteilt werden kann, vielmehr wird sie vorher ohne sie durch Gott selbst erteilt.»

These 7: «Wir werden also durch den Glauben gerecht, durch den Glauben erlangen wir Frieden, nicht durch Werke, Bußübungen oder Beichten.»[6]

Vier Zeugnisse aus unterschiedlichen Ecken Europas und der Welt, die inhaltlich wenig gemein zu haben scheinen und doch im Rückblick als Manifestationen einer Epoche des Umbruchs und der Verunsicherung der Menschen gelesen werden können: Die Geisterschlacht von Bergamo galt den Zeitgenossen, Fürsten und Gelehrten ebenso wie Stadtbürgern und Bauern, als Vorzeichen einschneidender Ereignisse, konkret einer Fundamentalbedrohung der Christenheit durch die muslimischen Türken, die im Frühjahr 1517 mit der Eroberung Kairos das eben noch mächtige Reich der Mamluken niedergeworfen hatten und von Alexandria aus zum Sprung nach Süditalien anzusetzen schienen.

Zur selben Zeit lasen auch in Yukatan/Mexico die Inkas Himmels- und Naturerscheinungen als Vorzeichen einschneidender Veränderungen, die sie als drohenden Rückzug der Götter und – im Erscheinen der Spanier – als ihre versöhnliche Wiederkehr verstanden. Das erwies sich als eine Interpretation, die anders als die Türkendeutung der italienischen Geisterschlacht nicht den Verteidigungswillen schärfte, sondern in fataler Weise schwächte.

Ganz anders die Begegnung in Kanton: Die hochentwickelte chinesische Bürokratie machte den Portugiesen sogleich klar, dass sie im Reich der Mitte als Bittsteller galten und sich in jeder Hinsicht an dessen hoch ritualisierte Regeln zu halten hatten. Als sie das nicht beachteten, war das ein gravierender Verstoß gegen den zeremoniellen Erwartungshorizont des Kaiserreiches und wurde entsprechend gnadenlos geahndet.

Schließlich Stotternheim und Wittenberg, zwei Zeugnisse der individuellen Gotteserfahrung des späteren Reformators Martin Luther: 1505 war sie bestimmt durch die verbreitete Angst – man denke nur an die Schreckensbilder eines Hieronymus Bosch – vor dem richtenden Gott und das komplementäre Vertrauen auf den Schutz der Heiligen. In den Ablassthesen von 1517 aber kündigt sich sein neues, bald reformatorisch genanntes persönliches Gottesverhältnis an, das in ganz einfacher, evangelischer Weise die Heilsgewissheit allein in Jesus Christus und der Gnade Gottes findet.

Bei aller Verschiedenheit ist jedes der vier Zeugnisse Ausdruck eines religiös-kosmischen Weltbildes. Gott oder die Götter bestimmen nicht nur die Weltordnung, sie greifen auch unmittelbar in das Weltgeschehen ein und übermitteln den Menschen verschlüsselte Botschaften. So wie die Inkas Wetterblitze und Himmelszeichen als Willensbekundung der Götter lasen, so deutete die lateinische Christenheit die «Geisterschlacht» vor Bergamo als von Gott selbst gesandte Warnung. Und wie die Inkas in Mexico vor ihren unversöhnten Göttern erzitterten, so fürchtete der junge Martin Luther im Blitzschlag von Stotternheim den richtenden Gott, der ungerührt und unbarmherzig über das Seelenheil eines jeden Menschen entscheidet. Im chinesischen Kanton schließlich galten jahrhundertealte kosmologische Vorstellungen, denen zufolge die Erde wie der Himmel organisiert war. In der Mitte des Universums – im «Reich der Mitte» – saß der chinesische Kaiser. Er war der Pol, auf den hin sich die Völker zu orientieren hatten.[7] Als der portugiesische König in seinem Schreiben den Kaiser von Gleich zu Gleich anredete und auch seine Gesandtschaft nicht bereit war, diese eherne Ordnung der Welt anzuerkennen, konnte der chinesische Hof das nur als rücksichtslosen, ja frevelhaften Verstoß gegen die Ruhe und Balance des Universums begreifen, der mit aller Entschiedenheit zu ahnden war.

1517 – EIN NEUER BLICK AUF DAS EPOCHENJAHR

1517 war und ist für die protestantische Geschichtsdeutung das annus mirabilis, das von Gott gewiesene Wunderjahr, Beginn einer Zeitenwende. Noch nach der Katastrophe des Ersten Weltkrieges stand für Adolf von Harnack (1851–1930), den wohl bedeutendsten Theologen und Wissenschaftsorganisator seiner Zeit, unverrückbar fest: «Die Neuzeit hat mit der Reformation Luthers ihren Anfang genommen, und zwar am 31. Oktober 1517; die Hammerschläge an der Tür der Schloßkirche zu Wittenberg haben sie eingeleitet.»[1]

2017 indes, im Moment des 500jährigen Reformations-Gedächtnisses in Deutschland und Europa, erscheint das Jahr 1517 in einem anderen Licht. Nicht nur, weil der Mythos des hammerschwingend die Neuzeit eröffnenden Reformators zerbrochen ist. Die Grundlagen unseres Geschichtsbildes haben sich radikal verändert: Der Anfang des 20. Jahrhunderts noch prägende konfessionelle Gegensatz zwischen Protestantismus und Katholizismus ist in den Hintergrund getreten, ebenso die europazentrische Geschichts- und Epochenbetrachtung. Gewachsen ist dagegen das welt- oder globalgeschichtliche Bewusstsein, das nicht mehr dem «Imperialismus des Universellen»[2] verhaftet ist. An die Stelle des europäischen Neuzeit-Monopols tritt zunehmend die Erkenntnis, dass auch in anderen Teilen der Welt Impulse zum Aufstieg neuer, neuzeitlicher Lebensbedingungen gesetzt wurden.

Damit steht auch die These von der einmaligen universalgeschichtlichen Modernisierungswirkung der im Ablassprotest 1517 geborenen Reformation in Zweifel, die mit der Aufklärung in das allgemeine Geschichtsbild des «Westens» eingegangen ist. In diesem Buch soll das «Epochenjahr 1517» in einem weiten, «globalen» Verständnis von Weltgeschichte neu vermessen werden. Dabei ist die Lupe der Wittenberger Feldforschung zu ergänzen durch das Fernrohr, das die welthistorischen Entscheidungen im Übergang vom Mittelalter zur Neuzeit auch anderwärts in Europa und der weiteren Welt erkennen lässt. Eine Globalgeschichte, wie sie für das 19. und 20. Jahrhundert, im Ansatz auch bereits für das Jahr 1688[3], erarbeitet wurde, wird aber nicht angestrebt – zu isoliert standen sich 1517 noch die Weltregionen, ihre Völker und Kulturen gegenüber. Mit dem Mitte des 15. Jahrhunderts einsetzenden Ausgreifen Europas auf neu entdeckte wie altbekannte Kontinente entwickelte sich zwar ein den Globus überspannendes Netz der Kommunikation und des Austauschs. Der rasche Informationsaustausch späterer Jahrhunderte war aber noch ebenso unbekannt wie die uns heute selbstverständliche Eine-Welt-Vorstellung.

