17 Erkenntnisse über Leander Blum - Irmgard Kramer - E-Book

17 Erkenntnisse über Leander Blum E-Book

Irmgard Kramer

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Beschreibung

Zwei Jungs, eine tiefe Freundschaft, eine gemeinsame Liebe zum Sprayen: Als "BLUX" sind sie in der Szene bekannt, wobei niemand genau weiß, wer sich hinter diesem Tag verbirgt. Daneben ein Mädchen und ein neuer Mitschüler. Er: unnahbar und genau deswegen interessant. Sie: lässt nicht locker und kommt nach und nach dem Grund seiner Verschlossenheit auf die Spur. Siebzehn Erkenntnisse führen zu Leander Blums trauriger wie intensiver Vergangenheit – und plötzlich wird vieles klar …

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Irmgard Kramer

17 Erkenntnisse über Leander Blum

Irmgard Kramer wurde 1969 geboren und arbeitete zunächst als Lehrerin, bevor sie sich als Schriftstellerin selbstständig machte. Durch ihre Kinderbücher ist sie einem breiten Lesepublikum bekannt und verzaubert kleine und große Leser*innen mit ihren abenteuerlichen und humorvollen Büchern. Für diesen Text ist sie gemeinsam mit PEKS tagelang durch Wien gestreift, war auf der Suche nach der ultimativen Wand, durfte mit Spraydosen herumhantieren und wurde in die Geheimnisse der Streetart eingeweiht.

www.irmgardkramer.at

Österreichischer Kinder- und Jugendbuchpreis | 2019, Preisbuch

2024

© Verlagsanstalt Tyrolia, Innsbruck

Umschlaggestaltung: Nele Steinborn

Grafische Gestaltung und Satz: Kevin Mitrega, Schriftloesung

Schriften: Versus, Scala, PF Spine, Milka Dry

Druck und Bindung: Florjančič, Maribor

ISBN 978-3-7022-4232-9 (gedrucktes Buch)

ISBN 978-3-7022-4242-8 (E-Book)

E-Mail: [email protected]

Internet: www.tyrolia-verlag.at

Social Media: Tyrolia Verlag Kinderbuch

Inhalt

Kapitel 1

Kapitel 2

Omega

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Alpha – die erste Erkenntnis: Leander Blum riecht nach Terpentin

Kapitel 6

Kapitel 7

Beta – die zweite Erkenntnis: Leander Blum hat raue Hände

Kapitel 8

Kapitel 9

Gamma – die dritte Erkenntnis: Leander Blum ist in Englisch noch schlechter als ich

Kapitel 10

Delta – die vierte Erkenntnis: Leander Blum ist doch ein Gespenst

Kapitel 11

Kapitel 12

Epsilon – die fünfte Erkenntnis: Leander Blum wandert wie eine Maschine

Kapitel 13

Zeta – die sechste Erkenntnis: Leander Blum kann lachen und weinen

Kapitel 14

Eta – die siebte Erkenntnis: Leander Blum mag Elefanten

Kapitel 15

Theta – die achte Erkenntnis: Leander Blum war von einem Meister gemalt worden

Kapitel 16

Kapitel 17

Iota – die neunte Erkenntnis: Leander Blum überrascht mich immer wieder

Kapitel 18

Kappa – die zehnte Erkenntnis: Leander Blum fährt gerne Achterbahn

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Lambda – die elfte Erkenntnis: Leander Blum liebt den Schmerz

Kapitel 22

My – die zwölfte Erkenntnis: Leander Blum ist schwul

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Ny – die dreizehnte Erkenntnis: Leander Blum hat wirklich einen Grund, sich das Leben zu nehmen

Kapitel 27

Xi – die vierzehnte Erkenntnis: Leander Blums Freund ist durchgeknallt

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Omikron – die fünfzehnte Erkenntnis: Leander Blum hatte viele Geheimnisse

Kapitel 32

Pi – die sechzehnte Erkenntnis: Leander Blum bekam ein geheimnisvolles Paket

Kapitel 33

Rho – die siebzehnte Erkenntnis: Mit Leander Blum würde ich bis ans Ende gehen

Vernissage

Kunst ist eine grausame Angelegenheit, deren Rausch bitter bezahlt werden muss.

Max Beckmann

1

Gemälde: boys escaping the tunnelÖl auf Leinwand. 100 × 70 cm

Der Künstler ist ein Getriebener,der nur eines im Kopf hat:Den Moment so intensiv wie möglichspürbar zu machen.

(Winter Winetzki, Kunstkritikerin)

Die Nacht war nebelig. Ich roch das ölige Bahngleis, die Pisse am Bahndamm und Jonas’ Haargel. Ich zog mir die Sturmhaube übers Gesicht und hörte Jonas fluchen – die Drahtschere, mit der er ein Loch in den Maschendrahtzaun geschnitten hatte, war ihm auf die Zehen gefallen. Er packte sie zurück in seinen Rucksack und bog den Draht auseinander. Hinter mir knackte es. Ich fuhr herum, blickte ins Gebüsch. Verdammte Katze.

„Was machst du noch? Komm weiter“, drängte Jonas. Wir schlüpften durch den Zaun und liefen an den Gleisen entlang. Wie schwarze Gespenster huschten wir auf Turnschuhsohlen von Schatten zu Schatten, gebückt und mit Rucksäcken voller Farbdosen auf unseren Rücken; nur die Metallkugeln darin klapperten verräterisch – wir hätten Magnete unter die Dosen kleben oder die 800er ohne Kugeln verwenden sollen. Ein Zug quietschte und klang wie der Schrei einer Frau.

„Pass auf“, flüsterte Jonas; immer um meine Sicherheit besorgt. Wir sprangen über die gelbe, kniehohe Metallschiene, in der Strom floss, und landeten auf einem schmalen Weg aus Steinplatten, der zwischen der Stromschiene und der Tunnelwand entlangführte. Ich ließ Jonas den Vortritt und heftete mich an seine Fersen, von Steinplatte zu Steinplatte. Mit meiner Schulter streifte ich die feuchte Tunnelwand. Züge donnerten hinter Mauern. Wir waren wieder unterwegs! Gab es etwas Besseres? Am liebsten hätte ich Jonas umarmt. Aber er hätte das falsch aufgefasst und mir eine gescheuert.

Mattes Licht von Notlampen beleuchtete den Tunnel. Aus dem Schienengraben kletterten wir auf einen Bahnsteig. Wir betraten das Allerheiligste: zu beiden Seiten des Bahnsteigs U-Bahn-Wägen, jeder mehrere Waggons lang.

Wir konnten uns aussuchen, an welchem wir unser Masterpiece nach unzähligen gescheiterten Versuchen endlich vollenden konnten. Genau genommen hätte jeder von uns einen ganzen Zug haben können. WHOLE TRAIN FOR ALL OF US. Feiertag im Schlaraffenland.

Wenn wir Glück hatten, würden die Züge stillstehen bis der Morgen graute, wenn wir noch mehr Glück hatten, würden die Züge dem Putztrupp entkommen, der normalerweise dafür sorgte, dass kein Zug mit nächtlich gesprayten Graffiti in die Welt hinausgeschickt wurde. Mein Herz trommelte. Die Vollendung unseres Masterpieces lag zum Greifen nah.

Mehr als ein Jahr Vorbereitung, unzählige Sketche, in jeder freien Minute waren wir über Papier gebeugt gewesen und hatten gekritzelt und gezeichnet, alles wieder auf den Kopf gestellt und von vorne begonnen. Jonas war ein Tüftler. Der gab sich nicht so schnell zufrieden. Er trieb uns beide zu Höchstleistungen, die mir selbst unheimlich wurden.

„Was ist denn mit dir los?“, fragte Jonas und hielt mir Latexhandschuhe vor die feuchten Augen. „Sentimentale Anwandlungen?“

Der konnte mich mal. Ich zog Rotz hoch, riss ihm die Latexhandschuhe weg und zog sie über meine Finger. Dann wendeten wir uns den beiden Wagen zu, entschieden uns für den sauberen, traten zurück und legten unser Piece mit der Kraft unserer Vorstellung über das Fahrzeug. Wir streckten unsere Arme aus, betrachteten durch die gespreizten Finger den Zug, setzten Fluchtpunkte fest und wussten, was zu tun war, um die Perspektive so hinzukriegen, dass das Piece Eindruck hinterließ.

