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Heinz Schilling

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Beschreibung

"Martin Luther, der Wittenberger Reformator, lebte in einer 'Epoche, in welcher der Glaube herrscht. Ja, in der Zeit des Umbruchs vom Mittelalter zur Neuzeit war es im Wesentlichen ihm zu verdanken, dass die Religion zu jener Kraft wurde, die Deutschland und Europa für mehr als ein Jahrhundert in ihren Bann schlagen sollte – 'glänzend, herzerhebend und fruchtbar', aber auch finster, herzzerreißend und zerstörerisch. Das musste auch Luther durchleben – in hochfliegenden Stunden des Erfolgs und der Hoffnung, alle Welt zu überzeugen, und in bitteren Wochen, in denen er Satan und seine finsteren Gewalten gegen sich und sein Werk anstürmen sah. Nie aber hat er daran gezweifelt, dass ihn Gott selbst zu seinem Propheten berufen hatte." (Aus dem Prolog) Kein anderer Deutscher hat die Geschichte Europas zwischen Mittelalter und Moderne stärker geprägt als Martin Luther. Der Wittenberger Mönch bietet Kaiser, Papst und Kirche die Stirn, will die Universalreform der Christenheit, begründet aber den Protestantismus. Heinz Schilling, einer der besten Kenner der Epoche, stellt Luther in seine Zeit und schildert ihn nicht als einsamen Helden, sondern als Rebell in einem gewaltigen Ringen um die Religion und ihre Rolle in der Welt. Seine brillante Biographie dringt tief in Luthers Sphäre ein und zeigt den Reformator als schwierigen, widersprüchlichen Charakter, der kraft seines immensen Willens zwar die Welt verändert – in vielem aber auch ganz anders, als er es beabsichtigte

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Heinz Schilling

Martin Luther

Rebell in einer Zeit des Umbruchs

C.H.Beck

Zum Buch

«Martin Luther, der Wittenberger Reformator, lebte in einer ‹Epoche, in welcher der Glaube herrscht›. Ja, in der Zeit des Umbruchs vom Mittelalter zur Neuzeit war es im Wesentlichen ihm zu verdanken, dass die Religion zu jener Kraft wurde, die Deutschland und Europa für mehr als ein Jahrhundert in ihren Bann schlagen sollte – ‹glänzend, herzerhebend und fruchtbar›, aber auch finster, herzzerreißend und zerstörerisch. Das musste auch Luther durchleben – in hochfliegenden Stunden des Erfolgs und der Hoffnung, alle Welt zu überzeugen, und in bitteren Wochen, in denen er Satan und seine finsteren Gewalten gegen sich und sein Werk anstürmen sah. Nie aber hat er daran gezweifelt, dass ihn Gott selbst zu seinem Propheten berufen hatte.» (Aus dem Prolog)

Kein anderer Deutscher hat die Geschichte Europas zwischen Mittelalter und Moderne stärker geprägt als Martin Luther. Der Wittenberger Mönch bietet Kaiser, Papst und Kirche die Stirn, will die Universalreform der Christenheit, begründet aber den Protestantismus. Heinz Schilling, einer der besten Kenner der Epoche, stellt Luther in seine Zeit und schildert ihn nicht als einsamen Helden, sondern als Rebell in einem gewaltigen Ringen um die Religion und ihre Rolle in der Welt. Seine brillante Biographie dringt tief in Luthers Sphäre ein und zeigt den Reformator als schwierigen, widersprüchlichen Charakter, der kraft seines immensen Willens zwar die Welt verändert – in vielem aber auch ganz anders, als er es beabsichtigte.

Über den Autor

Heinz Schilling ist em. Professor für Europäische Geschichte der frühen Neuzeit an der Humboldt-Universität zu Berlin. Seine großen Bände über Aufbruch und Krise und Höfe und Allianzen und Die neue Zeit. Vom Christenheitseuropa zum Europa der Staaten. 1250 bis 1750 in den Reihen Das Reich und die Deutschen bzw. Siedler Geschichte Europas sind ebenso Standardwerke wie zahlreiche weitere wissenschaftliche Studien zur frühen Neuzeit.

Inhaltsübersicht

Motto, WidmungProlog: Luther als Mensch einer Epoche des Glaubens und des UmbruchsErster Teil: Kindheit, Studium und erste Klosterjahre. 1483-1511I. 1483 – die Christenheit im AufbruchII. Kindheit und JugendIII. Krise und Zuflucht im KlosterZweiter Teil: Wittenberg und die Anfänge der Reformation. 1511-1525I. WittenbergII. Eleutherios – Die Geburt des freien LutherIII. Der Reformator – Selbstbehauptung vor Kirche, Kaiser und ReichIV. Die Kärrnerarbeit beginntV. Der Kampf um die Deutungshoheit im eigenen LagerVI. Angekommen in der Welt – Ehe, Familie, GroßhaushaltDritter Teil: Zwischen Prophetengewissheit und zeitlichem Scheitern. 1525-1546I. Evangelische Erneuerung von Kirche und GesellschaftII. «Aber wir Christen stehen in einem anderen kampf» – vor den Herausforderungen der WeltIII. Im Widerstreit der Emotionen – zwischen gottergebener Lebensfreude und apokalyptischen ÄngstenIV. Sterben in Christo – «Wir sind alle Bettler, das ist wahr»Epilog: Luther und die Neuzeit–die Dialektik von Scheitern und ErfolgEine veränderte Welt und Luthers Anteil daranDas Ende des UniversalismusLuthers Erfolg und seine VoraussetzungenNeuzeitliche Konfessionskirchen und KonfessionskulturenStaat und PolitikToleranz und PluralismusChristen und JudenFreiheit und GewissenWelthaftigkeit des GlaubensAnhangNachwort zur vierten, aktualisierten AuflageDanksagungBibliographiePersonenregister
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PALMA SUB PONDERE CRESCIT

 

Für Ursula et cetera familia

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Alle Epochen, in welchen der Glaube herrscht, unter welcher Gestalt er auch wolle, sind glänzend, herzerhebend und fruchtbar für Mitwelt und Nachwelt.

 

Johann Wolfgang von Goethe, West-östlicher Divan. Noten und Abhandlungen, Israel in der Wüste

Prolog

Luther als Mensch einer Epoche des Glaubens und des Umbruchs

Martin Luther, der Wittenberger Reformator, lebte in einer «Epoche, in welcher der Glaube herrscht». Ja, in der Zeit des Umbruchs vom Mittelalter zur Neuzeit war es im Wesentlichen ihm zu verdanken, dass die Religion zu jener Kraft wurde, die Deutschland und Europa für mehr als ein Jahrhundert in ihren Bann schlagen sollte – «glänzend, herzerhebend und fruchtbar», aber auch finster, herzzerreißend und zerstörerisch. Das musste auch Luther durchleben – in hochfliegenden Stunden des Erfolgs und der Hoffnung, alle Welt zu überzeugen, und in bitteren Wochen, in denen er Satan und seine finsteren Gewalten gegen sich und sein Werk anstürmen sah. Nie aber hat er daran gezweifelt, dass ihn Gott selbst zu seinem Propheten berufen hatte.

Nicht dass es an Religion gemangelt hätte, als Martin Luther oder Luder, wie über die ersten Jahrzehnte hin sein Familienname lautete, am 10. November 1483 in Eisleben in der mitteldeutschen Grafschaft Mansfeld zur Welt kam. Im Gegenteil, kaum eine Epoche war stärker mit Fragen der Religion und der Kirche befasst als das ausgehende 15. Jahrhundert.[1] Das aber war Ausdruck einer beunruhigenden Spannung zwischen dem kühnen diesseitigen Aufbruch des römischen Papsttums und den Nöten eines Kirchenvolkes, das den Heilszusagen der Priesterkaste nicht mehr traute und daher verunsichert nach der Wahrheit und dem Heil suchte. Erst Luther brachte den sicheren Anker einer Religion, die jeder Mensch als seine ureigene Sache begreifen konnte.

Auch die Römische Kirche hat Luther zu danken. Denn ohne die Wittenberger Herausforderung hätte sie sich kaum so entschieden von dem verweltlichten Renaissancepapsttum befreien und den Weg in eine Epoche bahnen können, in der wieder als Erstes der Glaube galt. So sehr sich auch bereits innerhalb der Papstkirche Kräfte der Neubesinnung regten, war es doch erst die Rebellion des Augustinermönchs, die der werdenden Neuzeit Glauben und Religion einschrieb, und zwar als dynamische, die Welt verändernde Kräfte.[2] Das diente vielen Menschen zum Heil und zur Befreiung; für nicht wenige brachte es aber Unheil und Verderben. Die gnadenlose konfessionelle Unduldsamkeit, die für mehrere Generationen auf die Reformationsepoche folgte, ließ im Innern der Gesellschaften unversöhnliche Gegensätze aufbrechen, die sich in blutigen Verfolgungen entluden und nicht selten ins Chaos der Bürgerkriege führten. Und nach außen, zwischen den Staaten trug die Unversöhnlichkeit der konfessionellen Kirchen- und Weltanschauungssysteme entscheidend zu der Selbstzerfleischung in den Religions- und Staatenkriegen bei, zu der sich der Konkurrenzkampf der europäischen Mächte ausgangs des Reformationsjahrhunderts zuspitzte.[3]

Goethes Begeisterung für Epochen des Glaubens, mehr noch seine komplementäre Abwertung «aller Epochen, in denen der Unglaube einen kümmerlichen Sieg behauptet», als Zeiten des «Scheinglanzes und des Unfruchtbaren» sind der säkularen Gegenwart fremd, ja befremdlich. Doch gerade deswegen sind sie geeignet, uns den Weg zu weisen, wie ein halbes Jahrtausend nach der Veröffentlichung der 95 Reformationsthesen am 31. Oktober 1517 eine Biographie Martin Luthers anzulegen ist. Und auch das heute kaum verständliche Phänomen, dass seine keineswegs einfach verständlichen theologischen Aussagen die Herrschenden herausforderten und von vielen Millionen Menschen bejubelt wurden, lässt sich nur begreifen, wenn wir uns klar machen, dass für Luther und seine Zeitgenossen Religion und Kirche einen ganz anderen Stellenwert besaßen als für uns heute, dass – mit einem etwas gewagten Vergleich beschrieben – die Menschen damals ähnlich ängstlich die Sicherheit des Glaubens vermissten wie wir heute die Sicherheit der Finanzmärkte oder den globalen Frieden.