Es geht zunächst um einen Bericht über das, was 1517 und in den vorangehenden oder folgenden Jahren, geschah; über die Akteure, ihr Denken und ihre Weltbilder; über die Beweggründe und Folgen ihres Handelns; über die Weichen, die sie für kurze oder langanhaltende Veränderungen stellten. Dabei werden wir mit Welten konfrontiert, die uns heute tief fremd sind. Selbst das uns scheinbar vertraute Europa wird von modernen Sozialhistorikern zu Recht als eine «world we have lost» charakterisiert.[4] Das Fremde beginnt bereits bei der Chronologie. Wer heute von 1517 spricht, geht umstandslos davon aus, dass dieses Jahr am 1. Januar begann und am 31. Dezember endete. Auch die Historiker verfahren in ihren Darstellungen so, müssen dabei aber nicht selten die Zeitangaben ihrer Quellen umrechnen. Denn in der historischen Realität war die Chronologie über die Jahrhunderte hin so bunt und verschiedenartig wie die Völker, Religionen und Kulturen.[5] Und so variieren auch der Anfang und das Ende des Jahres 1517 nicht unerheblich.

Dass über die Kontinente und Zivilisationen die Einteilung und Zählung der Jahre unterschiedlich waren, die Chinesen anders als die Europäer, Inder oder amerikanischen Hochkulturen, die Christen anders als Juden oder Muslime rechneten, wird niemanden überraschen. Ebenso wenig die teilweise bis heute abweichende eigene Chronologie der orientalischen Christen – bei den Kopten etwa war der 11. September Jahresbeginn – oder der orthodox-christlichen Länder, die ihre Jahreszählung aus Ostrom beziehungsweise Byzanz übernahmen und ein neues Jahr am 1. September beginnen ließ. Doch auch dort, wo der Papst Kirchenoberhaupt war, bedeutete das Jahr 1517 für die Zeitgenossen einen recht unterschiedlichen Zeitraum. Zwar hatten bereits die Römer ein gutes Jahrhundert vor Christi Geburt den Jahresbeginn vom bis dahin üblichen 1. März auf den 1. Januar verlegt, den Tag, an dem die Konsuln ihr Amt antraten. Für diese Angleichung der Jahreszählung an das Verfassungsleben hatten sie in Kauf genommen, dass die Zählung der Monatsnamen nicht mehr stimmte, zum Beispiel der September nicht mehr der siebte, sondern der neunte Monat war. Ganz verloren ging der altrömische Jahresbeginn im lateinischen Europa aber nicht. So begann in Venedig das Jahr 1517 am 1. März, was offensichtlich den ökonomischen Interessen der Handelsrepublik keinen Abbruch tat. Am 25. März, dem Fest Mariä Verkündigung, begann das Jahr in Florenz und Pisa, in Schottland und England, nach lokalen Traditionen dort aber auch bereits ein Vierteljahr früher am 25. Dezember, dem Weihnachtstag.

Zudem sollten mit der Thesenveröffentlichung Ende Oktober 1517 die Weichen für eine neue Differenzierung der Jahresberechnung im lateinischen Europa gestellt werden: Die gregorianische Kalenderreform des Jahres 1582, die wegen der Ungenauigkeit des bis dahin gültigen julianischen Kalenders 10 Tage übersprang (vom 4. auf den 15. Oktober), sollten die Protestanten ablehnen, weil sie «päpstlich» war. So wurde die Zeit konfessionell, und die protestantische Welt hinkte 10 Tage hinterher, in Deutschland bis 1700, in Schweden sogar bis 1753.

Wie die Zeit, so waren auch andere Grundbedingungen des menschlichen Lebens ganz anders geprägt als heute, in Europa wie auf anderen Kontinenten: Das Leben der Menschen, des Einzelnen wie der Gesellschaft, war in den engen wie strengen Rahmen der Natur eingespannt. Vom Wetter hingen Ernten und Lebensmittelpreise ab, dadurch gute oder schlechte Ernährung, Gesundheitsrisiken und Ab- oder Zunahme der Sterblichkeitsziffern und damit Bevölkerungsschwund oder Bevölkerungswachstum, was wiederum die Lebenschancen ganzer Generationen beeinflusste. Von diesen Naturzyklen bedingt, teils aber auch unabhängig davon, lauerte die Gefahr unbeherrschbarer, klein- oder großräumiger Epidemien, unter denen die großen transkontinentalen Pestzüge des 14. Jahrhunderts nur die verheerendsten waren, die über Generationen hinweg die Menschen in Europa traumatisierten. Da man die uns heute selbstverständlichen naturwissenschaftlichen Methoden nicht kannte, suchte man – und keineswegs nur die große Masse der Illiterati, der Ungebildeten – Grund oder Sinn solcher Gefahren in einer transnaturalen Interpretation der Welt.

Stellen wir uns das Naturgeschehen für das Jahr 1517 in Europa vor Augen: Das Wetter haben die Menschen seit eh und je sorgfältig beobachtet, und seit Beginn der Schriftlichkeit haben sie darüber Notizen hinterlassen. In Europa stieg dieser Registrierungseifer während des späten Mittelalters sprunghaft an, so dass für 1517 eine Vielzahl von Wetterbeobachtungen vorliegt – aus Klöstern, in systematisch geführten Wetterjournalen, in Kalendarien oder Messtabellen, vereinzelt auch von Privatleuten in Stadt und Land. Danach entsprach das Wetter im Süden Mitteleuropas dem in dieser Phase der europäischen Wettergeschichte Üblichen: Nach zwei milden Wintern 1515 und 1516 wurde der Winter nun streng, so dass es wieder einmal – wie bereits 1514, danach aber erst wieder 1551 – zum Seegfrörne kam, dem vollständigen und länger stabilen Zufrieren der großen oberdeutschen und Schweizer Seen, namentlich des Bodensees, das von den Zeitgenossen stets aufmerksam, ja ehrfurchtsvoll festgestellt und über die Lande hin als Neuigkeit verbreitet wurde. Da zudem viel Schnee fiel, die Böden somit Feuchtigkeit speichern konnten, in den meisten Regionen Mitteleuropas bereits Ende März der Frühling ausbrach und Anfang April ungewöhnlich sommerliche Temperaturen herrschten, waren die Bedingungen für das Aufwachsen der Saat sehr gut.

