Karl V. - Heinz Schilling - E-Book

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Heinz Schilling

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Beschreibung

MACHT UND OHNMACHT EINES KAISERS - HEINZ SCHILLINGS MEISTERHAFTE BIOGRAPHIE

Karl V. ist der mächtigste Herrscher seiner Zeit - und der ohnmächtigste zugleich. In seinem Reich geht die Sonne nicht unter, doch nach seinem Willen formen kann er es nicht. Ebenso wenig gelingt es ihm, die große Kirchenspaltung aufzuhalten, mit der die Einheit der Christenwelt zerbricht. Heinz Schilling schildert in dieser Biographie, wie der Kaiser zwischen den Epochen alles in seiner Macht stehende tut, um dem Lauf der Zeit Einhalt zu gebieten - und sich am Ende gescheitert und gedemütigt aus der Welt zurückzieht in die Einsamkeit der spanischen Estremadura.

Heinz Schillings Biographie befreit Karl V. aus dem Habsburgermythos des 19. Jahrhunderts und führt ihn wieder zurück in seine historische Welt - das kulturell reiche Burgund seiner Jugend und Spanien mit dem atlantisch-überseeischen Raum. Auch dem verschlossenen Menschen Karl spürt dieses Buch nach, seiner Erotik, seinen kurzen Liebesbeziehungen, seiner unterschätzten musischen Seite. Es räumt Karl einen fairen Platz in den Religionskämpfen der Zeit ein und porträtiert ihn als zutiefst religiösen Menschen - hierin Luther ebenbürtig. Vor allem aber zeigt Schilling die Tragik der Macht: Im Herzen ein Friedenspolitiker, kommt der Kaiser während seiner Herrschaft nur selten aus dem Militärlager, weil er sich dynastischen und religiösen Zielen verpflichtet fühlt, die er in einer Welt, die immer komplexer wird, nicht mehr verwirklichen kann.

  • Karl V. ohne Habsburgermythos
  • Der Kaiser, in dessen Reich die Sonne nicht unterging
  • Heinz Schilling vollendet sein Tryptichon der Frühen Neuzeit

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Heinz Schilling

KARL V.

Der Kaiser, dem die Welt zerbrach

Biographie

C.H.Beck

ZUM BUCH

Karl V. (1500–1558) ist der mächtigste Herrscher seiner Zeit – und der ohnmächtigste zugleich. In seinem Reich geht die Sonne nicht unter, doch nach seinem Willen formen kann er es nicht. Ebenso wenig gelingt es ihm, die große Kirchenspaltung aufzuhalten, mit der die Einheit der Christenwelt zerbricht. Heinz Schilling schildert in dieser Biographie, wie der Kaiser zwischen den Epochen alles in seiner Macht Stehende tut, um dem Lauf der Zeit Einhalt zu gebieten – und sich am Ende gescheitert und gedemütigt aus der Welt zurückzieht in die Einsamkeit der spanischen Extremadura.

Heinz Schilling befreit in dieser Biographie Karl V. aus dem Habsburgermythos des 19. Jahrhunderts und führt ihn wieder zurück in seine historische Welt – das kulturell reiche Burgund seiner Jugend und Spanien mit dem atlantisch-überseeischen Raum. Auch dem verschlossenen Menschen Karl spürt dieses Buch nach, seiner Erotik, seinen kurzen Liebesbeziehungen, seiner unterschätzten musischen Seite. Es räumt Karl einen fairen Platz in den Religionskämpfen der Zeit ein und porträtiert ihn als zutiefst religiösen Menschen – hierin Luther ebenbürtig. Vor allem aber zeigt Schilling die Tragik der Macht: Im Herzen ein Friedenspolitiker, kommt der Kaiser während seiner Herrschaft nur selten aus dem Militärlager, weil er sich dynastischen und religiösen Zielen verpflichtet fühlt, die er in einer Welt, die immer komplexer wird, nicht mehr verwirklichen kann.

ÜBER DEN AUTOR

Heinz Schilling ist em. Professor für Europäische Geschichte der frühen Neuzeit an der Humboldt-Universität zu Berlin. Mit seiner viel gerühmten Biographie «Martin Luther. Rebell in einer Zeit des Umbruchs» (42017) und dem Bestseller «1517. Weltgeschichte eines Jahres» (42019) bildet die neue Karls-Biographie ein Triptychon der Frühen Neuzeit.

INHALT

PROLOG

Karl V. hat alles erreicht, was ein Mensch seiner Zeit erreichen konnte.

Karl V. ist das Wichtige fehlgeschlagen.

Karl V., Herrscher und Mensch zwischen den Zeitaltern und Welten.

1: GENT 24. FEBRUAR 1500 – Kind der Freude und der Stolz Burgunds

Glückliches Heiraten und rechtzeitiges Sterben in der Welt der Fürstenstaaten

Burgund – Realität und Mythos

Karl der Kühne und sein Vermächtnis

Gent, 24. Februar 1500

Erziehung und Bildung der Burgunderkinder

Eheprojekte, neues «Gouvernement» und die Charakterprägung des Prinzen

Der Herzog von Burgund

Niederburgund im Herrschaftssystem des Kaisers

2: VALLADOLID 23. NOVEMBER 1517 – Ein Europa und die Welt umspannendes Erbe

Der spanische Erbfall

Karls Charakter und Erscheinungsbild

Ein Liebesbrief und die erste Entscheidung als Familienoberhaupt

Juana und Ferdinand – die innerdynastische Abstimmung mit Mutter und Bruder

Valladolid 23. November – Übernahme der Herrschaft über Kastilien

Das Murren der Untertanen und die ersten Berichte über das neue Goldland

Eine weitere Königskrone

Aufstand in Spanien

3: FRANKFURT 23. JUNI 1519; AACHEN 23. OKTOBER 1520 – Deutscher König und Erwählter Römischer Kaiser

Die Wahl zum Deutschen König

Krönung in Aachen

Das deutsche Königtum in Karls Herrschaftssystem

Logistische Probleme eines überspannten Herrschaftsraumes

Regieren als Familienunternehmen

Räte und Vertraute

Minderheiten und Minderheitenpolitik

4: WORMS 1521 –Verteidiger der von den Vorfahren ererbten Religion

Schützer des reinen Glaubens – mit dem Papst oder mit Luther

Das in Gott gefangene Gewissen des Reformators

Das in Tradition und Glauben der Vorfahren gefangene Gewissen des Kaisers

Der Weg in die religiös-kulturelle Differenzierung Europas

Universelles Kaisertum als Ordnungsprinzip für den auseinanderstrebenden Kontinent

5: PAVIA 24. FEBRUAR 1525 – Triumph über Franz I. und ein nicht endendes Ringen um die Vormacht in Italien und Europa

Ringen um die mächtepolitische Ordnung

Entscheidung über Italien?

Nötigung zu Frieden und Freundschaft

Ein Frieden innerer Widersprüche

Erneut Krieg um Italien und der «Sacco di Roma» von 1527

Das kaiserliche Klientelsystem in der Po-Ebene, Mantua und die Gonzaga-Dynastie

Krieg – Freundschaft – Krieg

Der Friede von Crépy 1544 als Vorbereitung zum Schlag gegen die Protestanten

6: SEVILLA 10. MÄRZ 1526 – Liebesdinge und politisches Kalkül der Casa de Austria

Erotik der frühen Jahre

Eheprojekte

Hochzeit in Sevilla und «luna de miel» in Granada

Maurischer Zauber, höfische Feste, Musik und Jagd

Familienleben im Schatten der Politik

Margarete von Parma und Don Juan de Austria

Sakrale Überhöhung der Ehe

7: BOLOGNA UND AUGSBURG 1530 – Kaiserkrönung und Konfessionsreichstag

Ein Friedensfest für die zerrissene Christenheit

Verhandlungen über die Neuordnung Italiens und die Einberufung eines Konzils

Kaiser und Päpste

Der Augsburger «Konfessionsreichstag»

Versuch einer außerkonziliaren Lösung

Reichsrechtliche Weichenstellungen jenseits der Glaubensfrage

Flandern, wieder Deutschland und die Rückkehr nach Spanien

8: TUNIS 1535 – Auftakt zum Kreuzzug gegen die Türken?

Der Sieg vor Tunis – Realität und Propaganda

Karl V. und Suleiman der Prächtige

Chaireddin der Rote

Triumph als neuer Scipio Africanus

Rückkehr in den mächtepolitischen Alltag

Das Ende des Kreuzzugsplans und die Katastrophe 1541 vor Algier

Eine gemischte Bilanz im Ringen der Weltmächte

9: Leyes Nuevas 1542 – oder der Streit um die Seelen und das Gold der Indios

Reichtum und Prestige aus dem amerikanischen «Goldkastilien»

Das Reich der Inkas und die Inseln der Gewürze

Um Recht und Ordnung in den neuen Besitzungen

Besinnung auf Gottes Gebot der Menschlichkeit

Las Casas gegen Sepúlveda – der erste freie Disput über Kolonialpolitik

Der realpolitische Vorrang Europas

10: MÜHLBERG 24. APRIL 1547 – und der geharnischte Reichstag von Augsburg 1547/48

Veni, vidi, Deus vicit – Triumph des Miles christianus

Schonung des Luthergrabes in Wittenberg und Demütigung des Landgrafen in Halle

Der Höhepunkt der Macht – von Tizian inszeniert

Ein geharnischter Reichstag

Das Interim, das Interim, der Teufel, der steckt hinter ihm – Karls Scheitern am lutherischen Stadtbürgertum

11: VILLACH, MAI 1552 – Herabgeschleudert vom Rad der Fortuna

Die Rächer der deutschen Freiheit und der widerrechtlich gefangenen Fürsten

In der Falle – Flucht aus Innsbruck

Villach und Passau

Wieder ein Franzosenkrieg

Kaiser der Endzeit

12: BRÜSSEL 1555/56 – Zeremoniell des Rückzugs

Das ermüdende Ringen um die Nachfolge oder das Gespenst der «spanischen Sukzession»

Die englische Ehe Philipps II. – die Vision eines katholischen Großreiches in Westeuropa

Abdankung und Neuaufstellung der Casa de Austria

Machtverzicht zur Sicherung des Seelenheils?

13: YUSTE 21. SEPTEMBER 1558 – Sterben in Christo

Die letzte Reise des Kaisers

Frömmigkeit und Muße

«Lebensfülle, (die) niederklingt in meine Ruh»

«Jetzt, Herr, komme ich»

Der Tod Kaiser Karls V. und die Wende in den Konfessionalismus

EPILOG

Europa vereint in Trauerfeiern

Vision einer hegemonialen Weltherrschaft

Ein Europapolitiker der frühen Neuzeit?