Über die Jahrhunderte hin wurde der Wittenberger als der Vorläufer der jeweiligen Gegenwart und als Bahnbrecher der Neuzeit porträtiert. In den vergangenen Jahrhundertfeiern schuf sich jede Generation ihren eigenen Luther:[4]1617 am Vorabend des Dreißigjährigen Krieges den kämpferischen Luther, der die gefährdete protestantische Welt gegen die Konterrevolution der «Römlinge» verteidigen sollte; 1717 in der aufbrechenden Verträglichkeit und Säkularität der Aufklärung eher den zahmen, weltoffenen Luther; 1817 und 1917 den nationalen Luther als Heros religiöser Tiefe der Deutschen und Schutzschild gegen westliche Überfremdung durch eine als oberflächlich und seicht diffamierte romanische Zivilisation. Mit der historischen Gestalt hatte all das nur noch wenig zu tun. Es war «der Herren eigener Geist», den die jeweiligen nationalen oder lokalen Festkomitees feierten.

Es ist an der Zeit, diesen Gedenkkult zu durchbrechen und Martin Luther, sein Denken und Handeln wie dasjenige seiner Zeitgenossen als das darzustellen, was sie für den heutigen Menschen zuerst und vor allem sind, nämlich Zeugen «einer Welt, die wir verloren haben», oder besser gesagt, die nicht mehr die unsere ist und uns somit mit dem Fremden und ganz Anderen konfrontiert. Luther dachte und handelte als ein «Mensch zwischen Gott und Teufel», und als solcher ist er einer Gegenwart begreiflich zu machen, die den Teufel nicht mehr kennt und Gott nur noch – wo überhaupt – in Gottesbildern, die dem Wittenberger unverständlich gewesen wären.[5]

Es ist nicht die geringste emanzipatorische Leistung der Historie, dass sie der so ganz selbstverständlich hingenommenen Gegenwart fremde Lebens- und Denkwelten als Spiegel vorhält und dadurch die scheinbar «alternativlosen» Zwänge der Gegenwart relativiert. Die Konfrontation mit dem ganz Anderen in der eigenen Vergangenheit lässt die prinzipielle Wandelbarkeit nicht nur der materiellen Lebensumstände, sondern auch des Denkens und der Emotionen der Menschen hervortreten. Nicht um einen Luther, in dem sich unser eigener Geist spiegelt, soll es im Folgenden gehen, sondern um den «fremden» Luther, dessen Denken und Handeln sich sperrig zu den Interessen nachfolgender Generationen verhält, so oft es auch zur Legitimation gegenwärtigen Handelns diente und weiterhin dienen wird.

Selbstverständlich schließt diese Fremdheit nicht aus, sondern zwingt dazu, komplementär auch immer wieder diejenigen Linien und Zusammenhänge herauszuarbeiten, die das Werk des Reformators ebenso wie die Entscheidungen der Reformationsepoche mit der weiteren Entwicklung der Neuzeit bis hin zur Gegenwart verbinden. Dabei ist aber darauf zu achten, dass wir Luther nicht vorschnell zu dem Unseren machen und dass wir zwischen beabsichtigten und nicht beabsichtigten Folgen unterscheiden. Luthers Wirken in seiner Zeit ist von der Wirkungsgeschichte zu trennen, die über die Jahrhunderte hin den Reformator und sein Werk mit den Vorstellungen und dem Begriffsverständnis der jeweils eigenen Zeit deutete und so mit einem Sediment von Rezeptionsschichten überlagerte,[6] die es in gleichsam archäologischer Arbeit abzutragen gilt.

Wie kaum bei einem anderen, selbst bei Goethe nicht, ist es in erster Linie das Werk, das authentisch Auskunft über Luthers Handeln und Denken gibt. Er wirkte durch sein und in seinem Wort, das schriftliche seiner Briefe, Manifeste, Pamphlete und theologischen Abhandlungen und das gesprochene der Predigten, Vorlesungen und Tischreden, die meist durch Mitschriften seiner Hörer auf uns gekommen sind. Es wird daher in diesem Buch ausführlich aus Luthers Werken zitiert, in der Regel in der frühneuhochdeutschen Diktion und Schreibweise des Reformators und seiner Zeit.[7] Schnellen Lesern mag das gelegentlich beschwerlich erscheinen. Sie werden entschädigt durch die Farbigkeit und den Bilderreichtum von Luthers Sprache, deren ungebändigte Kraft sie zugleich daran erinnert, dass der Reformator Zeitgenosse eines Götz von Berlichingen war. Zudem ist der Rückgriff auf das authentische Werk der sicherste Weg, im Dickicht einer kaum noch überschaubaren Literatur zu einem eigenständigen Verständnis des Reformators zu gelangen und seine Stellung in den kirchlichen und politischen Positionskämpfen zu Beginn der Neuzeit zu bestimmen – unberührt von Apologetik oder Verleumdungen, wie sie noch vor wenigen Jahrzehnten mit der These ins Kraut schossen, Luther sei wegen einer Mordtat ins Kloster gegangen.[8]

Allein, auch der Rückgriff auf die Schriften wirft Probleme auf. Nicht weil sie schwer zu greifen oder in der Textüberlieferung durchgehend unsicher wären – die große Weimarer Ausgabe, aus der hier zitiert wird, bietet eine verlässliche Grundlage wie auch zahlreiche weitere Teilausgaben oder Übersetzungen, vor allem ins Englische.[9] Auch die noch Mitte des vorigen Jahrhunderts beschworene Gefahr, «über die Beschäftigung mit Luthers Theologie den Menschen Luther zu verlieren»[10], ist durch die zwischenzeitlich erfolgte Öffnung der theologischen Kirchen- zur Allgemeingeschichte weitgehend überwunden. Es sind vielmehr die Quellen selbst, die mit Bedacht gelesen und gedeutet werden wollen, und zwar gerade diejenigen, die wie Selbstzeugnisse erscheinen und bei denen sich der Leser nur zu gerne der Illusion hingibt, ganz nahe bei Luther zu sein. Seine Aussagen über Entstehung und Entwicklung seiner Theologie und über die davon ausgelösten Schlüsselereignisse der Reformation sind meist im Rückblick nach zehn, zwanzig Jahren formuliert und unterliegen damit den von der jüngeren Hirnforschung immer deutlicher herausgearbeiteten Bedingungen der menschlichen Erinnerung. Vor allem aber sind sie in dem postreformatorischen Selbstverständnis und in einer auch propagandistisch gedachten Selbststilisierung gesprochen, die dem Augustinermönch um 1520 noch ganz fern lagen. Das gilt für sein «großes Selbstzeugnis» von 1545 in der Vorrede zum ersten Band seiner lateinischen Gesamtausgabe, aber auch bereits für die erste zusammenhängende Selbstdeutung in der Vorrede des Danielkommentars von 1530.[11] – Gravierender noch stellt sich das Problem bei den sogenannten «Tischgesprächen», die das populäre Lutherbild nachhaltig prägten. Denn hierbei handelt es sich nicht um eigene oder von ihm autorisierte Texte, sondern um Mit- und Nachschriften seiner Schüler, in denen diese, zugespitzt formuliert, den Luther präsentieren, den sie sich wünschten – den Dogmatiker und Seelsorger, dessen evangelische Lehre oder fromme Erbauung für alle nachfolgenden Generationen festzuhalten sind, oder den Rebellen gegen Papst und Scholastik, so das Interesse seines letzten Famulus Johann Aurifaber, der 1566 die erste Sammlung von Tischreden veröffentlichte.[12]

Stärker als in kirchengeschichtlich ausgerichteten Biographien Luthers üblich wird seine Zeitgenossenschaft zum Verständnis seines Denkens und Handelns herangezogen, soll der «Mann in der Zeit und die Zeit in dem Mann verständlich» gemacht werden.[13] Dass der Wittenberger maßgeblichen Anteil an den säkularen Veränderungen hatte, die in Deutschland und Europa im 16. Jahrhundert aufbrachen, steht außer Zweifel. Ebenso unbestreitbar ist aber, dass er selbst bereits das Produkt eines langfristig angelegten Umbruchs war. Denn «die neue Zeit», das tritt den Historikern immer klarer vor Augen, brach nicht erst um 1500 an, sondern hatte lange Wurzeln im späten Mittelalter.[14] Auch für den Reformator gilt es, die Doppelnatur des historisch wirkenden Individuums zu beachten, das in gleicher Weise von seiner Zeit geprägt ist, wie es seine Zeit prägt. Leben und Wirken des Reformators sind in einen weiten zeitlichen Horizont einzuordnen, der das späte Mittelalter ebenso einschließt wie das Zeitalter der Konfessionalisierungen, das auf die Reformationsepoche folgte. Darüber hinaus soll Zeitgenossenschaft in diesem Werk eines Frühneuzeithistorikers so verstanden werden, dass die Luther widerstrebenden Personen und Institutionen nicht nur als der Wahrheit unwillige oder unfähige Gegner erscheinen. Den Kaiser, die Päpste, die katholischen Reformer, die altkirchlich optierenden Fürsten, Theologen und Humanisten, allen voran Erasmus von Rotterdam, gilt es als eigenwertige historische Kräfte zu begreifen und in ihren intellektuell-kulturellen und politisch-gesellschaftlichen Grundlagen zu würdigen.

 

Luther erscheint als Rebell, der sein Zeitalter mit prophetischer Gewalt zur Entscheidung in existentiellen Grundsatzfragen der Religion und des Glaubens zwang. Mit seinem trotzigen «Hier stehe ich, ich kann nicht anders, Gott helfe mir, Amen», das die reformatorische Propaganda gleich nach seinem Auftritt 1521 in Worms in die Welt hinaus sandte, galt und gilt er den Protestanten als weltgeschichtlicher Heros, der den Großen und Mächtigen widerstand und von ihnen Nachfolge erwartete. Es ist an der Zeit, auch seinen Gegenspielern, insbesondere dem jungen Habsburgerkaiser Karl, zuzubilligen, dass auch sie ihre eigene Glaubenswahrheit vertraten, die sie gefangen hielt und zu der sie stehen mussten, wie Luther zu der seinigen. Erst wenn man auch den Gegenentwürfen zu der von Wittenberg ausgegangenen Reformation historische Gerechtigkeit widerfahren lässt, wird das von Luther beherrschte Zeitalter der Reformation als eine jener Epochen verständlich, in denen «glänzend, herzerhebend und fruchtbar» um den rechten Glauben und seine Herrschaft gerungen wurde.