Man konnte also eine reiche Ernte und somit stabile Nahrungsmittelpreise und eine gute Ernährungslage für die gesamte Bevölkerung erwarten. Indes, diese Prognosen erfüllten sich nicht durchgehend. Im weiteren Jahresverlauf schlug das Wetter wiederholt abrupt um. Zunächst blieb der Regen aus, so dass eines der trockensten Frühjahre des Jahrhunderts verzeichnet wurde und die Wasserknappheit die gut entwickelten jungen Pflanzen zu vernichten drohte. Als dann Ende des Monats noch harte Fröste aufzogen, waren die Wein- und Obstblüte weitgehend vernichtet, auf eine gute Ernte durfte man nicht mehr hoffen. Der Frühsommer war wieder außergewöhnlich trocken und heiß, so dass die Bäume das Wachstum einstellten. Da die Heuernte mager ausfiel, mussten viele Bauern aus Futtermangel einen Teil ihres Viehs an die Metzger verkaufen. Zudem war vorauszusehen, dass sie nur kleine Viehherden durch den kommenden Winter bringen könnten. Das Vieh auf den Weiden litt bereits, und es kam zur Verknappung von Milch und Milchprodukten. In der zweiten Julihälfte brachen lang anhaltende, sintflutartige Regenfälle mit schweren Stürmen aus und machten den Sommer zu einem besonders feuchten. Das Spätjahr von September bis in den November hinein wurde wieder besonders warm und trocken. So konnten mancherorts die Ernteverluste des Frühjahrs und des Sommers ein wenig ausgeglichen und die schwersten Hungersnöte abgewendet werden.[6]

Wetter und Versorgungslage scheinen in den verschiedenen Regionen Europas ähnlich gewesen zu sein. In den dendroklimatologischen Analysen, die das Wachstum der Jahresringe von Bäumen zugrundelegen, stellt sich das Jahr auch für England und Frankreich in Frühjahr und Sommer trocken und heiß, in der zweiten Hälfte aber übermäßig nass dar. Für den Südwesten, namentlich Kastilien, wird berichtet, dass die städtischen Unruhen, die 1520 in den gefährlichen Comuneros-Aufstand mündeten, sich bereits 1517 ankündigten und nicht unwesentlich durch schlechte Ernten und Schwierigkeiten in Handel und Versorgung veranlasst worden waren. Ähnlich in Ostmitteleuropa, wo Schlesien, Böhmen und Polen unter einem harten Winter mit Frosttoten und einem trockenen Frühjahr mit einer schlechten Weizenernte zu leiden hatten. Man klagte über Versorgungsengpässe beim Wein, der zudem von ganz schlechter Qualität sei. Im Herbst war dann die Ernte bei Roggen, Hafer und Gerste nicht schlecht, so dass in Böhmen und Polen die Kornpreise wieder sanken.[7]

Solche Wetterkapriolen, so sehr wir sie heute mit Sorge beobachten, weil wir in ihnen Vorboten einer Klimakatastrophe sehen, waren für die Menschen des 16. Jahrhunderts noch weit beunruhigender. Denn da der damaligen Landwirtschaft so gut wie keine Mittel zur Linderung der Folgen zur Verfügung standen, waren alle ganz unmittelbar betroffen: die Bauern durch erhebliche Einnahmeverluste und Wertminderungen ihrer Betriebe und die breiten Schichten in Stadt und Land durch empfindliche Teuerung der Grundnahrungsmittel Getreide und Milch.[8]

In den wohlorganisierten größeren Städten allerdings wussten die Magistrate bereits durch Kornbevorratung und Preiskontrolle bei Mehl und Brot gegenzusteuern. Ein einzelnes, moderat schlechtes Wetterjahr wie 1517 konnten die Menschen damals bewältigen, zumal wenn man wie die niederländischen und westdeutschen Städte über den Wasserweg an die Kornzufuhr aus dem Baltikum angeschlossen war. Die Nahrungsversorgung der breiten Schichten blieb dort in der Regel stabil. In der Reichsstadt Köln zum Beispiel, einer der größten und bestverwalteten Städte Mitteleuropas, zeigen die monatlichen Kornpreislisten für 1517 keine starken Ausschläge. Im Gegenteil, der Spätjahrespreis war geradezu moderat, nämlich 3,58 Mark nach der Kölnischen Rechnungseinheit gegenüber 5,21 Mark im Jahr zuvor oder gar 10 Mark in der wirklichen Krisenzeit zu Ende der 1520er Jahre.[9] Ganz anders sah es dagegen für die Bewohner der vielen Mittel- und Kleinstädte oder die in manchen Regionen bereits recht starken unterbäuerlichen Gruppen auf dem Lande aus. Für sie konnten bereits einzelne schlechte Erntejahre bedrohlich werden.

Neben Hungersnöten und dadurch bedingter Anfälligkeit der Bevölkerung hatten Epidemien eine physiologische wie seelische Wucht, die man sich heute kaum noch vorstellen kann. In Europa zählte das Jahr 1517 zu den weniger belasteten Jahren, allemal wenn man es mit den schrecklichen Pestjahren zu Mitte des 14. Jahrhunderts vergleicht, die – wie etwa Dürers berühmte Apokalyptische Reiter belegen – noch tief im kollektiven Bewusstsein der Menschen eingegraben waren. Gleichwohl schlug diese Geißel auch in diesem Jahr zu und ängstigte die Menschen. Nicht in Form der Pest, sondern als Englischer Schweiß, benannt nach dem Ursprungsland, wo die Seuche 1486 erstmals ausgebrochen war, und den Symptomen – Ohnmacht, Herzjagen, Angstzustände, Magenkrämpfe, heftige Kopfschmerzen, begleitet von alle Kräfte erschöpfenden Schweißausbrüchen. Wieder war es die Insel, die heimgesucht wurde. Und da dort jedem noch die hohen Todeszahlen der ersten Welle vor Augen standen, wussten Herrschende wie Beherrschte sogleich, was auf sie zukam, als im Hochsommer, typischerweise bei feucht-nebliger Witterung, die ersten Berichte über Erkrankungen durch das Land liefen.

Durch ihr weitgespanntes Korrespondenznetz erfuhren auf dem Kontinent zuerst die Humanisten vom Ausbruch der gefürchteten Krankheit, so Erasmus von Rotterdam bereits am 19. August durch den Brief seines Freundes Thomas Morus: «Wenn es je Beunruhigung gab, so sind Gefahr und Verzweiflung bei uns nun größer denn je. Überall gibt es viele Tote. In Oxford, Cambridge oder London werden die Menschen in kürzester Frist aufs Totenbett geworfen. Ich habe den Verlust vieler meiner besten Freunde zu beklagen, darunter – und das wird auch Dir Schmerz und Trauer bereiten – unser teurer Andrea Ammonio, der ein großer Verlust für die gelehrte Welt und alle rechtschaffenden Menschen ist. Angesichts seines maßvollen Lebens wähnte er sich bestens vor Ansteckung geschützt. Zudem hatte die Epidemie noch keinen seiner Leute getroffen, obgleich er selten jemanden traf, dessen Haushalt nicht gelitten hatte. Davon prahlte er zu mir und vielen anderen noch wenige Stunden, bevor er selbst davongetragen wurde. Denn die Schweißkrankheit ist nur den ersten Tag tödlich.»[10]

Die längerfristigen demographischen Folgen waren umso gravierender, als vornehmlich junge Menschen aus Adel, Groß- und Bildungsbürgertum dahingerafft wurden, während die Alten und Kinder eher verschont blieben.

Als sich im Laufe des Spätsommers die Nachricht über den Englischen Schweiß über die Gelehrtenzirkel hinaus in Europa verbreitete, fühlten sich auch die Menschen auf dem Kontinent betroffen, obgleich sie diese Epidemie erst Ende der zwanziger, Anfang der dreißiger Jahre heimsuchen sollte. Die Erschütterung ergab sich nicht aus einer direkten gesundheitlichen Bedrohung. Vielmehr war es die Angst vor einem für den Englischen Schweiß charakteristischen plötzlichen Tod, der dem Menschen keine Zeit lässt, sich mit seinem Gott zu versöhnen und ihn somit in die ewige Verdammnis reißt. Auch darin kam die tiefe religiöse Krise des Zeitalters zum Ausdruck, die 1517 einen Höhepunkt erreichte.