ANHANG

FORSCHUNGSLAGE UND POSITIONSBESTIMMUNG

ANMERKUNGEN

Prolog

1 Gent 24. Februar 1500 – Kind der Freude und der Stolz Burgunds

2 Valladolid 23. November 1517 – Ein Europa und die Welt umspannendes Erbe

3 Frankfurt 23. Juni 1519; Aachen 23. Oktober 1520 – Deutscher König und Erwählter Römischer Kaiser

4 Worms 1521 – Verteidiger der von den Vorfahren ererbten Religion

5 Pavia 24. Februar 1525 – Triumph über Franz I. und ein nicht endendes Ringen um die Vormacht in Italien und Europa

6 Sevilla 10. März 1526 – Liebesdinge und politisches Kalkül der Casa de Austria

7 Bologna und Augsburg 1530 – Kaiserkrönung und Konfessionsreichstag

8 Tunis 1535 – Auftakt zum Kreuzzug gegen die Türken?

9 Leyes Nuevas 1542 – oder der Streit um die Seelen und das Gold der Indios

10 Mühlberg 24. April 1547 und der geharnischte Reichstag von Augsburg 1547/48

11 Villach, Mai 1552 – herabgeschleudert vom Rad der Fortuna

12 Brüssel 1555/56 – Zeremoniell des Rückzugs

13 Yuste 21. September 1558 – Sterben in Christo

Epilog

KARTE: EUROPÄER IN DER NEUEN WELT ZUR ZEIT KAISER KARLS V.

BIBLIOGRAPHIE

Quellen

Literatur

BILDNACHWEIS

GENEALOGIE

PERSONENEGISTER

ORTSREGISTER

PROLOG

Karl V. hat alles erreicht, was ein Mensch seiner Zeit erreichen konnte.  Drei Jahrzehnte an Rang und Ansehen der Erste in der Christenheit, herrschte Kaiser Karl V. über ein Reich, «in dem die Sonne nicht unterging» – eine bewundernde Charakterisierung, die ihm bis heute anhaftet wie dem Stauferkaiser Friedrich II. der «stupor mundi», das Staunen der Welt. Karl war Haupt der ehrwürdigsten und mächtigsten Dynastien Europas: Erbe der glanzvollen Herzöge von Burgund aus dem französischen Hause Valois; der Katholischen Könige aus der Trastámara-Dynastie, die das neuzeitliche Spanien geformt und das Tor zur Neuen Welt aufgestoßen hatten; nicht zuletzt des deutschen Hauses Österreich, das nach ihm die Römische Kaiserwürde erhielt und behalten sollte, bis der Höllensturz des Ersten Weltkriegs der Fürstengesellschaft Alteuropas definitiv ein Ende setzte. Keines der europäischen Königs- und Fürstenhäuser konnte sich mit diesem «edlen Blut» messen, als das man Karl bei seiner Wahl zum Deutschen König gefeiert hatte.

Das burgundisch-spanische Hofzeremoniell wurde an den europäischen Höfen bewundert und nachgeahmt. Die spanischen Tercios, mit Lanzen bewehrte Infanterie-Blöcke, die einem Uhrwerk gleich die Gegner überrannten, beherrschten die Schlachtfelder Europas. Die dynamischste Wirtschaftsregion der Zeit war Teil seiner Herrschaften – die Niederen Landen an den Mündungsgebieten der großen Ströme Schelde und Rhein mit dem rasch expandierenden Handelsplatz Antwerpen im Zentrum. Seit Beginn des zweiten Jahrhundertdrittels landeten in Sevilla, dem bedeutendsten Überseehafen der Welt, alljährlich reichbeladene Silberflotten aus Südamerika, mit sprunghaft ansteigenden Frachtraten.[1]

Bereits mit 19 Jahren zum Römischen Kaiser erwählt, stand er zusammen mit dem Papst an der Spitze der Christenheit oder Europas, was damals noch dasselbe war. Als Kaiser war er verantwortlich für die Reform von Kirche und Glauben ebenso wie für die Sicherung Europas nach außen. Als Miles christianus, christlicher Glaubenskrieger, wies er in Tunis die islamische Vormacht der Osmanen in die Schranken und triumphierte in Mühlberg an der mittleren Elbe über die Häresie der Luther-Anhänger. Unübertroffen auch sein symbolisches Kapital – als Großmeister des burgundischen Goldenen Vlies Ordens wie des spanischen Ordens de Calatrava, der beiden vornehmsten Ritterorden der Christenheit, dazu Auftraggeber für die ersten Künstler seiner Zeit. Noch heute künden Tizians Gemälde «Karl V. nach der Schlacht von Mühlberg» und «La Gloria»/«Der Triumph der Dreifaltigkeit» von seinem Ruhm und seiner von Gott gegebenen Majestät. Beide zählen heute zu den Staatsikonen in der spanischen Ruhmeshalle des Prado. Die gewaltigen von Jan Vermeyen entworfenen Wandteppiche aus der Brüsseler Manufaktur Willem de Pannemakers, deren Kartons das Kunsthistorische Museum Wien bewahrt, berichten von seinen Taten in Nordafrika – Inszenierung seines ritterlichen Kampfes gegen den islamischen Glaubensfeind wie Demonstration des hohen Stands der Künste und des Luxusgewerbes in seiner burgundischen Heimat. Und das sind nur zwei Beispiele eines über ganz Europa verstreuten Kunstschatzes, der den Zeitgenossen wie der Nachwelt ständische Erhabenheit, Prestige und Tatenruhm dieses Kaisers verkündet.

Karl V. ist das Wichtige fehlgeschlagen.  Hinter der heroischen Majestät, die er wie kein zweiter Herrscher repräsentierte und die er hundertfach in Marmor, Bronze, auf Leinwand und Tapisserien darstellen ließ, verbarg sich ein Mensch, der mehr Leid, Elend und Krankheit zu ertragen hatte als viele seiner Untertanen – die angeborene Missbildung seines Kiefers; die dadurch bedingte Behinderung seiner Sprache; schwere Gichtanfälle, die ihn schließlich zwangen, zur Fortbewegung statt des herrschaftlichen Pferdes eine Sänfte zu benutzen; frühe Zahnlosigkeit, die ihn seine Mahlzeiten alleine einnehmen ließ. Als Ergebnis von alldem eine menschliche Einsamkeit, die mit fortschreitendem Alter die gewollte und inszenierte Distanz zu den Menschen ins Pathologische steigerte.

Tragisch der Gegensatz zwischen prätendierter Majestät und erbrachter Herrscherleistung. Der Kaiser hatte am Ende die Ziele, die er sein Leben lang als von Gott erhaltenen Auftrag verfolgte, verfehlt: Statt der neuen Friedensordnung für das Heilige Römische Reich und Europa war Deutschland im Innern zerrissen, und die europäischen Mächte standen sich unversöhnlicher denn je gegenüber. Statt der ersehnten Einheit und Unversehrtheit der Kirche war die Christenheit in die Fundamentalfeindschaft der Konfessionen zerfallen. Die für ihn und sein Haus allein heilige, katholische und apostolische Kirche war zu einer Partikularkirche geworden. Statt in einer mächtigen Kreuzzugsbewegung den Islam aus den christlichen Kernzonen Byzanz und Kleinasien wieder zurückzudrängen, musste er sich mit einer labilen Waffenruhe zufriedengeben: Der Balkan war verloren, Ungarn, das Reich des Heiligen Stephan, zweigeteilt, in einen östlichen, osmanischen Teil mit den Königsstädten Buda und Pest und einen kleineren westlichen Teil, in dem sein Bruder Ferdinand als ungarischer König herrschte. Im Mittelmeer und an den Küsten Nordafrikas waren die Träume christlicher Dominanz zerbrochen, denen seine spanischen Vorgänger im ersten Hochgefühl der Reconquista angehangen hatten und denen auch er auf dem Höhepunkt seiner Macht noch nachgejagt war.

Der erste Kaiser eines Weltreiches musste vor den Fliehkräften der neuen Zeit kapitulieren und sich eingestehen, dass ihm seine Welt zerbrochen war. Wo er Eintracht, Recht und Ordnung stiften wollte, wurde er Partei, im Streit um die mächtepolitische Ordnung Europas ebenso wie im Ringen um die Reform der Kirche. Statt der einheitlichen Lobpreisung der Christenheit, die er sich in seinen frühen Herrscherjahren hochgemut zu verdienen gehofft hatte, war er im Alter Hass und Verleumdung des einen Teils der gespaltenen Christenheit ausgesetzt, in ihren Pamphleten öffentlich angegriffen als «Metzger aus Flandern»; als sündhaft Verantwortlicher für die grauenvolle Explosionskatastrophe in seiner Heimatstadt Mechelen, mit der ihn Gott gestraft und gezeichnet habe; ja als Blutschänder mit Schwester oder Tochter, ein Anwurf, der wie kein zweiter die ständische wie die ganz persönliche Ehre beschmutzte.

Als Einziger in der langen Reihe Römischer Kaiser legte Karl V. sein Amt nieder – für Zeitgenossen wie Nachwelt ein unerhörtes Geschehen, entfernt vergleichbar dem rätselhaften Rücktritt Papst Benedikts XVI. in unseren Tagen. In nur fünf Jahren hatte ihn das Rad der Fortuna von der Höhe des siegreichen Imperators, der 1547/48 auf dem «geharnischten Reichstag» von Augsburg den Besiegten seine Bedingungen diktierte, herabgerissen ins Elend eines Flüchtlings. Ein sächsischer Herzog, eben durch ihn zum Kurfürsten erhoben, hatte ihn in die Enge der Alpentäler getrieben, fast aus der Welt hinaus. Dessen Verbündeter, der König von Frankreich, den er endgültig in die zweite Reihe gewiesen wähnte, hatte vor Metz über seine als unschlagbar geltenden spanischen Truppen triumphiert. Mit den Protestanten wurde über einen dauerhaften Religionsfrieden verhandelt. Seine Seele wollte er damit nicht belasten und überließ es der säkular-politischen Klugheit seines Bruders Ferdinand.

Misslungen auch die einheitliche Vererbung seiner Reiche. Die mit bewundernswerter Energie und Klarsicht zustande gebrachte Bewahrung des Erbes durch die Aufspaltung in zwei Linien, der spanische und der deutsche Zweig des Hauses Österreich beziehungsweise der Casa de Austria, war ihm nur Notlösung. Quälend offen schließlich auch die humane Gestaltung und die Rettung der Indioseelen in den neuen Welten, derer sich der Kaiser persönlich angenommen, die er aber immer wieder hintangestellt hatte, um die machtpolitischen Notwendigkeiten in Europa nicht zu gefährden.