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Erster TeilKindheit, Studium und erste Klosterjahre

1483–1511

Als Martin Luder 1483 geboren wurde, war die Entdeckung der Welt durch europäische Seefahrer bereits in vollem Gange. Vor allem Portugiesen segelten zu dieser Zeit die westafrikanische Küste entlang und von dort auf die vorgelagerten Inselgruppen hinaus. Nur wenige Jahre später wagte Kolumbus die Fahrt über den Atlantik und entdeckte Amerika. Im Reich fand das vor allem in Oberdeutschland Interesse, etwa bei dem Nürnberger Kaufmann Martin Behaim, der als einer der ersten die Welt kugelförmig als Globus darstellte. – Luther blieben die maritimen Welten zeitlebens fremd. Er wurde vom Montanboom Mitteleuropas geprägt, der in seinem Mansfelder Vaterland und seiner späteren Heimat Sachsen eine vergleichbare Dynamik entfaltete wie im Südwesten Europas die Entdeckungsfahrten.

I.1483 – die Christenheit im Aufbruch

Der 11. November ist der Tag Martins von Tours, jenes Heiligen, der der Legende nach als Offizier einer römischen Reitertruppe am Stadttor des heutigen Amiens zu tiefer Winterszeit einem Bettler begegnete und mit ihm seinen Mantel teilte. Die lateinische Christenheit begeht diesen Tag von alters her feierlich mit Messen und frommem Gedenken, mit Martinssingen der Kinder, für das sie mit Martinshörnchen und anderen Süßigkeiten beschenkt werden, mit Gänsebraten für die Erwachsenen. Im ausgehenden 19. Jahrhundert wurden dann abendliche Prozessionen üblich, auf denen Martin hoch zu Ross einem Laternenumzug voran reitet. So war es fast selbstverständlich und entsprach einer gefestigten Tradition, dass der Bergunternehmer Hans Luder und seine Frau Margarete sogleich am 11. November ihren am Tag zuvor geborenen ersten Sohn auf den Namen des Tagesheiligen Martin taufen ließen. Taufkirche Martin Luders – so die ursprüngliche Namensform der Familie, die von nun an immer dann gewählt wird, wenn es um die Lebensabschnitte vor der emphatischen Umbenennung in «Luther» im Zuge der Reformation geht[15] – Taufkirche also war St. Peter und Paul in dem von kleineren bis mittleren Handwerkern bewohnten Brückenviertel der Mansfelder Bergarbeiterstadt Eisleben, wo das erst kurz zuvor aus dem Thüringischen zugezogene Ehepaar Luder ein bescheidenes Haus besaß.

Da ein Kirchenbuch nicht vorliegt und nähere Angaben weder von den Eltern noch von dem Reformator überliefert sind, ist davon auszugehen, dass der damalige Inhaber der Pfarrstelle, Pfarrer Bartholomäus Rennebecher, die Taufe durchführte und dass nahegesessene Verwandte – etwa der Onkel mütterlicherseits, Anton Lindemann, Berggraf der Grafschaft Mansfeld – oder befreundete Nachbarn die Taufpaten waren. Das genaue Geburtsjahr indes ist nicht gesichert: Als die reformatorische Tat den Sohn berühmt gemacht hatte und die deutsche Öffentlichkeit sich für seine Biographie interessierte, erinnerte sich seine zu diesem Zeitpunkt bereits im siebten Lebensjahrzehnt stehende Mutter, dass Martin am 10. November kurz vor Mitternacht geboren sei. Das genaue Jahr freilich wusste sie nicht zu nennen, auch das durchaus üblich in einer Zeit, der Geburts- und Taufurkunden oder gar «Familienstammbücher» noch fremd waren. Luther selbst wähnte sich gewiss: «Ich bin 1484 in Mansfeld geboren, das ist sicher.» Eine Urkunde darüber besaß aber auch er nicht. Philipp Melanchthon, sein Wittenberger Kollege und erster Biograph, brachte 1483 als Geburtsjahr ins Spiel und konnte damit die Lutherforschung rasch überzeugen.[16]

Als ihr Sohn berühmt geworden war, galt es seine Eltern für die Nachwelt zu porträtieren: Hans und Margarete Luder, gemalt 1527 von Lucas Cranach d.Ä.

Neue Weltreiche

1483 war die Christenheit, wie sich die Europäer damals und noch lange danach nannten, im Aufbruch: Im Westen, von der Iberischen Halbinsel aus, stachen seit Jahrzehnten portugiesische und kastilische Karavellen in See, um neue Wege zu den indischen Gewürzländern zu suchen. Denn die alten Verbindungen über das östliche Mittelmeer und auf dem Landweg durch die Levante wurden immer unsicherer, seit das Reitervolk der Osmanen nach Kleinasien und in den Vorderen Orient vorstieß. Mit dem Ausgreifen der Iberer auf neue Ufer und neue Länder ging die Mission der dort lebenden Menschen einher, um mit der Aneignung ihrer Schätze ihre Seelen für das christliche Heil zu erretten.

Vorangetrieben von dem portugiesischen Infanten Heinrich dem Seefahrer (1394–1460), der zugleich zu den ersten Mathematikern und Astronomen seiner Zeit zählte, waren die Portugiesen zunächst nach Süden, die afrikanische Küste entlang gesegelt. In den 1480er Jahren fasste Christoph Kolumbus dann den Weg nach Westen ins Auge, über die vorgelagerten, seit einer guten Generation bekannten Azoren und Kapverdischen Inseln hinaus. Für ihn stand fest, dass die Welt eine Kugel war, und so trug er Anfang 1484, also wenige Monate nach der Geburt des späteren Reformators, dem portugiesischen König Johann II. seinen Plan vor, den Seeweg nach Indien in westlicher Richtung zu suchen über den noch völlig unbekannten Atlantik hinweg.[17] Nur weil die Portugiesen unbeirrbar an der eingeschlagenen Richtung längs der afrikanischen Küste festhielten und Kolumbus auch am kastilischen Hof zunächst auf taube Ohren stieß, wurde Amerika nicht unmittelbar nach der Geburt Martin Luders entdeckt.

Wie viel von diesen neuen Welten den Lebensumkreis des heranwachsenden Kindes erreichte, ist schwer abzuschätzen. Die gelehrten Deutschen jedenfalls waren bestens unterrichtet. Einer von ihnen, der Nürnberger Kaufmann Martin Behaim, begab sich sogar an den portugiesischen Hof und nahm in den frühen 1480er Jahren an einer Expedition südwärts die afrikanische Küste entlang bis zur Kongomündung teil. Als er zur Regelung persönlicher Angelegenheiten für einige Zeit in seiner Heimatstadt weilte, entstand auf der Grundlage seines geographischen Wissens der berühmte, heute im Germanischen Nationalmuseum Nürnberg zu sehende Behaim-Globus, eine der ersten Kugeldarstellungen der Welt. Luders Elternhaus scheint dagegen wenig, wenn überhaupt von den neu entdeckten Welten oder deren bald nach Europa strömenden Kolonialwaren berührt worden zu sein. Jedenfalls befanden sich in der an zeitgenössischen Überresten reichen Baugrube, die die Archäologen unlängst neben dem Mansfelder Haus der Luders entdeckten,[18] keinerlei Haushaltsgegenstände, Textilien oder Nahrungsmittel außereuropäischen Ursprungs. Das gilt auch für den eigenen Haushalt, den der Reformator ein Vierteljahrhundert später im Wittenberger Augustinerkloster gründen sollte.

Während sich in den seefahrenden Nationen Südwest- und Westeuropas die Gelehrten, Theologen ebenso wie Geographen oder Biologen, aber auch bereits eine breite Öffentlichkeit mit den neuen Nachrichten aus Übersee und den dortigen religiösen und politischen Verhältnissen befassten, blieb das Weltbild des Reformators bis zu seinem Tod kontinental und von den neuen Welten seltsam unberührt: In den 1520er Jahren setzt er sich in einer Epistel und einer Predigt mit dem scheinbaren Widerspruch auseinander, dass einerseits die Bibel von der Mission der Apostel sagt: «ir stimm ist in die gantze welt außgangen», andererseits «vil inseln erfunnden wordenn noch zu unseren zeiten, die da heiden seint und niemant hat in gepredigt».[19] Und in seiner in den 1540er Jahren vorgelegten Geschichtstabelle Supputatio annorum mundi deutet er neue Krankheiten, die von den im Ozean entdeckten Inseln nach Europa gelangt waren, als Unum de signis magnis ante diem Extremum,[20] also als ein Zeichen des Weltendes. Jenseits dieser missionsgeschichtlichen und eschatologischen Perspektive fand Luther kein Interesse am Ausgreifen Europas auf die anderen Kontinente.

Der Blick auf Spanien lehrt uns auch, dass nicht nur der deutsche Reformator um die religiösen und ethischen Grundlagen und deren Verwirklichung in der Welt rang. Auch der öffentliche Diskurs, den seine Thesen und sein Auftritt 1521 vor dem Reichstag in Deutschland auslösten, ist genau betrachtet so einmalig nicht. Die Theologen Spaniens sahen sich vor die Herausforderung gestellt, das Christentum an umstürzend neue Verhältnisse anzupassen. Die Dominikaner Antonio de Montesinos (um 1475–1540) und insbesondere Bartolomé de Las Casas (1474–1566) zwangen in Spanien Politiker und Öffentlichkeit in einer durchaus vergleichbaren Weise wie Luther in Deutschland zu einem grundsätzlichen Disput über das Wesen des Christentums und über seine Präsenz in der Welt.[21] Die jeweilige Herausforderung war allerdings von unterschiedlicher Natur – hier die inneren Seelenqualen des sächsischen Mönchs, dort bei Las Casas und seinen Unterstützern die christlich-humane Empörung über die unwürdige Realität von Mission und Kolonialpolitik bis hin zum Kampf gegen die Versklavung von Schwarzafrikanern.

