Das Christentum und die Entstehung des modernen Europa - Heinz Schilling - E-Book

Das Christentum und die Entstehung des modernen Europa E-Book

Heinz Schilling

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Beschreibung

War das Christentum zu Beginn der Neuzeit in Fundamentalfeindschaft zerrissen und Grund schwerer Konflikte, nahm es im Verlauf des 30jährigen Krieges eine Wende zu Frieden und rechtlicher Anerkennung. Es ebnete damit dem pluralen Europa der Gegenwart den Weg. Heinz Schilling nimmt uns mit auf eine eindrucksvolle Zeitreise von der Reformation bis in die beginnende Moderne. Er erzählt anhand zahlreicher Beispiele, wie aus der einen lateinischen Christenheit das multikonfessionelle Europa der Frühen Neuzeit hervorging. Er schildert die Machtkämpfe um das Verhältnis von Politik und Kirche und veranschaulicht, wie diese Konflikte die weltanschauliche Pluralität der Moderne hervorbringen – ein Prozess, der unsere Welt bis heute entscheidend prägt. Heinz Schillings neues Werk ist eine fesselnde und der Öffentlichkeit weitgehend unbekannte Entstehungsgeschichte der modernen Welt aus den Wurzeln des Christentums, in der sich der Autor einmal mehr als ein Meister seines Fachs erweist.

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Heinz Schilling

Das Christentum unddie Entstehung desmodernen Europa

Aufbruch in die Welt von heute

© Verlag Herder GmbH, Freiburg im Breisgau 2022

Alle Rechte vorbehalten

www.herder.de

Umschlaggestaltung: Gestaltungssaal, Rohrdorf

Umschlagmotiv: Adriaen Pietersz. van de Venne: Die Seelenfi scher (1614), Öl auf Eichenholzplatte, Rijksmuseum, Amsterdam, Niederlande. Quelle: Mauritius Images

E-Book-Konvertierung: ZeroSoft, Timișoara

ISBN Print: 978-3-451-38544-5

ISBN E-Book (E-Pub): 978-3-451-82719-8

ISBN E-Book (PDF): 978-3-451-82707-5

Der hohen Theologischen Fakultät der Georg-August-UniversitätGöttingen und dem Andenken ihres langjährigen MitgliedsProf. Dr. Bernd Moeller (1931–2020) gewidmet.

Inhaltsverzeichnis

Prolog: Religion, Kirche und Welt im lateinischen Europa

A. Das Erbe der Vormoderne

1. Der lateinisch-christliche Zivilisationstypus

2. Historische Weichenstellungen

3. Das lateinische Christentum als Sauerteig in der Welt

4. Wissenschaftliche, kulturelle und soziale Prägungen

5. Gewalt und Kontrolle

B. Renaissance und Reformationen – ein doppelter Aufbruch in die Neuzeit

1. Das Christentum im Umbruch zur Neuzeit

2. Gegensatz oder Komplementarität von Renaissance und Reformation?

3. Renaissance und Christentum

4. Wittenberg und die europäischen Reformationen

5. Ökumenische Narrative: Am Anfang waren Luther, Loyola und Calvin

6. Dogmatischer Antagonismus statt Ökumene – der Weg in die frühmoderne Fundamentalfeindschaft der Konfessionen

C. Die Epoche der Konfessionen als „Vorsattelzeit der Moderne“

1. Konfession als Modernisierung – die andere Sicht auf einen „faden Zwischenakt“

2. Vom Scheitern der Irenik zum Europa der Konfessionen

3. Ausweitung und Intensivierung kirchlicher Aktivitäten

4. Der frühmoderne Staat im Zeichen des Konfessionalismus

5. Konfession und nationale Identitäten

6. Formierung der neuzeitlichen Untertanengesellschaft und neue Ansätze in den Beziehungen zwischen Männern und Frauen

7. Die konfessionellen Kulturen – Kunst, Literatur, Architektur, Wissenschaft

8. Die Markgrafschaft Oberlausitz und ihre besondere Konfessionskultur

D. Erfahrungsfelder christlichen Lebens in der Frühen Neuzeit

1. Stadt und Kirche – Konfession als einigendes Friedensband und Instrument der Ausgrenzung

2. Die frühneuzeitliche Konfessionsmigration und ihr Beitrag zur Entstehung der modernen Welt

3. Konfession und frühmoderne Disziplinierung – Religion als Garant weltlicher Ordnung

4. Christlicher Fundamentalismus – um die Macht der Staaten und das Heil der Seelen

5. Heiliger Krieg und göttlicher Frieden in Bildern und Symbolen

6. Ein anachronistischer Sonderfall – Diplomatie und Machtstaatspolitik der Päpste

Epilog: Die Christenheit im modernen Europa

Zu diesem Buch

Anhang

Anmerkungen

Liste der Erstveröffentlichungen von Heinz Schilling

Literatur- und Quellenhinweise

Abbildungsverzeichnis

Über den Autor

Prolog: Religion, Kirche und Welt im lateinischen Europa

„Es heißt die Einheit der Welt verkennen, wenn man Religion und Politik für grundverschiedene Dinge hält, die nichts miteinander zu schaffen hätten noch haben dürften, so daß das eine entwertet und als unecht bloßgestellt wäre, wenn ihm ein Anschlag vom anderen nachgewiesen würde.“[1]

Diese Bestimmung des Verhältnisses von Religion und Politik, die Thomas Mann in seinem Romanzyklus „Joseph und seine Brüder“ mit Blick auf Altägypten vornimmt, gilt auch für das christliche Europa, jedenfalls bis in die Frühe Neuzeit. Unsere Zeit sieht es indes eher als Erzverfehlung, dass sich in Antike und Mittelalter die Kirche auf Politik, Macht und Staatsnähe eingelassen hat und in der Neuzeit die Kirchen der Reformation nicht grundsätzlich anders verfuhren. Ein solches Urteil ist ein Resultat des neueren christlichen Denkens selbst, ohne Zweifel. Bei der Bewertung von zwei Jahrtausenden Christentumsgeschichte im lateinischen Europa führt es aber in die Irre. Denn die „Welthaftigkeit“ ist ein Eckstein in der Lehre des Religionsgründers selbst. Und die Allianz zwischen Kirche und Staat, zwischen Religion und Politik beziehungsweise Gesellschaft war seit den kaiserlich römischen Religionsgesetzen des vierten Jahrhunderts geistiger Kern der lateinisch-europäischen Zivilisation.

Auch die Reformation, die die Christenheit und Europa in die neuzeitliche Differenzierung katapultierte, hat das nicht grundsätzlich verändert. Sie hat die traditionelle Allianz nur von der Universalität des ideell fortbestehenden Römischen Reiches auf die Ebene der National- und Territorialstaaten heruntergebrochen und sie dadurch eher gefestigt als gelockert.

Christus Pantokrator, der segnende Allherrscher zwischen den politischen Größen des Römischen Reiches. Demonstration des Willens der Christen, die Welt mitzugestalten. Mosaik des 11. Jahrhunderts auf der Westempore der Hagia Sophia in Byzanz/Istanbul.

Erst mit der Aufklärung und den daran anschließenden Revolutionen etablierte sich ein grundlegend neues System, in dem die alteuropäische Allianz zwischen Kirche und Staat keinen Raum mehr hat.[2] In unterschiedlicher Schnelligkeit und Intensität festigte sich in den einzelnen Staaten und Regionen die politische und rechtliche Distanz, schließlich die Trennung von Staat und Kirche. Die Religionen, auch das in der Regel noch dominante Christentum, wurden gesellschaftlich mediatisiert, wurden zu einer gesellschaftlichen Gruppe unter anderen.

Die römische Kirche, die sich in der Petrusnachfolge weiterhin als einzig wahre Verwirklichung des Christentums auf Erden verstand, stemmte sich zu Mitte des 19. Jahrhunderts entschieden gegen diese Entwicklung. In der Enzyklika Quanta cura mit dem anhängenden Syllabus errorum, einer Liste von Irrtümern und Verstößen der Neuzeit gegen den Geist des katholischen Christentums, machte Papst Pius IX. (1846–1878) am 8. Dezember 1864 gegen Neuzeit und Moderne mobil – allem voran gegen die Trennung von Staat und Kirche, den Vorrang der Staatsgesetze vor dem Kirchenrecht oder die Religionsfreiheit des Individuums.[3] Eine Lösung der von der Aufklärung aufgeworfenen Fragen an das Christentum brachte das nicht, konnte es nicht bringen. Im Gegenteil, die grundsätzliche Absage an die Moderne brachte die römische Kirche in eine Schieflage zum realen Leben. Schrittweise überwunden wurde die Entfremdung erst im Laufe des 20. Jahrhunderts.

Indes, vor den in unseren Tagen akzelerierenden Veränderungen der Moderne wird es fraglich, ob die mit staatlicher Radikalität verfochtene Trennung zwischen Staat und Kirche eine friedliche Lösung garantieren kann. Das zeigt nichts deutlicher als die Situation in Frankreich, das mit dem Prinzip der laïcité am entschiedensten Distanz zwischen Religion und Politik geschaffen hat und doch – oder gerade deswegen? – gegenwärtig verzweifelt um einen tragfähigen Ordnungsrahmen für den Islam ringt.

Die Integrationsprobleme des in Europa inzwischen heimisch gewordenen Islams, speziell die daraus resultierende Gewaltbereitschaft radikaler Minderheiten, sind zweifellos das vorrangige, aber keineswegs das einzige Problem, das die Zukunft der Religion(en) in den europäischen Gesellschaften bestimmt. Nicht weniger entscheidend wird es sein, wie das Christentum selbst sich in den Umbrüchen des 21. Jahrhunderts behauptet. Wird die Konkurrenz der islamischen Weltreligion, die das Christentum erstmals im Kerngebiet seiner Ausbreitung in einem solchen Ausmaß erlebt, eine spirituelle Wiederbelebung und soziale Kräftigung bringen? Oder bleibt es dabei, dass den vollen Moscheen leere Kirchen gegenüberstehen und die geistige und spirituelle Erosion der europäischen Grundreligion weiter voranschreitet? Jedenfalls legt die lutherische Pastorin Margot Käßmann den Finger auf eine schwärende Wunde, wenn sie konstatiert, dass gegenwärtig das Religionsproblem Europas nicht in vollen Moscheen, sondern in leeren Kirchen bestehe.