Auch das hatte ich Jonas zu verdanken. Ich wusste nicht, was in seinem Hirn so alles abging, aber irgendwie drehten sich dort ein paar Schrauben mehr. Er sah hinter die Dinge. Er sah das Wesentliche. Er sah, wie etwas gemacht wurde. Technisch hatte er mir so ziemlich alles beigebracht, was relevant war. Und nun konnten wir der Welt zeigen, wie weit wir es inzwischen gebracht hatten. Heilige Scheiße, hatte ich mich auf den Moment gefreut.

Etwas schoss in mein Gehirn, belebend, euphorisierend, explosiv. Zielsicher griffen wir nach den richtigen Farben – Fever, Campari, Vietnam, Tabacco. Wir gaben uns Five und sprayten die Firsts auf das silberne Blech. Den Background fabrizierten wir mit beiden Händen gleichzeitig. Wir reckten uns, bewegten uns in alle Richtungen, waren aufeinander eingespielt. Schnell. Jeder Strich musste sitzen. Zwei Dosen schüttelnd, tänzelte Jonas an mir vorbei. Ich prostete ihm lachend zu. Wir führten uns auf wie vollgekokste Gorillas. Adrenalin war das geilste Zeug im Universum; es sprudelte in unseren Adern wie in einer Fritteuse. Wie sehr ich den beißenden Lackgeruch liebte, den Schweiß, der mir die Sturmhaube an die Haut klebte. Mein Puls raste. In diesem Moment fühlte ich mich lebendig, verdammt lebendig!

Nach dem Pilling zogen wir extradicke Outlines und sorgten für Lichteffekte – sparkling, twinkling, dazzling, glittering, lighty, glary, flashy, crispy, crusty. Wie Feuerwerkskörper funkelten die Lieblingswörter meiner Muttersprache grell an meiner Netzhaut vorbei und vermischten sich mit den Farben auf dem Zug.

Plötzlich der Widerschein einer Taschenlampe in der Scheibe! Im Tunnel begegnet dir eigentlich nichts. Nichts, außer Kupferdieben, Putztrupps, Ratten und Polizisten. Von keinem dieser Gesellen wollten wir uns die Tour vermasseln lassen. Erschrocken presste sich Jonas den Zeigefinger auf die Lippen. Wir lauschten. Er schüttelte den Kopf. Weiter. Ich wischte mir Schweiß aus den Augen und wollte ein Fenster anmalen, als mich plötzlich ein Dämon ansprang und in die Knie zwang. Mir war, als wollte er mich vor drohendem Unheil warnen. Heftig atmend musste ich mich abwenden, weil ich mir plötzlich einbildete, dass sich im Fenster der Eingang zum stinkenden Schlund der Hölle befand, der mich verschlingen würde, sobald ich hindurchschaute. Verdammt, bisher hatte ich noch nie Skrupel gehabt, eine Fensterscheibe anzumalen, aber meine Nerven waren offenbar kurz davor zu reißen. Es knackte. Das war ein verdammtes Funkgerät! Den Sound kannten wir, hatten oft genug damit gespielt, als wir noch klein waren.

„Bullen!“, keuchte Jonas. Eine Sprechblase aus Flüchen poppte in meinem Gehirn auf, während ich wütend die Kannen in die Rucksäcke warf. Jonas drückte mir meinen Rucksack in die Hand und hängte sich den anderen um. „Weg hier!“, formte er mit seinen Lippen. Auf den Videos von den Überwachungskameras, die überall in der U-Bahn hingen, würden sie uns nicht erkennen; wir sahen aus, wie alle aussahen: speckige Jeans, dunkle Kapuzenshirts, vermummte Gesichter, also nichts wie weg …

Zwei Polizisten traten zwischen Waggons hervor und sperrten uns den Weg ab, für den Bruchteil einer Sekunde standen wir uns mit einigem Abstand feindlich gegenüber. Die durchdringend blauen Augen des einen Polizisten kannte ich besser, als mir lieb war. Sie gehörten meinem Vater. Natürlich. Der Moment hatte ja kommen müssen. Früher oder später. Später wäre mir lieber gewesen. Beim Abendessen, als ich angekündigt hatte, bei Jonas übernachten zu wollen, hatte er noch von Innendienst geredet, aber an Abmachungen hatte er sich noch nie gehalten. Diese beschissene Begegnung hätte er uns beiden wirklich ersparen können.

„Ist das …?“, japste Jonas, während wir uns umdrehten und losrannten.

„Ja, verdammt.“ Ich hörte nur noch, wie mein Vater mit seinem Funkgerät um Verstärkung bat, was uns ein paar Atemzüge Vorsprung gab. Ich konnte es ihm wirklich nicht antun, dass er uns erwischte. Seit Jahren war er hinter BLUX her. Er hatte all unsere Graffiti fotografiert, registriert, katalogisiert, geprüft, geordnet und verglichen. Mit den Werken anderer Crews tat er das auch und zu unserer Ehrenrettung musste ich sagen, dass er bei den Werken der größten Mastercrew unserer Stadt, den MÖRVs, wesentlich aggressiver fluchte, als wenn er es mit BLUX zu tun hatte. Mit unseren Graffiti tapezierte er sein Büro und ich hatte ihn schon öfters im Verdacht gehabt, dass sie ihm insgeheim gefielen.

Trotzdem würde er den Schock, wenn er herausfinden würde, dass sein eigener Sohn und dessen bester Freund hinter BLUX steckten, nicht überleben. Noch wahrscheinlicher war allerdings, dass Jonas und ich das nicht überlebten, weil uns mein Vater zwingen würde, das Aerosol aus unseren Kannen zu sniefen, bis wir einen qualvollen Tod starben. Vor allem dann, wenn ihm klar werden würde, dass er an unserer Sucht nicht ganz unbeteiligt gewesen war.

Er würde eins und eins zusammenzählen und sich plötzlich daran erinnern, wie er von einer nächtlichen Verhaftungstour mehrere Kartonschachteln voll neuer Spraydosen mit nach Hause gebracht hatte, weil er zu faul gewesen war, noch einmal ins Präsidium zu fahren, um sie fachgerecht zu entsorgen. Meine Mum hatte ihn tagelang deswegen genervt, weil die Schachteln unseren ohnehin schon engen Flur vollgestopft hatten. Jonas und ich halfen aus, indem wir die Sache buchstäblich in die Hand nahmen und den Inhalt der polizeilich beschlagnahmten Dosen auf unsere Weise entsorgten – wir sprühten sie leer, bis wir Krämpfe in den Zeigefingern hatten und uns die Unterarme beinah abfielen. Wir waren zwölf.

Meinem Vater war ich ständig einen Schritt voraus, weil ich zu Hause täglich gratis wichtige Informationen geliefert bekam. Während ich im Curryreis stocherte und tödliche Langeweile vorzutäuschen versuchte, lieferte er mir bereitwillig alles, was ich wissen musste und das, was ich nicht wissen wollte. Zum Beispiel, wenn wieder ein Sprayer tödlich verunglückte. Trotzdem konnte ich nicht widerstehen.

Mit langen Schritten folgte ich Jonas. Beinah war ich unserem sadistischen Sport- und Zeichenlehrer, dem Drill Sergeant, dankbar, dass er uns wöchentlich mit Intervalltraining quälte. Wir waren so was von fit. Leider war mein Vater genauso fit.

Dicht hintereinander jagten wir durch den U-Bahn-Tunnel. Bloß nicht ausrutschen, neben uns floss Strom in Schienen. Konnte sein, dass man den inzwischen abgeschaltet hatte; das passierte, sobald Eindringlinge gemeldet oder gesichtet wurden. Aber drauf ankommen lassen wollte ich’s nicht. Unsere Verfolger hingen uns an den Fersen.