Die iberischen Gesellschaften, die noch auf Generationen hin die europäische Expansion und damit auch die Ausbreitung des Christentums trugen und zwischen denen 1494 im berühmten, auf dem Schiedsspruch Papst Alexanders VI. beruhenden Vertrag von Tordesillas die neu entdeckten Weltregionen aufgeteilt wurden, sind zugleich ein einprägsames Beispiel dafür, dass die lateinische Christenheit auch im Innern einen gewaltigen Formierungs- und Veränderungsschub erlebte. Der Umbruch, der in protestantisch-kleindeutscher Perspektive in der Regel für Luther und die Reformation reserviert wird, fand ausgangs des 15. Jahrhunderts auch andernorts und vorreformatorisch statt: Seit 1479, als König Johann II. von Aragonien starb, regierten Isabella von Kastilien und Ferdinand von Aragon, die bereits 1469 geheiratet hatten, als «Los Reyes Cathólicos» – so ihr von Papst Alexander VI. verliehener Titel – über ihre vereinten Königreiche, für die sich schließlich der Name Spanien einbürgern sollte. Und als ihr Heer im Januar 1492 Granada und damit die letzte Bastion der Araber und des Islams auf der Iberischen Halbinsel eroberte, hatten die Katholischen Könige innerhalb eines guten Jahrzehnts die vor Jahrhunderten begonnene Rekonquista vollendet. Spanien war wieder unter ausschließlich christlicher Herrschaft. Parallel dazu festigte König Ferdinand die Ansprüche seines Hauses auf das Königreich Neapel-Sizilien, nicht zuletzt durch eine weltgeschichtlich folgenreiche Eheallianz mit dem Hause Österreich.

Auch Religion und Kirche waren auf der Iberischen Halbinsel im Umbruch. Zusammen mit der politischen Neuordnung der Einzelherrschaften zum kastilisch-aragonesischen Gesamtreich Spanien wurden dort auch Kirche, Spiritualität und Wissenschaft umgestaltet, ja die religiösen und kulturellen Reformen waren Teil der staatlich-gesellschaftlichen Erneuerung. In den ersten beiden Jahrzehnten des 16. Jahrhunderts zielten die Reformen der Erzbischöfe Hernando de Talavera, Pascual de Ampudia und Francisco Jiménez de Cisneros auf eine religiöse Erneuerung und kirchliche Reform ab, die die Entwicklung zur neuzeitlichen Nationalkirche Spaniens einleitete. Anders als bei Luther und in der deutschen Reformation geschah dies aber nicht in Konfrontation zum Papst, sondern in selbstbewusster Partnerschaft mit Rom. Diese Reformen machten eine protestantische Reformation nach Art der Lutherischen offensichtlich überflüssig. Jedenfalls waren die Spanier gegen Luther und die Reformation immunisiert, die sie verständnislos und empört als «pestis Germaniae», als «deutsche Pest», beschimpften.

Luthers Weltsicht unterschied sich auch insofern von der iberischen Art des Aufbruchs in die Neuzeit, als sein Christenheitskonzept ganz und gar auf Europa bezogen blieb. Während die Christenheit für Spanien zu einem realpolitischen Welt-Projekt geworden war, blieb die Mission für den Wittenberger ein eher abstraktes, theologisches Problem. So wurden «Weltmission» und die eng damit verbundene frühneuzeitliche europäische Globalisierung zu einem katholischen Phänomen,[22] bis die maritim-weltausgreifende reformierte Variante des Protestantismus dem kontinentalen Luthertum an die Seite trat und von Holland und England aus in den Wettlauf um die Seelen und Märkte in Übersee eintrat. Ihre religiöse Selbstsicherheit fanden die Spanier auch bei diesem Ausgreifen auf unbekannte Welten in einer erneuerten Frömmigkeit und deren barock weiterentwickelten Heiligenhimmel: Noch in der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts stiftete die Übersee-Kaufmannschaft Sevillas für den Altar der Casa de Contratación, der administrativen und kultur-religiösen Zentralinstitution spanischer Überseeherrschaft, ein Tafelbild der Schutzmantelmadonna, jenes Heiligentypus also, der ausgangs des Mittelalters in Europa weit verbreitet war, weil die verunsicherten Menschen Trost in der Vorstellung fanden, der weite Mantel der Gottesmutter böte ihnen Schutz vor den allgegenwärtigen Gefahren für Leib und Leben und werde Schaden von ihren Seelen abhalten.

Schutzmantelmadonna auf dem Altar der Übersee-Kaufmannschaft in der Kapelle der Contratación in Sevilla, gemalt von Alejo Fernández zwischen 1532 und 1536

Nicht anders als die Eroberer und Überseekaufleute Spaniens sahen sich die Unternehmer und Knappen der Montanregionen Mitteleuropas gerne unter der Obhut der Madonna und ihres weiten Mantels – auch und gerade im Erzgebirge und im Harz, wo Luder das Bild der schützenden Gottesmutter von Kindheit an vertraut war, wie auch die Fürsprache ihrer Mutter Anna, der besonderen Heiligen der Bergarbeiter. So erscheint es wenig erstaunlich, dass er später in der Todesangst, in die ihn als Student ein Gewitter auf offenem Feld versetzte, Anna um Hilfe anflehte und ihr gelobte, dafür fortan ein frommes Leben im Kloster zu führen. Der damit eingeschlagene Weg führte ihn und den Teil der Christenheit, der ihm zu folgen bereit oder gezwungen war, dann allerdings in eine radikale Abkehr von den traditionellen Pfaden der Frömmigkeit, die in Spanien und anderen bei der Papstkirche bleibenden Ländern Europas den Aufbruch in die Neuzeit und in die neuen Welten absicherten: nicht Zuflucht unter den Mantel der Madonna oder zu anderen Heiligen war die Lösung Luthers, sondern die unmittelbare Begegnung des einzelnen Menschen mit Gott und seine Selbstvergewisserung in der ihm zugesagten Gnade.

Gleichzeitig mit dem Aufbruch im Südwesten kam es in Martins Kinder- und Jugendzeit auch im Südosten zu einschneidenden Veränderungen. Dort war 1453 mit der Eroberung der altehrwürdigen Kaiserstadt Byzanz/Konstantinopel durch das muslimische Reitervolk der Türken eine neue Bedrohung aufgezogen, die für die nächsten Jahrhunderte Europa militärisch wie geistig-kulturell in Atem halten sollte. Das osmanische Weltreich schob sich in den nächsten anderthalb Jahrhunderten immer weiter den Balkan hinauf auf den europäischen Kontinent und beherrschte bald auch weite Teile des Mittelmeers und seiner afrikanischen Küstenzonen. Das ging zunächst auf Kosten der griechisch-orthodoxen, seit dem frühen 16. Jahrhundert auch der lateinischen Christenheit. Unter dem energischen Regiment Sultan Suleimans des Prächtigen (1520–1566) waren Venedig und Ungarn bedroht; 1526 vernichteten die Osmanen bei Mohács das ungarische Heer und erkämpften sich damit den Weg in die Theiss- und Donauebene. Von dort stießen sie weiter auf Krain (das heutige Slowenien), die Steiermark, Kärnten und Österreich vor. 1529 belagerte erstmals ein osmanisches Heer die Kaiserstadt Wien und löste eine Angstpsychose aus, die sich auf Jahrhunderte hin traumatisch in das kollektive Bewusstsein der Deutschen einprägte. Als 1522 Rhodos fiel, war das östliche Mittelmeer beinahe ein mare clausum des osmanischen Weltreiches, das über Stützpunkte an der nordafrikanischen Küste bis hin nach Tripolis bald auch ins westliche Becken vorstieß und damit in eine direkte Konfrontation mit den spanischen Reichen und den ihnen angeschlossenen Kronen von Sizilien und Neapel eintrat.

Sultan Suleiman der Prächtige, nach einem Gemälde von Tizian, zwischen 1530 und 1540

Im Gegensatz zu den Ereignissen auf der Iberischen Halbinsel und in Übersee, die den mitteldeutschen Lebensraum des Reformators kaum berührten, war die türkische Bedrohung im Südosten des Reiches in Deutschland allgegenwärtig, und zwar auch dort, wo man nie eines Türken ansichtig wurde. Es ist davon auszugehen, dass Martin bereits in seinen Jugendjahren von der morgenländischen «Geißel der Christenheit» hörte – durch Predigten, in Gesprächen im Freundes- oder Familienkreis, durch die eine oder andere der zahlreichen anti-türkischen Propagandaschriften. Anders als die neu entdeckten Welten jenseits des Atlantiks sollte «der Türke», wie der Reformator die den Christen drohende militärische und religiöse Gefahr ebenso vereinfachend wie zuspitzend beschwor, schließlich sogar zu einem nicht unwichtigen Thema der reformatorischen Theologie werden.

Neue Frömmigkeit und modernisiertes Papsttum

Als Martin Luder geboren wurde, waren auch Religion und Kirche im Umbruch. Die soziale Gestalt der Kirche, vor allem bei den Orden und den neuen semi-religiösen Lebensformen der Laien, änderte sich ebenso rasch wie die Formen der Frömmigkeit, die dem veräußerlichten Herrschaftsgestus der römischen Päpste zum Trotz auf Innerlichkeit, Privatheit und Individualität ausgerichtet waren. Vor allem im städtereichen und verbürgerlichten Nordwesten Europas, den Niederen Landen an der See, und von dort ausstrahlend in der Mitte Europas hatten Humanismus und Devotio Moderna die eigenständige Lektüre gefördert und ein neues Frömmigkeitsideal entstehen lassen. Es galt, für Frauen ebenso wie für Männer, «met een boekje in een hoekje» – sich mit einem Buch in eine ruhige Ecke zurückgezogen in selbstbestimmter geistlicher Lektüre ein eigenes Urteil zu bilden. Über die sogenannten «Brüder und Schwestern des Gemeinsamen Lebens», Wohngemeinschaften von Frauen und Männern, die man als Zwischenglied zwischen der religiösen Welt mittelalterlicher Orden und reformatorischem Gemeindechristentum charakterisiert hat,[23] hatten diese Frömmigkeitsformen und Lektüregewohnheiten Eingang auch in Klerikerkreise gefunden, die in den Brüdergemeinschaften zusammen mit Laien lebten. So entstand vielerorts eine allen Christen – Priestern wie Laien – gemeinsame Frömmigkeit und Spiritualität, und damit eine Vorstufe des wenig später von Luther postulierten Priestertums aller Gläubigen. Ganz ähnlich verhielt es sich mit anderen tiefgreifenden Prozessen, aus denen die Historiker die Neuzeit erwachsen sehen und die sie in der Regel auf die Reformation zurückführen: Weder «die ‹innerweltliche Askese› noch die damit einhergehende, sogenannte protestantische Arbeitsethik (waren) neuartig», wie überhaupt entscheidende Weichenstellungen für Zivilisationsprozess und Sozialdisziplinierung schon in den Städten und kirchlichen Gemeinschaften des ausgehenden Mittelalters vorgenommen wurden.[24]