Setzen wir unsere Betrachtung des Jahres von außen nach innen fort, beginnend mit den politischen Ereignissen im lateinisch-christlichen Europa und den im Osten und Südosten angrenzenden osteuropäisch-orthodoxen beziehungsweise vorderasiatisch-arabischen Zonen. Zu besichtigen ist hier die große politische Welt der konkurrierenden Dynastien, Herrschaften und frühmodernen Staaten einerseits und der aufziehenden Konfrontation zweier Weltreligionen und «Weltreiche» andererseits (Kap. I). Daran anschließend werden zwei prominente Antworten auf die vordringlichen Probleme der Zeit behandelt: Überlegungen zur Friedenssicherung, die durch das innereuropäische und das internationale Mächteringen immer schwieriger wurde, und zur Sicherung der Geldwertstabilität, die zwischen dem rasanten transkontinentalen Aufschwung des Handels und dem regionalen, teils sogar nur lokalen Zuschnitt der Münzpolitik zu zerbrechen drohte (Kap. II). Von dort schreiten wir voran zu den Begegnungen mit den fernen Zivilisationen Asiens und Amerikas (Kap. III). Die Perspektive zurück auf Europa selbst gewendet, geht es sodann um den Zusammenhang von neuem «Weltwissen», das in den Jahren um 1517 mit Macht nach Europa strömt, und den autochthonen kulturellen Aufbruch im Zeichen von Humanismus und Renaissance (Kap. IV). In einer tieferen Schicht sind die kollektiven Ängste der Menschen und die magisch-kosmische Deutung der Welt angesiedelt, einschließlich der Stigmatisierung des und der Fremden, im Europa des frühen 16. Jahrhunderts insbesondere der Juden und Moslems, genauer der von außen anstürmenden Türken und der arabischen Maurescos in Spanien (Kap. V). Die letzten Kapitel führen ins religiöse Innere der lateinisch-christlichen Zivilisation und zu den geistigen, politischen und sozialen Spannungen, die den Mythos des Jahres 1517 schufen. Zunächst geht es um den Widerspruch zwischen dem Renaissance-Glanz in Rom, dem päpstlichen Nabel der Welt, und dem ungestillten Verlangen der Christenheit nach spirituellen und institutionellen Reformen (Kap. VI). Dann führt der Szenenwechsel «an den Rand der Zivilisation», wo das fürs Erste noch ganz unspektakuläre Denken und Handeln eines Augustinermönchs binnen kurzem aus Wittenberg das Gegen-Rom werden ließ (Kap. VII).

I.

ZWEI WELTREICHE UND EIN DRITTES ROM KÜNDIGEN SICH AN, ABER AUCH EIN STURM GEGEN UNTERDRÜCKUNG UND WILLKÜR

Wer spätes Mittelalter und beginnende Neuzeit ein Zeitalter der Religion nennt, muss hinzufügen, dass es auch und in manchem sogar vorrangig ein Zeitalter des Politischen war. Theoretisch, indem – wie das nächste Kapitel näher zeigen wird – Ordnungsentwürfe entstanden, die über die Jahrhunderte hin die Diskussion über die Grundprinzipien im Zusammenleben der Menschen bestimmen sollten. Und in der politischen Praxis hatte das Ringen um die Verteilung von Macht und Ansehen eingesetzt, zwischen den Fürsten ebenso wie im Innern ihrer Herrschaften. Innerhalb der einzelnen Gemeinwesen ging es um zwei einschneidende Neuregelungen – um die Durchsetzung staatlicher, meist fürstlicher Prärogativrechte gegenüber den traditionell an der Herrschaft beteiligten Ständen und um die Gewöhnung der Untertanen, Bürger wie Bauern, an regelmäßige Steuerzahlungen; es sei denn sie lebten wie die Griechen und bald Teile des Balkans unter osmanischer Herrschaft mit einer anderen Art der Staatsfinanzierung.

Zwischen den Herrschern und ihren Ländern ging es um die Verteilung von Macht und Ehre in der sich herausbildenden europäischen Staatenordnung, ein Kampf, der militärisch, diplomatisch und nicht zuletzt ehepolitisch ausgetragen wurde. Denn die Politik wurde in dieser Epoche nicht von Staaten nach Art der institutionell formierten Staaten des 19. Jahrhunderts, von Nationalstaaten ganz zu schweigen, bestimmt, sondern von Fürsten und Dynastien. In Europa waren das in der Regel Könige und Königsdynastien, im Heiligen Römischen Reich auch Kurfürsten, Herzöge/Erzherzöge, teilweise selbst Grafen. Mit ihrem Machtringen ging eine rasch voranschreitende Modernisierung des Militärwesens, vor allem der Waffentechnik einher. Die im späten 14. Jahrhundert aufkommenden Schusswaffen – Handwaffen, bald auch Kanonen, zunächst für das Bombardement von Städten, seit dem Italienfeldzug Karls VII. von Frankreich ausgangs des 15. Jahrhunderts auch als bewegliche Feldgeschütze – hatten die Kriegführung der Europäer von Grund auf verändert. Das adlige Ritteraufgebot wurde Zug um Zug durch besoldete, größtenteils aus «Infanteristen» bestehende Söldnerheere ersetzt. Beides – Söldner wie Gewehre und Kanonen, deren Technik ständig aufwendiger wurde – kostete die Kriegführenden Geld, Geld und nochmals Geld: «Pecunia nervus rerum»/«Das Geld ist der Nerv aller Dinge» wurde zur Maxime, die jeder Fürst zu beachten hatte. Der Ausbau von Kriegswesen und Militärtechnik zog zwangsläufig den Aufbau des Steuer- und Fiskalstaates nach sich. Begehrt und teuer waren vor allem die Schweizer Söldner, so wie heute noch bei den Päpsten. In Italien übernahmen Condottieri die Führung der Söldnerheere, Kriegsunternehmer, die auf Vertragsbasis Truppen versammelten und in den Dienst der Fürsten oder Stadtstaaten stellten. Ähnlich die deutschen Landsknechtsführer wie Georg von Frundsberg (1473–1528), der berühmteste unter ihnen, Feldhauptmann der Römischen Kaiser Maximilian I. und Karl V.[1]

Als Reaktion auf die zunehmende Durchschlagskraft der Kanonen gingen mathematisch geschulte Ballistiker, Festungsingenieure und Renaissancebaumeister daran, Schussbahnen und Einschlagwinkel der Kugeln zu berechnen, um Wege zu finden, wie sich die Schäden an den Verteidigungsmauern begrenzen ließen. Das Ergebnis waren die komplexen Fortifikationsanlagen der Renaissance, die an die Stelle des einfachen, einlinigen Mauerrings mittelalterlicher Städte und Burgen traten. Wieder hing alles vom Geld ab. Denn die technisch und finanziell äußerst anspruchsvollen Renaissanceanlagen mit ihrem komplizierten System von Wällen, Gräben, Ravelins, Bastionen, Schanzen und weit ins Umland ausgreifendem Schussfeld und Vorwerken bedeuteten einen riesigen Aufwand an planender Intelligenz, Arbeitskraft und Material.