Verbunden mit der psychischen Last des Versagens waren Angst und Sündenbewusstsein, dem Bösen nicht entschieden genug entgegengetreten und der von Gott verliehenen kaiserlichen auctoritas nicht gerecht geworden zu sein. Anders als die Herrschaftsämter ließ sich diese Qual nicht ablegen. Sie verfolgte ihn in Yuste, seinem spanischen Alterssitz, bis in die letzten Lebenstage hinein.

Gescheitert war auch – eine berührende Parallelität in der Biographie dieser weltgeschichtlichen Gegenspieler – Martin Luther.[2] Anders als der Reformator hinterließ der Kaiser aber keine ihm emphatisch verbundene Gemeinde, die im Scheitern ihres Helden den kommenden Triumph der Wahrheit über das Verlogene, des Guten über das Böse erblickte. Dieser Unterschied bestimmt bis heute die Stellung der beiden in der europäischen wie der globalen Erinnerung: Der Mönch wurde 2017 erneut gefeiert als Heros der Neuzeit, der der Menschheit Freiheit, Selbstbestimmung und Fortschritt brachte. Der Kaiser hingegen erschien 2000 bei den Feiern zu seinem 500. Geburtstag in gedämpftem Licht, in wissenschaftlicher Distanz. Die Gebrochenheit des Menschen Karl V. trat hervor, und damit ein Zug seiner historischen Persönlichkeit, die zur Widersprüchlichkeit der Moderne passt.

Karl V., Herrscher und Mensch zwischen den Zeitaltern und Welten.  So strahlend die kulturelle Repräsentation Karls in seiner eigenen Zeit war, so bescheiden seine Position in der europäischen Erinnerungskultur. Ihm wird keine ähnliche identitätsstiftende Kraft zugeschrieben wie seinem Namensvetter Karl dem Großen, der gleichzeitig nationale Größe und europäische Eintracht versinnbildlicht, das eine im Reiterstandbild vor Notre Dame in Paris, das andere im Aachener Karlspreis. Die Erinnerung an den Kaiser der beginnenden Neuzeit blieb begrenzt. In Deutschland gedenkt man seiner vorwiegend im Umkreis der Reformation wie auf den Historienbildern «Luther auf dem Reichstag zu Worms» oder «Karl V. am Grab des Reformators» des Leipziger Historienmalers Adolf Friedrich Teichs. In Österreich vereinnahmte ihn der Habsburgermythos als Begründer der Weltgeltung des Hauses und reduzierte ihn damit auf eine Herkunfts-/Identitätslinie, die er selbst kaum als die wichtigste angesehen hatte.[3]

Die Person, die dieses glücklich-unglückliche Leben lebte, lässt sich nur schwer fassen. «Nimm doch Gestalt an!» – dieser inständigen Bitte so mancher Biographen an die historische Person, die sie begreifen und begreifbar machen wollen, entzieht sich kaum jemand so entschieden wie Karl V.[4] Sein Aussehen ist in Dutzenden von Gemälden, Stichen, Statuen, Reliefs, Münzprägungen überliefert. Was Abbildung, was Stilisierung ist, bleibt aber in der Schwebe. Kaum ein anderer Herrscher hat so viel Briefe hinterlassen wie er, und doch ist Karl V. «un Empereur taciturne»,[5] ein Schweiger in eigenen Dingen, den inneren Handlungsmotiven wie den Emotionen. In den vielen tausend Stücken seiner Korrespondenz findet sich kaum ein Brief privaten Inhalts. Über die persönliche Frömmigkeit gibt «nicht einmal der Briefwechsel mit den Beichtvätern» deutlich Auskunft.[6]

Der Biograph hat diese Ambivalenzen auszuloten, Karl Gestalt zu geben, indem er aus den Verlautbarungen, Abbildungen und dem Handeln des Kaisers die Person herausschält. Verfehlt wäre es allerdings, seine Biographie auf eine eindeutige Linie festzulegen. Für sie gilt nicht die Trennung zwischen Mittelalter und Neuzeit, wie sie spätere Historiker vornahmen. Er war geistig-kulturell fest an den alten Kontinent gebunden, hat nie in Erwägung gezogen, selbst nach Amerika aufzubrechen. Die Neuen Welten, über die er herrschte, haben ihn gleichwohl fasziniert. An dem Prozess, der neues Weltwissen nach Europa brachte und zur Formung von Neuzeit und Moderne beitrug, hatte er persönlich Anteil.

Hinzu kommt die vergleichsweise lange Regierungszeit von rund vier Jahrzehnten, in denen sich sein Herrschaftsbereich dramatisch ausweitete – von Niederburgund, heute Belgien und Holland, über Spanien mit Süditalien und den Ländern in der Neuen Welt hin zum Römischen Reich. Eine Ansammlung von Herrschaften mit politischen, religiösen und kulturellen Traditionen, wie sie unterschiedlicher nicht sein konnten. Der Kaiser sah sich immer aufs Neue vor überstürzende Veränderungen und neue Probleme gestellt. Er war «Empereur d’une fin des temps» (Denis Crouzet), doch auch Kaiser der Anpassung oder genauer, des Versuches der Anpassung von Politik und Kultur an die neu aufgezogenen Bedingungen. So kann er als einer der Gründungsväter der neuzeitlichen Staaten- und Weltordnung gelten, wenn auch eher ungewollt und als Folge seines Scheiterns. Da es eine übermenschliche Aufgabe war, die auseinanderstrebenden Partikularkräfte, zumal in dieser geographischen Weite, zu bändigen, wurde die Lebensleistung dieses ersten Kaisers der Neuzeit zwangsläufig zu einer «Geschichte eines übergroßen Wirkungsbereiches» (Ernst Schulin).

Auf dem Lebensweg Kaiser Karls V. werden uns Glanz und Triumph, scheinbar unbegrenzte Macht, skrupellos eingesetzte Gewalt, jäher Absturz und tiefe Depressionen begegnen, aber auch die nie abgelegte, tief persönliche Religiosität, die ihm gerade in der endgültigen, klar erkannten Niederlage Kraft gab, dem Gesetz, unter dem er angetreten war, treu zu bleiben. Macht, Glanz und Majestät waren ihm viel, nicht aber genug, um sein Gewissen für einen Kompromiss zu verraten, so unausweichlich er realgeschichtlich sein mochte.

1

GENT 24. FEBRUAR 1500 – Kind der Freude und der Stolz Burgunds

Glückliches Heiraten und rechtzeitiges Sterben in der Welt der Fürstenstaaten

Die Fülle der Macht, über die er als Kaiser verfügte, war Karl V. nicht in die Wiege gelegt. Geboren wurde er am 24. Februar 1500 im Prinzenhof der flämischen Stadt Gent als Erbprinz von Burgund. Zusätzlich war er Erzherzog von Österreich und Infant von Spanien. Aber das waren Titel, die jedes Kind in der Familie seines Vaters, des burgundischen Herzogs Philipp des Schönen, aus dem Hause Österreich, und seiner Mutter Juana, geborene Infantin von Spanien, trug. Ein Anspruch auf Herrschaft war damit nicht verbunden. Dass der Neugeborene knapp zwei Jahrzehnte später die Länder seiner burgundischen, deutschen und spanischen Vorfahren zu einem Herrschaftskomplex zusammenfassen würde, der Europa vom österreichischen Osten bis zum atlantischen Westen, vom friesischen Norden bis Neapel und Sizilien im mediterranen Süden überspannte, wird kaum einem vor Augen gestanden haben – den Eltern nicht und auch nicht den Großen Burgunds oder gar der Bevölkerung.

Philipp der Schöne (1478–1506).

Johanna von Kastilien «Johanna die Wahnsinnige» (1479–1555).

Der «Aufstieg» zum unbestritten mächtigsten Herrscher in der lateinischen Christenheit war die Realisierung einer ganz ungewissen Möglichkeit eines Ehebündnisses, wie es die europäischen Fürstenhäuser zu Hunderten untereinander abzuschließen pflegten, um politische Allianzen zu bekräftigen und ihren Dynastien Wege zum Zugewinn von Herrschaften durch Erbfolge zu eröffnen. Nur in wenigen Fällen aber wurde aus Möglichkeit Wirklichkeit, und dann häufig nur durch teure und verlustreiche Erbfolgekriege. Nicht anders sollte es sich mit der Kaiserwürde des Heiligen Römischen Reiches verhalten, mit der Karl neben den Papst an die Spitze der Christenheit trat. Und schon gar nicht war abzusehen, dass Karl als erster Herrscher eines europäischen Weltreiches würde verkünden können «in meinem Reich geht die Sonne nicht unter». Hatte man im Moment seiner Geburt doch noch keinerlei Vorstellungen, welche Ländermassen jenseits der Westindischen Inseln lagen, auf die Kolumbus sieben Jahre zuvor gestoßen war und die erst näher erschlossen wurden, als Karl bereits König von Kastilien war.

Das Haus Österreich oder die Casa de Austria, wie es nach Antritt des spanischen Erbes in Europa genannt wurde, hat später ihre Ehepolitik propagandistisch wirkungsvoll überhöht. In einem an Ovid[1] angelehnten, wohl auf ein Bonmot von Matthias Corvinus, dem ungarischen Rivalen der Habsburger, zurückgehenden[2] Distichon wurden die erheirateten Zugewinne als höhere, göttliche Fügung dargestellt:

Bella gerant alii, tu felix Austria nube. Nam quae Mars aliis, dat tibi diva Venus.

Kriege lass andere führen, du, glückliches Österreich, heirate! Denn was den anderen Mars, Venus, die Göttin, gibt es dir.

So sehr dieser Habsburger Mythos die historische Legitimität und staatsrechtliche Stellung des Hauses über Jahrhunderte hin ideologisch rechtfertigte, letztlich beruhten der Aufstieg des Hauses und die damit verbundene politische Neuordnung Europas auf Zufall. Der Erfolg des glücklichen Heiratens trat häufig nur durch unvorhersehbar «glückliche» Todesfälle ein.

Das trifft im Fall Karls V. in einem besonderen Maße zu: Der Ehevertrag, der seine Machtfülle rechtlich begründete, war erst 1495 abgeschlossen worden. Vertragspartner waren der deutsche Großvater Kaiser Maximilian I., der zugleich als Rechtsnachfolger seiner verstorbenen Frau Maria von Burgund, Karls Großmutter, handelte, und die Katholischen Könige Spaniens aus dem Haus Trastámara, Isabella von Kastilien und Ferdinand von Aragon, Karls Großeltern mütterlicherseits. Im Vordergrund stand die Befestigung des politischen und militärischen Bündnisses, das man eingegangen war, um die jeweiligen Interessen auf der Apenninenhalbinsel gegen die Militärinvasion der französischen Valois-Dynastie zu sichern: Maximilian in Oberitalien, wo einige Herrschaften zum Reichsverband gehörten; die spanischen Könige im Süden, wo es die Königreiche Neapel und Sizilien gegenüber den französischen Ansprüchen zu verteidigen galt.