„Notausgangsschacht!“, japste Jonas. „Wir brauchen einen Scheiß Notausgang!“ Aber da war keiner. Oder wir sahen keinen. Meine Lungen brannten. Seitenstechen. Wir zweigten in einen anderen Tunnel ab, rannten um eine Kurve, rissen eine Metalltür auf, rannten über einen Steg aus Eisengitter durch ein unterirdisches Gewirr aus Kabeln und Rohren. Wassertropfen klatschten von der Decke. Hinter uns das Poltern der Polizeistiefel. Das Zucken eines Lichtkegels. Die Silhouette des durchtrainierten Körpers meines Vaters.

Er brüllte etwas. Wir liefen, immer weiter, kamen durch eine Tür aus dem Untergrund, rannten Betontreppen aufwärts, rissen noch eine Tür auf und standen plötzlich in einem Schacht mit einem Parkautomaten und einem Lift. Jonas schlug mit der Faust auf den quadratischen Schalter. Der Lift bewegte sich nicht. Wir jagten die Treppen hoch, weiter durch eine Halle, Rolltreppe abwärts, wir gegen die Fahrtrichtung aufwärts, ich auf Knien, die Rolltreppe wollte mich nach unten ziehen, Jonas packte mich am Arm, half mir hoch, einen gekachelten Gang entlang. Die Puste ging mir aus … Auch Jonas wurde langsamer … Kühle Luft drang in unsere Lungen … Die letzte Treppe. Raus in die Nacht. Jonas blickte nach unten.

„Scheiße! Lauf!“ Aber mein Vater hatte nicht vor, uns laufen zu lassen. Viele Jahre harten Trainings hatten ihn schnell gemacht. Aber auch er hatte seine Schwachstelle, eine, die nur ich kannte: In der Nacht war er halb blind – keiner seiner Kollegen wusste das und er hätte es nie zugegeben, denn fürs Altwerden war er zu eitel, außerdem hätten sie ihn dann in den Innendienst versetzt und das hätte ihn umgebracht.

Mit den schweren Rucksäcken voller Dosen, Brecheisen, Schraubenziehern und Zangen hatten wir keine Chance, gegen seinen ekelhaften Ehrgeiz zu gewinnen, also schleuderten wir sie in einem Hundekack-Park an der schwärzesten Stelle unter ein Gebüsch. Wagen jagten mehrspurig an uns vorbei auf die Außenringautobahn zu und blendeten uns. Sattelschlepper saugten explosionsartig Sauerstoff aus unseren Lungen. Reifen zischten. Ein letztes Mal mussten sie vor einer Ampel halten, bevor es in Richtung Autobahn ging. Bremsen quietschten. Waghalsig nutzten wir eine Lücke, bahnten uns im Zickzack einen Weg über vier Spuren, übersprangen den Mittelstreifen. WUSCH WUSCH WUSCH donnerten die Wagen vorbei. „JETZT!“, brüllte Jonas und rannte über die nächsten vier Spuren. Das Glück war auf unserer Seite. Über eine Fußgängerbrücke. Vorbei an Wolkenkratzern mit Banken und Versicherungen. Wir huschten in eine Seitengasse, rissen uns im Dunkeln die Sturmhauben von den Köpfen, tauchten im Theaterviertel unter und zogen so lange durch Seitengassen und Hinterhöfe, bis unser Puls wieder halbwegs normal war.

2

Gemälde: total balanceAcryl auf Leinwand. 52 × 41 cm

Die Figuren sind genial angeordnet und beleuchtet.Wollte man eine solche Szene filmen,wären dafür umfangreiches Hightech-Material,Wandschirme und diverse Blenden notwendig.

(Fidel Spörri, Kunstkenner)

Inmitten eines Kinderspielplatzes blieb Jonas stehen. Er stützte seine Hände auf die Knie und fing an zu lachen, und wenn Jonas anfing zu lachen, musste jeder lachen. Sein Lachen war ansteckender als Ebola. Nur das genaue Gegenteil von tödlich. Wir hielten uns die Bäuche und krümmten uns. Unsere Nasen pufften Wölkchen aus. Erst jetzt bemerkten wir, wie saukalt es immer noch war. Wir sehnten uns nach Sommer. Selbst ein halbwegs anständiger Frühling wäre uns inzwischen recht gewesen.

Nach einem extrem warmen März war der Winter mit voller Wucht und Eiseskälte zurückgekehrt. Etliche unserer Pieces waren nie getrocknet. Dazu brauchte es nämlich eine Mindesttemperatur von vier Grad.

Ich musste an das Kind denken, das einen weißen Fußball an eine Wand geworfen hatte und in Tränen ausgebrochen war, weil der noch feuchte Lack daran kleben geblieben war und auf seine Hosen tropfte. Selber schuld – man schoss keine Bälle auf Kunstwerke.

Viel schlimmer als das fand ich aber die Tatsache, dass mein Weltbild ins Wanken geriet. Ich war davon ausgegangen, dass ich mich auf den Wechsel der Jahreszeiten verlassen konnte: Frühling, Sommer, Herbst und Winter. Aber nicht einmal mehr das war sicher. Das Wetter brach über uns herein. Nach einem Frühling. Was passierte mit uns? All das machte mir große Angst und ich begann zu ahnen, dass das nur die Vorboten von etwas viel Schlimmerem waren, was da auf uns zukommen würde. So viele Blüten waren erfroren. Mit Schaudern betrachtete ich einen Strauch, an dem braune Forsythien verfaulten. Forsythien.

Ich schlotterte. Ach, wäre es doch endlich Sommer. Nur Jonas lachte immer noch. Eines der vielen Fenster öffnete sich. Eine alte Frau streckte ihren Kopf heraus und keifte unschöne Wörter in den Hof. Wir bissen uns auf die Lippen. Ich rieb mir Lachtränen aus den Augenwinkeln und rettete mich auf eine Kippschaukel. Unvorbereitet knallte ich zu Boden. Oh heiliges Steißbein. Ich hatte vergessen, wie instabil so eine Schaukel war. Jonas nahm auf der anderen Seite Platz. Sein Gewicht ließ mich steigen. Wir hoben die Füße vom Erdboden und schwebten im totalen Gleichgewicht.

Omega

In dem Jahr, als ich achtzehn wurde, war der Sommer heißer als sonst. Ursache dafür war ein Hochdruckgebiet, das westlich und östlich von zwei Höhentiefs flankiert wurde. Wenn das Gebilde als Grafik in den Wettervorhersagen dargestellt wurde, sah es aus wie der griechische Großbuchstabe Omega. Ich machte das Omega zu meinem Zeichen. In Erinnerung an die Zeit, in der ich Leander Blum kennenlernte, eine Begegnung, die mein Leben für immer auf den Kopf stellen sollte.

Jenes Omegahoch löste eine Kettenreaktion aus. Es war die Ursache dafür, dass meine Familie und ich jedes Wochenende mit Kühltaschen, Liegestühlen und Badesachen aus der Stadt ins Grüne pilgerten, um in den Schatten der Donau-Auen unser Lager aufzuschlagen. Zu meiner Familie gehörten Monika (meine Mutter), ihr Lebensgefährte Oliver, Charly (mein Vater), seine Lebensgefährtin Ruth, mein Bruder Onno und ich. Unsere Eltern hielten sich für sehr fortschrittlich, denn obwohl ihre Ehe schon lange nur noch auf dem Papier existierte, wollten sie uns den Schmerz einer Trennung ersparen und uns beiden uneingeschränkt zur Verfügung stehen. Sie waren der Meinung, wir hätten Vater und Mutter verdient. Deswegen blieben sie in der gemeinsamen Wohnung und holten ihre Partner, die wie die Jahreszeiten wechselten, einfach dazu. Ich fand das anstrengend, aber Charly war zu feige und Monika liebte Konflikte.