Die erste Blüte erlebte der neuzeitliche Festungsbau in Italien, wo sich im 15. Jahrhundert die mächtepolitische Konkurrenz der fünf Mittelstaaten herausgebildet hatte – von Mailand, Venedig, Florenz, Kirchenstaat und Neapel. Die trace italienne, wie die moderne Festungstechnik bald hieß, kündigte sich 1452 mit dem Traktat De Re Aedificatoria des Humanisten Leon Battista Alberti an. Dort wurde vorgeschlagen, statt des bislang üblichen Mauergürtels einen Sternenkranz um den zu verteidigenden Ort zu legen. Die Kanonenkugeln träfen so nicht mehr frontal und richteten geringere Schäden an. Eine Generation später erfand Giuliano da Sangallo bei der Planung der toskanischen Festung Poggio Imperiale die Bastionenkette – in regelmäßigem Abstand aus der inneren Befestigung weit vorspringende und mit Kanonen bestückte Plateaus, die den anstürmenden Feind ins Kreuzfeuer der Verteidiger zwingen. Die erste ausgereifte Renaissancefestung ließ in den 1520er Jahren die Republik Venedig durch Michele Sanmicheli in Verona errichten. Der Höhepunkt des italienischen Festungsbaus sollte dann gegen Ende des Jahrhunderts mit der neugegründeten Festungsstadt Palmanova erreicht werden, auch sie von Venedig errichtet, nun zum Schutz vor den akut drohenden Türkeneinfällen.

Die oberitalienische Festungsstadt Palmanova auf der Terra Ferma Venedigs galt schon in Braun/Hogenbergs Civitates orbis terrarum als Krone der Festungs- und Stadtbaukunst der Renaissance.

Dass das in Italien entstandene neuzeitliche Mächtesystem sich über den Kreis der europäischen Fürsten ausweiten würde, hatte sich bereits Ende des 15. Jahrhunderts angedeutet. Die (noch genauer darzulegenden) Ereignisse des Jahres 1517 sollten das dann endgültig und drastisch klar werden lassen. Die Ausweitung erfolgte in doppelter Richtung: Von Südosten her stießen die muslimischen Osmanen nach Europa vor und zwangen die christlichen Herrscher zu reagieren – sich zu einem gemeinsamen Abwehrkampf zusammenzufinden oder einzeln ihre Interessen wahrzunehmen, gegebenenfalls durch Absprachen oder gar Bündnisse mit der Hohen Pforte, wie die osmanische Regierung am Bosporus genannt wurde. Etwa gleichzeitig reklamierte im Nordosten der christlich-orthodoxe Moskowiter Großfürst Iwan III. das politische und kirchliche Erbe der byzantinischen Kaiser und erklärte Moskau zum neuen, dritten Rom und sich selbst zum Kaiser beziehungsweise Zaren. Das war ein Anspruch, der unmissverständlich die Teilnahme Moskaus am europäischen Mächtespiel ankündigte und im Westen Papst und Kaiser herausforderte.

Das Jahr 1517 stand mächtepolitisch bereits ganz unter dem Vorzeichen dieses erweiterten Ringens um die Neuordnung Europas. Wichtige Weichen für die zukünftige Machtkonstellation auf dem Kontinent und darüber hinaus wurden gestellt. Dabei zeichnete sich die militärische wie religiös-ideologische Konfrontation zweier Weltreiche ab – Weltreich verstanden als Großreich, das in verschiedenen Weltregionen zu Wasser und zu Lande seine Interessen verfolgt und nach Hegemonie strebt. Dieser Konflikt zwischen muslimischem Osmanen- und christlichem Habsburgerreich sollte für Generationen Europa in Atem halten. Seine Wirkungen sind heute noch erkennbar, auf dem Balkan wie in Griechenland.

1517 indes, das ist bei unserer Betrachtung im Auge zu behalten, war erst eine der beiden Seiten, das osmanische Reich, sichtbar und handlungsfähig. Die Türken hatten ihren Weltmachtanspruch bereits entscheidend gefestigt, und dies nach Osten gegenüber den Persern und in Richtung des Indischen Ozeans wie auch nach Westen auf dem Balkan und im östlichen Mittelmeer gegenüber dem Handelsimperium Venedigs. Die habsburgische Weltmacht dagegen gab es zu diesem Zeitpunkt noch nicht. Als christliche Weltmacht konnte allenfalls Portugal gelten, das aber kein territoriales Großreich anstrebte, sondern ein den Globus umspannendes Handelsimperium, das durch einzelne territoriale Stützpunkte abzusichern war.[2] Am Kampf um machtpolitischen Vorrang und Hegemonie in Europa nahm es nicht teil.

So war die europäische Mächtekonstellation gekennzeichnet von einer noch nicht entschiedenen Konkurrenz zwischen der Krone Frankreichs, die Ende des 15. Jahrhunderts die Offensive ergriffen hatte, einerseits und der dagegen errichteten, von einem Ehebündnis befestigten Allianz zwischen den spanischen Königreichen und der habsburgischen Kaiserdynastie anderseits. Dieser Allianz war mit dem jungen, eben siebzehnjährigen Erz- und Burgunderherzog Karl ein Erbe herangewachsen, der alle Voraussetzungen mitbrachte, auf der von den Großeltern – den spanischen Königen Isabella und Ferdinand und Kaiser Maximilian I. – bereitgestellten dynastischen und territorialen Grundlage das Weltreich der Habsburger zu errichten. Er war von dem hohen Majestätsbewusstsein seiner kaiserlichen und königlichen Vorfahren durchdrungen und angetrieben durch den Willen zu Ruhm und Macht, der die Großen seines Zeitalters auszeichnete. Und er war von der flamboyanten Religiosität seiner burgundischen Heimat beseelt, die ihn zu einem glühenden Verfechter des christlichen Glaubens werden ließ – Wahrer der Orthodoxie im Innern der Christenheit und miles Christianus im äußeren Kampf gegen die türkischen Muslime.

1. Kastilischer Herbst – Herrscherwechsel in Spanien und die Vision habsburgischer Vormacht in der Christenheit

Geboren wurde das zukünftige Weltreich der Habsburger im Spätherbst 1517 in Kastilien, und zwar durch eine dynastisch-staatenpolitische Entscheidung innerhalb der Häuser Kastilien, Aragon und Habsburg. Konkret ging es darum, endgültig die Nachfolge der Katholischen Könige Ferdinand von Aragon und Isabella von Kastilien zu regeln, deren Eheschließung 1469 ihre Reiche vereinigt und damit die Grundlage für das neuzeitliche Spanien gelegt hatte. Isabella war bereits 1504, Ferdinand im Januar 1516 gestorben. Seitdem lag die Regentschaft in der Hand des hochbetagten Erzbischofs von Toledo Francisco Jiménez de Cisneros, der in staatlichen wie kirchlichen Angelegenheiten gleichermaßen versiert war. Zudem hatte er ein großes wissenschaftliches Werk auf den Weg gebracht, das der theologischen Erneuerung der Christenheit diente und, was er selbst in diesem Moment natürlich nicht ahnen konnte, entscheidend dazu beitragen sollte, Spanien gegenüber der aufbrechenden Reformation zu immunisieren.