Auf eine große Erbschaft des Genter Säuglings lief das alles aber kaum hinaus. Denn 1495 wurde eine doppelte Eheverbindung verabredet – zum einen zwischen dem spanischen Thronfolger Juan und Margarete von Österreich, der Tochter Maximilians, und zum anderen zwischen der spanischen Infantin Juana, Juans Schwester, und Maximilians Sohn Philipp, den man den Schönen nannte, den Eltern Karls. Das spanische Erbe stand dem ältesten Sohn der Katholischen Könige, also dem Infanten Juan und seinen Nachkommen zu. Erst Juans Tod noch im Jahr der Eheschließung 1497 – infolge zu intensiven Liebesgenusses, wie es in der Familie kolportiert wurde[3] – öffnete dem zu diesem Zeitpunkt noch gar nicht geborenen Karl einen Spalt weit die Tür zur spanischen Thronfolge. Ganz geöffnet wurde sie erst durch eine Reihe weiterer vorteilhafter Todesfälle. Im Europa der Fürstenstaaten hingen Herrschaft und politische Führung von biologischen Zufällen ab, und damit auch der Gang der Geschichte, die sich eben in jenen Jahren zur Weltgeschichte ausweitete.

Fürs Erste hatte alle Hoffnung noch auf der Schwangerschaft Margaretes gelegen. Wenige Wochen nach dem plötzlichen Tod ihres Mannes brachte sie ein Kind zur Welt, aber ein totes. Damit war nun Isabella, älteste Tochter des Katholischen Königpaares und Ehefrau des portugiesischen Königs Manuel, die erste in der spanischen Thronfolge. Aber auch sie starb bereits im Folgejahr, als sie – hochschwanger – im spanischen Saragossa die Huldigung der Stände als Thronfolgerin einholte. Da sie im Kindbett bei der Geburt eines Sohnes, Miguel da Paz, gestorben war, stand bei dem spanischen Königspaar neben der Trauer um die Tochter die Freude über den endlich geborenen männlichen Thronfolger, dem Spanien und Portugal zufallen würden. Sein Vater König Manuel einigte sich mit den spanischen Großeltern, dass das Kind am spanischen Hof bleiben und dort in der Tradition seiner Erbreiche erzogen werden solle.

Als Karl am 24. Februar 1500 in Gent das Licht der Welt erblickte, war nicht er, sondern der junge spanisch-portugiesische Prinz Thronfolger auf der iberischen Halbinsel. Doch auch er starb früh, am 20. Juli 1500 in Granada, fünf Monate nach der Geburt seines Vetters in Gent. Nicht genug mit diesen vier Todesfällen. Vor Karls Herrschaft in den spanischen Königreichen stand nun die zweite Ehe, die sein Großvater Ferdinand von Aragon nach dem Tod Isabellas von Kastilien mit der französischen Prinzessin Germaine de Foix im März 1506 einging, um noch in letzter Minute die iberischen Herrschaften an ein eigenes Kind vererben zu können. Erst als der im Mai 1509 geborene Thronfolger Johann noch am Tag seiner Geburt starb, war für Karl der Weg gebahnt. Allerdings war als letzte Voraussetzung noch nötig, dass Karls eigene Mutter Juana, die zweitgeborene Tochter des spanischen Königpaars, an die nach dem Tod ihres Vaters Ferdinand im Frühjahr 1516 die Thronfolge fiel, so schwer erkrankte, dass sie unfähig zu eigener Regierung war.

Am Beispiel Kaiser Karls V. zeigt sich eindrücklich die Offenheit geschichtlicher Entwicklung im Moment scheinbar schicksalhafter Vorprägung durch Dispositionen der Fürstenhäuser, biographisch wie staatenpolitisch. Dem in Gent geborenen burgundischen Erbprinzen wäre persönlich wie als Herrscher ein ganz anderer Lebensweg beschieden gewesen, hätten nicht mehrere Todesfälle die vorrangig auf die Vereinigung der iberischen Königreiche ausgerichtete Ehepolitik seiner spanischen Großeltern durchkreuzt. Auch die Geschichte Europas und der Welt hätte ohne die durch Karls Erbfolge geschaffene Verklammerung der weit nach Osten reichenden Mitte des Kontinents mit seinem Südwesten und dessen transatlantischen Besitzungen, die sich erst durch das Scheitern der portugiesischen Erbstrategie ergab, einen anderen Verlauf genommen. Das Leben des Genter Fürstensäuglings zu schildern, wäre trotzdem interessant gewesen; eine die Grundlagen der modernen Welt berührende Biographie würde das aber nicht abgeben.

Burgund – Realität und Mythos

Sicher war immerhin eines – am 24. Februar 1500 war in Gent der Erbe Burgunds geboren worden. Als Herzog von Burgund würde er über jenes von seinen französischen Vorfahren im späten Mittelalter zusammengezwungene Reich zwischen der Krone Frankreichs und dem Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation herrschen, das wegen seiner Wirtschaftskraft, gesellschaftlichen Modernität und kulturellen Blüte in Europa hoch angesehen war. Karl blieb dem Burgundertum zeitlebens emotional verbunden, so sehr sich das Zentrum seiner Herrschaft auch verschob. Das zeigt sein erbitterter Kampf mit dem französischen König Franz I. um die Rückkehr des Herzogtums Burgund unter die Herrschaft seines Hauses. Die Chartreuse von Champmol bei Dijon blieb lange Zeit der ersehnte Ort seiner letzten Ruhe, jenes fürstliche Kartäuserkloster, das seine Vorfahren durch die ersten Künstler Flanderns und Burgunds zum Zeugnis einer eigenständigen Kulturblüte zwischen Frankreich und Deutschland hatten ausbauen lassen. Neben den Grabmälern der Burgunderherzöge mit ihren expressiven Skulpturen von Engeln und Trauermönchen hoffte Karl seine eigene Grabstätte zu finden.

Sarkophag des Burgunderherzogs Philipp des Kühnen (1342–1404) aus der Chartreuse de Champmol, heute im Musée des Beaux-Arts, Dijon.

Heute sind die in ewiger Trauer und Anbetung versunkenen «Pleurants» Objekte musealer Bewunderung, nachdem der Hass der Französischen Revolution auf alles Sakrale die Grablege der Burgunderherzöge niedergerissen hat. In Champmol zeugt allein der einsam übriggebliebene Mosesbrunnen des Haarlemer Bildhauers Claus Sluter (1350–1405/06) von der zur Zeit Karls V. noch lebendigen kulturellen und politischen Größe der burgundischen Tradition. Dass der Kaiser heute im Escorial, der Klosterburg seines Sohnes Philipp II., ruht, ist die Folge der im Einzelnen zu schildernden Wende nach Südwesteuropa, die er mit der Übernahme der Kronen von Kastilien und Aragon vollzog. Zugleich spiegelt das die Höhen und Tiefen seiner Lebensleistung wider, die sein Haus weit über das Burgundertum hinaushob, dabei aber nicht verhindern konnte, dass ihm das Stammherzogtum Burgund an der Saône endgültig verloren ging und fest in das Gebiet der französischen Krone eingefügt wurde.

Ein Herrschaftsgebilde wie das mittelalterliche Burgund hatte schon einmal unter den Erben Karls des Großen im 9. Jahrhundert Gestalt angenommen, als im Vertrag von Verdun 843 dem ältesten Enkel Lothar mit dem Kaisertum der mittlere Reichsteil zugesprochen wurde, der sich von Friesland bis hinab in die Provence und weiter nach Italien erstreckte. Zwischen dem ost- und dem westfränkischen Reich seiner Brüder Ludwig des Deutschen und Karl des Kahlen gelegen, hatte es jedoch keine politische Dauer gewinnen können. Als Vision indes wirkte es fort und beflügelte ein halbes Jahrhundert später die Herzöge von Burgund aus einer Nebenlinie der französischen Valois-Dynastie. Diese Vorfahren Karls aus der Linie Marias von Burgund, seiner Großmutter väterlicherseits, gingen in der zweiten Hälfte des 14. Jahrhunderts daran, von ihrer Hauptstadt Dijon aus erneut ein Mittelreich aufzubauen. Italien konnten sie zwar nicht mehr einbeziehen. Das hochmittelalterliche Burgund sollte sich aber immerhin vom holländischen Ijsselmeer im Norden bis zur südlichen Kulturlandschaft Burgunds an Doubs und Saône erstrecken.

Formell waren die Herzöge aus der Linie Valois-Burgund lehnsabhängig, teils von ihren königlichen Vettern der Pariser Hauptlinie, teils vom Deutschen König. Faktisch schalteten und walteten sie in ihren Ländern jedoch nach Belieben; und mit den Lehnsherren verhandelten sie von gleich zu gleich. Ausgehend von dem Herzogtum Burgund, dem französischen Lehn ihres Hauses um Dijon und die Saône entlang, zwangen Philipp der Kühne (1363–1404), Philipp der Gute (1419–1467) und Karl der Kühne (1467–1477) durch Heirat, Kauf, Pfand oder schiere Gewalt ein drittes mitteleuropäisches Großreich zusammen, das sich zwischen Deutschland und Frankreich schob. Auf seinem Höhepunkt um 1475 erstreckte es sich von den oberburgundischen Besitzungen Mâcon, Nevers, dem Herzogtum mit der strahlenden Hauptstadt Dijon und der Freigrafschaft Burgund um Dole im Süden über eine soeben dazu gezwungene Verbindungsbrücke Elsass, Breisgau, Lothringen und Bar in der Mitte zum Norden nach Flandern, Artois, Mechelen, Antwerpen, Namur, Limburg, Brabant, Seeland, Holland, Hennegau, Picardie und Luxemburg.