Auch im Verhältnis zwischen Kirche und Staat waren rechtliche, organisatorische und institutionelle Neuerungen eingetreten, die vieles von der späteren protestantischen Neuorganisation der Kirche vorwegnahmen. Die Differenzierung und organisatorische Partikularisierung der lateinischen Christenheit setzt nicht erst mit Luther und seiner Reformation ein. In Böhmen kam es bereits im 15. Jahrhundert zur revolutionären Abspaltung der hussitischen Kirche. Das war aber nur der spektakuläre Teil einer übergreifenden, im übrigen Europa meist in ruhigen Bahnen verlaufenden Entwicklung. In Deutschland galt schon im 14. Jahrhundert «Dux Cliviae est papa in territoriis suis», der Herzog von Kleve ist in seinem Gebiet Papst.[25] Im 15. Jahrhundert wurde die Territorialisierung der Universalkirche durch Konkordate vorangetrieben, also durch Verträge zwischen Königen oder Fürsten und der Kurie, die den weltlichen Herrschern in der Kirche ihres jeweiligen Landes besondere Rechte einräumten. Auftrieb erhielten die vorreformatorischen National- und Territorialkirchen im Zuge der Herausforderung des Papsttums durch die Konzilsbewegung und die diese tragende Oligarchie der Bischöfe. Um auf dem Basler Konzil die episkopale Ständeopposition unter Kontrolle zu bringen, brauchte Papst Eugen IV. (1431–1447) die Unterstützung der weltlichen Herrscher; und dafür musste er ihnen wichtige Rechte über die Kirche ihres jeweiligen Landes abtreten. Seit Mitte des 15. Jahrhunderts folgte ein Konkordat auf das andere – 1448 das Wiener Konkordat mit dem Kaiser, das in den Concordata Nationis Germanicae auf die deutschen Fürsten und ihre Territorien ausgedehnt wurde, 1472 und erweitert 1516 die Konkordate mit Frankreich, 1482 mit Kastilien und Aragon, schließlich im 16. Jahrhundert mit Polen und Ungarn sowie den skandinavischen Reichen. Am Vorabend der Reformation war die lateinische Christenheit nur noch der Idee nach in einer einheitlichen Kirche organisiert. In der Realität hatten die Konkordate deutlich voneinander abgegrenzte, weitgehend eigenständige Regionalkirchen geschaffen, seien es Nationalkirchen wie im Falle des Gallikanismus und Spaniens, seien es Landeskirchen wie im Falle der deutschen Fürstentümer.

Vor allem aber erlebte die Spitze der Christenheit selbst einen «Gestaltwandel, der nicht nur nördlich der Alpen Verstörung und Befremden» erregte. Bereits seit dem 12./13. Jahrhundert setzte in der Kurie und der Römischen Kirche ein Prozess der Rationalisierung, Bürokratisierung und institutionellen Formierung ein. Manche Historiker sehen damit eine «Modernisierungskrise» einhergehen, die insbesondere in Deutschland eine tiefe Verunsicherung hervorgerufen habe. Anders als in der bis heute fortwirkenden Sicht des 19. Jahrhunderts und der Religionssoziologie eines Max Weber erscheint in dieser Perspektive die Rebellion des sächsischen Augustinermönchs nicht als Durchbruch der Moderne, sondern im Gegenteil als Reaktion auf einen von Rom ausgegangenen Modernisierungsschub.[26]

Ähnlich verhält es sich mit der Wirkung des seit Mitte des 15. Jahrhunderts erkämpften Sieges der Päpste über die Konzilsbewegung. Das römische Oberhaupt der Kirche und des Kirchenstaates war fortan von der ständischen Mitbestimmung der Konzilien befreit und so zum ersten quasi-absolutistischen Herrscher Europas aufgestiegen.[27] Auch diese Entwicklung rief Abwehrreaktionen hervor. Denn fromme Menschen konnten oder mussten in einer so umfänglichen Herrschergewalt des römischen Bischofs eine unevangelische Despotie sehen. Und da die Inhaber des Stuhles Petri nicht daran dachten, diesen Argwohn zu entkräften, sondern im Gegenteil ihre Gewalt in einer mächtigen «Repräsentation der maiestas papalis in Stadt und Erdkreis» immer aufs Neue verkündeten,[28] breitete sich vor allem nördlich der Alpen, im Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation, ein rasch wachsendes Unbehagen an Rom und der Kurie aus, das objektiv gesehen – das sei nochmals betont – nicht die Folge einer am Überkommenen klebenden Tatenlosigkeit der Päpste war, sondern im Gegenteil Resultat ihrer gar zu raschen Anpassung an die Forderungen der neuen Zeit. Das gilt auch und gerade für die Finanzierung der immer gigantischeren Vorhaben des Kirchenstaates sowie der politischen und kulturellen Repräsentation der Papstgewalt. Die Kurie hatte sich früh dem italienischen Handelskapitalismus geöffnet und bediente sich virtuos seiner modernen Finanzmethoden.

Rom und der Kirchenstaat stiegen auf diese Weise am Ende des 15. Jahrhunderts zu einem der ersten Zentren der Renaissance auf, in dem die Wissenschaften und Künste wie kaum anderswo erblühten. Mit der türkischen Eroberung von Byzanz im Jahr 1453 vertiefte und intensivierte sich in der lateinischen Christenheit die Aneignung der griechischen Antike, die italienische Humanisten bereits ausgangs des 14. Jahrhunderts in Angriff genommen hatten. Vor allem in Rom, Neapel und Florenz fanden von den Türken vertriebene Künstler und Gelehrte ein neues Betätigungsfeld. Es waren die von den neuen Wissenschaften und Künsten begeisterten «Renaissance-Päpste», die der Wittenberger Augustinermönch für den verrotteten Zustand der Kirche verantwortlich machte und deren Fehler und Sünden er schließlich nur noch als Verbrechen und Werk des Antichrist begreifen konnte. Für den tief vom Humanismus geprägten Gelehrtenpapst Pius II., Enea Silvio Piccolomini (1458–1464), konnte das nicht gelten, wohl aber für die mit Sixtus IV. (1471–1484) einsetzende Linie der verweltlichten Macht- und Genusspäpste. Zu Alexander VI. (1492–1503) aus dem Geschlecht der Borgia, dem verruchtesten unter ihnen, fällt selbst den gutwilligsten katholischen Theologen oder Historikern nur noch der zweifelhafte Trost ein, dass es ein Beweis für den göttlichen Ursprung der römischen Kirche sei, wenn sie selbst einen solchen Papst überstanden habe. Seinen Nachfolger Julius II., Giuliano della Rovere (1503–1513), kannten die Zeitgenossen vornehmlich in schwerer Kriegsrüstung. In seiner bissigen Satire «Julius exclusus e coelis» ließ ihn Erasmus von Rotterdam vor dem Himmelstor scheitern, weil Petrus seinen Himmel von solchen Gestalten rein halten wolle. Ganz anders Leo X. (1513–1521), Luthers unmittelbarer Gegenspieler in den Durchbruchjahren der Reformation. Spross der Florentiner Bankiers- und Unternehmerdynastie Medici und damit Personifizierung der römischen Allianz mit dem Handelskapitalismus, zudem hoch gebildet und von erlesenem Geschmack, führte er Rom und die Christenheit in heiterer Gelassenheit auf einen Höhepunkt ästhetischer Repräsentation – und verriet in den Augen des Reformators gerade damit die heilsgeschichtliche Botschaft des Evangeliums.

Partikularstaaten und frühmodernes Mächteeuropa

Die institutionell-bürokratische «Modernität» der Kurie und der großartige Kunst- und Machtgestus des Renaissance-Papsttums konnten nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Christenheit oder Europa in den Jahren der Reformation schon längst in sich differenziert war, und zwar weit über die Vielfalt der Frömmigkeitsformen und kirchlichen Gruppierungen hinaus in Herrschaften und Völker, die um Macht und Vorherrschaft kämpften: «Ein Stamm wird zum Kampf mit einem anderen Stamm getrieben, Stadt gegen Stadt, Parteiung gegen Parteiung, Herrscher gegen Herrscher. … Der Engländer ist der Feind des Franzosen, aus keinem anderen Grund, als weil er Franzose ist. Der Schotte ist dem Briten feind, aus keinem anderen Grund, als weil er Brite ist. Der Deutsche ist dem Franzosen feind, der Spanier beiden», so stellte schon Erasmus von Rotterdam im ersten Viertel des Reformationsjahrhunderts entsetzt fest.[29]

Ohne Zweifel – auch die Welt des Politischen war im Aufbruch, im Innern der Länder und Herrschaften wie auch bei den Beziehungen untereinander und deren jeweiligem Verhältnis zu den beiden Universalmächten Papst und Kaiser. Die staatenpolitische und dynastische Kräftekonstellation, die Europa im Moment der Reformation bestimmte, bahnte sich bereits in Martins Jugendjahren an. Selbst die politische Theorie, also das Denken über die Normen und die Prinzipien, nach denen die neuen, unbändigen Kräfte zu ordnen und zu zähmen seien, ging neue Wege, am radikalsten wiederum in Italien, wo Niccolò Machiavelli die Grundlagen für eine von den Fesseln christlicher Ethik entbundene Realpolitik schuf. Der Reformator indes blieb wie von den Einflüssen aus Übersee auch von den neuen Strömungen in der Politik weitgehend unberührt. Sein politisches Denken schöpfte ganz aus der Bibel, vor allem aus dem Alten Testament, und aus der christlichen Tradition, so weit er sie anerkannte. Auch und gerade in seinem Verständnis von Politik begegnet uns Luther als der Fremde, als der bereits in seiner Epoche Unzeitgemäße.[30]

Die vielen politischen Neuansätze des ausgehenden Mittelalters und der werdenden Neuzeit bündeln sich für heutige Betrachter, die Ursachen und Konsequenzen besser überschauen können als die Zeitgenossen, zu zwei übergreifenden säkularen Entwicklungen: Im Innern der europäischen Länder brach sich die frühmoderne Staatsbildung Bahn, und bei den äußeren Beziehungen entstand das zwischenstaatliche Europa der Mächte. In Deutschland, auch das war für die Lebens- und Wirkungsumstände des Reformators grundlegend, setzte sich der frühmoderne Staat nicht auf der Ebene des Reiches, sondern in den Territorien, mit besonderer Ausprägung auch in den Reichsstädten durch. So mussten Kursachsen und dessen Landesherren, die Kurfürsten Friedrich der Weise, Johann der Beständige und Johann Friedrich, für den Reformator zu den wichtigsten politischen Kräften werden. Und das Ringen zwischen den Fürsten und der Krongewalt des Reiches, dem Kaiser und dem Deutschen König, um die Anpassung an die neuen, staatlichen Bedingungen, insbesondere um eine für beide Seiten akzeptable Machtbalance zwischen Territorial- und Reichsinteressen, bestimmte nicht unwesentlich sein persönliches Schicksal ebenso wie dasjenige seiner Reformation.