Dem dynastischen Erstgeburtsrecht nach stand die Herrschaft über Aragon und Kastilien Erzherzog Karl zu, dem im Februar 1500 in Gent geborenen ältesten Enkel des Verstorbenen. Als Erbe seines 1506 in Burgos gestorbenen Vaters Philipp von Burgund regierte Karl seit seiner Volljährigkeit 1515 die Niederlande und Burgund. Um sein Recht auf die spanischen Herrschaften zu realisieren, waren nicht unerhebliche Widerstände zu überwinden. Alles hing vom politischen Geschick seiner Anhänger, aber auch von seiner eigenen Entschiedenheit ab. Es sollte sich sogleich zeigen, dass beides glücklich zusammentraf: Karl, obgleich beim Tod des Großvaters noch nicht ganz sechzehnjährig, ließ keinen Zweifel an seinem Willen, die spanische Nachfolge anzutreten. Er war in Mecheln an einem der glanzvollsten Höfe Europas in der großen Tradition der burgundischen Herzöge erzogen worden, unter der strengen Aufsicht seiner Tante Margarete von Österreich, Statthalterin der Niederlande und politisch wie kulturell eine der bedeutendsten Herrscherpersönlichkeiten des Renaissancezeitalters.[3] Durchdrungen vom Majestätsbewusstsein der Duc de Bourgogne, stand für den jungen Erzherzog fest, dass Gott das Haus Habsburg-Burgund zur Herrschaft in der Christenheit bestimmt hatte. Als ältester Nachkomme der spanischen Könige hatte er diesem Gebot Folge zu leisten, wo immer es gefordert war.[4] Seine burgundischen Berater bestärkten ihn darin, und so fand sogleich, als das Ableben Ferdinands von Aragon in den Niederlanden bekannt wurde, in Brüssel die Proklamation des burgundischen Herzogs zum König von Kastilien und Aragon statt.

Allen war klar, dass die letzte Entscheidung im Lande selbst fallen, der junge Habsburger also nach Spanien reisen musste. Zwar lag in Kastilien die Statthalterschaft in den bewährten Händen von Erzbischof Cisneros, der alles daransetzte, Karls Position zu festigen und ihm den Weg zur offiziellen Inthronisierung zu ebnen. Doch gab es zwei ernsthafte Konkurrenten, um die sich eine mögliche Opposition gegen die Thronfolge des fremden Burgunderherzogs scharen konnte – Karls Mutter Johanna von Kastilien und sein um drei Jahre jüngerer Bruder Ferdinand. Johanna war seit dem frühen Tod ihres leidenschaftlich geliebten Ehemannes im Jahr 1506 seelisch gebrochen und lebte in Tordesillas in absoluter Zurückgezogenheit. Gleichwohl oder gerade deswegen konnte sie als Kristallisationspunkt des Widerstands kastilischer Granden dienen. Gefährlicher war Ferdinand, der – wo er denn wollte – eine kraftvolle Alternative bot und sich auch leicht dazu hätte aufbauen lassen. Denn Ferdinand, leutselig und offen, war ein Einheimischer. 1503 in Alcalá de Henares bei Madrid geboren und in Kastilien aufgewachsen, war er, wie «seine» Partei nicht müde wurde zu verbreiten, der Wunschnachfolger seines eben verstorbenen spanischen Großvaters Ferdinand. Karl dagegen galt als verschlossen und – wie der Kastilier Alonso Manrique de Lara, der noch unter seinem Vater Philipp dem Schönen in die Niederlande gekommen war, nach Kastilien berichtete – als «weltfremd erzogen, vor allem fern von der Welt der Spanier, was von Übel ist und noch mehr sein wird, wenn er nach Spanien kommt. Es ist ein großer Missstand, dass er kein einziges Wort auf Spanisch sagen kann, obwohl er ein wenig spanisch versteht.»[5]

In dieser Situation war es für Karl und seine flämischen Berater geboten, so rasch wie möglich nach Spanien aufzubrechen, um im Lande selbst die «burgundische Thronfolge», wie Karls Anspruch in Spanien parteiisch charakterisiert wurde, sicherzustellen. Die Reise war allerdings sorgfältig vorzubereiten und politisch zu flankieren, denn die europäischen Herrschaften und Völker waren längst so eng miteinander verflochten, dass gravierende Veränderungen wie die Personalunion zweier so bedeutender Herrschaftskomplexe wie Burgund und Spanien von allen anderen Herrschern mit Argwohn verfolgt wurden. Im vorliegenden Fall galt das besonders für Frankreich, das seit seiner Intervention in Italien zu Ende des 15. Jahrhunderts Gegenspieler Habsburgs ebenso wie Burgunds und Spaniens war und sich nun unversehens der Gefahr einer Umklammerung ausgesetzt sah. Und da der Reiseweg entlang der französischen Küste eine Abstimmung mit der französischen Krone unumgänglich machte, leitete die burgundische Diplomatie Verhandlungen mit König Franz I. ein, die im August 1516 zum Vertrag von Noyon führten. Das Wohlwollen der Franzosen war teuer erkauft – mit der Zusage einer jährlichen Tributzahlung, dem Verzicht auf das von Ferdinand von Aragon gerade kürzlich Spanien inkorporierte Navarra südlich der Pyrenäen und einem für die dynastischen Interessen der Habsburger wenig attraktiven Eheversprechen Karls an die gerade einjährige französische Prinzessin Louise. Zudem war Kaiser Maximilian verärgert, der in Norditalien noch im offenen Krieg mit Frankreich stand, und in den Niederlanden selbst spitzten sich die traditionellen Gegensätze zwischen pro- und antifranzösischen Kräften zu.

Allein, es war die Zeit der Realpolitik à la Machiavelli, die in den flüchtigen Konjunkturen der Fortuna den egoistischen Machtinteressen nachjagte und dabei wenig Rücksicht auf traditionelle Loyalitäten nahm – aber ebenso wenig auf neueingegangene. So wird selbst Franz I. nicht sicher gewesen sein, dass die Habsburger sich an die Absprachen halten würden, säßen sie in Spanien einmal fest im Sattel. England jedenfalls, das unter Kardinal Wolsey seit Jahren eine scharf antifranzösische Außenpolitik betrieb, setzte genau darauf: Statt sich über die französische Wende der burgundischen Politik enttäuscht oder gar verärgert zu zeigen, blieb man guten Mutes, dass Karl als König in Spanien sogleich in die gewünschte anti-französische Allianz einschwenken werde, und stellte im Sommer 1517 zur Finanzierung des aufwendigen Zuges die ansehnliche Anleihe von 100.000 flämischen Gulden zur Verfügung.[6]

So konnte sich die an Zahl wie Ehre ansehnliche Reisegesellschaft Anfang Juli endlich im seeländischen Hafen Middelburg versammeln, musste aber noch endlos auf günstiges Segelwetter warten. Am 8. September war es dann so weit. Die herzogliche, ihrem Selbstverständnis nach bereits königliche Flotte konnte von Vlissingen aus in See stechen, immerhin nicht weniger als 40 Schiffe.[7]