Niederburgund, wie die nördlichen Herrschaften der Herzöge bald genannt wurden, war ausgangs des 15. Jahrhunderts neben Norditalien die wirtschaftlich und gesellschaftlich dynamischste Region Europas. In seinen südwestlichen Provinzen blühte das Textilgewerbe, teils auf traditionell zünftischer Basis wie in den Städten Flanderns und Brabants, teils mit modernen Betriebsformen außerhalb des Zunftwesens wie in den Landgebieten Walloniens. Antwerpen hatte den Aufstieg zum führenden Handelsplatz nördlich der Alpen angetreten und zog die Wirtschaft der umliegenden Zonen mit.[4] Davon profitierten auch die nördlichen Grafschaften Holland und Seeland, die Fischfang und Seefahrt in Nord- und Ostsee beherrschten. In der Regierungszeit Karls V. sollte diese Wirtschaftszone, in der Atlantik- und Ostsee-Schifffahrt sich trafen, einen nachgerade kometenhaften Aufstieg erleben, als die Osmanen im östlichen Mittelmeer den Orienthandel blockierten und der Handel ins neuentdeckte Amerika in Fahrt kam. Daraus resultierte eine weltgeschichtliche Drehung der europäischen Haupthandelsrouten – von der bislang dominierenden Nord-Süd-Linie aus der Levante über Venedig nach Oberdeutschland und von dort in den Nordwesten beziehungsweise Nordosten hin zu der nun expandierenden Ost-West-Linie von den baltischen Agrarzonen über die Niederlande nach Spanien und über den Atlantik in die Neue Welt. So wurden die niederburgundischen Herrschaften dank ihrer günstigen Lage zwischen Ostsee und Atlantik zur Schaltstelle der sich rasch entwickelnden frühneuzeitlichen Weltwirtschaft.[5]

Faszinierender noch als ein solcher Wirtschaftsaufschwung waren Kulturblüte und hohe politische Beteiligung der Einwohner, vor allem in Niederburgund beziehungsweise den Niederlanden. In den wallonischen Herrschaften war es vorrangig der an der Herrschaft partizipierende Adel; in Flandern, Brabant und Holland maßgeblich das Bürgertum der vielen Städte. Angeführt von Brabant hatte sich in dieser Zone bereits früh jene Tradition von Herrschaftsverträgen, Wahlkapitulationen und festumrissenen Fundamentalgesetzen durchgesetzt, mit der sich die Stände in den europäischen Ländern eine Beteiligung an den Staatsgeschäften sicherten. Festgeschrieben war das in der berühmten Joyeuse Entrée oder Blijde Inkomst von 1356. In dieser nach dem feierlichen Einzug des Herrschers benannten Verfassungsurkunde musste jeder Herzog Brabants bei seinem Regierungsantritt den Ständen das Vertretungsrecht für das Land und weitere konkrete Freiheitsprivilegien bestätigen. Erst danach galt er als rechtmäßiger Herrscher des Landes.

Das kulturelle Profil Burgunds hatte sich zunächst in den südlichen, französischen Landschaften Oberburgunds ausgebildet, war aber mit den Herzögen auch in die niederburgundischen Herrschaften vorgedrungen und dort rasch zum Eigenen geworden. Gleichgültig, ob man in der Hochblüte dieser Kultur seit Mitte des 15. Jahrhunderts mit dem niederländischen Kulturhistoriker Johan Huizinga einen «Herbst des Mittelalters» sieht oder wie die jüngere Forschung ein zweites, nördliches Zentrum der Renaissance,[6] die kulturelle Gestalt Burgunds war glänzend und braucht den Vergleich mit der uns heute näheren Renaissance Italiens nicht zu fürchten. In den Gemälden Rogier van der Weydens, der Gebrüder van Eyck, Hugo van der Goes, auch Hans Memlings, des in Brügge tätigen Deutschen, nicht zuletzt in der zur Hochblüte gereiften Buchmalerei fand die Gotik ihre Vollendung, ebenso in der Flamboyance von Maßwerk und Gewölben der Kathedralen.

Vorbildlich war vor allem das Musikleben der burgundischen Herzöge, die hohen Wert auf den Ausbau ihrer Hofkapelle legten. Die dort gepflegte Polyphonie gelangte mit der Erbtochter Maria von Burgund, die die Hofkapelle des Vaters übernahm, im letzten Viertel des 15. Jahrhunderts nach Norden in die Niederlande. Institutioneller Kern des europäischen Musiklebens der Zeit waren klerikale beziehungsweise semiklerikale Knaben- und Männerchöre, da Mädchen und Frauen an öffentlichen Auftritten nicht beteiligt waren. Neben diesen bald vorbildlichen Chören wirkten in den Niederlanden auch die ersten Komponisten und Instrumentalmusiker der Zeit wie Josquin des Prez (1450–1521) oder der Organist Hendrik Bredemers (1472–1522), der unter Philipp dem Schönen und Margarete von Österreich die burgundische Hofkapelle leitete, gefolgt von Nicolas Gombert und Cornelius Canis. Bei Verschiedenheit und Variation im Einzelnen waren sie alle einem gemeinsamen stilistischen Prinzip verbunden: «Durchimitation, die abwechselnde kontrapunktische Wiederholung eines einzelnen Motivs in jeder Stimme. Nach der Eröffnung, wo die einzelnen Stimmen noch erkennbar bleiben, entwickelt sich eine komplexe, subtile Vielstimmigkeit, die eher nach der Schönheit der melodischen Linienführung strebt, denn nach Verdeutlichung des Textes. Sobald das erste Motiv ausgeschöpft ist, führt der Komponist in der gleichen Weise das nächste ein. Da dieses neue Motiv schon von einer Stimme vorgetragen wird, während das alte noch in den anderen Stimmen nachhallt, zeichnen sich diese Werke durch eine nachdrückliche Verschleifung der musikalischen und textlichen Strukturen aus.»[7]

Es war nicht zuletzt die Musik, die den Burgunderherzögen die kulturelle Führung in der europäischen Fürstengesellschaft sicherte. Von den Niederlanden strahlte die franko-flämische Polyphonie weit aus und beherrschte das Musikleben Europas, auch und insbesondere an den Renaissance-Höfen Ungarns und Italiens.[8] Die Fürstenhöfe des Reiches zogen erst seit Mitte des 16. Jahrhunderts nach.[9]

In manchem drängte die burgundische «Herbstzeit» aber längst zu einem neuen Frühling. Ins Auge springt das etwa bei der von Karls Tante und Erzieherin Margarete in den 1520er Jahren errichteten Neuanlage des Klosters Brou bei Bourg-en-Bresse, in Savoyen hart an der Grenze zu Frankreich gelegen. Unter aktiver Mitwirkung der Fürstin von niederländisch-burgundischen und westdeutschen Künstlern entworfen und errichtet, ist sie einem Übergangsstil verpflichtet – nicht mehr ausschließlich Herbst des Mittelalters und noch nicht ganz Neuzeit.[10] Das als Ausdruck eines erstarrten konventionellen Geschmacks oder gar eines rückwärtsgewandten Geistes zu bewerten, hieße die Komplexität der Stilentwicklung, vor allem aber der menschlichen Seele verkennen. Dass Margarete italienische Meister durchaus zu schätzen wusste, hatte sie beim Bau ihres Palasts in Mechelen bewiesen. Nun aber, für das religiöse Zentrum Brou, das zugleich savoyardische Herrschaftsgeste gegenüber dem nahen Frankreich war, hielt sie die Kunst ihrer burgundischen Heimat für angemessen. Es sind insbesondere die Grablegen der letzten Generationen des Hauses Burgund, in denen sich Altes und Neues verbinden – stilistische Reife und überzeitliches Majestätsbewusstsein mit expressiver Emotionalität und persönlicher Frömmigkeitsgeste des in den Vordergrund tretenden Individuums. Das gilt für die Anlage in Brou mit ihren raffinierten, rational berechneten «Blickachsen, Bildinszenierungen und Materialtranszendenz»,[11] in anderer Konstellation auch für das eine knappe Generation später in der Brügger Onze-Lieve-Vrouwekerk neben dem gotischen Sarkophag Marias im Auftrag Karls V. errichtete Prunkgrab Karls des Kühnen.

Viel bewundert und an den anderen europäischen Höfen eifrig nachgeahmt wurden vor allem Burgunds Aufbau einer neuzeitlichen Bürokratie, das Zeremoniell und die Finesse seiner höfischen Selbstdarstellung. Das war kein Widerspruch, wie man aus heutiger Sicht anzunehmen geneigt ist. Im Übergang von den alten feudalen zu neuzeitlichen Formen politischer Herrschafts- und Staatsfunktionen ergänzten sich Rationalität der Verwaltung und kulturelle Eleganz der Repräsentation aufs Beste.

Karl der Kühne und sein Vermächtnis

Bereits Karl der Kühne, Karls V. Urgroßvater, war bemüht gewesen, dem bislang allein aus personal-dynastischen Wurzeln emporgeschossenen Länderagglomerat eine feste politische Form zu verschaffen, konkret, seine Besitzungen zu einem Staat umzuformen, der sich auf Dauer Frankreich gegenüber würde behaupten können, dem in der frühmodernen Staatsbildung fortgeschrittenen Nachbarn. Neben der staatsrechtlichen Formierung im Innern musste es um die äußere Absicherung gehen, was in der Zeit des Fürstenstaates vor allem Verbesserung des Rangs, der Reputation und der politisch-dynastischen Allianzen bedeutete. Da die verfeindete französische Königslinie ausschied, war hierfür der Römische Kaiser Friedrich III. der richtige Ansprechpartner. Mit ihm trat Karl in Verhandlungen mit einem doppelten Ziel ein: eine Heiratsallianz zwischen den Häusern Burgund und Österreich und die Erhebung Burgunds zum Königtum. Zwischen Herzog und Kaiser fanden direkte Unterhandlungen statt. Augenzeugen zufolge sollen sich beide 1473 in Trier so nahegekommen sein, dass man bereits die Insignien herbeischaffte und im Trierer Dom die Krönungszeremonie vorbereitete. Im letzten Moment ließ Kaiser Friedrich III. dann aber doch wieder alles in der Schwebe und suchte den Rat der Kurfürsten.

Karl der Kühne, Herzog von Burgund (1433–1477). Gemälde von Rogier van der Weyden, um 1460.

Realisiert wurde aber der Eheplan, den der Kaisersohn Maximilian energisch verfolgte. Seine 1476 abgesprochene und 1477 vollzogene Hochzeit mit der burgundischen Erbtochter Maria wurde in doppelter Weise ein Schlüsselereignis: Sie verlieh dem Burgundertum Bestand in einem Moment, in dem sein staatlicher Untergang unausweichlich schien, und sie eröffnete dem Haus Österreich jene große Zukunft, die mit dem Namen Kaiser Karls V. verbunden ist, dem Enkel des Brautpaares. Als die Ehe am 19. August 1477 in jenem Genter Schloss Ten Walle, wo 33 Jahre später die Wiege des Enkels stand, vollzogen wurde, lag der erträumte Burgunderstaat in Trümmern: Allseitig von Feinden bedrängt, die sich von seiner Expansionspolitik bedroht sahen, hatte Karl der Kühne mit «von Zorn und Hektik gesteigertem Waffenmut»[12] die Entscheidung gesucht. Nach Niederlagen 1474/75 vor Neuss gegen ein Reichsheer und 1476 in Grandson und Murten gegen die Eidgenossen war er nach Lothringen geeilt, um das eben dem jungen Herzog René abgejagte Herzogtum und damit die Brücke zwischen seinen ober- und niederburgundischen Besitzungen gegen den Ansturm seiner vereinten Feinde zu sichern. In einer denkwürdigen Schlacht wurde das stolze Ritterheer Burgunds am 5. Januar 1477 vor Nancy nahezu vernichtet, behindert durch Schneetreiben und wegelosen Morast.[13] Karl selbst fand den Tod, eben 44-jährig, hingeschlachtet von Schweizer Fußkämpfern, gegen deren Hieb- und Stichwaffen die Ritter-Krieger hilflos waren. Die der Rüstung und aller Herrschaftsinsignien beraubte, durch Wunden entstellte Leiche des kühnen Herzogs wurde erst zwei Tage später unter den vielen namenlosen Schlachtopfern gefunden. Mit der triumphalen Geste des Siegers ließ ihn Herzog René im eben zurückeroberten Nancy beisetzen.