In jenem Sommer also kämpften Charly und Oliver am offenen Feuer um die Gunst unserer Liebe. Oliver brillierte als gertenschlanker Feinschmecker. Er hatte die Gourmet-Küche intus und servierte uns fingergroße Grillspezialitäten aus Straußenfleisch, Känguru und Krokodil in Form von Filets oder Spießen, garniert mit zartem Gemüse in Regenbogenfarben; alles bio und öko. Charly hielt tapfer dagegen: fette Steaks vom Discounter, eiskalter Kartoffelsalat aus dem Eimer, ein Kasten Bier und Vanilleeis aus der Familien-Großpackung.

Ich war wie immer für den Kuchen zuständig und hatte, passend zum Eis, Schoko-Erdnuss-Brownies gebacken, dafür war ich um fünf Uhr früh aufgestanden. Das fand ich herrlich. Um diese Zeit gehörte die Küche mir und es war ohnehin zu heiß, um zu schlafen. Ich rührte, knetete und probierte für mein Leben gern neue Kuchenrezepte aus. Diese Brownies hatte ich in eine Thermobox gegeben; sie waren – wie ich geplant hatte – noch warm, als viel später das Vanilleeis dazukam.

„Esst!“, trug uns Charly auf und schöpfte großzügig. „Es ist das beste Vanilleeis, das es zurzeit gibt.“ In Badehosen und mit behaartem Oberkörper stand er im Schatten einer Weide und freute sich, weil er wusste, wie gern Onno und ich Eis mochten – gemeinsam mit den Brownies wirklich ein Geschmackserlebnis.

Oliver saß in seinem neuen Designer-Campingsessel, nippte an einem Gläschen Grappa, aß den Brownie mit Begeisterung und hatte große Mühe, nicht mit dem Eis in Berührung zu kommen. „Du bist eine Meisterbäckerin, Lila, du solltest eine von diesen Guerilla Bakeries aufmachen, die jetzt so modern sind.“ Nur das Eis von Charly ließ er unangerührt zerlaufen.

„Jetzt probier’s halt“, forderte ihn Monika leise auf. Skeptisch schnupperte er daran, nahm einen winzigen Tropfen Eis auf seinen Teelöffel, schob ihn sich in den Mund, kaute affektiert wie bei der Weinverkostung daran herum und analysierte das Eis: „Palmfett statt Milch, vielleicht auch Kokosfett, eventuell Analogkäse, Farbstoffe, aufgepumpt mit Sauerstoff. Monsanto dankt.“

„Oliver“, zischte Monika. Aber es war schon zu spät. Ich konnte sehen, wie Charly die Freude aus dem Gesicht kippte, die er uns hatte machen wollen.

„Also ich find’s ziemlich geil“, sagte Onno, nahm Charly die ganze Büchse aus der Hand und schaufelte das Vanilleeis großzügig in sich hinein.

Oliver zeigte mit dem Eislöffel darauf. „Nächste Woche zeig’ ich euch, was wirklich geiles Eis ist!“

„Darauf freuen wir uns, lieber Oliver“, sagte Charly sauer und löffelte alles, was noch in der Schüssel war, alleine aus.

Am darauffolgenden Grill-Wochenende trat Oliver also mit selbst gemachtem Eis den Gegenbeweis an. Ich probierte seit einiger Zeit vegane Rezepte aus und steuerte warmen Kirsch-Mohn-Kuchen bei – ohne Ei.

Oliver hatte recht. Sein Eis war wunderbar cremig, nur leider ein bisschen verseucht mit ungefähr einer Milliarde unsichtbarer Campylobacter, die uns frühzeitig mit grummelnden Gedärmen nach Hause schickten und uns innerhalb weniger Stunden für längere Zeit außer Gefecht setzten. Onno fand das gar nicht mehr geil, und auch sonst niemand.

Über unsere Wohnung wurde Quarantäne verhängt. Wir mussten uns Nachttöpfe und Brech-Eimer von den Nachbarn kommen lassen, weil eine Toilette für uns alle nicht reichte. Vom Fenster aus sah ich zu, wie sich der Sommer zurückzog, wie die Schwalben in den Süden flogen, wie die ersten Studenten und die letzten Urlauber zurück in die Stadt kamen. Die Lufttemperatur sank und unsere Körpertemperatur stieg: Besorgniserregend fieberten wir vor uns hin, jeder für sich und kaum ansprechbar; wenn wir nicht so ansteckend gewesen wären, hätte man uns alle zusammen ins Krankenhaus eingewiesen.

An Dienstagen und Freitagen legte uns Yasmin (die Putzfrau, die Monika bezahlte) eine Familienpackung Salzstangen, Klopapier, Cola, Tee und Medikamente vor die Wohnungstür. An Montagen und Donnerstagen legte uns Sandra (die Putzfrau, die Charly bezahlte) eine Familienpackung Salzstangen, Klopapier, Cola, Tee und Medikamente vor die Wohnungstür. Wir konnten weder die Salzstangen noch die Cola bei uns behalten, selbst unsere Eltern waren zu schwach, sich zu streiten. Es dauerte lang, bis wir uns wieder fähig fühlten, am Alltag teilzunehmen. Viel zu lang. Denn zum ersten Mal in meinem Leben verpasste ich den Schulanfang. Was zur Folge hatte, dass ich den Platz nehmen musste, der übrig blieb. Den Platz neben Leander Blum.

3

Gemälde: dönerMischtechnik auf Karton. 50 × 50 cm

Auf geradezu magische Weise werden die banalen Dinge greifbar. Man möchte zubeißen.

(Hiltrud Teufel-Bruckbauer, Kunstsammlerin)

Wir schaukelten eine lange Weile, sprachen nichts und genossen, jeder für sich, die bittersüßen Nachwirkungen unseres Abenteuers. Die Nacht lag noch vor uns. Keiner erwartete uns – Jonas’ Mutter dachte, wir schliefen bei mir zu Hause, meine Eltern dachten, wir schliefen bei Jonas. Sie vertrauten uns. Wir vertrauten ihnen. Der Mond ging über den Dächern auf und schnitt die Silhouetten der Dächer, Kamine und Satellitenschüsseln aus, fehlten nur noch die buckelige Katze und die Hexe auf einem Besen.

„Ich hab tierischen Hunger“, sagte Jonas, stand ohne Vorwarnung auf und ließ mich zu Boden plumpsen. Ich hätte es wissen müssen – diese Gemeinheit hatte er schon als Kind liebend gern praktiziert. Ich rieb mir den Hintern. „Zu Arsim?“

„Unbedingt“, sagte Jonas, legte mir einen Arm um den Hals und wir zogen los.

Auf dem Weg zu unserem Lieblingsdöner verflüchtigte sich das Adrenalin und hinterließ einen schalen Nachgeschmack. Wir vermissten unsere Rucksäcke, trauten uns aber nicht, sie zu suchen – vielleicht hatte sie mein Vater inzwischen gefunden und lauerte hinterm Gebüsch auf uns.

„Wir waren so nah dran, so verdammt nah“, sagte Jonas niedergeschlagen, nahm seinen Arm von meiner Schulter und vergrub seine Hände fröstelnd in den Taschen.

„Verdammt nah dran“, sagte ich, während sich die Melodie eines blöden Songs in meinen Kopf schlich.

„Zug ist scheiße“, stellte Jonas fest. „Wir brauchen eine bessere Location.“

„Eine legale Wand?“

„Also echt!“, empörte sich Jonas. „Nur Toys suchen sich legale Wände, billige Mädchenmaler wie die MÖRVs. Nein, nein, ich denke da an was Großes … an was ganz, ganz Großes … an was Verstecktes … an eine Wand …“ Er geriet ins Schwärmen, seine Stimme wurde bedeutungsschwer und er zeichnete ausladende Gesten in die Luft; immer wenn er das machte, kam er mir vor wie so ein Shakespeare-Schauspieler im Burgtheater, King Lear oder so was.

„Ich denke an eine große Wand … an eine große, mächtige Wand … an eine Wand, an der wir Stunden, vielleicht sogar Tage verweilen können … an der wir alles aus uns rausholen können und keine Angst haben müssen, jeden Augenblick deinen Vater oder sonst einen Jäger im Genick zu haben. Eine Wand, bei der wir keine Angst haben müssen, dass sie durch unsere Farben gesprengt wird, weil wir die Poren luftdicht verschließen.“

Ich verdrehte die Augen. Manchmal ging mir sein Drang, alles korrekt machen zu wollen und für alles Verantwortung zu übernehmen, echt auf die Nerven.