Mit an Bord des königlichen Flaggschiffs war Karls ältere, eben neunzehnjährige Schwester Eleonore, für die der Sommer 1517 eine bittere Entscheidung brachte – ein ganz persönliches Schicksal, zugleich aber typisch für Frauen der europäischen Fürstengesellschaft. Mit der seeländischen Küstenlinie versank ihr Jungmädchentraum, dem sie umso tiefer verfallen sein mochte, als er von vornherein ohne Zukunft war: Unbeachtet von den mit großen politischen Plänen beschäftigten Granden des Burgunderhofes hatten sich zarte Bande zwischen der Habsburgerin und dem Pfalzgrafen Friedrich geknüpft, der sich im Dienste des Hauses Habsburg militärisch wie diplomatisch hoch verdient gemacht hatte. Beide gaben sich offensichtlich der Illusion hin, ihre Liebe könne in eine Ehe münden. Diese Hoffnung wurde im Hochsommer 1517 jäh zerrissen, als Eleonore kurz vor dem Auslaufen der Flotte bei der Lektüre eines Liebesbriefes von Friedrich überrascht wurde.[8] Eine Liebeshochzeit der Prinzessin stand im Widerspruch zu den politischen Interessen des Hauses. Das ursprüngliche Projekt einer französischen Ehe war zwar gescheitert, doch eben hatte sich eine neue, für die habsburgischen Allianzpläne nicht weniger verlockende Hochzeitsperspektive eröffnet: In Lissabon war am 7. März 1517 die zweite Ehefrau König Manuels I. von Portugal gestorben, Maria von Aragon-Kastilien, eine Schwester von Karls und Eleonores Mutter Juana (Johanna), also ihre Tante. Das eröffnete die Möglichkeit, die dynastische Verbindung zu Portugal, dem Nachbarn jener Länder, deren Krone man gerade übernahm, durch ein neues Ehebündnis zu festigen. Gute Beziehungen zu Lissabon und seinem mit Reichtümern aus aller Herren Länder ausgezeichneten Hof waren für Karl und seine burgundischen Räte verlockend genug, um mit allen Mitteln zu verhindern, dass sich die für solche heiratsdiplomatischen Pläne wichtigste Person an einen einfachen Reichsfürsten verschwendete.

Karl agierte als Familienoberhaupt, sicherlich von seiner Umgebung beraten, aber bereits ganz und gar nach der eigenen, ihm tief eingewurzelten Familienraison: Den Liebenden wurde jeder Kontakt, auch brieflicher, verboten; Friedrich wurde vom Hof entfernt; zuvor aber hatten beide vor einem Notar zu beurkunden, dass es nicht zum Äußersten gekommen war, Eleonore also noch eine Rolle in der habsburgischen Ehediplomatie zugewiesen werden konnte.

All das entsprach den Gepflogenheiten europäischer Heirats- und Allianzpolitik, die die Habsburger stets beherrscht hatten. Karl spielte dieses Spiel besonders virtuos, entschieden und erfolgreich – gemäß der bald sprichwörtlichen Devise «bella gerant alii, tu felix Austria nube»/«andere mögen (zum Erreichen ihrer Ziele) Krieg führen, du glückliches Österreich heirate». Als ihn bei einem späteren Anlass seine Tante um «Erbarmen» mit einer Habsburger Prinzessin bat, die er aus politischem Kalkül im Kindesalter mit einem Jahrzehnte älteren Monarchen verheiraten wollte, antwortete er schroff, er selbst diene dem Hause Habsburg ohne Rücksicht auf persönliche Vorlieben und das verlange er auch von den weiblichen Mitgliedern des Hauses. Dynastischer Glanz und machtpolitischer Aufstieg verlangten Opfer, die alle Mitglieder der Fürstengesellschaft, Mann wie Frau, in persönlichem Einsatz oder Verzicht auf Kosten des eigenen Lebensglücks zu erbringen hatten.

Die portugiesische Ehe wurde dann in der Tat rund anderthalb Jahre später, am 7. März 1519, in Lissabon geschlossen. 1525 heiratete Karl selbst Isabella, die älteste Tochter König Manuels aus erster Ehe, also die Stieftochter seiner Schwester Eleonore. Diese, inzwischen dreiundzwanzigjährig, war zu diesem Zeitpunkt längst Witwe. Ihr dreißig Jahre älterer Mann, dem sie noch zwei Kinder geboren hatte, war bereits im Dezember 1521 gestorben. Die Liebe der jungen Jahre erhielt aber keine neue Chance. Karl, inzwischen Deutscher König und erwählter Kaiser, lehnte die erneute Werbung Friedrichs von der Pfalz ab – auch als Witwe hatte Eleonore nicht an ehediplomatischem Wert verloren. 1530 wurde sie schließlich mit Franz I. von Frankreich verheiratet, was ihr kein persönliches Glück und dem Hause Habsburg nicht die erhoffte endgültige Versöhnung mit den rivalisierenden Valois bringen sollte. Gleichwohl bemühte sich Eleonore wiederholt persönlich um Vermittlung. Als Franz im März 1547 starb, kehrte sie zurück an den Hof ihres kaiserlichen Bruders und teilte wenig später dessen Altersexil in der spanischen Extremadura, zusammen mit ihrer ebenfalls verwitweten Schwester Maria von Ungarn.

Von dort aus unternahm sie den Versuch, noch einmal in die Welt ihrer frühen portugiesischen Jahre zurückzukehren: Gegen politische Widerstände und Ressentiments der Portugiesen setzte sie ein Treffen mit ihrer Tochter Maria durch, ihrem – nach dem Tod eines Sohnes im Säuglingsalter – einzigen Kind, das sie bei ihrer Abreise 1522 in Portugal hatte zurücklassen müssen. Voller Erwartung reiste Eleonore, inzwischen sechzigjährig, im Dezember 1557 in die Grenzstadt Bajadoz, wo sie bei unwirtlicher Witterung bis Ende Januar auf die portugiesische Prinzessin warten musste. Das Treffen wurde zur Begegnung zweier sich zutiefst fremder Menschen, die auch in den ihnen gewährten vierzehn Tagen nicht zueinander fanden. Statt der erhofften Versöhnung am Abend ihres Lebens, sah sich die Mutter durch das hochfahrende Verhalten der Tochter tief verletzt. Eine Pilgerreise quer durch die winterkalte Extremadura zur Madonna von Guadalupe verhieß himmlischen Trost, brachte aber noch im Februar 1558 den Tod. Ein erschütterndes Frauenschicksal, das den ehernen Gesetzen der Zeit geschuldet war. Eleonore wurde aber die symbolische Überhöhung zuteil, die den Zeitgenossen ewige Ehre schien: Als ihr Neffe König Philipp von Spanien im Escorial die Grablege seiner Dynastie errichtete, hielt auch Eleonore Einzug in das Pantheon der Habsburger. Ein postmortaler Triumph, der heute noch als Touristenattraktion Beachtung findet.