Innere Staatsbildung und Entstehung eines überregionalen europäischen Mächtesystems waren aufs engste miteinander verzahnt, wobei auch hier die Sondersituation eines nicht-staatlichen Reiches und die überstaatlichen, europapolitischen Ambitionen seines kaiserlichen Oberhauptes Deutschland und seinen Fürsten eine eigentümliche Stellung zuwiesen. Das politische Mächtespiel in Europa ebenso wie innerhalb des Reiches setzte die innere Formierung der Territorial- oder frühen «Nationalstaaten» voraus; umgekehrt hatte das erfolgreiche oder glücklose Agieren eines Herrschers auf der internationalen Ebene sogleich bremsende oder fördernde Rückwirkungen auf die innere Staatsbildung. Und da beides, die Staatsbildung ebenso wie die Herausbildung der Mächteordnung, den Einsatz von Macht und Gewalt erforderte, trat Europa Ende des Mittelalters in eine Phase gleichsam strukturell bedingter Bellizität ein, die sich mit Luthers Auftreten und dessen Folgen weiter verschärfen musste.[31]

In Italien zerbrach um 1500 die Pentarchie der fünf Mittelmächte Neapel, Kirchenstaat, Florenz, Venedig und Mailand, die der Halbinsel Gleichgewicht und relative Ruhe gebracht hatte. Erlegen war sie einerseits den Osmanen, andererseits den Spaniern und Franzosen: 1494 war der französische König Karl VIII. (1483–1498) über die Alpen gezogen, um sich in der Konkurrenz mit spanischen Ansprüchen die Thronfolge im Königreich Neapel zu sichern. Für Italien begann damit eine lange Periode, in der auswärtige Mächte auf seinem Boden um die Vorherrschaft in Europa stritten und die italienischen Herrschaften, allen voran das Papsttum und sein Kirchenstaat, militärisch wie diplomatisch um ihre Selbstbehauptung kämpfen mussten. Für Europa insgesamt resultierte daraus die Jahrhunderte lange Rivalität zwischen Frankreich und Habsburg-Spanien. Denn als Antwort auf das Ausgreifen Frankreichs in ihre italienische Interessenzone schlossen Ferdinand von Aragon und der Habsburger Kaiser Maximilian I. 1495 eine politische Allianz, die sie wie üblich durch ein Ehebündnis befestigten. Die im darauf folgenden Jahr vollzogene Hochzeit zwischen Philipp dem Schönen, Sohn Maximilians, und der Infantin Juana, Tochter Ferdinands von Aragon und Isabellas von Kastilien, legte das dynastische Fundament für jenes habsburgisch-spanische Weltreich, vor dem eine Generation später, unter Kaiser Karl V. (1500–1556), dem ältesten Spross aus dieser Ehe, alle anderen Mächte Europas zu Mittel- oder Kleinmächten wurden. Mit den kastilischen Besitzungen in Amerika und Asien im Blick konnte Karl sich zu Recht rühmen, in seinem Reich gehe die Sonne nicht unter. In Europa indes war die Vorherrschaft des Habsburgers nie anerkannt. Vor allem mit den französischen Königen Franz I. und Heinrich II. hatte der Kaiser nicht weniger als fünf Kriege auszufechten und musste sich am Ende doch geschlagen geben.

So war in den ersten Lebensjahrzehnten Martin Luders jene europäische Mächtekonstellation zwischen den beiden Weltreichen der Osmanen und Habsburg-Spanien mit deren Allianzen oder Rivalitäten aufgezogen, die auch den Lauf der Reformation nicht unwesentlich mitbestimmen sollte. Denn in den 1520er und 1530er Jahren waren es neben den Verpflichtungen in Spanien die Kriege gegen die Osmanen und gegen feindliche europäische Mächte, voran die französischen Könige und die Päpste, die den Kaiser immer wieder aus dem Reich abriefen und ihm nicht die notwendige Zeit zur Lösung der causa Lutheri ließen. Die Schlachten und diplomatischen Rochaden dieser Jahrzehnte sind bis heute im historisch-politischen Bewusstsein Europas präsent.[32] Das gilt für die Schlacht von Pavia, die 1525 Karl V. gegen Franz I. von Frankreich gewann und die ihm zunächst die Herrschaft über das Herzogtum Mailand brachte. Es gilt für den Vertrag von Madrid, den Karl im Januar 1526 dem in Pavia gefangen genommenen Franz I. aufzwang und den Frankreich wenig später mit Billigung und Absolution des Papstes brach. Vor allem aber gilt es für den berühmt-berüchtigten Sacco di Roma vom Mai 1527, als habsburgische Truppen, Deutsche und Spanier, im Krieg gegen die Liga von Cognac – einem antihabsburgischen Bündnis zwischen Frankreich, dem Papst, Mailand, Florenz und Venedig – zum Schrecken der ganzen Christenheit die Heilige Stadt erstürmten, Papst Clemens VII. in der Engelsburg belagerten und die wehrlose Stadt barbarisch plünderten. Nichts dokumentierte deutlicher die Zerrissenheit der christlichen Welt und die Krise der mittelalterlichen Ordnung als diese Selbstzerfleischung der beiden Universalmächte, deren Aufgabe doch nicht Krieg und Terror, sondern Frieden und Ausgleich war. Kaum anders erging es dann zwei Jahrzehnte später Deutschland und den Protestanten mit dem Triumph des Kaisers im Schmalkaldischen Krieg, der wenige Monate nach Luthers Tod Wittenberg den kaiserlichen Truppen öffnete und Kurfürst Johann Friedrich von Sachsen in die Gewalt des Habsburgers fallen ließ.

Bevölkerungswachstum und Handelskapitalismus

Auch die Wirtschaft war im Aufbruch, im übertragenen Sinne sogar die Bevölkerung. Konjunktur- und Wirtschaftshistoriker sprechen von einem «langen 16. Jahrhundert» und meinen damit die ausgangs des 15. Jahrhunderts allenthalben, wenn auch in den einzelnen europäischen Regionen zu unterschiedlichen Zeitpunkten einsetzende und bis ins erste Drittel des 17. Jahrhunderts anhaltende Phase zunächst raschen, fast explosionsartigen, ab Mitte des Reformationsjahrhunderts dann aber deutlich verlangsamten Bevölkerungswachstums mit entsprechenden Impulsen für Gewerbe und Handel: Die Nachfrage nach Lebensmitteln schnellte ebenso empor wie diejenige nach gewerblicher Massenware des täglichen Bedarfs, vor allem nach Textilien und Haushaltsgegenständen. Parallel dazu entstand ein wachsender Markt für Luxusgüter sowie für hochwertige Speisen und Getränke. Konsumenten waren die Fürsten und ihre Höfe, der Landadel, in bescheidenerem Umfang auch städtische Oberschichten, in einigen Regionen wie Friesland oder Tirol sogar Groß- oder Herrenbauern.

Die Rede von den «Sauf- und Betfürsten» des 16. Jahrhunderts hat ihre sehr realen Wurzeln – in diesem Jahrhundert hat sich mancher Fürst regelrecht zu Tode getrunken. Die überlieferten Speisen- und Getränkelisten der Festgelage, die sich über Tage, nicht selten Wochen hinzogen, lassen eine Vitalität und Lebenslust der auch in Deutschland anzutreffenden «Renaissanceindividuen» erkennen, die man sich heute kaum noch vorzustellen vermag. Die Masse der Menschen lebte dagegen in bescheideneren, ja armseligen Umständen. Viele fühlten sich von den Auswirkungen der Konjunkturlage, die sie nicht durchschauten, bedrängt: Die Städte, klagte der Publizist Sebastian Franck (1499–1543) in seiner Anfang der 1530er Jahren abgefassten «Chronica, Zeitbuch und Geschichtbibel», stecken «so voller Leute, daß niemand bei ihnen einkommen kann»[33] – und das nur wenige Jahre, nachdem Ritter- und Bauernkrieg Tausende von Opfern gefordert hatten.

Exakte Daten liegen aus dieser vorstatistischen Zeit natürlich nicht vor, schon gar nicht für Europa insgesamt. Über das Jahrhundert hin hat man einen Anstieg um mehr als ein Viertel geschätzt, von rund 82 auf 107 Millionen Einwohner, mit erheblichen Unterschieden in den einzelnen Regionen. Da die dicht besiedelten Gebiete besonders schnell wuchsen und die Konzentration von Handel und Gewerbe weiter fortschritt, wirkte sich dieser Trend regional unterschiedlich aus und wurde von den Zeitgenossen entsprechend unterschiedlich wahrgenommen.[34] Auch zeitlich lief der Prozess differenziert ab – mit Phasen der Verzögerung oder Beschleunigung. So waren die Aufbruchjahre der Reformation offensichtlich eher von Deflation als von Geldverfall gekennzeichnet.