„Und wo genau soll die Wand sein?“

Er hielt mit dem Gefuchtel inne. „Ich habe absolut keine Ahnung!“ Seine Arme sackten nach unten. „Hast du Geld dabei?“

Natürlich hatte ich kein Geld dabei, ging alles für Kannen drauf und Jonas wusste das. Unseren Eltern waren wir ein halbes Jahr Taschengeld schuldig; sie fragten sich ohnehin schon längst, was wir mit dem Geld machten.

„Essen kaufen“, sagte Jonas regelmäßig. „Wir haben immer wahnsinnig viel Hunger.“ Seine Mutter glaubte ihm kein Wort; sie wusste, dass er gratis von meiner Mum verköstigt wurde, mit mehr, als er essen konnte.

„Ich dachte, du hättest noch was“, sagte ich pro forma. Jonas schüttelte den Kopf.

„Was ist mit deiner Großmutter?“

„Alle Sonderzahlungen sind bis auf Weiteres eingestellt“, sagte er.

Ich seufzte. „Und wie wär’s, wenn du einfach mal dein Zimmer aufräumen würdest?“

„Sonst noch alles in Ordnung bei dir?“

„Du wickelst doch sonst auch alle um den Finger. Räum dein Zimmer auf und sie füttert dich mit Extramünzen wie einen Goldesel.“

„Ich lass mich doch nicht bestechen“, sagte er beleidigt. In dem Punkt war er stur.

Es glich einem Wunder, dass bei Arsim nichts los war. Normalerweise standen sie Schlange bis zur Straße. Wir warfen einen Blick durch die offene Tür. Oh heiliger Döner. Ein verteufelt guter Geruch ließ meinen Magen zappeln wie einen Fisch an der Angel. Arsim schabte am Fleischspieß, entdeckte uns und winkte uns herein.

„Ey, du beide! Zweimal die volle Programm zu die speziale Preis? Eine ohne diese Zwiebeln?“

„Arsim“, sagte Jonas. „Mit uns kannst du normal reden.“

„Sorry“, sagte Arsim.

Arsim war Kosovo-Albaner und studierte Quantenphysik oder irgend so etwas Wahnsinniges. Sein Studium finanzierte er sich mit verschiedenen Jobs. Den in der Döner-Bude hatte er nur bekommen, weil er dem Besitzer einen unausgereiften Türken-Slang um die Ohren geschmiert hatte. Einmal hatten wir ihn am Telefon belauscht, wie er jemandem in astreinem Deutsch bei einem Computerproblem geholfen hatte.

„Also, was ist nun? Einmal mit, einmal ohne Zwiebel?“ Wir machten lange Gesichter.

„Wieder mal pleite, was!“

Mein Magen ballte die Fäuste. „Du kriegst die Kohle zurück, ehrlich“, log ich in der Not. Verdammt, ich brauchte echt was zu beißen.

„Kohle? Wo willst du die denn plötzlich hernehmen? Ihr seid doch chronisch pleite, und bis ihr ein geregeltes Einkommen habt, vergehen locker noch einmal zehn Jahre.“

„Wieso zehn?“, fragte ich. „In einem Jahr sind wir fertig mit der Schule.“

„Ich wette, ihr kommt auf die wenig lukrative Idee, nach dem Abi noch zu studieren.“

„Wenn’s so weit ist, such ich mir einen Job in ’ner Dönerbude, oder ich geh ins Fernsehen … Frag doch den Inder“, äffte ich den Fernsehspot eines Handybetreibers nach. Arsim brach in wieherndes Gelächter aus. Der Fleischgeruch machte mich fertig.

„Was ist mit dir?“, fragte er an Jonas gewandt. Der zuckte nur mit den Achseln, fuhr sich durch die Haare und machte etwas mit seinem Gesicht, das er schon als Kleinkind mit Perfektion beherrscht hatte: Es war, als kramte er die pure Unschuld aus irgendwelchen Vorratskammern. Dann bekam er dieses verlegene Lächeln und sanfte Rehaugen, mit denen er alle hypnotisierte. Plötzlich tat er einem irgendwie leid und man glaubte, ihn ganz fest in die Arme nehmen zu müssen. Jonas, der Engel.

Ich beneidete ihn um diese Gabe. Er konnte jeden Scheiß machen und egal, wie hirnrissig er sich dabei aufführte, keiner war ihm länger als drei Sekunden böse. Bei ihm galt die Unschuldsvermutung. Ich, im Gegensatz dazu, war grundsätzlich immer an allem schuld – prophylaktisch sozusagen, man traute mir nicht über den Weg, wie allen dunkelhäutigen Schurken dieser Welt. Mein einziges Glück war, dass ich Jonas zum Freund hatte. Wenn einer die anderen von meiner Unschuld überzeugen konnte, dann er. Ich seufzte. Aus heiterem Himmel fing meine Hand zu zittern an. Vielleicht fehlte mir der Schlaf. Ich steckte meine Hand in die Hosentasche und versuchte das Zittern zu ignorieren, während sich Arsim von seinem Charme verführen ließ.

„Jonas, weißt du was, ich schenk dir einen Döner.“

„Und mir?“, fragte ich beleidigt.

„Du zahlst … Migrantenpech.“ Er grinste so breit wie ein Wassermelonenschnitz. Arsch. Genervt lehnte ich mich an einen Stehtisch und hatte alle Mühe, das Zittern meiner Hand und die damit einhergehende Angst zu ignorieren. Vielleicht war es auch nur die Sorge um das fehlende Geld.

So konnte das nicht weitergehen. Aber als ich die Möglichkeiten durchdachte, verging mir der Hunger – wir hatten keine Zeit, um eine Arbeit anzunehmen, Prospekte oder Zeitungen austragen oder so etwas; wir mussten malen, ohne das Malen bekamen wir Entzugserscheinungen, gingen drauf wie Asthmatiker, die keinen Spray bekamen. Jonas ließ die Ketchup-Flasche laut auf und zu schnappen.

„Hör auf“, sagte ich und schlug meine kribbelnde Hand gegen die Tischkante, um sie aufzuwecken.

„Nervös?“, fragte Jonas.

„Hungrig … ey, I schwör Alta!“

Jonas stellte die Ketchupflasche auf den Tisch. „Steht dir nicht.“

„Was?“

„Dönersprache.“

„Ich mach dich gleich Messer, du.“

Jonas musste lachen. „Das ist echt so was von scheißalt.“

„Funktioniert aber immer noch.“

Arsim stellte uns ein Tablett mit zwei Jahrhundert-Dönern hin. Aus dem Fladenbrot quollen saftiges Fleisch, Salat, Gurken, Weißund Rotkohl und Joghurtsoße, gewürzt mit Knoblauch, Kreuzkümmel und Koriander. Ich war echt gerührt und deutete einen Kuss an, worauf sich Arsim sofort in Abwehrstellung brachte. „Geht aufs Haus, aber lass deine Pfoten von mir.“ Kopfschüttelnd ging er zurück, um Fleisch vom Spieß zu schaben.

„Boäh!“, rief Jonas aus – er hatte den Döner mit den Zwiebeln erwischt. Wir tauschten. Mit den Dingern hätte man zwei Familien eine Woche lang ernähren können. Wortlos zerlegten wir die Berge aus Essen.

Draußen am Platz tat sich was. Aus der U-Bahn-Station kamen ein paar Leute, die sich beratschlagten, jeder zeigte in eine andere Richtung. Drei davon kannten wir aus der Schule. Der Größte von ihnen hieß Onno und hatte eine Haarmähne der Löwenklasse – seine Silhouette war unverkennbar. Sein Freund Yannick züchtete verzweifelt ein Ziegenbärtchen und trug ausschließlich Tarnfarbenjacken. Der Dritte war Dragan, trug früher seine Dreads wie eine versiffte Duschhaube, neuerdings baumelte nur ein einziger Zopf von seinem sonst kahl rasierten Schädel – Dragan war ein Blindgänger, dumm wie seine Duschhaube, hatte letztes Jahr die Schule geschmissen, von dem kannst du dir jetzt „I love Jesus“ auf den Hintern tätowieren lassen, oder sonst was Schönes, aber Vorsicht, der hat keinen Plan, wie man das schreibt.