Kehren wir zurück in den Herbst 1517 und zur Überfahrt der burgundischen Flotte nach Spanien. So hochfliegend die Erwartungen, so mühselig die Reise: Vor der spanischen Küste gebärdete sich die See derart ungastlich, dass das Flaggschiff mit der fürstlichen Gesellschaft an Bord den Hafen Santander verfehlte und sich unvermittelt mit der Steilküste Asturiens nahe dem Dorf Villaviciosa konfrontiert fand. Es folgten eine riskante Landung und eine fast zweimonatige kräftezehrende Reise durch das kaum erschlossene nördliche Hochland. Zudem musste der Hofstaat erst wieder zusammengeführt werden, da die Schiffe an verschiedenen Orten gelandet waren. Dass sich Karl nur langsam der Hauptstadt Kastiliens Valladolid näherte, war aber wohl auch politisch-taktisches Kalkül. Die burgundisch-flämischen Räte wollten erst Stimmung und Machtverhältnisse ausloten, ehe sie die offizielle Begegnung zwischen dem prätendierten Herrscher und den kastilischen Granden riskierten. Inopportun schien ihnen auch ein rasches Treffen mit dem greisen Cisneros, der einundachtzigjährig und krank den von Norden heranziehenden Habsburger in Roa nordöstlich vor Valladolid ungeduldig erwartete, um ihn in die kastilischen Regierungsangelegenheiten einzuweihen. Genau das wollten die flämischen Räte vermeiden, wären damit doch zwangsläufig unliebsame Festlegungen verbunden gewesen. So sollte es dem Kronregenten nicht mehr vergönnt sein, die Herrschaft persönlich in die Hand seines neuen Königs zu legen. Mit seinem Tod am 8. November blieb es ihm aber auch erspart, das Entlassungsschreiben zu lesen, das Karls burgundischer Berater Chièvres de Croy bereits für ihn abgefasst hatte.

Vordringliches Ziel der burgundischen Räte war es, den Ablauf der Herrschaftsübernahme auf gar keinen Fall durch die noch ungeklärten innerdynastischen Verhältnisse stören zu lassen. Der Hof zog daher an Valladolid vorbei und begab sich – inzwischen war es Anfang November – nach dem eine gute Tagesreise südwestlich der Hauptstadt gelegen Tordesillas, dem Witwensitz Johannas von Kastilien. Man traf dort am 4. des Monats ein und blieb eine Woche. Johanna wohnte im Königlichen Klarissinnenkloster Santa Clara, wo auch Karl und seine Schwester Eleonore zwei prächtige, mit Darstellungen aus dem Heiligenleben ausgestattete Räumlichkeiten bezogen. Nach sorgfältiger Vorklärung durch Karls Erzieher und Ersten Berater Chièvres kam es schließlich zu der persönlich wie staatspolitisch gleichermaßen denkwürdigen Begegnung mit der Mutter, die seit dem Tod der Spanischen Könige Isabella und Ferdinand formell die rechtmäßige Königin von Aragon und Kastilien war. Details über die Begegnung, bei der Karl und Eleonore auch ihre jüngste, 1507 geborene Schwester Katharina kennen lernten, sind nicht überliefert. Karl hielt in seinen knappen Lebenserinnerungen lediglich die Tatsache des Treffens fest: «Die Reise bis Tordesillas fortsetzend, begaben sie sich dorthin, um der Königin, ihrer Mutter, die Hände zu küssen.»[9] Der Hofchronist Laurent Vital aber, der am ausführlichsten über diese frühe Zeit berichtet, sah sich brüsk ausgeschlossen: Seine Finte, mit einer Fackel mehr Licht in das Gemach bringen zu müssen, wurde durchschaut und Karl selbst wies ihm die Tür.[10]

Womöglich besaß Eleonore vage Erinnerungen an die Mutter; nicht so Karl, der fast noch ein Säugling war, als Johanna an der Seite ihres Mannes nach Spanien aufbrach und nicht mehr zurückgekehrt war. Ein «natürliches Gefühl» (Karl Brandi) wird es somit kaum gewesen sein, das Karl veranlasste, vor der Begegnung mit den Ständen in Valladolid seine Mutter aufzusuchen. Es ging um die öffentliche Bekundung der Blutsbande und des Einvernehmens mit der aus Krankheitsgründen an eigener Herrschaftsausübung gehinderten Königin. Im dynastischen Denken der Zeit war das ein symbolisches Kapital von unschätzbarem Wert für die bevorstehenden Huldigungsverhandlungen mit den Ständen. Bei allem politischen und staatsrechtlichen Kalkül begegnete Karl seiner Mutter stets mit der gebührenden Hochachtung und ehrerbietigen Zuneigung, wie es seinem hohen Verständnis von der Majestät und dem göttlichen Auftrag seiner Vorfahren entsprach.

Das Szenario setzte sich fort, als Karl am 11. November weiterreiste, um in dem Städtchen Mojados, eine Tagesreise östlich von Tordesillas gelegen, seinen Bruder zu treffen. Ferdinand war die große Unbekannte in der burgundischen Rechnung, deren Stellenwert man unbedingt bestimmen musste, ehe man vor die Stände treten konnte. Das Treffen mit dem unbekannten Bruder[11] brachte die Entscheidung: Ferdinand stellte sich hinter die Ansprüche des Älteren und distanzierte sich von jeglicher Opposition gegen dessen Herrschaftsübernahme in den spanischen Reichen. Das wurde der ständischen Öffentlichkeit sogleich in einer höfischen Inszenierung vor Augen geführt: Bei Tisch diente Ferdinand dem zukünftigen König als Mundschenk und reichte ihm nach dem Händewaschen das Handtuch – ein symbolischer Akt, der den hohen Rang beider symbolisierte, des Herrschers ebenso wie seines ihm am nächsten stehenden Bruders. Brüderliche Eintracht zum Wohl des Hauses Habsburg und seiner auf Generationen hin gefestigten Machtdominanz in Europa.

Zunächst blieb noch eine Weile der schon vor Jahren erörterte Rochadeplan im Gespräch, demzufolge komplementär zum spanischen Königtum Karls Ferdinand in den Niederlanden und im Reich zur Herrschaft gelangen sollte. Gestalt nahm dieser Plan aber nicht mehr an. Und so präsentierte sich das Brüderpaar am 23. November bei dem feierlich zeremoniellen Einzug in die kastilische Hauptstadt Valladolid den Untertanen, den Granden wie dem einfachen Volk, in der ständisch und machtpolitisch gestuften Eintracht, die sie zeitlebens wahren sollten: Karl entfaltete alle Pracht des burgundischen Zeremoniells, wie sie den meisten der Anwesenden noch aus dem Einzug seines vielbewunderten Vaters, Johanns des Schönen, vor wenigen Jahren in Erinnerung war, und ihm zur Seite ritt der Infant Ferdinand, nachgeordnet, aber vom Glanz des Bruders erhoben und mit ihm der zweite zuverlässige Pfeiler habsburgischer Macht.

1516, ein Jahr bevor der junge Habsburger das Erbe seines spanischen Großvaters Ferdinand von Aragon antritt, stellt ihn der Brüsseler Hofmaler Bernard van Orley mit den Insignien des Ordens vom Goldenen Vlies dar. Die weichen Züge lassen bereits das unerschütterliche Majestätsbewusstsein ahnen, mit dem er wenig später als König von Spanien und Römischer Kaiser sein Weltreich regiert und als «miles christianus» für die äußere Sicherheit und innere Einheit der Christenheit kämpft.