Das Christentum mag sich im dritten Jahrtausend bald in einer ähnlichen Situation sehen wie in den ersten Jahrhunderten seiner Geschichte, bevor ihm die Konstantinische Wende die Möglichkeit gab, in Allianz mit dem Staat den Kontinent, schließlich auch die Welt insgesamt nachhaltig zu prägen, geistig, gesellschaftlich und politisch. Natürlich drohen heute nicht Verfolgung und Martyrium. In Europa jedenfalls nicht, wenn auch immer wieder von Bedrohungen und Anschlägen zu hören ist, bemerkenswerterweise vor allem aus dem laizistischen Frankreich, wo die Christen selbst Priestermorde hinnehmen, um nicht als schlechte laizistische Republikaner verdächtigt zu werden.

Vergleichbar sind aber die Zahlen und die davon abhängige Durchdringung von Kultur und Gesellschaft: In manchen Dörfern und Städten der östlichen Bundesländer ist der statistische Anteil von Christen längst auf die Zehn-Prozent-Marke gesunken, die man für die Christen im Römischen Reich vor Konstantin wohl ansetzen darf. In den alten Bundesländern wird es nicht anders aussehen, sobald die vor 2000 Geborenen gestorben sind, für deren Eltern die Taufe ihrer Kinder noch selbstverständlich war. Wird, so ist zu fragen, ein solches Minderheitenchristentum im dritten Jahrtausend noch in ähnlicher Weise als Sauerteig wirken können wie die frühchristlichen Minderheiten, die Spiritualität, Kultur und Zivilisation des Römischen Reiches durchdrangen und mitbestimmten? Auf den Schutz oder gar die Unterstützung durch den säkularen Staat wird die christliche Minderheit des 21. Jahrhunderts jedenfalls kaum rechnen können – in Frankreich nicht, bald aber auch in den anderen europäischen Staaten nicht mehr. Zu stark ist auch in dieser Hinsicht der Druck zur Rechtsvereinheitlichung im Europa der Union.

Eine Antwort wird erst die Zukunft geben. Doch um die Möglichkeiten der zukünftigen Entwicklung abschätzen, sie eventuell auch beeinflussen zu können, erscheint es gerade in der Situation des Übergangs und der Unsicherheit geboten, sich genauer mit der Geschichte des Christentums zu befassen, und zwar nicht als Theologie- oder Kirchengeschichte im engeren Sinne, sondern als Geschichte des Christentums in der Welt. Das soll im vorliegenden Buch auf der Basis früherer Forschungen geschehen.[4] Gerichtet ist es nicht primär an den engeren Kreis der Fachgenossen, sondern an eine allgemeine Leserschaft. Schön wäre es, wenn auch die jüngere Generation erreicht würde. Denn ihr wird jenseits von fiktiven Computerspielen der Zugang zu vergangenen Lebensformen und Denkweisen kaum noch ermöglicht, zu solchen von Kirche und Religion schon gar nicht.[5] Doch gerade in Bezug auf das Christentum hat sie ein Recht darauf, aufgeklärt zu werden und mehr zu erfahren über dessen Leistungen wie Verfehlungen; über das geistige Ringen um religiöse und philosophische Wahrheit sowie um die richtige Gestaltung des individuellen und des kollektiven Lebens, ebenso von der Spannweite der Gegensätze, von den Konflikten und den tiefen Feindschaften.

Generell gewinnt man den Eindruck, dass die öffentlichen Debatten über Religion und Kirche angesichts der zunehmenden Präsenz des Islams in Europa zwar lebhafter und auch wissenschaftlich fundierter werden. Ein gesteigertes Interesse an der Christentumsgeschichte oder gar ein Bewusstsein, dass die in christlicher Vergangenheit entwickelten geistigen, kulturellen und institutionellen Grundlagen für die gute Zukunft Europas und der Menschheit insgesamt unverzichtbar sind, resultiert daraus aber nicht. Sicher, in den von Politikern gern beschworenen „westlichen Werten“ und den universell postulierten Menschenrechten ist auch immer ein christlicher Traditionsstrang mitgemeint.

Das geistige Ringen und die historischen Auseinandersetzungen, die ihm zugrunde liegen, finden aber kaum Beachtung, ja werden häufig – bewusst oder unbewusst – verwischt,[6] interessieren jedenfalls letztlich nicht. Man ist in der Regel geneigt, die Leistungen, mehr noch die Verfehlungen des Christentums vorrangig aus der begrenzten Perspektive der eigenen Gegenwart zu betrachten.

Zehn-Gebote-Tafel von 1669 in der reformierten Kirche in Ligerz am Bieler See, Kanton Bern, Schweiz.

Repräsentative Veröffentlichung der Menschenrechtserklärung der Französischen Revolution vom 26. August 1789. Schon die äußere Aufmachung verweist auf das Vorbild zeitüblicher Darstellungen der biblischen Zehn Gebote.

Wissenschaftlich seriös ist ein historisch fundiertes Bild vom Anteil des Christentums an der Entstehung der modernen Welt weder als Kriminalgeschichte noch als Hagiographie zu zeichnen. Beides hat inzwischen seine Innovation und intellektuelle Strahlkraft eingebüßt, die unkritische Verdammung ebenso wie die unreflektierte Verehrung.[7] Darzustellen sind die strukturellen Grundlagen, die historisch wandelbaren Umstände, samt der konkreten Wege und Instrumente. Gleichzeitig mit Lehre und Dogma, Philosophie und Kultur muss es um die Folgen der realen Verflechtung oder „Verstrickung“ von christlicher Religion und Kirchen in die Welt gehen – im Guten wie im Bösen, im Heiligen wie im Unheiligen. „Kulturelle Prägung von solchen Dimensionen“ wie das Wirken des Christentums auf die Welt kann „nie bloß gut oder böse gewesen sein, sie ist stets ambivalent.“[8] In der Regel ist bereits das Handeln der Christen in der Welt ambivalent, denn nur sehr selten sind Heilige am Werk, schon gar nicht in den Kirchenhierarchien. Die folgende Darstellung geht daher davon aus, dass Religion, jedenfalls die christliche, nie von der Welt abgehoben existiert oder sich gar ohne Welt realisieren kann. Das gilt selbst für die große christliche Tradition mystischer Selbstversenkung. Auch sie war immer auch Reaktion auf konkrete Welt-Umstände. Zudem wurde das Wirken von Heiligen in der Begegnung mit der Realität gar zu oft pervertiert.

Dieses Verflochten- oder Verstricktsein mit der und in die Welt gilt in besonderem Maße für das westliche oder besser gesagt „lateinische“ Christentum, mit dem wir uns im Folgenden beschäftigen. Denn dort war die Kirche durch den Erfolg der gefälschten Konstantinischen Schenkung selbst über Jahrhunderte hin „Staat“ und handelte politisch in der Welt – mit Fürsorge für die eigenen Bürger beziehungsweise Untertanen, wie es damals hieß, aber durch Kontrolle und Gewalt Gehorsam erzwingend, nicht anders als die übrigen Staaten des Zeitalters. Und sie handelte – das wird uns ausführlich beschäftigen – auch nach außen als Akteur im internationalen System, um sich mit der Spitze des Schwertes einen Platz in der europäischen Staatengesellschaft zu sichern. Papst Julius II. ist hier das markanteste, aber bei weitem nicht das einzige Beispiel. Die Reformatoren, allen voran der Wittenberger Augustinermönch Luther, haben das zwar verurteilt und von den Päpsten den Verzicht auf Staatlichkeit und andere Formen weltlicher Herrschaft verlangt. Sie selbst gingen aber in neuen Formen Allianzen mit dem Staat ein – Luther mit den Fürsten und den Territorial- oder Nationalstaaten; Zwingli und Calvin vornehmlich mit den Stadtrepubliken. Weder das eine noch das andere bedeutet den Rückzug der Christen aus der Politik. Im Gegenteil, evangelischer Glaube sollte gerade in der Welt gelebt werden und sich dort alltäglich gestaltend bewähren.

Die Welt, die dieses Buch zu erschließen sich bemüht, ist nicht mehr die unsere und soll es auch nicht sein. Gleichwohl trug sie entscheidend zur gegenwärtigen Existenz und dem zukünftigen Entwicklungspotential Europas und der vom Christentum geprägten weiteren Welt bei. Die „alteuropäische“ Geschichte des lateinischen Christentums ist nicht antiquarisch, sondern gegenwärtig und zukunftsrelevant. Das gilt vor allem für die religiöse, kulturelle und politische Differenziertheit, die sich im christlich-lateinischen Europa über die Jahrhunderte hin herausgebildet hat. Nicht Einheitlichkeit, sondern Vielfalt, auch und gerade der religiösen Ausrichtung, ist die einzig tragfähige Grundlage des Zusammenlebens in einer Welt, die immer näher zusammenrückt, an kultureller, vor allem religiöser Verschiedenheit aber nicht ab-, sondern zunimmt.

Es macht das zukunftsrelevante Exemplarische an der Geschichte des lateinisch-christlichen Europa aus, dass es über Jahrhunderte hin um diese Differenziertheit und die daraus resultierende Pluralität gerungen, ja gewaltsam gekämpft hat. Häufig war die Feindschaft so bitter, unversöhnlich und menschenverachtend, dass ein gemeinsamer Weg zu Frieden und Versöhnung unmöglich erschien – ganz so wie heute ein dauerhafter, von allen gesellschaftlichen Gruppen getragener Ausgleich zwischen Christen und Muslimen unmöglich erscheinen mag. Und doch ist es in Europa gelungen, diese Phase tiefer Feindschaft, die immer wieder ins Chaos der Selbstzerstörung zu führen drohte, zu überwinden – nicht gegen das Christentum, sondern mit seiner Hilfe.

Auf der Grundlage der antiken und mittelalterlichen „Vorgeschichte“ stehen die Jahrhunderte des Aufbruchs und der inneren Konflikte, der geistig-theologischen wie der realpolitisch-militärischen, im Zentrum des vorliegenden Buches – die Reformen und Neuerungen im Zeitalter von Renaissance und Reformation; der daraus resultierende Aufbruch in die Neuzeit in den Wirren der konfessionellen Formierung und Differenzierung mit der selbstzerfleischenden Gewalt der inneren und äußeren Glaubenskriege; schließlich die Wende zu Frieden und Akzeptanz religiöser Differenz und Andersartigkeit, die in den fundamentalen Systemwandel der Aufklärung hinleitet.

Gerade in dieser aufgewühlten Übergangszeit muss die Geschichte des Christentums beides beinhalten – Ausdeutung der Christuslehre in der jeweiligen intellektuellen, philosophischen und kulturellen Zeitkonstellation und Darstellung der realen politischen, sozialen und ökonomischen Interessen der sie vertretenden Menschen und sozialen Gruppen. Es geht weder um Anklage noch um Apologetik, sondern um ein sachgerechtes historisches Verstehen, das die zeitgenössischen Umstände berücksichtigt. Anstelle des reflexartigen Urteilens oder Verurteilens, das nicht selten die öffentliche Diskussion über Geschichte bestimmt, sollen die komplexen, häufig gegenläufigen oder gar widersprüchlichen Motive oder Tendenzen betrachtet und beschrieben werden, um zu einem reflektierten Urteil zu gelangen, einem Urteil allerdings, das mit der Vergangenheit stets auch die Gegenwart und die Zukunft in den Blick rückt. Anwalt, nicht Ankläger der Vergangenheit wollen wir sein.