Später sollte der Urenkel Karl V. einen politisch günstigen Moment nutzen, um mit Renés Sohn Anton II. von Lothringen (1489–1544) die Überführung des Burgunderhelden nach Brügge zu vereinbaren. Vollzogen wurde die Umbettung dann 1550 unter tatkräftiger Förderung von Antons Schwiegertochter Christina von Dänemark, Karls Nichte. In Brügge fand der rastlose Herzog seine letzte Ruhestätte, wohl auf der Burg in der im Zuge der Französischen Revolution niedergerissenen St. Donaas Kathedrale. Zurück zu Pracht und Ruhm gelangte er durch das Kenotaph, das ihm Karl in der städtischen Onze-Lieve-Vrouwekerk errichten ließ, neben dem Prunksarkophag seiner Tochter Maria von Burgund und der Herz-Urne Philipps des Schönen, Marias Sohn und Vater Karls V. So waren in der niederburgundischen Residenz die fürstlichen Zeugen der großen burgundischen Tradition im Tode präsent – pietätvolle Würdigung der Vorfahren und Repräsentation kaiserlicher Macht, aber auch Eigenverpflichtung Karls auf das burgundische Erbe und dessen an Frankreich gefallenen Teil, wo im Mausoleum von Champmol bei Dijon die älteren Burgunderherzöge der Auferstehung harrten.

Maria, Herzogin von Burgund (1457–1482). Flämische Schule, 15. Jahrhundert.

Die Vision eines Burgunderstaates als westmitteleuropäisches Zwischenreich war 1477 vor Nancy grausam zerstoben. Nach anderthalb Jahrzehnten militärischen Ringens, in dem Maximilian den Ambitionen Frankreichs auf Gesamtburgund zähen Widerstand entgegensetzte, einigte man sich 1493 im Frieden von Senlis auf eine Teilung der Ländermasse, die drei aufeinanderfolgende Burgunderherzöge zusammengebracht hatten. Frankreich erhielt das aus seinem Lehnsverband herausgebrochene Herzogtum an der Saône, das fortan direkt bei der Krone blieb und nicht mehr als Lehen an ein Adelsgeschlecht ausgegeben wurde. Das Haus Burgund-Österreich, konkret Herzog Philipp der Schöne, erhielt die Freigrafschaft/Franche-Comté mit der Hauptstadt Dole und die niederburgundischen Erbländer, die westlich der Schelde von der französischen Lehnspflicht entbunden wurden. Endgültig befriedet waren die Gegensätze damit allerdings nicht. Im Gegenteil, beide Seiten sannen auf Revision. Die spätmittelalterlichen Burgunderkonflikte wurden zur neuzeitlichen Rivalität zwischen der französischen Königsdynastie Valois/Bourbon einerseits und den Häusern Burgund-Österreich-Trastámara andererseits. Ein deutsch-französischer Gegensatz, wie häufig anachronistisch behauptet, war das nicht.

Gleichgültig ob die burgundische Staatsbildung an Karls des Kühnen «Entgleisung ins Pathologische» (Johan Huizinga) scheiterte oder weil die Zeit bereits vorbei war, in der sich Reiche und Staaten ganz neu zuschneiden ließen – feststeht, dass «Burgund» vor Nancy nicht untergegangen ist. Es blieb Vorbild im höfischen Zeremoniell und in dem neuen bürokratischen Stil des Regierens, selbst für seine erbittertsten Gegner Frankreich und die Schweizer Eidgenossen. Vor allem aber setzte sich die burgundische Tradition in den niederländischen Herrschaften direkt fort. Das war die Leistung zweier ebenso kluger wie entschiedener Frauen – der jungen Burgunder Herzoginnen Maria, Karls des Kühnen Tochter, und seiner Witwe Margarete von York, der Stiefmutter Marias, die die junge, politisch unerfahrene Erbin beriet und durch ihre Verbindungen zum heimischen England gegen die äußeren Feinde absicherte. Indem beide an der Eheabsprache mit Erzherzog Maximilian festhielten und noch im Todesjahr Karls des Kühnen die Hochzeit realisierten, schufen sie die entscheidende Voraussetzung dafür, dass in den nächsten Jahren das neue österreichisch-burgundische Herrscherhaus wie ein Phönix aus der Asche aufsteigen konnte.[14] Maximilian, der den Rechtssatzungen und den Vorstellungen der Zeit zufolge für seine Ehefrau Maria und die gemeinsamen Kinder das Erbe durchzufechten hatte, nahm den Kampf um die Sicherung des Burgundererbes mit Umsicht und einer nie wankenden Entschiedenheit auf – nach außen gegen die französischen Ansprüche und nach innen gegen die selbstbewussten Stände. Als Maria von Burgund eben 25-jährig 1482 nach einem Reitunfall starb, hatte Maximilian noch nahezu zehn Jahre mit dem offenen Widerstand der Untertanen zu ringen, gelegentlich unter Lebensgefahr, wie Anfang 1488, als die Bürger Brügges ihn mehrere Monate ins Gefängnis warfen. Der militärische Einsatz seines kaiserlichen Vaters Friedrich III., seine eigene Reputation und sein politisches Geschick ließen ihn schließlich die Krise überwinden. Ausgangs des 15. Jahrhunderts war durch den Vertrag von Senlis das niederländische Burgundererbe für Philipp den Schönen gesichert, Marias und Maximilians 1478 geborenen, inzwischen großjährigen Sohn. Und mit dessen bereits erwähnter, 1496 vollzogener Ehe mit Juana von Kastilien war jener weltgeschichtliche Erbhorizont eröffnet, der ihren erstgeborenen Sohn zu Kaiser Karl V. werden ließ.

Gent, 24. Februar 1500

So hochgespannt ihre Kultur und ihr Machtwille auch waren, frühabsolutistische Herrscher waren die Burgunderherzöge nicht. Ihre Herrschaft ruhte auf der Zustimmung der Stände, nicht zuletzt der ökonomisch starken Städte Flanderns, Brabants, zunehmend auch Hollands. Das hatten auch Philipp der Schöne und Juana im Auge zu behalten. Sie werden daher mit Bedacht Brüssel verlassen und im flämischen Gent den Prinzenhof bezogen haben, als die Geburt ihres zweiten Kindes bevorstand. Denn im Genter Prinzenhof hatten 23 Jahre zuvor Philipps Eltern, die burgundische Erbtochter Maria und der österreichische Erzherzog Maximilian, die Ehe vollzogen und damit ihren Willen bekundet, nach dem Schlachtentod Karls des Kühnen vor Nancy den Glanz Burgunds wiederherzustellen. Gent als Hochzeitsort zu wählen, war eine symbolische Geste des Selbstbehauptungswillen gegenüber der französischen Krone gewesen, lag die Stadt doch rittlings auf der Grenze zwischen französischem und Reichslehen, die entlang der Schelde quer durch Gent verlief.

Indem sich Philipp und Juana zur bevorstehenden Niederkunft nach Gent begaben, stellten sie die Geburt ihres zweiten Kindes, des Thronfolgers, wie sie hofften, demonstrativ in die Burgundertradition. Darüber hinaus versicherte sich Philipp des göttlichen Beistands, indem er aus dem wallonischen Kloster Anchin eine der Gottesmutter zugeschriebene Reliquie in die Genter Geburtsstube bringen ließ.[15] Unmittelbar verbunden mit dieser Gottesbeziehung war für Philipp – und das werden wir 1521 in Worms bei seinem Sohn genauso wiederfinden – die Achtung der Dynastie und der Vorfahren. Konkret bedeutete das nicht das Haus Österreich seines Vaters, sondern das Haus Burgund seiner Mutter. Es war die Burgundertradition, die die niederländische Machtbasis sicherte und damit auch die Ambitionen auf eine eventuelle Nachfolge in Spanien. Und so wollte Philipp seinen Thronfolger in der burgundischen Herrschaftskultur verankert wissen und gab ihm den Namen des Großvaters Karls des Kühnen von Burgund, dessen Strahlkraft auch die Niederlage von Nancy nicht hatte verdunkeln können. Der Wunsch der spanischen Großeltern, den Neugeborenen zur Vorbereitung auf eine mögliche iberische Thronfolge nach Spanien zu bringen, hatte keine Chance auf Gehör.

Symbolisch verdichtet kommt diese Verpflichtung auf Burgund und auf die Aufgabe, die 1477 zerfledderten territorialen Grundlagen wiederherzustellen, in Karls Wiege zum Ausdruck, die mit den Wappen Maximilians und Marias von Burgund sowie der Devise Kaiser Maximilians I. «Halt Maß in allen Dingen» verziert war. Im 16. Jahrhundert nachweislich im Genter Prinzenhof, an den heute nur noch der Straßenname erinnert, gehört die Staatswiege längst zum musealen Erinnerungsschatz der königlichen Kunst- und Geschichtskammer in Brüssel.[16]

Nach der Geburt des ersten Kindes Eleonore 1498, die Karl stets besonders nahe sein sollte, hatte die Bevölkerung Niederburgunds besonders hohe Erwartungen an die zweite Schwangerschaft der Herzogin geknüpft. Als dann Ende Februar die Nachricht von der Geburt eines Thronerben verkündet wurde, bereiteten Magistrat und Bürgerschaft sogleich ein großes höfisches Freudenfest vor. Das war in den europäischen Fürstenstaaten üblich. In Gent erhielten die Feierlichkeiten aber einen besonderen Akzent. Denn in Niederburgund stand neben der traditionellen Adelskultur längst eine aufblühende bürgerliche Kultur, die in den Städten sogar den Ton angab. Speziell in Gent hatte sich bereits früh im 15. Jahrhundert eine im Handwerk verankerte Dichter- und öffentliche Vorlesetradition herausgebildet, ja für einige Jahre stand den Bürgern sogar eine privat organisierte öffentliche Bibliothek mit kommerziell zum Lesen angebotenen Manuskripten zur Verfügung – also lange vor der von Reformationshistorikern vielgerühmten Medienrevolution des Buchdrucks. Nach der Jahrhundertmitte fand diese bürgerliche Dicht-, Vortrags- und Lesekultur eine feste organisatorische Basis in den genossenschaftlich organisierten Rederijkerkamern,[17] Rhetorikgesellschaften nach Art der Meistersinger in den oberdeutschen Reichsstädten. Unter Leitung des Meisterpoeten der Sankt Barbara Kammer Lieven Bautkin, Vikar an St. Peter, nahmen die Rederijker sogleich die öffentliche Gestaltung der Geburtsfeierlichkeiten in die Hand – mit tableaux vivants, Ehrenreden und Gedichten. Bautkin selbst dichtete eine Ballade mit 21 Strophen auf den «paeyselick Prince», der dem Land «vreudge en groote verblidijnghe maeckt», auf den «alle zufriedenstellenden Prinzen, der dem Land Freude und große Beglückung bringt». Und einen solchen Prinzen haben die Bürger als gute Untertanen immer zu ehren – so die Quintessenz aller öffentlichen Aufführungen und Reden.