Ein solch starker Anstieg der Bevölkerung konnte nicht ohne Auswirkung auf die Gesellschaft und auf die Mentalität der Menschen bleiben: Die ausreichende Versorgung mit Nahrungsmitteln war nicht mehr durchgängig sichergestellt. Missernten führten zu Hungersnöten, diese zu Unterernährung, und die Bevölkerung wurde zur leichten Beute für Krankheiten und Epidemien. Da Preissteigerung und Geldverfall – nicht zuletzt wegen der seit Mitte des Jahrhunderts sprunghaft ansteigenden Zufuhr südamerikanischen Silbers – hinzukamen und in den Städten schließlich auch die Arbeitsplätze knapp wurden, waren in Europa zu Ende des Reformationsjahrhunderts die Gesellschaften allenthalben polarisiert – in eine kleine Gruppe der Reichen, die immer reicher wurden und das demonstrativ zur Schau stellten, und die rasch anwachsende Armee der Armen, die immer häufiger vor der nackten Existenzfrage standen. Wenn irgendwann vor der Industriegesellschaft des 19. Jahrhunderts, dann bildeten sich im «langen 16. Jahrhundert», das nicht zu unrecht häufig als frühes bürgerliches, weil stark von den Wirtschaftsgesetzen geprägtes bezeichnet wurde, so etwas wie Klassenstrukturen heraus. Albrecht Dürers Holzschnitt «Die Apokalyptischen Reiter» zeigt, dass diese Probleme und die daraus geborenen Ängste der Menschen vor Hunger, Epidemien, Krieg und Massensterben auch bereits den Anfang des Jahrhunderts prägten.[35]

Die apokalyptischen Reiter, Holzschnitt von Albrecht Dürer 1497/98

Gleichzeitig und eng verknüpft mit diesem Konjunkturgeschehen entstand erstmals so etwas wie ein gesamteuropäisches Wirtschaftssystem, in das die einzelnen, bis dahin weitgehend unabhängigen Wirtschaftsregionen in der einen oder anderen Art eingebunden waren. Das gilt auch, wenn man nicht bereit ist, Immanuel Wallerstein zu folgen, der bereits von einem eng verflochtenen «atlantischen Weltsystem» spricht:[36] Zu Luthers Lebzeiten bahnte sich jene welthistorische Verlagerung der vitalsten Wirtschaftszentren vom Mittelmeer und Norditalien hin zum nordöstlichen Atlantiksaum an, die seit der Jahrhundertmitte zwischen den Niederlanden, Nordfrankreich und England eine Art Modernisierungsdreieck entstehen ließ. Es kam zu einer Intensivierung des Schiffsverkehrs in der Nord- und Ostsee, die heutige Wirtschaftshistoriker die erste Verkehrsrevolution der Neuzeit nennen. Angestoßen wurde das weniger durch die Entdeckung Amerikas als durch den Nahrungs- und Warenbedarf der wachsenden Bevölkerung West- und Mitteleuropas. Hinzu kam die Stockung des Levantehandels durch das Vordringen der Osmanen ins östliche Mittelmeer. Insbesondere der Warenaustausch zwischen Westeuropa und dem Baltikum stieg sprunghaft an. Er lag in der Hand niederländischer Reeder, deren Frachtschiffe alljährlich zu Hunderten den dänischen Øresund passierten, um Tapisserien, Schnitzaltäre Antwerpener Werkstätten und andere hochwertige Gewerbeprodukte Westeuropas nach Osten zu transportieren und von dort die Naturprodukte Skandinaviens und des Baltikums zurückzubringen, die in den dicht besiedelten und wirtschaftlich aktiven Zonen Mittel- und Westeuropas dringend benötigt wurden – Holz und Pech für den rasch expandierenden Schiffsbau, dazu Honig, Wachs und Bernstein, vor allem aber das Korn der weiten Weichselniederungen. Als dann im neuen Jahrhundert dieser «Mutterhandel», wie die Niederländer die Ostseeschifffahrt nannten, durch den Handel nach Westen über Sevilla und den Atlantik in die Neue Welt ergänzt wurde, war deutlich, dass die im Mittelalter vorherrschende Süd-Nord-Achse in den europäischen Haupthandels- und Verkehrswegen durch die nord- und nordwesteuropäisch-atlantische West-Ost-Achse mit den wichtigsten Umschlagplätzen in den Niederlanden, Nordfrankreich und England abgelöst werden würde.

Den Zeitgenossen waren die Ursachen und längerfristigen Folgen dieser Veränderungen natürlich nicht bewusst. Außerdem brachen die alten Handelszentren ja keineswegs von heute auf morgen zusammen: Venedig blieb bis ins 17. Jahrhundert hinein ein wichtiger Knotenpunkt. Nördlich der Alpen blühten der frühe Handelskapitalismus Oberdeutschlands und das aufs engste mit ihm verknüpfte Montangewerbe im Harz, im Erzgebirge und in den Alpen ausgangs des 15. Jahrhunderts überhaupt erst auf. Für die vier, fünf Jahrzehnte um die Jahrhundertwende lässt sich daher von einer süd- und mitteldeutschen Zeit der europäischen Wirtschaft sprechen, als die großen oberdeutschen Handelshäuser den Ton angaben. Das größte und berühmteste unter ihnen, das Familienunternehmen Fugger, tätigte unter seinem Oberhaupt Jakob dem Reichen im ersten Drittel des 16. Jahrhunderts seine Geschäfte europaweit und in enger Verbindung mit den Herrschern der Zeit, den Päpsten ebenso wie den Kaisern. Auf vier Pfeilern ruhten die Handelshäuser nach Art der Fugger – auf Fernhandel, Bergbau in den Alpen und Karpaten, Bankgeschäften größten Stils und dem Verlag, also der dezentralen Organisation gewerblicher Massenproduktion, meist Textilien. Von seinem Palais am Augsburger Weinmarkt aus dirigierte Jakob Fugger ein Weltunternehmen, das Erzgruben im Karpatenbogen, im Erzgebirge und in den Alpen ebenso umfasste wie ein europäisches Alaun- und Quecksilbermonopol und ein Handelsnetz, das zeitweilig sogar bis in die Neue Welt reichte. Mehr und mehr wurden die Fugger auch zum Haus-, Hof- und Staatsbankier deutscher und europäischer Fürsten, voran der Habsburger, denen sie in einem entscheidenden Augenblick das Kaisertum sicherten, als es nämlich 1519 darum ging, hinreichend Geld zur Verfügung zu stellen, um die deutschen Kurfürsten bei der Kaiserwahl von dem Kandidaten Franz I. von Frankreich abzubringen und ihre Stimmen dem spanischen König Karl, dem habsburgischen Enkel des eben verstorbenen Kaisers Maximilian, zu sichern.

Es war nicht zuletzt die starke Wirtschaft, die im ersten Drittel des 16. Jahrhunderts dem Reich politische und kulturelle Kraft verlieh. Selbst der Erfolg der Reformation ist schwer vorstellbar ohne den Reichtum und das politische Ansehen, die Luthers Landesherrn, Kurfürst Friedrich dem Weisen, aus den Erzvorkommen sowie dem Handels- und Gewerbeaufschwung seines Territoriums zugewachsen waren. Erst als im zweiten Jahrhundertdrittel die Schwierigkeiten des Italienhandels gravierend wurden und die ersten großen Staatsbankrotte, voran in Spanien und Frankreich, die Finanzwelt erschütterten, ging die Zeit der frühkapitalistischen Familienunternehmen Oberdeutschlands zu Ende. Da nun ganze Flotten mit südamerikanischem Silber nach Europa kamen, wurden auch die deutschen Silbergruben unrentabel, und der Montanboom brach ab – in Sachsen ebenso wie in Böhmen, im Harz oder in den Alpenländern. Die daraus in seiner Mansfelder Heimatregion entstandenen Probleme sollten den Reformator noch in seinen letzten Lebenswochen beschäftigen.

Ein Jahrhundert der Wissenschaften und Künste

Die Welt des Geistes, der Kultur und der Wissenschaften zeigt ähnlich auf- und absteigende Linien. Die Erfindung des Buchdrucks mit beweglichen, aus Metall gegossenen Lettern durch Johannes Gutenberg um 1450 in Mainz, die im Rückblick als die eigentlich umstürzende Tat erscheint, war vor dem Reformationszeitalter noch kaum zur Geltung gekommen. Die weltverändernde Erfindung lag gleichsam noch in den «Windeln» – es war die Zeit der Inkunabeln, der Wiegendrucke, kostbarer Einblattdrucke und Buchunikate wie der berühmten 42-zeiligen Gutenbergbibel von 1454. Erst im Flugschriftenstreit der Reformation und mit Luthers «Bestseller-Produktion», allen voran mit der berühmten Luther-Bibel, brach im Buchhandel das Zeitalter der Massenproduktion an.

Ähnlich verbreiteten sich Humanismus und Renaissance in Europa, die durch die Verpflanzung byzantinischer Wissenschaften nach Italien und Ungarn mit dem berühmten Renaissancehof von König Matthias Corvinus einen weiteren Aufschwung genommen hatten. Nördlich der Alpen hallte dieser Aufbruch nur erst verzögert und vielfach gebrochen wider: Allenthalben wurden die Bürgerhäuser, Ratsstuben und Kirchen noch im Stil der Gotik erbaut. Zwar wurden Kaiser Maximilian I. von den Sforza-Herzögen in Mailand, den Verwandten seiner zweiten Ehefrau Bianca Maria, 1499 lombardische Bildhauer geschickt, die zusammen mit Jacopo de Barbari und Adriano Fiorentino – aus Venedig der eine, aus Florenz der andere – dafür sorgten, dass die Samenkörner der Renaissancekunst auch den Boden Mitteleuropas erreichten. Einen Renaissancehof hat Maximilian jedoch nicht geführt. Für ihn typisch war vielmehr ein «Amalgam aus mittelalterlich-deutscher Bilderwelt und römischer Kostümierung und Inszenierung».[37] Anders die Fugger – sie hatten beides, Mut zur Formensprache der Renaissance und Geld, ihre Bauvorhaben durchzuführen: Anfang des 16. Jahrhunderts ließen sie sich im Westchor der St. Anna-Kirche eine triumphale Privatkapelle im Stil der florentinischen Renaissance errichten und mit Individualplastiken der beiden «Konzernherren» Ulrich und Jakob schmücken. Die Vorlagen dazu lieferte kein geringerer als Albrecht Dürer, der eben in jenen Jahrzehnten als die große Künstlerpersönlichkeit nördlich der Alpen hervortrat. Nach Kaiser Maximilian holte unter den Fürsten als Erster Luthers Landesherr Kurfürst Friedrich der Weise Renaissancearchitekten und -künstler nach Deutschland, um seinem Hof den zeitgemäßen Glanz und Repräsentation nach Art der italienischen Höfe zu verschaffen.