Die Perspektive ist nicht die eines Theologen oder Kirchenhistorikers, sondern eines Allgemeinhistorikers, der bei allem Bemühen um ein adäquates Verständnis der innerreligiösen und innerkirchlichen Vorgänge das Ganze der historischen Kräfte ins Auge fassen will. Von einer Verwirklichung des christlichen Gottes in der Menschheitsgeschichte oder gar von seinem direkten Eingreifen in den Geschichtsprozess kann er nicht ausgehen.[9] Darstellung und Urteil muss er auf rational erfassbare, in den Quellen greifbare, zumindest aus ihnen heraus plausibilisierbare Wirkkräfte und Handlungsmotive gründen. Umgekehrt darf er die Denk- und Handlungsrealitäten der Zeit nicht außer Acht lassen, gerade wenn sie im Gegensatz zu unserer säkularen Weltsicht stehen und den gegenwärtigen Forderungen der Political Correctness widersprechen.

Wie die anderen Weltreligionen, so hatte auch das lateinische Christentum Kernzeiten, in denen die Einwirkung auf beziehungsweise die Verbindung mit der Welt besonders eng und folgenreich waren. Eine solche Kernzeit waren die Jahrhunderte des ausgehenden Mittelalters und der Frühen Neuzeit, also die Epoche zwischen 1400/1450 und 1700/1750. In enger Verschränkung mit der Renaissance traten ausgangs des Mittelalters und in der Reformationszeit religiöse und kirchliche Strukturen und Funktionen in den Vordergrund, und zwar in den einzelnen europäischen Ländern in zeitlich unterschiedlichen Rhythmen. Zugleich wurde auch wieder die Verknüpfung mit politischen und gesellschaftlichen Prozessen enger. Vor allem in der „Konfessionalisierung“, die alle europäischen Gesellschaften in der zweiten Hälfte des 16. und im frühen 17. Jahrhundert erfasste, flossen religiös-kirchlicher und politisch-gesellschaftlicher Wandel zu einem gewaltigen Prozess der Erneuerung zusammen und verhalfen in Kirche und Religion ebenso wie in Politik, Gesellschaft und Kultur endgültig den neuzeitlichen frühmodernen Formen und Funktionen zum Durchbruch.

Das waren die entscheidenden Anstöße und Umbrüche, aus denen unsere Gegenwart hervorging. Wie in politischer, gesellschaftlicher und kultureller, so auch in kirchlicher und religiöser Hinsicht. Erst nach Durchgang durch die geistigen wie physischen Kämpfe dieser Zeit lösten sich die religiöse und die weltliche Sphäre voneinander. Und bei dieser Trennung sollte es im lateinischen oder „westlichen“ Europa fortan im Prinzip auch bleiben. Diese Jahrhunderte, die man einerseits „temps des Réformes“ (Pierre Chaunu), andererseits „Musterbuch der Moderne“ (Winfried Schulze) oder „Vorsattelzeit der Moderne“ (Heinz Schilling) genannt hat, müssen daher im Zentrum stehen, will man sich Rechenschaft über den Beitrag des Christentums an der Hervorbringung und den Funktionsweisen der modernen Welt verschaffen. Das ist zugleich die angemessene Ortsbestimmung für Möglichkeit und Grenzen christlichen Wirkens in der Gegenwart, innerkirchlich und innerreligiös wie nach außen gegenüber Staat und Gesellschaft.

Zu beschäftigen haben wir uns mit den im späten Mittelalter einsetzenden europäischen Reformationen; mit der von diesen ausgelösten Konfessionalisierung, die dem Kontinent eine mächtige Dynamisierung und Formierung, aber auch einen tiefgreifenden Schub der Differenzierung brachte und Wege zur Freiheit eröffnete; schließlich mit den Wegen und dem Instrumentarium, durch die es dem Christentum gelang, die fundamentalistische Feindschaft zu überwinden und einen Modus der Konvivialität zwischen den religiösen Weltanschauungssystemen zu finden. Religion und Kirche waren zutiefst in das Ringen um eine neue, neuzeitliche Ordnung Europas verstrickt – in den politischen und militärischen Kampf um die geistig-religiöse und die politische Vormacht in Europa ebenso wie in den Streit um den Weg zu einem gesicherten gesellschaftlichen und politischen Frieden ungeachtet der fortbestehenden Differenzen in der religiösen und weltanschaulichen Wahrheitsfrage, die zu einem Signum der europäischen Neuzeit geworden waren.

Das schier unendliche Geschehen zwischen Christentum und Welt, zwischen Kirche, Gesellschaft und Staat wird in mehreren Schritten konkret und erzählend vor Augen gestellt: Teil A skizziert in einem Längsschnitt die Hauptentwicklungslinien des lateinischen Christentums von der Spätantike über frühes und hohes Mittelalter bis hin zum Eintritt in die Konflikte um die geistige und politische Gestaltung des neuzeitlichen Europa. Das ist keine detaillierte Geschichte der antiken und mittelalterlichen Strukturen und Ereignisse, sondern dient der vorbereitenden Klärung der geistigen und institutionellen Voraussetzungen der im 14. und 15. Jahrhundert aufbrechenden Dynamik des Wandels. Es folgt im Teil B eine nähere Betrachtung von Renaissance und Reformationen als Zusammenschau zweier Epochen, die in der Regel getrennt, nicht selten sogar als gegensätzlich dargestellt werden. Daran schließt die Epoche der Konfessionalisierung an (Teil C), die in Abgrenzung zu der älteren traditionellen Sicht nicht als fader, hinter den Aufbruch von Renaissance und Reformation zurückfallender Zwischenakt begriffen wird, sondern als umstürzende erste Sattelzeit der Moderne, auf die dann deren endgültiger Durchbruch in Aufklärung und Revolutionszeit folgte. Der vierte Teil (D) verfolgt in den Erfahrungsfeldern christlichen Lebens einzelne Schneisen des Wandels. Angesiedelt „in der abenteuerlichen Zwischenzone, die vom konkreten Detail auf allgemeine Einsichten verweist“,[10] berichten diese Einzelstudien teils von Zwang und Gewalt, teils von kultureller Vielfalt und Sehnsucht nach Frieden und Einheit – von dem christlichen Fundamentalismus und dem von ihm erzeugten Zivilisationsbruch der inneren wie äußeren Konfessions- und Staatenkriege; den gewaltigen transkontinentalen Migrations- und Flüchtlingswellen als Folge gewaltsamer religiöser Vereinheitlichung europäischer Staaten und Gesellschaften; der kulturellen Repräsentation des konfessionell getrennten Christentums und der irenischen Sehnsucht nach europäischer Gemeinsamkeit in darstellender Kunst und Literatur; schließlich von dem Anachronismus der Päpste, die bis in die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts im Innern wie nach außen als souveräne Herrscher und Politiker auftraten. Abschließend fasst der Epilog die Prägung der Frühen Neuzeit durch das lateinische Christentum zusammen und fragt nach der Perspektive christlicher Weltgestaltung in der weitgehend entkirchlichten Gegenwart und Zukunft.

„Gott liebt die Monopole nicht“, konstatierte der Berner Theologe und Dichter Kurt Marti (1921–2017) in einem Interview.[11] Kirchenfürsten und leitende Theologen haben sich über die Jahrhunderte hin dieser Einsicht widersetzt. Doch das Christentum war von Anfang an durch Vielgestaltigkeit gekennzeichnet. Im 16. Jahrhundert wurden Differenzierung und Pluralität dann offensichtlich und unumkehrbar – zwischen den Konfessionen und Denominationen, aber auch innerkonfessionell, jedenfalls bei Lutheranern und Calvinisten.[12] Mit den globalen Migrationsbewegungen wächst diese Maxime über das Christentum hinaus, und die christlichen Kirchen werden sich endgültig daran zu gewöhnen haben, dass die Zeiten vorbei sind, in denen sie ein religiöses Monopol beanspruchen oder auch nur erträumen konnten.

A. Das Erbe der Vormoderne[1]

1. Der lateinisch-christliche Zivilisationstypus

Die Geschichte der Christenheit war stets mehr als die innere Geschichte der Kirche oder die Geschichte der christlichen Theologie und Spiritualität. Das Christentum war von Anfang an auf Weltlichkeit, also auf Wirken in und auf die Welt angelegt. Als es Anfang des 4. Jahrhunderts in der sogenannten Konstantinischen Wende eine Symbiose mit dem römischen Staat und der römischen Gesellschaft einging, begann eine Beziehungsgeschichte zwischen christlicher Religion und Gesellschaft, zwischen Kirche bzw. Kirchen und politischer Ordnung, die rund anderthalb Jahrtausende Europa prägen sollte. In den verschiedenen europäischen Ländern lief sie erst Anfang des 20. Jahrhunderts aus. In Deutschland endete das Konstantinische Zeitalter mit der Weimarer Verfassung und ihrer lapidaren Feststellung: „Es besteht keine Staatskirche“, beziehungsweise mit dem Übergang der einzelnen Landeskirchen unter landesherrlichem Kirchenregiment zu „Kirchen ohne Könige“.[2]

Die Welthaftigkeit und Weltoffenheit des Christentums waren ein Erbe, das weit in die vorchristliche Zeit zurückreicht. Jüdische und antike, vor allem römische Traditionen waren von Anfang an in die neuen religiösen, organisatorischen und ethisch-moralischen Prinzipien des Christentums eingegangen. Beigemischt wurden diesem Amalgam schließlich auch moralische und soziale Vorstellungen der germanischen Wandervölker, die im Zuge der Völkerwanderung in die römische Welt eindrangen und sich ganz überwiegend dem römisch-lateinischen Christentum anschlossen. Im europäischen Zivilisationstypus wirkten religiöse und profane Kräfte in einer besonderen Art und Weise zusammen. Es lässt sich von einem „religionssoziologischen Profil Alt-Europas“[3] sprechen, in dem anders als in der modernen Welt des 19. und 20. Jahrhunderts Religion und Gesellschaft beziehungsweise kirchliche und weltliche Ordnung nicht getrennte Bereiche ausmachten, sondern institutionell wie geistig-kulturell miteinander verschränkt waren.