Abschluss und Höhepunkt der öffentlichen Feierlichkeiten war die Taufe am 7. März in der St. Jans Kirche, der heutigen Kathedrale St. Bavo, mit einer großen Prozession durch die Stadt. Die Bürgerhäuser waren geschmückt, auf den Straßen Ehrenpforten und Triumphbögen errichtet, auf den Flüssen und Kanälen lagen Prachtschiffe, mit kostbaren Tapisserien behangen und durch Fackeln erleuchtet. Angeführt wurde die Taufprozession von hohen mütterlichen und väterlichen Verwandten, unter denen vor allem Margarete von Österreich, die Tante und Taufpatin Karls, Beachtung fand.

Zum Kern der burgundischen Herrschertradition gehörte die Verpflichtung auf die Religion und den Schutz der Kirche. Daran erinnerten die hohen Prälaten Flanderns mit ihrem Taufgeschenk – eine Prachtbibel mit der kunstvollen Aufschrift auf dem Einband «Scrutamini Scripturas»/«Erforschet mit Leidenschaft die Schrift». Ein Taufgeschenk, das die besondere Schriftfrömmigkeit der Niederlande, wo die Alphabetisierungsrate der Bevölkerung europaweit am höchsten lag, zum Ausdruck bringt. Zugleich übertrug damit der niederburgundische Klerus dem zukünftigen Herrscher «die treue Vorsorge in Religion und Glaubenssachen».[18] Auch der Rederijker Lieven Bautkin ließ seine Tauf-Ballade mit einer Wendung an Gott ausklingen: «Ick bidde den Heeren, den maker der Zonnen/Dat hy onsen Prince mit gratien verlichte:/Gods gratie te vriende hebben, gheen stercker ghestichte.»[19]/Ich bitte den Herrn, den Schöpfer der Sonne/dass er unseren Prinz mit Gnade erleuchte/Gottes Gnade als Freund zu haben, einen stärkeren Schutz er nicht bräuchte.

Neben dem Verweis auf die göttliche Gnade war es vor allem die Beispielhaftigkeit seines Vorfahren Karl des Kühnen, an die der Täufling allseits gemahnt wurde. «Während seines ganzen Lebens wird er diesem Vorbild nacheifern und den einst so bedeutenden, 1477 zerstückelten Staat wiederbeleben wollen.»[20] Wie er sich mit der burgundischen Tradition, speziell auch mit seiner Geburtsstadt Gent identifizierte, belegt seine propagandistisch gekonnte Herausforderung an Franz I. von Frankreich, dem er mitteilen ließ, er werde Paris in seinen «Gant» stecken, mit dem Gleichlaut des französischen Wortes «gant» für Handschuh und dem Namen seiner Geburtsstadt Gent spielend. Für manche Zeitgenossen, etwa für seine protestantischen Gegner in Deutschland, blieb er zeitlebens schlichtweg Karl von Gent.

Erziehung und Bildung der Burgunderkinder

Karl und seine Geschwister wuchsen nicht bei den Eltern auf.[21] Nach der Geburt erhielt Karl eine Amme und einen eigenen Haushalt mit Bediensteten, die von der Wiege an für ihn verantwortlich waren. Das war in den europäischen Fürstenhäusern üblich. Den in Gent oder Brüssel geborenen «Burgunderkindern» – Eleonore 1498, Karl 1500, Isabella 1501 und Maria 1504, die ihre beiden in Spanien geborenen Geschwister Ferdinand (1503) und Katharina (1507) erst spät kennenlernten – wurde diese Elternferne in einem ganz besonderen Maße zuteil. Die Gründe dafür waren die persönliche Disposition und die außergewöhnlich verwickelten politischen Verpflichtungen des burgundisch-spanischen Herzogpaares. Der Vater Philipp der Schöne war in einem lustreichen Leben am Brüsseler Hof gefangen, ebenso die Mutter Juana, die ihrem umschwärmten Gatten in tiefer Liebe und quälender Eifersucht nicht von der Seite weichen wollte und bereits früh Anzeichen seelischer Verwirrungen zeigte, ein Erbe ihrer Mutter Isabella von Kastilien, bei der die Eifersucht ähnlich ungezügelt auszubrechen pflegte. Kinder waren ihr als Frucht der Liebe willkommen; ein mütterliches Verhältnis hat sie zu ihnen nicht entwickelt. Hinzu kamen die politischen Pflichten im fernen Spanien. Als das Paar im Spätherbst 1501 aufbrach, um die Erbhuldigung der kastilischen Stände einzuholen, verfügte Philipp die Übersiedlung Karls und dessen beider Schwestern – die zweite, Isabella, war erst wenige Wochen alt – nach Mechelen unter Aufsicht und Fürsorge von Margarete von York, der Stief-Urgroßmutter, die bereits Philipp selbst nach dem Tod der Mutter 1482 aufgezogen hatte. Als Juana im März 1504 nach dreijähriger Abwesenheit endlich aus Spanien an den Brüsseler Hof zurückkehren konnte, war sie glücklich, wieder mit ihrem vorweggereisten Mann vereint zu sein. Ihre drei Kinder aus dem benachbarten Mechelen herbeibringen zu lassen oder sie zu besuchen, kam ihr nicht in den Sinn.

Karl mit seinen Schwestern Eleonore und Isabella, Gemälde vom Meister der St. Georgsgilde, 1502. Karl im Alter von zweieinhalb, Eleonore von vier Jahren, Isabella von einem Jahr und drei Monaten.

Mechelen sollte für lange Zeit Wohnort der Burgunderkinder bleiben – mit der Geburt Marias 1505 waren es vier. Denn die Eltern begaben sich im Frühjahr 1506 nach dem Tod Isabellas von Kastilien erneut nach Spanien, wo Philipp der Schöne noch im September desselben Jahres überraschend starb. Juana, seelisch endgültig erschüttert, aber als Königin Kastiliens Garantin dynastisch-herrschaftlicher Stabilität, war in Spanien unabkömmlich, zudem nicht interessiert, zu ihren Kindern in die Niederlande zurückzukehren. Karl, eben sechsjährig, wird das emotional kaum berührt haben. Wie bei allen Fürstenkindern war die mütterliche Bezugsperson die Amme. Ihr fühlte er sich auch noch als Erwachsener verbunden, setzte ihr eine Pension aus und protegierte noch deren Sohn, mit der Begründung, «weil mir seine Mutter neun Monate lang als erste Milch-Nährerin diente».[22]

Die Erziehung der Burgunderkinder hat durch den frühen Tod des Vaters und die Abwesenheit der Mutter nicht gelitten. Im Gegenteil, Mechelen bot ihnen die denkbar besten Voraussetzungen für eine behütete Kindheit und gute geistige Entwicklung – ein im Vergleich zu den großen Handels- und Gewerbestädten Flanderns und Brabants ruhiger und von sozialen Unruhen freier Gerichts- und Verwaltungssitz, zudem als Wittum Margaretes von York eine eigene geschützte Herrschaft. Hinzu kam, dass nach dem tief betrauerten Tod ihres zweiten Ehemannes Herzog Philibert von Savoyen im September 1504 auch Margarete von Österreich, Tante und Patin Karls, hier ihren Witwensitz nahm. Als die Urgroßmutter York Ende 1503 und der Vater Philipp im Sommer 1506 starben, übertrug Kaiser Maximilian Margarete die Vormundschaft über die Kinder zusammen mit der Regentschaft über die Niederlande. Karls Erziehung als von Männern der alten Generation geprägt zu charakterisieren, geht somit doppelt in die Irre. Prägend waren zwei Frauen und deren Höfe mit einem ganz eigenen religiösen, kulturellen und sozialen Umfeld.

Margarete von Österreich ließ sich am locker bebauten Rand der Stadt ein Palais mit Gartenanlage errichten und nannte es Hôtel de Savoy – eine Erinnerung an die guten im Süden verbrachten Jahre. Das Hôtel de Bourgogne, die Residenz Margaretes von York, wo die Burgunderkinder wohnten, liegt nur wenige Schritte gegenüber auf der anderen Straßenseite. Wer die beiden Palais heute in Augenschein nimmt, kann noch etwas von der produktiven Spannung erahnen, in der der zukünftige Kaiser heranwuchs: auf der Nordseite der Ausfallstraße die mittelalterliche Anmutung des ab 1480 errichteten hochgotischen Burgunderhofes; auf der Südseite der zwei Jahrzehnte jüngere, im Übergangs-, teilweise schon im modernen Renaissancestil errichtete Palast Savoyen, geprägt durch hohe, lichte Fenster, einen eleganten Arkadenhof mit italienischem Bogengang und südlich gestaltetem Garten. Ähnlich die persönliche Ausstrahlung der beiden eng vertrauten Frauen: Auf der einen Seite die Urgroßmutter, Mitte Fünfzig, die illuminierte Handschriften religiösen Inhalts liebte, aufmerksam die Entwicklungen in Kirche und Theologie beobachtete, keineswegs rückwärtsgewandt, sondern an der Devotio moderna wie an den Ordensreformen interessiert, voran bei den «intellektuellen» Franziskanern. Der tägliche Gottesdienst in der dem Palast benachbarten Parochialkirche St. Peter, zu der es einen direkten Zugang über eine Verbindungsbrücke hoch über die Straße hinweg gab, prägte ihren Haushalt ebenso wie die Fürsorge für die Bedürftigen, die sie mit Stiftungen bedachte.[23]