Die anderen beiden kannte ich nicht. Der eine war ein gutes Stück älter als die anderen, hatte Schmalzlocken und trug einen schwarzen Mantel mit aufgestelltem Kragen – erinnerte mich schwer an Sherlock Holmes; ich hatte meiner Mum alle Folgen der Serie illegal downloaden und speichern müssen, weil sie keine Lust hatte, ihre Daten bei einem der Anbieter zu hinterlassen. Dieser echte Sherlock-Verschnitt sah beneidenswert gut aus. Und dann war da noch ein kleines Mädchen mit Mütze. Klein war nur ihr Körper, sonst war sie etwa in unserem Alter.

„Nein, bitte!“, ächzte Jonas; er hatte genau wie ich keine Lust auf die Begegnung – es war immer heikel, mitten in der Nacht Schulkollegen zu treffen, wenn man eigentlich im Heiabettchen schnarchen sollte. Aber natürlich kamen sie genau auf uns zu. Raus konnten wir nicht mehr, höchstens durch den Hintereingang abhauen.

4

Gemälde: girl with golden hair IÖl auf Leinwand. 100 × 70 cmUnverkäuflich

In jedem Gemälde des jungen Malers, erscheint es auch noch so prächtig, lauert das Unheil.

(Sabine Habermas, Galeristin)

„Danke, Arsim!“, rief ich und leckte mir im Hinauslaufen die Knoblauchsoße zwischen Ring- und kleinem Finger ab.

„Danke, Arsim!“, rief Jonas und rülpste.

Wir stürzten durch den Seiteneingang zu den Toiletten. Von dort führte ein schmutziger Gang in einen Innenhof. Ich warf mich mit der Schulter gegen die Toilettentür wie ein FBI-Agent beim Überraschungsangriff auf eine Poker-Runde in ein verqualmtes Hinterzimmer. „Dreh uns inzwischen eine! Ich komm gleich“, rief ich Jonas hinterher.

Meine Hände zitterten wie bei einem alten Mann. Ich ballte die Fäuste, öffnete sie wieder, schnell hintereinander, um Blut durch meine Adern zu pumpen. Meine linke Hand war fast taub. Ich spürte das kalte Wasser kaum, das ich darüberlaufen ließ.

Jemand näherte sich und ich hechtete in eine der beiden Klokabinen. Einen Klodeckel gab es nicht, also setzte ich mich auf den Spülkasten, stellte die Füße auf die Klobrille und bewegte meine Finger, um das lästige Gefühl loszuwerden. Ich hörte, wie das Wasser aufgedreht wurde. Eine Frau fing an zu summen. Ich kannte die Melodie, spitzte meine Ohren und erkannte nach einer Weile einzelne Wörter: „Imagine all the people …“

Was tat sie auf dem Männerklo? Ich stand auf und spähte durch den Spalt in der Türangel. Die Frau war das kleine Mädchen von vorhin. Sie wusch sich die Hände und hatte eine Haltung wie eine Balletttänzerin. Am liebsten hätte ich sie sofort porträtiert. Noch nie hatte ich jemanden mit so viel Hingabe sich die Hände waschen sehen. Dabei summte sie vor sich hin, als stünde sie auf einer verdammten Blumenwiese. Das alles war wie eine heilige Handlung und auf einmal bekam ich wahnsinnig große Lust, mir auch die Hände zu waschen.

Dann zog sie sich die Mütze vom Kopf. Herunter fiel eine Haarpracht in Weizengold. Meine Mum hatte auch schöne, lange Haare, in der schwarzen Variante, aber das hier übertraf alles, was ich je in natura gesehen hatte, und ich fragte mich, wie sie so viel Haar unter eine Mütze hatte stopfen können. Es war kein Haar, aus dem man Besen hätte machen können, sondern Haar, das man zu Seidentüchern verweben hätte können.

Rapunzel fiel mir ein, die ihr Haar aus dem Turm fallen ließ, damit der Prinz daran hochklettern konnte. Die Kleine vor dem Spiegel sah ganz danach aus. Ich versuchte, die Farbzusammensetzung ihres Haares zu analysieren: helles Permanentgelb, Aureolin, Zinkweiß, Caput Mortuum, Zinnober, feuriges Chromoxidgrün. Golden floss es über ihren kleinen Hintern und schlug sanfte, glänzende Wellen. Sie fuhr mit einer Hand an den Nacken, lockerte das Haar auf, kraulte sich mit beiden Händen den Kopf, ließ ihren Kopf nach vorn fallen – ihr Haar fiel auf den Boden – und warf es kraftvoll zurück auf den Rücken. Mit einer flinken Bewegung drehte sie sich das Haar am Hinterkopf wieder zusammen, packte es unter die Mütze und ging.

Warum sie das alles gemacht hatte, ging mir nicht in den Kopf. Als ich draußen im Gang am Männerklo vorbeikam, merkte ich, dass ich auf der Mädchentoilette gewesen war – Klodeckel gab es dort aber auch nicht.

„Alles okay?“, fragte Jonas und reichte mir eine der beiden Selbstgedrehten; er wartete immer auf mich, bevor er sich eine anzündete – geraucht wurde erst, wenn alle hatten.

„Das … ich … ja, klar.“ Ich behielt das Geheimnis des goldenen Haarwunders für mich. Jonas gab mir Feuer. Wir setzten uns an den Rand einer Blumenkiste und rauchten. Als wir fertig waren, versuchte ich erst gar nicht, die Zigarettenkippe in die Erde der Blumenkiste zu bohren – Jonas hätte mir wieder einen Vortrag zur Rettung der Welt gehalten –, sondern drückte die Kippe am Kistenrand aus und gab sie Jonas, der mir schon die Hand aufhielt.

„Der Leib Christi.“

„Amen“, sagte Jonas und latschte quer durch den ganzen Hinterhof, um die beiden Kippen in einen der vielen Müllsäcke zu werfen. Wir trollten uns hinaus und ließen uns durch die Stadt treiben. Wie immer spülte es uns zum Kanal; dort gab es entlang der Donau kilometerweise Walls. Wir schauten, was unsere Kollegen trieben; ein paar elende Rookies waren gerade am Werk und verschandelten ein Werk von PEKS, den wir sehr schätzten. Jonas war entsetzt. Ausgiebig lästerte er über den Verfall der Kultur und hätte ihnen am liebsten ein paar Tipps gegeben, aber ich konnte ihn zurückhalten.

Wir blödelten herum, unterhielten uns mit einem Obdachlosen, dessen Schlafzimmer wir versehentlich unter einer Brücke betreten hatten. Brückenpfeiler eigneten sich besonders, um ein paar schöne Bilder zu malen; wenn es sich dabei allerdings um die Schlafzimmer anderer Leute handelte, eher weniger. Außerdem stank es dort meist nach hundert Jahren Pisse. Wir waren die ganze Nacht auf der Suche nach einer Wand für unser Masterpiece. Aber die besten Wände waren schon voll und wir hatten keine Lust, andere zu crossen; das gehörte sich einfach nicht. Es fing an zu dämmern. Wir nannten das die heikle Stunde; wenn wir die überstanden, konnte der neue Tag beginnen. Natürlich überstanden wir nicht.

5

Gemälde: crack of dawnPastellkreide auf Schulblock21 × 29,7 cm

Die Figuren sitzen vor uns, gegen den Kiosk gelehnt, ganz nah, nichts trennt uns von ihnen. Wir können sie atmen hören.

(Sabine Habermas, Galeristin)

„Nur ein Minütchen“, murmelte Jonas, sank gegen die Rückwand von einem Kiosk im Stadtpark, schob sich ein paar Zeitungen unter den Hintern und legte auch welche für mich aus.