Wie es Thomas Mann für das Alte Ägypten konstatiert, so wirkten auch in Alteuropa religiöse und weltlich-profane Institutionen und Kräfte über die Jahrhunderte hin zusammen – bis am Ende des 18. Jahrhunderts im Zuge der Aufklärung ein grundsätzlicher Systemwandel beide Bereiche auseinanderzwang. Davor, in Spätantike, Mittelalter und Früher Neuzeit, waren die Bereiche strukturell verklammert. Sakrales und Säkulares waren aufeinander bezogen, allerdings ohne dass sie eine ununterscheidbare Einheit eingegangen wären. Das religionssoziologische Muster Alteuropas basierte weder auf einer prinzipiellen Trennung noch auf einer Verschmelzung der weltlichen und religiösen Dinge. Das war kein Monismus, sondern ein Dualismus, in dem Religiöses und Säkulares, Kirchliches und Politisches schon aufgrund der römisch-rechtlichen Satzungen eng miteinander verzahnt waren, aber jeder dieser Bereiche oder Ordnungen Selbständigkeit behielt. Diese dualistische Struktur der Staats-Kirchen-Beziehungen unterscheidet das Alte Europa grundlegend von den monistischen oder gar fundamentalistischen Gesellschaften anderer Weltreligionen, die eine solche Selbständigkeit und Unterscheidbarkeit nicht kennen – mit allen kulturellen, mentalitätsgeschichtlichen, sozialen und politischen Konsequenzen, die den Europäern heute in der Begegnung mit dem islamischen Fundamentalismus fremd und gefährlich erscheinen.

Genauer gesagt gilt der religionssoziologische Dualismus nur für die „westliche“ oder besser „lateinische Christenheit“[4], während die griechisch-orthodoxen Länder schon seit dem hohen Mittelalter eigene Wege gegangen waren in dogmatischer Hinsicht, aber vor allem bei den Grundprinzipien der religiös-weltlichen und kirchlich-staatlichen Beziehungsgeschichte. Es waren nicht zuletzt diese religiösen und religionssoziologischen Unterschiede, die seit dem späten Mittelalter die Grenze zwischen dem griechisch-byzantinischen, immer stärker dann von Russland geprägten Osten und dem römisch-lateinischen Westen Europas weiter verfestigen und beide Zivilisationen des Kontinents unterschiedliche Wege in die neue Zeit gehen ließen.

Erst die Spannung zwischen Geistlichem und Weltlichem und die daraus resultierende gesellschaftliche und kulturelle Dynamik ermöglichten überhaupt jenen fundamentalen Wandel in nahezu allen Lebensbereichen, der sich im späten Mittealter anbahnte und dann im 16. Jahrhundert im Zuge von Reformation und Konfessionalisierung zum Durchbruch kam. Denn nur die dualistische Grundstruktur von Religiösem und Weltlichem garantiert beiden Seiten selbständiges Handeln sowie Balance und gegenseitige Kontrolle. Nur so ließen sich weltliche und geistliche Gewalt, die jede für sich gar zu gern Absolutheit beanspruchten, gegeneinander austarieren. Erst die daraus resultierende Relativierung des Hoheitsanspruchs sowohl der Kirchen wie des Staates ermöglichte den Durchbruch der Freiheitsrechte des Individuums, die bis heute den lateinisch-christlich geprägten „Westen“ charakterisiert und vor anderen Weltzivilisationen auszeichnet. Nur auf dieser Basis eröffnete sich der Weg in die Autonomie – in die Autonomie des Politischen, aber auch des Religiösen, das zur Sache des Einzelnen wurde, unabhängig von Staat und Gesellschaft.

Europa ist nicht nur das Ergebnis demographischer, ökonomischer, politischer oder staatlicher Wandlungen. Sein Kern wurde auch und vor allem von geistigen und kulturellen Prozessen geformt, die über nahezu zwei Jahrtausende hin ein Zentrum in der Religion besaßen. Das gilt auch für die Renaissance, in der sich eine säkulare Sicht auf die Welt anbahnte. Wer das als „Eindämmung der Religion“ begreifen will, muss gleich ergänzen, dass „das Christentum an sich nicht wissenschafts- oder fortschrittsfeindlich [war und] religiöse Institutionen überragende Bedeutung für die Bewahrung und Mehrung von Wissen“ hatten.[5] Erst mit der Aufklärung gewann die Säkularisation die Oberhand. In zentralen Teilen war aber auch sie eine rebellierende Tochter des Christentums.

Europa besaß stets eine bedeutende jüdische Diaspora, und auch der Islam beeinflusste es am Rande.[6] Zudem blieb die christliche Volksreligiosität stets mit vielfältigen Spuren paganen Glaubens durchsetzt, vor allem der Magie. Tonangebend war aber bis in die Moderne hinein das Christentum. Und so muss jede Geschichte Europas den Kirchen und christlichen Konfessionen gebührend Aufmerksamkeit schenken, und zwar auch den Schattenseiten – den Rivalitäten, Bruderkämpfen und Konfessionskonflikten ebenso wie den Kreuzzügen und Repressionen gegen Juden, Muslime, „Häretiker“, Freigeister und andere Formen des inner- oder außerchristlichen Dissenses.

Das Christentum hat entscheidend dazu beigetragen, dass die europäische Zivilisation jene Dynamik und jenen sozialen Wandel freisetzen konnte, die heute längst den gesamten Globus erfasst haben. Diese Fähigkeit des Wandels bis hin zur grundsätzlichen Modernisierung, die sich ausgangs des 18. Jahrhunderts in der Aufklärung und den beiden atlantischen Revolutionen, der Amerikanischen und der Französischen, Bahn brach, bildete Europa nicht im grundsätzlichen Widerspruch zum Christentum aus. Diesen Anschein erweckt nur der eingangs bereits erwähnte Antimodernismus eines Pius IX. (1846–1878)[7] mit seinem antiliberalen Syllabus. Auf dem Höhepunkt des Kulturkampfes im 19. Jahrhundert war das ein Ausdruck politischer Taktik und Parteilichkeit, nicht aber des intellektuellen und theologischen Kerns des Christentums. Noch als Neuzeit und Moderne sich vom Christentum lösten oder ihm gar feindlich gegenübertraten, war das zu einem guten Teil in der Religions- und Kirchenverfassung Alteuropas angelegt. Die weltanschauliche Pluralität und die multikulturelle Vision, mit denen der Kontinent in das dritte Jahrtausend seiner Zeitrechnung eintritt, sind nicht so weit von den geistigen und religiösen Ursprüngen Europas entfernt, wie es bisweilen den Anschein haben mag.

Der erwähnte eigenständige Weg, den die östlichen Länder Europas einschlugen, hatte sich bereits im hohen Mittelalter angebahnt, als die griechisch-byzantinisch-orthodoxe Ausprägung des Christentums immer selbstbewusster gegen den Alleinvertretungsanspruch Roms auftrat. Es kam zu dogmatischen und kirchenpolitischen Reibungen, die in gegenseitigen Bannsprüchen gipfelten. Mitte des 9. Jahrhunderts brach anlässlich der Berufung des vornehmen Laien Photius zum Patriarchen von Konstantinopel ein erbitterter Disput über die Rolle von Laienpriestern in der Kirche aus. Nur das von Kaiser Basilius I. (867–886) eiligst einberufene und klug dirigierte 4. Konzil von Konstantinopel (das 8. ökumenische Konzil) vermochte den sich abzeichnenden Bruch noch einmal zu kitten. Längst war jedem Theologen und Politiker klar, dass östliche und westliche Kirchen nicht nur über Fragen des Vorranges – Rom und der Papst oder Konstantinopel und der Patriarch – stritten, sondern auch unterschiedliche, teilweise entgegengesetzte Lehrpositionen vertraten. So in der Frage der Priesterehe, des Verhältnisses von Taufe und Firmung oder des Fastengebotes. Weitere zwei Jahrhunderte Lehrstreitigkeiten und Machtkonkurrenz vor allem in der slawischen Zwischenzone ließen dann Mitte des 11. Jahrhunderts den Bruch endgültig zutage treten: Am 16. Juli 1054 legte Kardinal Humbert von Silva Candida als Gesandter Papst Leos IX. während eines Gottesdienstes auf dem Altar der Hagia Sophia, der altehrwürdigen Patriarchskirche von Byzanz, für jeden sichtbar eine Bannbulle gegen den orthodoxen Patriarchen Michael Kerullarios nieder, und im Gegenzug brachte dieser die Exkommunikation der Lateiner durch die orthodoxe Kirche und Byzanz zustande. Für die Zeitgenossen kaum bewusst, war damit jenes Schisma, also die Trennung der orthodox-griechischen von der westlich-lateinischen Kirche, vollzogen, das bis heute fortbesteht.

Theologisch kirchliche Unterschiede wie bei der Stellung des Mönchtums oder in der Trinitätslehre – ob der Heilige Geist ex Pater Filioque, also nach und durch den Vater und den Sohn oder wie diese autochthon entstanden ist – machten nur die eine Seite der Gegensätze aus. Grundverschieden war auch und vor allem die Art und Weise, wie Religion und Welt beziehungsweise Kirche und Staat zusammenwirkten. Die Ostkirchen haben nie den Grad an Selbstbestimmung erreicht, wie das der lateinische Dualismus im Westen ermöglichte. Zudem waren auch die weltlich-politischen Strukturen im Osten ganz andere als im Westen. Vor allem fehlte dort die prägende Rolle des römischen Rechts. Dörfer und Städte blieben abhängig von Adel und Staatsgewalt, während sie sich im lateinischen Bereich zu semi-autonomen Genossenschaften und Gemeinden mit Partizipationsrechten entwickeln konnten. Durch diese unterschiedlichen Rahmenbedingungen wurden die Gegensätze zwischen dem griechisch-byzantinischen, bald immer stärker von Russland und dem autokratischen Zarentum bestimmten Osten und dem römisch-lateinischen Westen immer stärker und für die jeweilige Gesellschaft prägend. Gerade in religionssoziologischer Perspektive, also hinsichtlich der Wirkung von Religion und Kirche in der Welt – in Politik, Gesellschaft, selbst in der Wirtschaft – sind daher in Europa zwei unterschiedliche, in zentralen Strukturen gegensätzliche Zivilisationstypen zu unterscheiden. Ihre Geschichte einschließlich der Folgen für die weltliche Entwicklung im lateinisch-westlichen beziehungsweise im griechisch-östlichen Europa durch die Jahrhunderte hin zu verfolgen, wäre außerordentlich reizvoll, verlangt aber ein eigenes Buch.

2. Historische Weichenstellungen

Eingetreten ist das Christentum in die Geschichte Europas als eine verfolgte, im Erleiden von Gewalt und Tod wachsende Minderheit.