Auf der anderen Seite die jüngere Margarete, Renaissancemensch und femme de lettres, Kunstmäzenin, versiert in Regierungs- und Finanzangelegenheiten, auf der Basis neuzeitlicher Rechenhaftigkeit, gelegentlich bis hin zum Geiz, wie Albrecht Dürer erfahren musste, als er ihr eines seiner Werke verehrte.[24] Ihr Palais in Mechelen wurde zum Treffpunkt von Politikern und Diplomaten, aber auch von Künstlern und Humanisten, darunter Adrian von Utrecht, Cornelius Agrippa, Erasmus von Rotterdam. Ihre Kunstsammlung wurde bald europaweit gerühmt. Sie selbst betätigte sich in der polyphonen Musik Burgunds, als Dichterin, mit beachtlichem Erfolg selbst als Malerin von Portraits. Vor allem aber wurden höfische Sitten und Umgangsformen nirgendwo vollkommener gelebt als an ihrem Hof, so das Urteil des Italieners Baldassare Castiglione in seinem berühmten höfischen Sittenkodex «Libro del Cortegiano». Kurz, in Mechelen wuchs Karl anders als viele Königskinder Alteuropas behütet und von den Umbrüchen der Zeit weitgehend unbeeinträchtigt auf. In einem kulturell außerordentlich anregenden Umfeld entwickelten sich die emotionalen und geistigen Grundlagen seiner Persönlichkeit. «Eine bessere Erziehung hätte Karl und seinen Geschwistern nicht zuteilwerden können als durch den täglichen Umgang mit Margarete, die ihnen vorlebte, was sie von ihnen erwartete.»[25]

Für ihre geistigen und leiblichen Belange erhielten die Geschwister je einen Hofstaat von mehreren Personen, darunter immer auch gleichaltrige Kinder aus hohen Adelsfamilien, die mit den Burgunderkindern lebten und erzogen wurden. Dem Hof des Erbprinzen kam natürlich eine hervorgehobene Stellung zu, hinsichtlich des Ranges ebenso wie der Größe und des Budgets. Zu Karls persönlicher Sicherheit beorderte der Großvater Maximilian eine stattliche Zahl von Bogenschützen als Leibwache nach Mechelen, um der steigenden Gefahr eines französischen Überfalls vorzubeugen, aber sicherlich auch aufgrund seiner eigenen Erfahrung mit den rebellischen Ständen. In den wenigen Monaten, die Kaiser Maximilian 1508/09 und 1512 in den Niederlanden verbrachte, hielt er Karl möglichst lange in seiner Nähe – aus Freude an dem Enkel, vor allem aber, um den heranwachsenden Erbprinzen mit den Ländern und ihren Bewohnern bekannt zu machen, die er bald regieren sollte. Auch für Karls Schwestern war der Besuch des Großvaters eine Attraktion. So beeilt sich Eleonore, die Älteste, bei einem solchen Besuch Margarete, «ma tante et ma bonne mère»/«meiner Tante und meiner guten Mutter» mitzuteilen, «welch Pläsier wir hatten, als unser Großvater uns besuchte, und uns eine große Freude gemacht hat».[26]

Der Alltag in Mechelen wurde immer wieder durch festliche Ereignisse unterbrochen – durch Prozessionen und andere kirchliche Feste, aber auch durch Tanz und Karnevalbelustigungen. Karl nahm an alldem teil – immer an hervorgehobener Stelle, als Sonder-Kind gleichsam. Das heißt nicht, dass er sich Dinge herausnahm, die seinen Kameraden nicht erlaubt waren. Die Sonderstellung bedeutete eher Distanz, die sich Schritt für Schritt zu jenem sakral fundierten Majestätsbewusstsein steigerte, das sein Auftreten als Herzog, König und Kaiser auszeichnete und ihn zeitlebens Abstand zu den Menschen halten ließ.

Über die Erziehung des Erbprinzen wachten Männer, die zu den führenden Köpfen in Staat, Kirche oder Wissenschaft zählten: Zum Kämmerer des Hofstaates, Präsident des Regentschaftsrats und Gouverneur über Karls Erziehung ernannte Kaiser Maximilian Guillaume de Croy, Seigneur de Chièvres, Angehöriger einer der großen Adelsfamilien des wallonischen Hennegaus, der bereits unter Herzog Philipp dem Schönen zu einem der führenden Politiker Niederburgunds aufgestiegen war. Chièvres führte den Erbprinzen klug in die politischen Zusammenhänge ein und – vielleicht wichtiger noch – gewöhnte ihn an regelmäßiges Arbeiten, vor allem beim täglichen Unterricht, der in der Hand von speziellen Lehrern, teils Niederländern, teils Spaniern lag. So lernte der Jüngling Pflichterfüllung und Herrscherverantwortung, Maximen, denen er bis ans Lebensende folgte. Bei aller Strenge und Entschiedenheit gelang es Chièvres, das Vertrauen seines Zöglings zu gewinnen. Karl berief ihn dann auch gleich nach der Thronbesteigung in Burgund und Spanien zum ersten Berater und Chef seiner Regierung.

Verantwortlich für die religiöse und geistige Bildung war Adriaan Florisz. Boeyens (1459–1523), oder Adrian von Utrecht, Dekan an St. Peter in Löwen und Prorektor der dortigen Universität, einer der bedeutendsten Theologen und Humanisten der Zeit, der später für wenige Monate als Hadrian VI. den Stuhl Petri besteigen sollte. Was genau vermittelt wurde und in welcher Weise das geschah, lässt sich nicht sagen. Überhaupt wissen wir wenig über die damalige religiöse Erziehung von Kindern, zu selbstverständlich war der religiöse Grundbestand einer jeden Pädagogik. Bei Karl dürfen wir davon ausgehen, dass Adrian von Utrecht seinen Zögling mit der einfachen, ernsten, gewissenhaften, im Humanismus gründenden Frömmigkeit der Devotio moderna vertraut machte, in der er selbst lebte. Wie tief Karl den Geist dieser auch die Laien erfassenden religiösen Aufbruchstimmung aufnahm, lässt sich nicht genau ausmachen. Allein, wenn der Kaiser Jahre später in einem Schreiben vom 7. März 1522 den ehemaligen Lehrer und eben gewählten Papst an die Zeit erinnert, in der «estant vostre escolier», und die Hoffnung ausspricht, «que estant le papat en votre main, et lempyre en la myenne est pour faire par ensemble beaucop de bonnes et grandes choses»,[27] so darf man davon ausgehen, dass diese diplomatischen Worte zugleich Verbundenheit mit der religiösen Erziehung der Kindheit bezeugen.

Chorbuch Margaretes von Österreich, um 1515/16. – Eingeblendet in die Notenschrift ist eine Miniatur, die den fünfzehnjährigen Herzog Karl auf dem Herrscherthron zeigt, umgeben von den niederburgundischen Ständen, die ihm huldigen. Sein Bruder Ferdinand und die ältere Schwester Eleonore sitzen ihm zu Füßen. Die drei jüngeren Schwestern spielen auf der Wiese: eine fiktive Darstellung, insbesondere weil Ferdinand und die jüngste Schwester Katharina zu diesem Zeitpunkt in Spanien weilten.

Wie das «Mechelner Chorbuch» von 1515/16, eine illuminierte Prachtschrift aus dem Besitz Margarete von Österreichs, belegt, war eng mit der religiösen die musikalische Erziehung verbunden. Auf einer in die Notenschrift eingeblendeten Miniatur ist der fünfzehnjährige Herrscher beim Hören des Kyrieeleisons zu sehen, umgeben von seinen Geschwistern und Vertretern der Stände. Der Vorsteher der Hofkapelle, der Organist Hendrik Bredemers, unterrichtete die Burgunderkinder in Mechelen täglich am Manicordion, einem Vorläufer des Klavichords und damit des Klaviers. Wie regelmäßig und mit welchem Engagement der Thronfolger selbst an diesen Musikstunden teilnahm, wissen wir nicht. Seine Schwestern, vor allem Eleonore, spielten das Instrument noch als Erwachsene gerne und mit Talent. Für Karl selbst wird man das nicht annehmen dürfen, da ein musizierender Fürst in dieser Zeit noch ganz ungewöhnlich war. Seine Liebe zur Musik kam in der kenntnisreichen Pflege der Hofkapelle zum Ausdruck, deren Kunst er gelegentlich auch befreundeten Höfen vorführen ließ. So bereits im Frühjahr 1520 beim Antrittsbesuch bei Heinrich VIII. von England. Gleich danach spielte die burgundische Hofkapelle unter Hendrik Bredemers wohl auch bei der Aachener Krönung Karls zum deutschen König und erwählten Römischen Kaiser. Von 1527 bis 1540 ist der damals berühmte Komponist Nicolas Gombert Hofkomponist und Leiter der Chorknaben. Als er wegen Missbrauch eines Zöglings auf eine Galeere verbannt wurde, folgte ihm der ebenso kunstvolle Cornelius Canis. Von nahezu allen Hofkomponisten und Chorleitern, die Karl im Laufe seines Lebens beschäftigte, sind Musikeditionen, häufig aus Venedig, überliefert.[28]

Später, als Karl großjährig war, wurde – vor allem von seinem Kanzler Sauvage betrieben – sogar Erasmus von Rotterdam als «Lehrer» aufgeboten: Seine 1516 als burgundischer Hofrat in Löwen verfasste, Karl gewidmete Schrift «Institutio Principis Christiani»/«Erziehung des Christlichen Fürsten» sollte den jungen Herrscher das ethisch richtige, auf den Frieden gerichtete Regieren lehren. Das war allerdings längst keine spezifisch burgundische Erziehung mehr, sondern ein allgemein christlicher Verhaltenskodex für einen Monarchen, dessen Herrschaftsbereich sich in eine europäische Dimension ausweitete. Dasselbe gilt für die wenig später verfasste Friedensschrift des Rotterdamers. Sie wurde zwar von den Leitern der Brüsseler Politik Guillaume de Croy und Jean le Sauvage in Auftrag gegeben und sollte die burgundische Position für die Friedensverhandlungen mit Frankreich in Cambrai stärken.[29] Dass es eine Auftragsarbeit war, ist dem im Spätjahr 1516 abgefassten, nach Erscheinen 1517 rasch berühmt gewordenen Traktat «Querela pacis undique gentium ejectae profligataeque»/«Die Klage des Friedens, der von allen Völkern verstoßen und vernichtet wurde»[30] durchaus anzumerken. Das taktisch-politische Kalkül der burgundischen Regierung ist aber beileibe nicht das vorrangige Interesse der Schrift. Vielmehr zielt Erasmus immer wieder ins allgemein christlich Ethische und philosophisch Grundsätzliche. Nicht Fürstenberatung für den konkreten Fall ist seine Absicht, sondern Verpflichtung Karls, und mit ihm aller Herrscher auf den Frieden.

Karl V., Gemälde von Bernard van Orley, 1516.