„Meinetwegen … aber nur ein Minütchen.“ Warnend hob ich den Zeigefinger, setzte mich neben ihn, schlug mir die Kapuze über und verschränkte meine Arme vor der Brust. Schon kippte sein Kopf auf meine Schulter; im Einschlafen war er König – das hatte man mir schon als Kleinkind dauernd unter die Nase gerieben. „Nimm dir ein Beispiel an Jonas, der schläft schon.“ Ja, ja, ich nahm mir ein Beispiel an Jonas. Vor allem aber nahm ich ihm die Brille ab, die stach mich in die Schulter.

Der einsetzende Frühverkehr, ein Austräger, der das Gestell mit den Gratiszeitungen füllte, und das laute Gepfeife der Vögel weckten mich. Außerdem regnete es von einem Magnolienbaum verfaulte braune Blüten. Wo war der dazugehörende Duft? Nichts stimmte mehr. Noch nie hatten die Bäume im Frühling so traurig ausgesehen. All die kleinen Blättchen und Blüten waren erfroren und abgestorben. Wie stark waren Bäume? Hatten sie ein Back-up? Einen Plan B? Konnten sie trotzdem noch Blätter wachsen lassen oder würden die Bäume kahl bleiben? Keine Blätterdächer im kommenden Sommer? Kein Schatten? Kein Grün? – Eine grauenhafte Vorstellung.

Jonas atmete tief und fest. Ich bewegte meine steifen Schultern und er wachte auf.

„Scheiße“, knurrte er, rieb sich das Gesicht und blinzelte kurzsichtig in den Morgen. Ich drückte ihm die Brille in die Hand und stand auf. War wohl ein kleines bisschen zu schnell, denn mit einem Schlag wurde mir so schwindlig, dass ich gegen die Kioskwand kippte und in ein schwarzes Loch sauste.

Als ich die Augen wieder öffnete, saß Jonas über mir und tätschelte meine Wange. „Nicht schlapp machen, in der ersten Stunde steht Mathe auf dem Programm.“ Ich hatte Lust zu kotzen. Meine Stirn war schweißnass, meine Hände eiskalt, und mein Blut rauschte in meinem Kopf.

„Vielleicht hätten wir doch ein paar Stunden im Bett schlafen sollen“, sagte Jonas, sich streckend und gähnend.

„Schlafen können wir, wenn wir tot sind.“

„Deine Logik möchte ich haben.“ Kopfschüttelnd stand er auf.

„Ich bin gleich wieder da.“ Er grub die Hände in die Hosentaschen und verschwand aus meinem Blickfeld. Langsam wurde das Rauschen in meinen Ohren weniger. Keine zehn Minuten später kam er zurück mit zwei Bechern voll dampfendem Latte und Brezeln.

„Sorry, die Brezeln sind von gestern.“

Er lachte, als er meine verblüffte Miene sah. Wahrscheinlich hatte er der Bäckersfrau wieder eine Story erzählt, von der sie Mitleid bekam; Frauen sind scheißempfänglich für seine Storys – eine kleine unheilbare Krankheit, eine Mama im Koma, eine abgebrannte Wohnung, untermalt mit einem gutmütigen Blick und einem Lächeln, das Eisberge zum Schmelzen brachte, und schon kriegte er, was er wollte. Nach dem Frühstück machten wir uns auf den Weg zur Schule. Das würde wieder ein Tag zum Streichen aus dem Kalender werden. Mathe. Mir wurde schon wieder schlecht.

Alpha – die erste Erkenntnis:Leander Blum riecht nach Terpentin

Also begann ich mein letztes Schuljahr abgemagert, noch ein wenig wackelig auf den Beinen und mit zweiwöchiger Verspätung. Weil etliche meiner Mitschüler die Versetzung nicht geschafft hatten, war der mickrige Rest unserer Klasse mit einer anderen zusammengelegt worden. Man hatte uns in den heißesten Raum unter das Dach umgesiedelt, mit eigenem Balkon und einer fantastischen Aussicht über die Dächer der Stadt. Nur Quadratmeter gab es zu wenig.

Als ich eintrat, beobachteten mich meine Mitschüler neugierig und zeigten erwartungsvoll auf den einzigen freien Platz.

Dort saß er. Leander Blum.

Offenbar hatte es bisher niemand gewagt, sich neben ihn zu setzen. Hilfe suchend sah ich mich nach Sarah um – langes Haar, lange Beine, volle Brüste; eines von den fünf Mädchen, die vom letzten Jahr übrig geblieben waren.

Sarah saß neben Müni. Auch er hatte viele Fans, arbeitete als Nachtportier in einem Hotel, was ihn ein oder zwei Schuljahre gekostet hatte, wohnte allein in einer Garage und hatte sich, sollten die Gerüchte stimmen, vor ein paar Wochen von seiner Freundin getrennt. Sarah hob entschuldigend die Arme und deutete hinter seinem Rücken auf Müni. Die anderen vier Mädchen saßen paarweise.

Mir fiel auf, wie still es seit meinem Eintreten geworden war. Alle Blicke lasteten auf mir. Ich fühlte mich wie eine Laborratte, die eine Versuchsanordnung betreten hatte. Zaghaft näherte ich mich dem freien Sessel, letzter Tisch, Fensterreihe.

Leander Blum kam mir vor wie ein mittelalterlicher Mönch, herausgekippt aus der Zeit, eine finstere Gestalt, das Gesicht tief verborgen unter dem Schatten eines schwarzen Kapuzenshirts wie unter einer Kutte. Die Hände unter den Ärmeln verborgen, saß er vornübergebeugt über einem Heft und schien mein Eintreten als Einziger nicht bemerkt zu haben. Auch die Hitze, die sich ein letztes Mal aufbäumte und sich unter dem Dach staute, schien er zu ignorieren.

Er war mir unheimlich und ich hatte das große Bedürfnis, mich rückwärts aus dem Klassenzimmer zu schleichen und noch ein paar Erholungstage im Bett anzuhängen (die mir der Arzt und meine Eltern ohnehin dringend empfohlen hatten). Aber der Berg, unser Mathelehrer, stand hinter mir und verwehrte mir die Flucht.

„Was machst du denn hier?“, fragte er; offenbar hatte er in diesem Schuljahr nicht mehr mit mir gerechnet.

„Sie war krank“, sagte Sarah.

„Na dann“, sagte der Berg. „Husch, husch ins freie Körbchen. Es geht los.“

Ich brachte die letzten paar Meter hinter mich und nahm Platz.

„Hallo“, sagte ich freundlich. Für einen Moment hob der Mönch sein Gesicht und ich wich schlagartig zurück: Haut in der Farbe von gebleichten Kaffeebohnen spannte sich über kantige Knochen, schwarze volle Brauen, Schatten unter überraschend hellblauen Augen.

Es war nicht das ungewöhnliche Blau in seinem dunklen Gesicht, das mich irritierte, oder der Umstand, dass er krank aussah, es war die Art, wie er mich ansah. Er runzelte ein wenig die Stirn und innerhalb eines Bruchteils einer Sekunde trat das pure Entsetzen in sein Gesicht. Er erschrak richtiggehend, senkte sofort seinen Kopf, fing mit seinem Bein an zu wippen und schaute mich an jenem Vormittag kein einziges Mal mehr an.

Gut, er mochte keine Mädchen. Mir egal. Oder er mochte nur Mädchen mit langen Haaren und langen Beinen und Kurven und nicht solche mickrigen Erscheinungen mit raspelkurzem Haarschnitt, wie ich eine war. Auch gut. Oder er mochte nur mich nicht. Kein Problem. Wirklich nicht. Jungen vom Typ unnahbares, arrogantes Unterwäschemodel interessierten mich nicht mehr. Irgendwann musste man schließlich wissen, in welcher Liga man spielen wollte, und ich hatte mich nach einer schlechten Erfahrung für die Dorfliga entschieden.