Das ist eine heute nur noch wenig präsente Tatsache, die aber für das christliche Selbstverständnis in der Gegenwart durchaus von Belang sein könnte. Erst im 4. Jahrhundert änderte sich das grundlegend. Indem die Christen Mitträger des römischen Staates und der römischen Gesellschaft wurden, waren sie nicht mehr ausschließlich leidende Objekte staatlicher Zwangsmaßnahmen. Sie wurden Schritt für Schritt zu politisch und gesellschaftlich Handelnden, beteiligten sich damit aber auch zwangsläufig an Unrecht und Gewalt.

Voraussetzung hierfür waren vor allem zwei in der Sicht moderner Historiker kontingente, also mehr oder weniger „zufällige“ Entscheidungen, in denen die christliche Heilsgeschichte des Mittelalters aber ein direktes Eingreifen Gottes sah. Zum einen die sogenannte Konstantinische Wende zu Anfang, ergänzt um das Dreikaiseredikt Cunctos populos zu Ende des 4. Jahrhunderts und zum andern der Übertritt der Franken zum römischen Christentum ein Jahrhundert später. In beiden Fällen war das realgeschichtliche Ereignis engstens mit der heilsgeschichtlichen Deutung verquickt und ist entsprechend historisch einzuordnen.

„Alexamenos huldigt seinem Gott“ (griechische Umschrift). Verspottung der christlichen Minderheit auf einem römischen Graffito aus dem frühen 2. Jahrhundert. Dargestellt ist der Opfertod Christi als Kreuzigung eines Esels, angebetet durch einen Christen.

Überleben im Untergrund. In Rom, dem Zentrum der feindlichen heidnischen Welt, mussten sich die frühen Christen mit Geheimzeichen verständigen.

Als Konstantin am 28. Oktober 312 bei der Milvischen Tiberbrücke gleich nördlich der Stadt einen ebenso triumphalen wie überraschenden Sieg über seinen Mitkaiser Maxentius errang und in dessen Folge die eben noch unter Kaiser Diokletian (284–305) wütenden Christenverfolgungen ein Ende nahmen, deutete das die christliche Geschichtsschreibung sogleich als Folge eines Bündnisses zwischen Konstantin und dem Christengott: Dem Kaiser sei – so der Kirchenvater Laktanz – Christus im Traum erschienen und habe ihm befohlen, seinen Soldaten das Christussymbol zum Feldzeichen zu geben.

An der Milvischen Tiberbrücke, dem Zugang ins antike Rom von Norden her, fiel die militärische Entscheidung zugunsten Kaiser Konstantins. Das war zugleich die Weichenstellung für die jahrhundertelange Prägung des lateinischen Europas durch das römische Christentum.

In einer abweichenden, unter anderem auf Eusebius, den Bischof von Caesarea, zurückgehenden Version erschien dem Kaiser an der Spitze seines Heeres am helllichten Tage am Himmel ein Flammenkreuz, und mit dem bald berühmten Satz „in hoc signo vinces“, „in diesem Zeichen wirst Du siegen“, sei ihm der Sieg über seinen Widersacher verkündet worden.

Der historische Zusammenhang war natürlich komplexer. Konstantin, der im nordalpinen Reichsteil herrschte, hatte bereits in Gallien Kontakt zu christlichen Bischöfen aufgenommen und seine persönlichen Gottesvorstellungen waren noch lange nach der Schlacht an der Milvischen Brücke synkretistisch – teils auf den römischen Sonnengott, teils auf Christus bezogen.[8] Nicht anders verhält es sich mit der Deutung des Traumes beziehungsweise der Himmelserscheinung. Darin kam einerseits die – wohl in Konstantins guten Erfahrungen in Gallien wurzelnde – Bereitschaft, dem neuen christlichen Glauben zu trauen, zum Ausdruck. Zum anderen entsprach das der tief im antiken Götterglauben verwurzelten Übung, bei großen Entscheidungen ein omen, also ein Vorzeichen zur Haltung der Götter einzuholen.

Ungeachtet solcher Unentschiedenheit oder Balancesituation zwischen altem und neuem Glauben vollzog sich in den folgenden Jahren staats- und kirchenpolitisch Schritt für Schritt das, was die Kirchengeschichte zu Recht als „Konstantinische Wende“ markiert: Ein Meilenstein war das zwischen Konstantin und seinem Mitregenten Licinius in Mailand ausgehandelte und am 13. Juni 313 in der kaiserlichen Residenz von Nikomedia, dem heutigen Izmir in Anatolien, veröffentlichte Edikt von Mailand, das formell die Zeit der Christenverfolgung beendete. Die Christen erhielten im Römischen Reich nicht nur Toleranz und Glaubensfreiheit, sondern auch Bürgerrecht und Restitution aller konfiszierten Güter.

Foto eines Halos aus dem Jahr 2005. Wahrscheinlich war es eine ähnliche kosmische Himmelserscheinung, die im Frühjahr 321 Kaiser Konstantin vor der Schlacht an der Milvischen Brücke wahrnahm.

Da der skrupellose, selbst vor Morden nicht zurückschreckende Machtpolitiker Konstantin zu dem Ergebnis gekommen war, dass die Christen die beste Stütze für seine erstrebte Alleinherrschaft und ein in Ruhe und Ordnung geeintes Reich waren, machte er das Christentum kurzerhand zur Staatsreligion – der Sonntag wurde Staatsfeiertag; der Klerus erhielt weitreichende Privilegien, vor allem Befreiung von öffentlichen Abgaben und Pflichten; das Geistliche Gericht der Bischöfe trat als vollgültige Instanz neben die weltlichen Gerichte; die Kreuzesstrafe wurde abgeschafft und das Kreuz wandelte sich vom gefürchteten Instrument der Strafgerichtsbarkeit zum christlichen Symbol der Versöhnung zwischen Gott und den Menschen.

Damit waren für anderthalb Jahrtausende die Grundlagen für die christliche Prägung und Dominanz der europäischen Zivilisation gelegt. In der weltgeschichtlichen Verbindung von spirituellem Missionsauftrag des Religionsstifters und realer Indienstnahme durch den Staat für gesellschaftliche Integration, Disziplinierung und Erziehung wurde der Kontinent christianisiert. Noch im 19. Jahrhundert konnte die Romantik in Reaktion auf den antichristlichen Fundamentalumbruch der Französischen Revolution die Einheit von Kontinent und christlicher Religion postulieren – „Europa oder die Christenheit“, so die berühmte Programmschrift des jungen Novalis aus dem Jahr 1799.[9]

Der römische Staat seinerseits garantierte dem Christentum rechtliche, institutionelle und nicht zuletzt dogmatische Einheitlichkeit, und zwar in langfristiger Perspektive. Die universalistische Reichweite des Staatsschutzes endete zwar mit der Reformation (konkret im Jahre 1555), auf nationaler oder – wie in Deutschland und der Schweiz – territorialer oder lokaler Ebene bestand sie aber bis ins 18., gar frühe 20. Jahrhundert fort.[10] Selbst die Kanonisierung der Bibel war ein Produkt staatlich politischer Interessen: Die erste christliche Vollbibel, wie wir sie heute kennen, gibt es seit dem 4. Jahrhundert. Nachdem das Christentum zur Staatsreligion aufgestiegen war, waren die „römischen Kaiser daran interessiert, die maßgeblichen Schriften des Christentums“ zu kanonisieren, um die einheitliche Lehrgrundlage der neuen Staatsreligion zu fixieren.[11]

Eine einmalige Quelle zur Frühzeit der jüdischen Diaspora in Deutschland und Europa: Erlass Kaiser Konstantins vom 11. Dezember 321 an den Rat der rheinischen Bischofsstadt Köln, der die Beteiligung der Juden an der städtischen Regierung und Verwaltung verfügt.

In unmittelbarem Zusammenhang mit der Konstantinischen Wende erfolgte eine weitere Grundsatzentscheidung, die nicht anders als die Erhebung des Christentums zur Staatsreligion die Geschichte Europas, schließlich auch der Welt über die Jahrhunderte hin bis heute mitprägte, in der Christentumsgeschichte aber selten die gebührende Beachtung findet: Mit der politischen Entscheidung, das Christentum als gesellschaftlich-staatlich einigendes und stabilisierendes Glaubensband zu nutzen, war dem heidnischen Polytheismus die Existenzgrundlage entzogen. Gleiches galt aber nicht für das Judentum, das seit der Vernichtung seines Staates im Jüdischen Krieg 66 bis 74 n. Chr. in einer zahlenmäßig kleinen, aber vitalen Diaspora in Rom und seinen europäischen Provinzen präsent war und dort den Status einer religo licita einnahm, einer erlaubten und geduldeten Religion also. Dieser Status wurde mit der Privilegierung des Christentums nicht beseitigt, sondern von Konstantin, der womöglich aus seiner frühen Kenntnis der Provinz Niedergermanien die Wirtschaftskraft jüdischer Diasporagemeinden zu schätzen wusste, befestigt und ausgebaut: So legte er in einem kaiserlichen Erlass für die Stadt Köln am 11. Dezember 321, also wenige Jahre nach dem Edikt von Mailand zugunsten des Christentums, fest, dass die Männer der dortigen kleinen Judensiedlung sich am Rat zu beteiligen und damit politische, fiskalische und wirtschaftliche Mitverantwortung für die dominant christliche Stadt zu übernehmen hätten. Das war gleichermaßen Privileg wie Verpflichtung auf das christliche wie jüdische Gemeine Beste zur Stabilisierung des römischen Staates.

Mit dieser kaiserlichen Entscheidung, die auch für andere Teile des Römischen Reiches galt, war die Grundlage für ein spannungs- und konfliktreiches christlich-jüdisches Zusammenleben gelegt, das von gegenseitiger[12] Ablehnung und unverhohlenem Argwohn, in bestimmten Perioden und Regionen, voran im hohen Mittelalter auf der Iberischen Halbinsel, aber auch von geglückter Zusammenarbeit zugunsten einer allgemeinen Blüte in Handel, Kultur und Wissenschaft charakterisiert war. Seit dem hohen Mittelalter herrschten dann periodisch ausbrechende Gewaltexzesse der Christen gegen die Juden vor, gipfelnd im 20. Jahrhundert in den Völkermordverbrechen des deutschen Nationalsozialismus auf der Basis des modernen, im 19. Jahrhundert entstandenen rassistischen Antisemitismus. Angetrieben, ja überhaupt erst ermöglicht wurden diese Jahrhunderte überspannenden Gewalt- und Mordexzesse durch die von Kaiser Konstantin zeitlich und sachlich parallel zur Befestigung des religio-licita-Status der Juden verfügte Erhebung des Christentums zur Staatsreligion, kraft derer religiös-theologische Positionen unmittelbare politische und juridische Konsequenzen hatten beziehungsweise – so später im nationalsozialistischen Deutschland – möglicher christlich-religiöser Widerstand gegen antisemitische Gewalt durch die traditionelle Staatsverbundenheit, insbesondere des Luthertums, blockiert oder doch behindert wurde.