Luther als Hercules Germanicus, Holzschnitt von Hans Holbein d.J. um 1519

Auch Philosophie, Literatur und Bildung waren in Bewegung. Der Wegestreit der Theologen zwischen via antiqua und via moderna, die der Erfahrung den Vorrang gab und in den Wissenschaften die kritische Empirie förderte, war zwar zur Ruhe gekommen. Meist boten die Universitäten Kurse nach der alten wie nach der neuen Methode an. Wittenberg übrigens nicht. Dort beschränkte man sich auf die via antiqua. Auch die studia humaniora, die «ad fontes», zu den Quellen, zurückführten und damit jegliche nur angemaßte Autorität in Frage stellten, waren auf dem Vormarsch. Ein Zentrum fanden sie namentlich in Wien und Erfurt. In Köln herrschten die Dominikaner, die die thomistische Scholastik hochhielten und als Männer der Römischen Inquisition jede Abweichung von der christlichen Orthodoxie brandmarkten. Gegen sie bildete sich eine «nationale» Front der Humanisten innerhalb und außerhalb der Kirche: Mit beißendem Spott prangerten sie die klappernde Dialektik abgestandener Scholastik und die Verstocktheit der Kölner gegenüber dem neu aufgebrochenen Geist ungebundenen Fragens und Forschens an. Nicht Auslegung der Tradition in immer unverständlicheren sophistischen Wendungen galt den Humanisten als Gebot der neuen Zeit, sondern Erneuerung und Ausweitung der Erkenntnis durch unvoreingenommene Quellenstudien.

Als dann anfangs des neuen Jahrhunderts der Humanist Reuchlin wegen seiner hebräischen Studien angezeigt wurde, sprangen ihm die Humanisten zur Seite, allen voran der Erfurter Kreis mit Mutianus Rufus, Crotus Rubeanus und Ulrich von Hutten. Ihre anonym veröffentlichten Epistolae obscurorum virorum, die bis heute sprichwörtlichen Dunkelmännerbriefe, ließen über Nacht im Reich eine kritische Öffentlichkeit entstehen, in der mit Rede und Gegenrede – Pamphlet und Gegenpamphlet – über den «Reformstau» in Bildung, Kirche, Staat und Gesellschaft sowie über Mittel und Wege, ihn zu beseitigen, gestritten wurde.

Verschärft wurden die geistigen und kulturellen Gegensätze durch frühnationale Töne, die für den europäischen Humanismus typisch waren, so international er auch war. Man denke nur an die Wiederentdeckung der Germania des Tacitus und die in jenen Jahrzehnten beliebten Ursprungsmythen der Gallier, Bataver oder Goten: Der Kampf gegen die Kölner und andere Römlinge oder Welschen wurde zugleich begriffen als Freiheitskampf der Deutschen gegen romanische Überfremdung und Ausbeutung durch die Kurie. Wie wir heute wissen, bestand in Wirklichkeit eine dermaßen enge Abhängigkeit nicht; vielmehr waren im 15. Jahrhundert die Beziehungen zwischen Kurie und Reich durch eine «unverkennbare Lockerheit»[38] gekennzeichnet. Tatsächlich hatten die Deutschen fast als letzte in der Christenheit Grund, darüber zu klagen, dass ihre Gelder nach Rom flossen. Die Zeitgenossen waren aber davon überzeugt, und so sollten sie eine Generation später Luther zujubeln und ihn als «Hercules Germanicus» feiern, der – wie auf dem berühmten Holzschnitt von Hans Holbein dem Jüngeren zu sehen – mit einer in den germanischen Wäldern geschnittenen Holzkeule dem Kölner Dominikaner und päpstlichen Inquisitor Jakob von Hochstraten, dem dunkelsten aller Dunkelmänner, den Garaus machte, um die deutsche Kirche mit einem Streich von den blutsaugenden Kurtisanen Roms zu befreien.

Besonders verbreitet waren Aktivismus und Optimismus unter den Humanisten. Ulrich von Huttens viel zitierter Jubelruf von 1518 «O saeculum, o literae! juvat vivere!» («Oh Jahrhundert, oh Wissenschaft! Es ist eine Lust zu leben!»)[39] charakterisiert das Lebensgefühl der ersten Generation von Intellektuellen und Literaten, die wie keine andere Gruppe den Aufbruch in eine neue Zeit verkörperten, noch sehr klein an Zahl, aber um so rühriger und als Multiplikatoren und Propagandisten gar nicht zu überschätzen. Der von Luther herbeigeführten theologischen und kirchenpolitischen Rebellion schlossen sie sich begeistert an und stärkten deren Durchschlagkraft. Die Selbstvergewisserung des frühmodernen Individuums, die bereits ein Jahrhundert zuvor mit Architekten wie Peter Parler oder Malern wie Jan van Eyck eingesetzt hatte, erreichte einen ersten Höhepunkt. In Deutschland erhielt auch das eine religiöse Konnotation – deutlich in der Christusähnlichkeit des berühmten Dürer-Selbstbildnisses von 1500.[40] Das grandiose Hervortreten des Wittenberger Mönchs und sein Selbstverständnis als prophetischer Erneuerer der Kirche fügen sich diesem Grundzug des Zeitalters ein, so sehr sich der Lutherkult später auch bemühte, dem «Hier stehe ich» auf dem Wormser Reichstag von 1521 die Weihe des Einmaligen zu verleihen.

Christushaftes Selbstporträt von Albrecht Dürer, datiert auf 1500

Aufschwung in Deutschland

In Deutschland erhielt man durchaus Kunde von den Vorgängen in Übersee, auf dem Balkan oder an der Kurie. Gelehrte wie der bereits erwähnte Martin Behaim und oberdeutsche Kaufmannsfirmen wie die Welser und die Fugger nahmen an den Entdeckungen teil und suchten die damit gebotenen Chancen zu nutzen. Von der Pracht und den Abgründen Roms wusste man ebenso wie von den Grausamkeiten der türkischen Heere. Unmittelbar betroffen war Mitteleuropa zunächst aber kaum: Die Kulturbewegung der Renaissance drang nur langsam über die Alpen nach Norden – befördert durch den regen Handelsaustausch mit Oberitalien zunächst in die oberdeutschen Städte, nach Mitteldeutschland sogar erst eine Generation später. Martin Luder wuchs noch ganz und gar in der Gotik auf, und auch später in Erfurt und Wittenberg lebte er in rein «altdeutscher» Umgebung. Selbst das Wittenberger Schloss, das Kurfürst Friedrich seit den 1490er Jahren mit großem Aufwand von erlesenen Künstlern errichten ließ, war im Kern spätgotisch und zeigte nur Ansätze eines Übergangs zur Frührenaissance.[41] Der Renaissance begegnete er erst in Rom, als er dort im Herbst/Winter 1510/11 einem Auftrag seines Ordens nachzugehen hatte. Dass Rom und das Renaissancepapsttum eine Gefahr für Deutschland und die Christenheit insgesamt darstellten, wurde ihm sogar erst Jahre später bewusst, als Leo X. und Kardinal Albrecht von Brandenburg zur Finanzierung ihrer Bau- und Machtvorhaben in Deutschland den Petersablass verkünden ließen.

In den Jahrzehnten um 1500 brach in Deutschland das Neue nicht von außen herein. Es setzte sich vielmehr im Innern durch, weniger spektakulär, aber um so nachhaltiger und bestimmender für den Alltag der Menschen. Wirtschaft, Politik und Bildungswesen wurden von einer bis dahin ganz unbekannten Dynamik erfasst. Bei aller unbestreitbaren Originalität waren Luther und seine evangelische Lehre doch auch Ausdruck dieses Aufschwungs. Und die rasche Ausbreitung seiner Gedanken hing entscheidend vom noch jungen Buchdruck oder der ersten «Medienrevolution» der Neuzeit ab, wie die dadurch hervorgerufene Kommunikationsverdichtung heute gerne genannt wird. Vor allem aber hätte er sich kaum vor den Großen des Reiches behaupten und die Reformation auf den Weg bringen können, ohne die Blüte der deutschen Wirtschaft, vor allem des Montangewerbes im Harz und im Erzgebirge, und schon gar nicht ohne den bereits Jahrzehnte früher einsetzenden Aufstieg des frühmodernen Fürstenstaates. Denn im entscheidenden Moment der Selbstbehauptung 1521 in Worms auf dem Reichstag und danach unter Acht und Bann des Kaisers hing alles vom Schutz seines sächsischen Landesherrn und seinem durch die Montaneinnahmen bestens finanzierten frühmodernen Staat ab.

Noch zu Lebzeiten des Reformators wurde die wirtschaftliche Vorherrschaft Italiens durch ein «deutsches Zeitalter» in der europäischen Wirtschaftsgeschichte abgelöst,[42] mit drei Wachstumszentren – Oberdeutschland mit seinen weltweit als Bankiers, Textilverleger und Bergunternehmer operierenden Familienfirmen; die Ost- und Nordsee mit einer gewaltigen Verdichtung des Schiffsverkehrs und des Güterumschlages, aber auch des kulturellen Austausches; schließlich die mitteldeutsch-sächsische Montanregion, die auch von dem ebenfalls rasch wachsenden Fernverkehr zu Lande profitierte. Knotenpunkte des Fernhandels wie Erfurt oder Zwickau blühten auf, vor allem aber die Berglandschaften im Harz, Thüringen und Sachsen, wo alte Bergstädte rasch expandierten und mit Annaberg, Marienberg oder Schneeberg neue wie Pilze aus der Erde wuchsen.

All das führte in Mitteldeutschland zu einer Beschleunigung und Konzentration des Bevölkerungswachstums. Wie den dörflichen Mannschaftsverzeichnissen zu entnehmen ist, wuchs vor allem die ländliche Bevölkerung rasch an – so gab es 1445 in den 107 Dörfern des Amtes Dresden 1143, um 1550 bereits 1851 Bauernfamilien, für die Ämter Pirna und Frauenstein war ein Anstieg von 125 auf 201 beziehungsweise 383 auf 597 zu verzeichnen. Tatsächlich war die Wachstumsrate noch wesentlich höher. Denn viele Dörfler wanderten in die Städte ab, so dass der Verstädterungsgrad steil anstieg, in der Bergbauzone des westlichen Erzgebirges sogar um über 50 Prozent.[43]