Leander Blum spielte in der Bundesliga (mindestens). Er war mir zu elegant, zu perfekt und zu unnahbar. Ich steckte ihn in die Schublade und verpasste ihm das Etikett „schwierig“. Wahrscheinlich gehörte er zu jenen, die eifersüchtig wurden, sobald man ein Wort mit einem anderen wechselte. Ich suchte mehr den Gemütlichen und Unkomplizierten, einen vom Typ Bussibär, mit dem man kuscheln und lachen konnte und der nicht jedes Wort auf die Waagschale legte.

Aber leider zwangen uns die äußeren Umstände dazu, nebeneinanderzusitzen, keine fünf Zentimeter trennten seinen Ellbogen von meinem, wir atmeten die gleiche Luft, wir hörten die gleiche monotone Stimme von Berg, wir mussten das Gleiche in unsere Hefte schreiben, wir waren uns zu nahe, und das nicht freiwillig, sondern weil man uns keinen Raum ließ. Obwohl die Bundesliga nichts tat, sich weder bewegte, noch mit mir redete und sehr müde und erschöpft wirkte, strahlte er eine Intensität aus, die mir das Atmen schwer machte. Verstärkt wurde die Wirkung noch dadurch, dass er viel größer war als ich. Er kam mir vor wie ein zu starker Magnet. Minus und Plus. Meine Muskeln spannten sich an. Er schien mich zu hassen und trotzdem fühlte ich mich von ihm angezogen.

Ich konzentrierte mich darauf, nur noch in mein Heft und zur Tafel zu schauen. Je mehr ich das wollte, umso öfter schweifte mein Blick ab: Er schrieb mit der rechten Hand. Seine Finger waren lang und schmal, dunkle Handrücken, helle Fingernägel-Halbmonde. Er roch nach Weichspüler, Tabak und … Terpentin? Oder Diesel? Hatte er ein Auto getankt?

Unsere Ellbogen berührten sich kaum merklich. Schnell wechselte er den Stift in die linke Hand und schrieb weiter, perfekt, als sei nichts gewesen. Ich starrte auf die Buchstaben, die sich kunstvoll unter der Mine seines Stifts herausschlängelten, und musste mich dazu zwingen, wieder in mein eigenes Heft zu schauen.

Über mein Heft gebeugt, vernahm ich seinen tiefen Atem, der sich plötzlich beschleunigte, als wir eine Rechenaufgabe selbstständig lösen sollten, während der Berg vor der Tafel patrouillierte. Ich bildete mir ein zu hören, wie sich die Frequenz seines Herzschlages erhöhte, und mir wurde klar, dass er von der höheren Mathematik keine Ahnung hatte. Fast panisch kritzelte er wahllos Zahlen und Zeichen in sein Heft, nur um den Anschein zu erwecken, irgendetwas zu tun. Er strich Zahlen durch. Er schrieb die Aufgabe erneut ab. Er schrieb Zahlen so willkürlich wie Telefonnummern. Er schrieb neue Zeichen.

Ich freute mich, nach der langen Ferienzeit wieder mit meinem Montblanc-Füller schreiben zu können, den ich von meiner Großmutter geerbt hatte, die ihn bereits von ihrer Mutter geerbt hatte. Mühelos löste ich die Aufgabe und beschloss, meinem Nachbarn zu helfen: Ein Seufzer der Erleichterung ging durch seinen Körper, als ich ihm mein Heft entgegenschob, damit er abschreiben konnte. Vielleicht überzeugte ihn das doppelt unterstrichene Ergebnis.

„Danke“, sagte er fast ohne Stimme. Als ob sie ihm abhandengekommen wäre.

„Jederzeit“, sagte ich großzügig und bereute es sofort, hoffentlich kam er nicht auf die Idee, noch mehr mit mir reden zu wollen, aber die Angst war unbegründet: Er schwieg und schrieb und schwieg und ließ mich in Ruhe.

Als es klingelte, schlug er sein Heft zu. Ich konnte nicht verhindern, dass mir der Name des Etiketts ins Gesicht sprang: Leander Blum. Er ging hinaus auf den Balkon, mit dem größtmöglichen Abstand zu mir, wandte auch allen anderen den Rücken zu, drehte sich eine Zigarette und rauchte schweigend.

„Na? Das große Los gezogen?“, fragte Sarah, die sich einen Weg über Taschen und Stühle zu mir gebahnt hatte. „Ach, ich hätte mir in den Arsch beißen können … hätte ich geahnt, dass so ein interessantes Exemplar hier auftaucht, hätte ich Müni jemand anderem angehängt, aber Blum kam schon am ersten Tag zu spät, seither immer.“ Aufgekratzt fragte sie: „Hast du schon was über ihn rausgefunden? … Der muss von einer Wolke gefallen sein. Keiner kennt ihn. Also falls du mal neben Müni sitzen möchtest, wir können gern tauschen.“

„Nettes Angebot“, sagte ich. „Du, ich muss mal kurz raus.“

Ich ließ Sarah allein zurück. Verträumt blickte sie auf den Balkon, wo Leander Blum stand, eingehüllt in Rauch.

Auf der Toilette sperrte ich mich ein und googelte. Es gab ein paar Einträge zu Leander Blum, die alle keine braune Haut und nichts mit dem Phänomen zu tun hatten, neben dem ich sitzen musste. Von meinem Leander Blum gab es nichts … kein Schulfoto, kein gewonnener Sport-Wettbewerb, kein Preis im Nachwuchsmusizieren, kein Eintrag in einer Schülerzeitung. Keines der sozialen Medien hatte seine klebrigen Spuren an ihm hinterlassen. Er war durchs Netz gefallen und nichts von ihm war daran hängen geblieben. Leander Blum existierte nicht. Er war ein Gespenst. Ein Gespenst mit einer überwältigenden Aura. Eine Aura, die ich bisher nur ein einziges Mal bei einem Jungen gespürt hatte, aber der war sehr weit weg.

Erst am Nachmittag, als die letzte Stunde vorbei war, konnte ich durchatmen und mich entspannen. Leander Blum hatte mich mit seiner Ablehnung mir gegenüber den ganzen Tag über in Stress versetzt. Erschöpft packte ich meine Schulsachen zusammen und war froh, ihn nicht mehr spüren zu müssen. Da bemerkte ich, dass nicht nur er, sondern auch mein Montblanc-Füller verschwunden war!

Leander Blum hatte meinen Montblanc-Füller geklaut! Was glaubte der eigentlich? Dachte er vielleicht, er könnte kurz hier auftauchen und alles mitnehmen, was ihm gefiel? Der Füller begleitete mich schon durch meine ganze Schulzeit wie ein treuer Gefährte. Er war wertvoll. Ich musste ihn wiederhaben, um ihn an meine Nachkommen weitergeben zu können (falls es denn irgendwann welche geben würde). Leander konnte am Tag darauf behaupten, meinen Füller nie gesehen zu haben. Wenn er wollte, konnte er alles abstreiten und niemand würde ihm etwas nachweisen können. Ich traute ihm nicht über den Weg. Und obwohl ich keine Lust hatte, schon wieder von seiner Gravitationskraft eingefangen zu werden, musste ich ihn erwischen, bevor er meinen Füller in einem Pfandleihgeschäft verkaufen und gegen Crystal Meth oder sonst etwas tauschen konnte.

6

Gemälde: aerosol kidsÖl auf Pappkarton. 90 × 75 cm

Dieses Bild ähnelt in Aussehen, Gehalt und Grobheit illegalen Graffiti (mit denen Blum im Übrigen seine künstlerische Karriere begann).

(Mizzi Langer, Künstlerin)

Natürlich waren die Rucksäcke unter dem Gebüsch nicht mehr da. Schon seit einer halben Stunde krochen Jonas und ich im Dreck, hatten nasse Knie und beschimpften uns gegenseitig. Ich schwitzte mehr als sonst und bekam nur schwer Luft. Ob ich Asthma hatte? Oder Heuschnupfen?

„Du immer mit deinen hirnrissigen Ideen! Kannen unters Gebüsch werfen! Was Dümmeres gibt es nicht!“, schimpfte Jonas.

„Und was wäre dem gnädigen Herrn recht gewesen?“, keifte ich zurück, griff in Hundescheiße und brüllte: „Such deine Scheißkannen selbst!“