Kehren wir zur spätantiken Geschichte zurück, so ist bereits wenige Jahre nach der staatlich-gesellschaftlichen Anerkennung eine tiefe dogmatische Spaltung der Christenheit zu vermelden, die die eben hergestellte religiös-ideologische Einheit des römischen Staates wieder in Gefahr brachte. Auslöser war die zunächst in Alexandria vertretene antitrinitarische Lehre des Presbyters Arius (260–327). Nach ihr war Gottvater „als Grund allen Seins absolut allein ursprunglos“ und Jesus konnte logisch betrachtet nicht sein Sohn sein. Der Arianismus verbreitete sich in Windeseile über den gesamten Osten und eine erbitterte Kontroverse brach aus, die Kirche und Staat zu zerreißen drohte. Denn für die Mehrheit der christlichen Theologen stand unverrückbar fest, dass es zwar nur einen Gott gibt, dieser sich aber in den drei Gestalten Gottvater, Gott Sohn und Gott Heiliger Geist realisiert. Diese Trinitäts- oder Ariener Kontroverse bedrohte direkt die staatlich-politische Stabilität des Reiches und ließ den besorgten Kaiser Konstantin schnell und entschieden handeln: Er berief 325 ein Reichskonzil nach Nizäa nahe der Hauptstadt Konstantinopel ein, dessen bis heute für Katholiken, Protestanten und Orthodoxe gleichermaßen gültige Beschlüsse den Arianismus verurteilten und das Trinitätsdogma zur einzig rechtmäßigen Lehre erklärten.

Da die nun widerrechtliche bzw. häretische Lehre jedoch weiterhin zahlreiche Anhänger besaß und damit die dogmatische Basis der Staatsreligion brüchig blieb, schritten die Nachfolger Konstantins ein halbes Jahrhundert später erneut ein: 380 erließen Theodosius der Große und seine Mitkaiser Gratian und Valentinian das Dreikaiseredikt Cunctos populos, das aus staatlicher Autorität nochmals den dogmatischen Einheitszwang des Trinitätsdogmas von Nizäa verfügte, wie es der Pontifex von Rom Damasus I. und der Patriarch von Alexandria Petrus vertraten. Das bedeutete nicht nur den endgültigen Sieg der Trinitätslehre und die tödliche Stigmatisierung aller Antitrinitarier bis weit über die Reformation hinaus. Es zementierte auch die Position des Papstes und machte sie (staats)rechtlich unanfechtbar. Denn als knapp 150 Jahre später Kaiser Justinian seinen berühmten Codex iuris civilis zusammenstellen ließ, wurde darin auch das Edikt Cunctos populos aufgenommen. Mit der Rezeption des römischen Rechts seit dem hohen Mittelalter, beginnend mit der Rechtsschule von Bologna, waren Trinitätslehre und dogmatische Richtkompetenz der Päpste im Reichsgrundgesetz verankert. Wer sich dem widersetzte, war ein Häretiker und damit zugleich ein politischer Verfassungsfeind. Die Reformatoren, allen voran Luther, und deren Anhänger sollten das rund 1000 Jahre später zu spüren bekommen. Im Augsburger Religionsfrieden von 1555 gelang es ihnen gleichwohl, die universelle Geltung der dogmatischen Richtgewalt des Papstes zu stürzen.[13] Fortan konnten einzelne Länder, Territorial- wie Nationalstaaten, die dogmatischen Grundlagen ihres Kirchenwesens selbst bestimmen. Das Trinitätsdogma wurde aber auch von ihnen so gut wie nie angetastet. Antitrinitarier waren bis zum Ende Alteuropas tödlichen Verfolgungen ausgesetzt!

Um der antiken Grundsatzentscheidung für die trinitarische Gestalt des offiziellen christlichen Dogmas und dem Aufstieg des römischen Pontifex zum unbestrittenen Papst in der lateinisch-christlichen Welt Dauer zu verleihen, war indes noch eine zweite Entscheidung von ähnlicher Tragweite wie die Konstantinische Wende notwendig: Wieder war ein Gelöbnis im Spiel, das im Getümmel einer Schlacht abgelegt wurde und das – wie der obsiegende Feldherr sich sicher war – den Sieg gebracht hatte. Geschworen hatte es der Frankenkönig Chlodwig I. (466/67–511) während der Entscheidungsschlacht mit den Alemannen, Germanen wie die Franken. Vollzogen wurde die Taufe 498 oder 499, wahrscheinlich in Reims, und zwar – das war die ausschlaggebende Weichenstellung – katholisch beziehungsweise römisch. Die bislang als Eroberer Westroms im lateinischen Europa mächtigsten Ostgoten und deren Herrscher, allen voran Theoderich der Große (453–526), waren nämlich nicht römisch-katholischen, sondern arianischen Glaubens, also häretische Leugner der Trinität.

Trotz der Konzilsbeschlüsse von Nizäa und deren unmissverständlicher Befestigung durch die römische Staatsmacht hatte sich der Arianismus gehalten. Dieser war in den Wirren der untergehenden Antike sogar zur Offensive übergegangen und hatte mit den Ostgoten, dem gefährlichsten der jungen, gegen das Kaiserreich anstürmenden Germanenstaaten, eine politische Allianz geschmiedet. Hätte sich auch der Frankenkönig Chlodwig der antitrinitarischen Variante des Christentums angeschlossen, wäre eine Zusammenarbeit mit dem Papst unmöglich geworden. Damit konnte sich im orthodoxen Europa auch nicht die Dualität von kirchlicher und weltlicher Herrschaft, von Imperium und Sazerdotium herausbilden, die für die weitere Entwicklung Westeuropas so wichtig werden sollte.

Erst die katholisch-trinitarische Taufe des Merowingerkönigs Chlodwig machte es möglich, dass rund 300 Jahre später der Karolinger Karl der Große (742/768–814), auch er ein Franke, das römische Kaisertum restituierte und zur Grundlage des mittelalterlichen Europas machte: Nachdem Papst Stephan II. bereits 756 Pippin, den ersten Karolingerkönig, „spiritualis compater“, „geistlichen Mitbruder“, genannt hatte, krönte Papst Leo II. am Weihnachtstag 800 in der römischen Peterskirche dessen Sohn und Nachfolger Karl zum Kaiser. Damit erneuerte er die Symbiose zwischen dem politischen und dem kirchlichen Oberhaupt der westlichen Christenheit. Das zunehmend universell interpretierte Frankenreich wurde zum ersten nachantiken Römischen Reich, das schließlich selbst sakralisiert und zum Heiligen Römischen Reich wurde.

Damit war eine Beziehungsgeschichte zwischen Papst und Kaiser, zwischen römischer Kirche und „Staat“ eröffnet, die den Kontinent über ein Jahrtausend prägte und mit erbitterter Konkurrenz und skrupellosem Gewalteinsatz auf beiden Seiten in Atem hielt. Das war aber zugleich die Grundlage für eine schließlich erreichte Balance zwischen weltlicher und geistlicher Gewalt, ohne die die beispiellose Freiheitsgeschichte Europas kaum vorstellbar ist. Das Ringen zwischen den beiden höchsten Gewalten in der lateinischen Christenheit wurde als Geistesstreit der ethischen und politischen Ideen ausgetragen, gar zu häufig aber auch unter Einsatz von Gewalt, der militärischen wie der psychischen bis hin zur Verdammung und Absetzung des Papstes beziehungsweise der Exkommunikation des Kaisers. Das ist im Folgenden in den wichtigsten Phasen und Wendepunkten zu skizzieren.

Die Krönung des Frankenkönigs Karls (des Großen) zum Römischen Kaiser durch Papst Leo III. an Weihnachten 800. Ein „Anspruchsbild“ der Päpste, das die realen Machtverhältnisse zugunsten Leo III. umkehrt.

Bei der Wiederbegründung des westlichen römischen Kaisertums standen beide Gewalten von Anfang an in Kooperation wie in Gegnerschaft zueinander. Den Frankenkönig Karl den Großen als Erneuerer des westlichen Kaisertums zu feiern, ist nur die halbe Wahrheit. Es spricht sogar einiges dafür, dieses Verdienst eher Papst Leo III. zuzuerkennen.

Nicht weil er dem Frankenkönig in der römischen St. Peterkirche die Kaiserkrone auf das Haupt gesetzt hat, wohl aber, weil vorrangig er ein Interesse an der Anwesenheit eines Kaisers im lateinischen Westen hatte, nämlich als Rückhalt gegenüber den fernen griechisch-byzantinischen Kaisern im Osten, die sich kaum noch um Italien und Rom kümmerten. Kaum weniger wichtig war kaiserlicher Schutz gegenüber den stadtrömischen Parteiungen, aus deren Kreis eben im Frühjahr 799 während einer feierlichen Prozession ein Mordanschlag auf den Papst verübt worden war. Leo III. war daraufhin zu dem Frankenkönig Karl nach Paderborn geflohen, um sich seiner Hilfe zu versichern. Einzelheiten der dabei getroffenen Abmachungen über die politische Zusammenarbeit und über das Krönungsritual, das in jener Zeit von höchstem realpolitischem Gewicht war, sind nicht mehr letztgültig zu klären und dementsprechend unter den Experten strittig. Fest steht, dass die Kaisererhebung primär im Interesse des Papstes lag – im kurzfristigen Leos III. wie im langfristigen des Papsttums, das nicht als Theokratie geschaffen war und daher einen Kaiser als Wideranker benötigte. Der Frankenkönig dagegen war vom Krönungszeremoniell am Weihnachtstag 800 wenig begeistert. Es war ihm zu päpstlich-sakramental und zu römisch-antik, ohne Bezug auf die germanische Macht- und Kulturbasis. All das deutet darauf hin, dass Leo III. und die in Zeremonienfragen stets überlegenen Kurialen hinter dem Rücken des Königs die getroffenen Absprachen im päpstlich-römischen Sinne verändert hatten. Das spezifische Erhebungszeremoniell verpflichtete den neu installierten Westkaiser mit sakralen Banden auf den Schutz der römischen Kirche, genauer gesagt der Papstgewalt.

Doch ungeachtet der zeremoniellen Überrumpelung an Weihnachten 800 dominierte in der lateinischen Christenheit zunächst der Kaiser. Eindeutig gilt das für Karl den Großen selbst. Das belegt bereits die Titulatur, die er wählte: „Karl, erhabener Augustus, von Gott gekrönter großer und friedbringender Kaiser, Lenker des Römischen Reiches, der durch Gottes Gnade auch König der Franken und Langobarden ist.“ Keine Rede von den Römern als Reichsvolk und auch nicht vom Papst – Gott allein hatte ihn zum Kaiser gekrönt![14]

Bis in die Neuzeit hinein blieb Karl der Große das Idealbild des christlichen Kaisers – im Moment der Zeitenwende von Albrecht Dürer in Erinnerung gerufen und als Vorbild für die Zukunft beschworen, fast ein Bruder der mächtigen vier Apostel, dem gut zehn Jahre nach dem Karlsbild entstandenen Vermächtnis des Malers an den christlichen Rat seiner Heimatstadt Nürnberg.

Jahrhunderte nach den Weichenstellungen durch Karl den Großen schuf Albrecht Dürer um 1511/13 das bis heute gültige Urbild des Karolingers als Begründer und Patron des christlichen Europa.

Inhaltlich fußt die bis heute nicht verloren gegangene Karlsverehrung auf der Rolle, die der Frankenkönig bei den ersten, entscheidenden Schritten auf dem Weg zu einem rechtlich und institutionell wie geistlich und kulturell einheitlichen Europa gespielt hat – bei der Verschmelzung der Gentil-Religionen zur Universalreligion und der damit einhergehenden organisatorischen Zusammenfassung der stammesmäßig organisierten Teilkirchen zur lateinisch-europäischen Gesamtkirche als Gemeinschaft der christlichen Völker.[15]

Wenn es zutrifft, dass Karl in der päpstlichen Krönung eine zeremonielle Scharte gesehen hat, so hat er sie umgehend ausgewetzt. Denn als er im Herbst 813 seinen Sohn Ludwig den Frommen zum Nachfolger krönen ließ, da geschah das nicht in Rom, sondern in der Pfalz von Aachen, und zwar ohne jegliche Beteiligung der Kirche. Die tiefe Ehrerbietung, mit der Ludwig wenige Jahre später Leos Nachfolger Papst Stephan IV. empfing, machte seinem Beinamen alle Ehre. Den Anspruch auf machtpolitische Überlegenheit des Kaisers vertrat er aber nicht weniger entschieden als der Vater. Zwar bestätigte er dem Papst alle Rechte im Patrimonium Petri, im sich herausbildenden Kirchenstaat also, ließ sich aber im Gegenzug entscheidende Kompetenzen bei der Papstwahl zusprechen. Vor allem aber machte er sich zum Herrn über den herrschaftlichen, politischen Notstand, der in Rom die Regel, nicht die Ausnahme war. Päpste und die Heilige Stadt waren auf lange Zeit in der Hand der Franken und ihrer Könige.

Einzig im symbolischen Kapital, voran bei prachtvollen Bauten, die den himmlischen Glanz auf die Erde brachten, war der Vicarius Christi überlegen und vermochte so „in Zeiten der Machtlosigkeit Zeichen seiner himmlisch verbürgten Allmacht (zu) setzen, die der demütigenden Realität eine höhere Wirklichkeit gegenüberstellten, wie sie von Gott gewollt war“.[16] Dieses „symbolische Kapital“ sollte sich über die Jahrhunderte hin als die sicherste Voraussetzung für den Aufstieg aus der Machtlosigkeit erweisen. Wie wir sehen werden, galt das noch in der Neuzeit, als die im Westfälischen Frieden zutage getretene tiefe Schwäche des Papsttums durch eine glanzvolle Inszenierung der päpstlichen Universalität von Gian Lorenzo Bernini auf dem Petersplatz ausgeglichen wurde.

Indes, nach Ende der Karolingerzeit gelang es den Päpsten, Schritt für Schritt Unabhängigkeit und Gleichrangigkeit mit dem weltlichen Oberhaupt der Christenheit zu erringen.[17] Bereits Nikolaus I. (858–867), innerhalb der Kirche alles andere als omnipotent, beanspruchte die höchste Entscheidungsinstanz über alle sündhaften Menschen, auch über den Kaiser und die weltlichen Fürsten, und vermochte das im Scheidungsfall des fränkischen Königs Lothar II. (um 835–869), einem Urenkel Karls des Großen, sogar durchzusetzen.[18] Der Höhepunkt war dann im Dictatus Papae von 1075 erreicht, in dem Papst Gregor VII. (1073–1085) das Recht beanspruchte, Kaiser und Könige abzusetzen, wenn sie ein widerchristliches Regiment führten, namentlich durch eigenmächtige Bischofsernennungen in die Kirche hineinregierten. Man hat dieses Aufbegehren des Vicarius Christi eine „Papstrevolution“ – so der Universalhistoriker und Politologe Eugen Rosenstock-Huessy – genannt und er sieht in der daraus hervorgegangenen Trennung von geistlicher und weltlicher Gewalt – konkret bei der Bischofsinvestitur die Trennung von geistlichen (Spiritualien) und weltlichen (Temporalien) Elementen des Bischofsamtes – eine „Urform der Gewaltenteilung“, die „im Ansatz bereits der (säkulare) Pluralismus“ gewesen sei.

Dieses politologische Urteil wird gern in gegenwartsbezogene Überblicksdarstellungen übernommen.[19] Für die vorliegende Fragestellung ist es aber wenig weiterführend. Denn zum einen übersieht es die geistliche, gestalterische Schwächung in den Aufgaben des Pontifex, die aus dieser „Papstrevolution“ resultierte. Das waren Kosten, die – wie im weiteren Verlauf unserer Darstellung deutlich wird – die europäische Geschichte real nachhaltiger prägten als die fiktive „Urform der Gewaltenteilung“, die anderwärts, vor allem in England, wirkungsvoller zum Durchbruch kam. Und zum anderen ist zu betonen, dass Hildebrand von Soana – Papst Gregor VII. –, so einschneidend der von ihm angestoßene Klärungsprozess auch gewesen sein mag, kein Vorkämpfer der Trennung von weltlicher und geistlicher Sphäre war, so wie rund ein halbes Jahrtausend später Martin Luther kein Vorkämpfer der Aufklärung war. Die enge Verschränkung von geistlichen mit weltlichen Dingen wurde beide Male präzisiert und konkretisiert, aber keinesfalls beendet. Im Gegenteil, die jeweils neu geregelte Kooperation stärkte den dem Christentum eingeborenen Dualismus und gab der Religion Raum zum entschiedenen Handeln in der Welt, und das nicht vorrangig auf der Basis modern-säkularer Nichteinmischung, sondern so, dass das eine in der Regel „ein[en] Anschlag vom anderen“ besaß, um nochmals Thomas Mann zu bemühen. Religion und Kirche prägten in Europa über weitere Jahrhunderte hin das öffentliche wie private Leben und sollten auch den Übergang in die Neuzeit und die moderne Welt entscheidend mitbestimmen.

Eine materielle Zementierung der Verschränkung von Religion und Welt ergab sich im lateinischen Europa insbesondere dadurch, dass die römische Kirche die Rechts- und Administrationstradition des spätantiken Römischen Reiches übernahm und fortsetzte. Die Kirche trat gleichsam in die römische Verwaltungsorganisation ein und erweiterte sie auf das gesamte lateinisch-christliche Europa, indem sie die vom Christentum erfassten oder beanspruchten Räume mit einem lückenlosen Netz von Erzdiözesen, Diözesen, Dekanaten und Pfarreien überzog. In Zentraleuropa lag der Sitz einer Diözese bezeichnenderweise immer in einer der alten Römerstädte. Die Kirche wurde zum siedlungsgeschichtlichen Träger zivilisatorischer Kontinuität und zur Brücke zwischen antiker und mittelalterlicher Zivilisation.

Vor allem wurde in den kirchlichen Foren die hochentwickelte Rechtstradition der Römer fortgeführt – in Form des Kanonischen Rechts der Kirche selbst, aber auch des Zivilrechts, da sich bis zum Aufbau eines flächendeckenden staatlichen Gerichtswesens die Menschen immer wieder an die überlegenen kirchlichen Gerichtsinstanzen wendeten, um weltliche Streitfälle zu klären. Neben, ja vor den juristischen Fakultäten der italienischen Universitäten, allen voran in Bologna, die seit dem 11. Jahrhundert die wiederaufgefundenen spätrömischen Rechtssatzungen Kaiser Justinians für den alltäglichen Gebrauch an den Gerichten bearbeiteten und bekanntmachten, waren es die Kirche und deren Rechtsgelehrte, die dafür sorgten, dass das römische Recht zentrales Merkmal des europäischen Zivilisationstypus wurde. Das gelegentlich aufgeworfene Problem, ob Europa und seine Freiheitsgeschichte eher vom Christentum oder vom römischen Recht bestimmt wurden, ist also eine falsch gestellte Frage. Es handelte sich nicht um eine Alternative, sondern um parallel verlaufende Vorgänge. Die Päpste sollten in ihrem totalen Geltungsanspruch für die kirchliche Gerichtsbarkeit und Gerechtigkeit allerdings ebenso scheitern wie bei entsprechenden Forderungen in anderen Bereichen, vor allem ihrem totalen politischen Herrschaftsanspruch.[20]

Kaum zu überschätzen sind die alltäglichen materiellen Folgen der Verschränkung von kirchlich-religiöser und weltlicher Sphäre: Im Laufe der Jahrhunderte erlangte die Kirche durch Schenkung oder Stiftung einen immensen Grundbesitz. Vor allem über das sogenannte Seelgerät – ein testamentarisches Vermächtnis, durch das die Stifter meinten, ihre Seelen für eine gute Aufnahme im Himmel ausrüsten zu können – kamen in den Städten immer mehr Häuser und auf dem Lande ganze Dörfer und Gutsbezirke in den Besitz kirchlicher Institutionen. In den Städten waren bald bis zu einem Drittel, mancherorts fast die Hälfte der Gebäude kirchlich. Da die Kirche generell Steuerfreiheit genoss, resultierte daraus das Problem der „Toten Hand“, das in den spätmittelalterlichen Städten die Bürger belastete und zunehmend verärgerte, ja zu Aufständen trieb. Denn durch die Befreiung der an die Kirche gelangten Häuser von Abgaben konzentrierten sich Steuern und sonstige Lasten – etwa bei der Verteidigung der Stadt – auf die bürgerlichen Besitzer der wenigen nicht kirchlichen Immobilien. Auf dem Land waren die kirchlichen Grundbesitzer in das Feudalsystem integriert und damit in das Militärwesen der Zeit. Daraus ergab sich zwangsläufig die Beteiligung an Gewalt und Krieg. In manchen Schlachten stellten kirchliche Institutionen große Truppenteile, gelegentlich bis zu einem Drittel der Gesamtarmee. Komplementär zu dieser Verwicklung in kriegerische Gewalt, in gewisser Weise wohl auch als Kompensation, erhob sich im 12. Jahrhundert in Burgund eine mächtige kirchliche Friedensbewegung, die Treuga oder Pax Dei, die uns noch beschäftigen wird.

Im Anschluss an die Gregorianischen Reformen forcierten die Päpste, meist namhafte Juristen, die Tendenzen zur Herausbildung eines Einheitssystems, in dem die Trennung von Sakralem und Profanem, von Sünde und Straftat, geistlicher und weltlicher Gerichtsbarkeit aufgehoben sein sollte.[21] Einen ersten Höhepunkt erfuhr die Papstoffensive mit Innozenz III. (1198–1216), in dessen Pontifikat moderne Historiker ein „Römisches Reich der Päpste“ entstehen sehen, in dem die Kaiser nur noch nachgeordnete Autorität besitzen sollten. So postuliert Innozenz III. in seinem bald viel zitierten Dekretale Venerabilem von 1202 den geistigen wie politisch-rechtlichen Vorrang des Papstes über den Kaiser. Denn der Papst habe das oströmische Kaisertum nach Westen transferiert und Karl dem Großen übertragen. Dementsprechend erhoben die Päpste bis in die Neuzeit hinein den Anspruch, ein Kaiser erlange erst Legitimität, wenn seine Wahl durch die deutschen Fürsten von Rom bestätigt und er vom Papst gesalbt und gekrönt wurde. Auf dem 12. Allgemeinen Konzil der Christenheit (dem 4. Laterankonzil), zu dem Innozenz im November 1215 die bislang größte und glänzendste Versammlung von Kirchenführern im Lateran zusammenrief, wurden schließlich die geistigen und rechtlichen Fundamente gelegt, auf denen sich – wären die weltlichen Gewalten nicht dagegen aufgetreten – der größte Teil Europas „langsam, aber sicher in eine Art (kirchlich-weltlicher) Einparteienstaat“ umgeformt hätte.[22]

Innozenz III. war aber erst der Anfang. Zu einem tyrannischen Fanatismus wurde die „Papstrevolution“ unter Bonifaz VIII. (1294–1303), der auf nichts weniger zielte, als die weltliche Gewalt endgültig niederzuringen. Gleich nachdem er die Papstkrone in skrupelloser Grausamkeit an sich gerissen hatte, richtete er die päpstliche Autorität bedenkenlos gegen jegliche weltliche Gewalt, gegen den Kaiser ebenso wie gegen die Könige, Fürsten oder Stadtmagistrate: In der Bulle Clericis Laicos postulierte er 1296 eine prinzipielle Inferiorität und Feindschaft aller Laien gegenüber Klerikern. Die Bulle Unam Sanctam von 1302 ging dann aufs Ganze, indem sie die prinzipielle Überlegenheit von Kirche und Religion über das Weltliche postulierte. Die Gewalt des Papstes stehe über derjenigen von Kaisern, Königen, Fürsten und Magistraten. Die Laien wurden gesellschaftlich und geistig-kulturell ab- und die Kleriker umfassend aufgewertet. Bonifaz soll schließlich die omnipotenten Machtphantasien so weit getrieben haben, dass er vor Kardinälen und Bischöfen abwechselnd in Kaiser- und Papstgewändern auftrat und deklamierte: „Ego sum Caesar, ego sum imperator.“

Um die Konflikte und Umbrüche zu Beginn der Neuzeit zu verstehen, sind noch kurz zwei Grundlinien des mittelalterlichen Erbes zu skizzieren – die Staatswerdung des Papsttums und die Sakralisierung der weltlichen Gewalten.

Der „Kirchenstaat“, der seit dem ausgehenden Mittelalter als selbstverständlicher Teil der europäischen Staatengesellschaft als politischer Akteur im Inneren wie nach außen gegenüber den andern Staaten auftritt und damit die scharfe Kritik der Reformatoren hervorrief, bildete sich zeitlich parallel zu dem geschilderten Machtringen mit den weltlichen Herrschern aus.

Territoriale Grundlage war der immense Grundbesitz, der dem Stuhle Petri in Süd- und Mittelitalien im Zuge der erwähnten Praxis, zur Sicherung des individuellen Seelenheils der Kirche Schenkungen zu machen, zugewachsen war und als Patrimonium Petri, als Vermögen des Petrus und seiner Nachfolger galt. Wie allenthalben in Europa die weltlichen Fürsten seit dem ausgehenden Mittelalter ihren Grundbesitz und ihre Herrschaftsrechte sammelten, konzentrierten und rechtlich-institutionell zu einem einheitlichen Territorium und Staatsgebiet zusammenfassten, so gingen auch die Päpste in Italien vor. Ja, in vielerlei Hinsicht waren sie es, die in diesem Prozess der Konzentration und Formierung voranschritten und den weltlichen Kräften als Vorbild dienten. In beiden Fällen wurde der realhistorische Vorgang mit rechtlichen und politiktheoretischen Legitimationskonstrukten abgestützt. In den weltlichen Staaten war es vorrangig die These von einer sachlich bestimmten einheitlichen Landesherrschaft, später dann die Souveränitätslehre. Das spielte auch bei der päpstlichen Staatsbildung eine Rolle. Durchschlagender aber waren historische Dokumente, mit denen Rom seine Besitzrechte belegte und dabei auf das früh aufgebaute Archivwesen der Kirche zurückgreifen konnte. Wichtigste Pfeiler waren die sogenannte Pippinische Schenkung, die im Zuge der frühen Zusammenarbeit von Papst und dem Frankenkönig Pippin III. Mitte des 8. Jahrhunderts ausgestellt wurde, und die sogenannte Konstantinische Schenkung, die die Existenz des Kirchenstaates direkt auf die Spätantike zurückführte. Diese von Kaiser Konstantin 315/17 für Papst Silvester I. (314–335) ausgestellte Urkunde, die Herrschaftsrechte in Italien und dem gesamten Weströmischen Reich an die Päpste übertrug, war eine Fälschung.

Selbstsicher, von Gott und Kaisern zur weltlichen Herrschaft berufen zu sein, haben die Römischen Päpste seit dem frühen Mittelalter in Mittelitalien Schritt für Schritt ein Herrschaftsgebiet errichtet, das schließlich als Kirchenstaat in den Kreis der europäischen Mächte der Neuzeit aufstieg.

Das hatte der römische Humanist Lorenzo Valla 1440 nachgewiesen. Da zu dieser Zeit aber der Schein altehrwürdiger, zudem sakral fundierter Rechte mehr zählte als wissenschaftliche Rationalität, war die Urkunde bestens geeignet, die Politik der Päpste zu fördern, und zwar sowohl die Staatsbildung im Innern als auch die Ansprüche gegenüber den anderen Fürsten und Staaten Europas. Damit war jenes Zwittergebilde geistlicher und weltlicher Herrschaft mit einem souveränen Pontifex an der Spitze entstanden, als der Kirchenstaat und das Papsttum in die Neuzeit eintraten und Herrschaft sowohl über die Seelen der Christen wie in der europäischen Staatengesellschaft beanspruchten.

Kaiser Konstantin übergibt Papst Silvester I. (314–335) die Tiara. Illustration zur „Konstantinischen Schenkung”, Fresco in der römischen Basilika Santi Quattro Coronati, 13. Jahrhundert.

Wie der römische Pontifex politisch wurde, so wurden – und das ist die zweite spätmittelalterliche Grundlinie – die weltlichen Herrscher sakral, Kaiser wie Fürsten und selbst städtische Magistrate. Vor allem Kaiser Friedrich II. von Hohenstaufen beanspruchte in der ersten Hälfte des 13. Jahrhunderts als Nachfolger König Davids Jerusalem zu beherrschen und ahmte in bis dahin unerhörter Weise sogar Christus selbst nach. Eine Sakralisierung erfuhren aber auch Könige und niedere Herrscher – im hohen Mittelalter zunächst die Könige von Frankreich und England, denen wundertätige Fähigkeiten zur Krankenheilung zugesprochen wurden, mit dem Gottesgnadentum der Frühen Neuzeit dann auch die absolutistischen Herrscher und selbst die Magistrate der Stadtstaaten. Mitte des 15. Jahrhunderts konnte am Niederrhein der Herzog von Kleve ebenso selbstbewusst wie offensiv proklamieren: „Dux Cliviae papa est in terris suis.“ Das war eine fortan für die weltliche Herrschaft in Europa durchgehend gültige Umkehrung der eben zitierten Weltherrschaftsphantasie Papst Bonifaz VIII.! Wo der neuzeitliche Staat mit seinem umfassenden Gehorsams- oder Steueranspruch in Konflikt mit Rom oder anderen kirchlichen Instanzen geriet, da kam ihm das Jesuswort „Gebt dem Kaiser, was des Kaisers ist, und Gott, was Gottes ist“ (Matthäus 22,21) zu Hilfe. In Deutschland wurde das bezeichnenderweise in der Fassung der Lutherbibel zum Sprichwort.

„Gebet dem Kaiser, was des Kaisers ist, und Gott, was Gottes ist.“ Das Christuswort im Moment des Aufstiegs des modernen säkularen Steuerstaats, den Untertanen in Erinnerung gerufen durch Tizians „Der Zinsgroschen“ (um 1516).

Die Reibungen und Konflikte zwischen kirchlichen und weltlichen Gewalten brachten im späten Mittelalter und in der Frühneuzeit einen gewaltigen Schub für die politische und gesellschaftliche Differenzierung der Christenheit oder Europas in selbständige Staaten und Nationen. Schritt für Schritt errungene Mitspracherechte im Kirchenwesen ihrer Herrschaften, verbunden mit einer unverkennbaren Tendenz zur Sakralisierung der weltlichen Herrschaft stärkten die Autonomie von Königen, Fürsten und republikanischen oder städtischen Magistraten. Entscheidend gefördert wurde das durch ein weiteres weltgeschichtliches Ereignis, nämlich durch die Reformation des Wittenberger Augustinermönchs Martin Luther, die die „Papstrevolution“ durch eine „Revolution“ gegen den Papst ergänzte. Es sollte allerdings auch nach der Reformation noch gut drei Jahrhunderte dauern, bis europaweit weltliche und geistliche Gewalt wirklich getrennt waren – erst im Dezember 1905 konnte sich in Frankreich die moderne laïcité durchsetzen, und eine „Kirche ohne König“ war in den deutschen Staaten sogar erst nach dem Ersten Weltkrieg möglich.