Liebe ist die beste Köchin - Irmgard Kramer - E-Book

Liebe ist die beste Köchin E-Book

Irmgard Kramer

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Beschreibung

Die wilden Weiber vom Gasthaus »Lamm« – so nennen die schrulligen Dorfbewohner die Frauen der Familie Lehner. Johanna, die achtunddreißigjährige Köchin, hat es nicht leicht mit ihren vier durchgeknallten Tanten und ihrer Mutter, die an Demenz leidet, aber trotzdem in der Küche mithelfen will. Und als dann auch noch der Buchhändler Jerome auftaucht und Johanna den Kopf verdreht, ist das Chaos komplett. Johanna flüchtet sich in die Welt der Bücher und schreibt heimlich an ihrem Manuskript. Ohne zu ahnen, dass dieser Roman ihr Leben radikal verändern wird …

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Für alle, die in der Gastronomie arbeiten

 

© Piper Verlag GmbH, München 2019Covergestaltung: www.buerosued.deCovermotiv: www.buerosued.de

 

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Inhalt

Cover & Impressum

EINS

ZWEI

DREI

VIER

FÜNF

SECHS

SIEBEN

ACHT

NEUN

ZEHN

ELF

ZWÖLF

DREIZEHN

VIERZEHN

FÜNFZEHN

SECHZEHN

SIEBZEHN

ACHTZEHN

NEUNZEHN

ZWANZIG

EINUNDZWANZIG

ZWEIUNDZWANZIG

DREIUNDZWANZIG

VIERUNDZWANZIG

FÜNFUNDZWANZIG

SECHSUNDZWANZIG

SIEBENUNDZWANZIG

ACHTUNDZWANZIG

NEUNUNDZWANZIG

DREISSIG

EINUNDDREISSIG

ZWEIUNDDREISSIG

DREIUNDDREISSIG

EPILOG

Stammbaum

REZEPTE

DANK

Köchin löst Begeisterungsstürme aus

Köchin löst Begeisterungsstürme aus

Unsere preisgekrönte Köchin Johanna Lehner sorgte vergangenen Samstag für eine Sensation. Zur Abwechslung verzauberte sie uns nicht mit ihren Speisen. Sie stand am Mikrofon und überraschte uns mit ihren eindringlichen Worten. Das Gasthaus Lamm in Moos am Buckel platzte aus allen Nähten. Wir von der Mooser Heimatchronik waren bei diesem historischen Abend dabei und haben nachgefragt, was unsere Dorfbewohner zu Johanna Lehner sagen.

Von Mandy Oberhauser

 

»Ehrlich gesagt, kann ich immer noch nicht glauben, was da alles passiert ist. Ich kenne Johanna Lehner seit einer Ewigkeit. Wir sind Freundinnen. Wir haben über alles geredet, aber über das, was jetzt ihr ganzes Leben auf den Kopf stellt, hat sie kein Sterbenswort verloren. All das wäre nie passiert, wenn sie Jérôme Morel nicht kennengelernt hätte. Das war bei der Lesung von Ruben Sauter hier im Gasthaus Lamm vor über einem Jahr im September. Leider war ich nicht dabei. Normalerweise mache ich mir nichts aus Lesungen. Und dieser Sauter. Ich weiß ja nicht. Ist der wirklich so toll, wie alle sagen? Ich verstehe von solchen Dingen nichts. Und dann ging bei diesem Spektakel wegen eines Löffels auch noch alles schief. Das war ein schlechter Scherz. Jeder im Saal war stinksauer auf Johanna. Von allen Seiten habe ich mir die üble Geschichte anhören müssen. Johanna hat mir leidgetan. Das hat sie nicht verdient. Die Leute haben ja keine Ahnung, was Johanna den ganzen Tag leistet, kein Wunder, dass sie die Nerven verloren hat. Als dann alles rauskam, habe ich gemerkt, wie wenig ich Johanna kannte. Keiner im Dorf hat geahnt, was sie durchmachen musste. Ich finde, wir sollten uns alle gehörig an der Nase nehmen.«

Stefanie Klocker, 38, Freundin von Johanna Lehner, verheiratet, drei Kinder

 

EINS

 

Die Sonne ging gerade auf, als ich sechs Kilo Rinderknochen vom Keller in die Küche schleppte, um sie in der Spüle zu waschen. Die alten Elektroplatten auf der Kochinsel glühten bereits, und Zwiebelhälften schmurgelten im Suppentopf. Auf nüchternen Magen fand ich den Geruch unangenehm – vielleicht sollte ich doch frühstücken. Ich schaltete den Dunstabzug auf die höchste Stufe. Das alte Ding machte einen Höllenlärm. Im Vorbeigehen schnappte ich mir eine Scheibe Brot vom Vortag aus einem Korb, kaute daran herum, gab die Knochen zu den Zwiebeln und goss vierzig Liter kaltes Wasser darüber. Aus der Kühlkammer holte ich Sellerie, Liebstöckel, Petersilienwurzeln und zwei Kilo Karotten für die Rindssuppe, die ich dann mit Backerbsen und anderen Einlagen anbieten konnte. Wo waren die Lauchstangen? Ich zog jede Kiste aus dem untersten Regal: Äpfel, Rote Beete, Kürbis. Geschälte Kartoffeln schwammen im Wassereimer. Auf dem Weg in den Keller überholte ich Tante Elisabeth, die einen Korb Tischwäsche zu den Waschmaschinen schleppte.

»Du meiner Seel’, kann ich dir helfen?«

»Haben wir noch Lauch?«, fragte ich und eilte an ihr vorbei, ohne eine Antwort abzuwarten.

Im Trockenraum fand ich Schalotten, Mehl und Kürbiskernöl, aber keinen Lauch. Ich öffnete die Tür zur Schleuse, in die unsere Lieferanten, die alle einen Schlüssel besaßen, frühmorgens ihre Waren stellten. Dort standen zwar vierhundert Eier, mehrere Kisten Lollo Rosso, Feldsalat und Gurken, aber den Lauch hatte Toni vom Foodexpress schon wieder vergessen. Langsam hatte ich den Verdacht, dass er sich für Tante Germanas grausame Verhandlungstaktik rächte, indem er immer wieder Teile unserer Bestellung »vergaß«. Tante Germana war unnachgiebig, wenn es darum ging, die Preise zu drücken.

Ich nahm einen Stapel Eier mit hinauf in die Küche – kein Weg umsonst, das hatte ich mir längst zum Grundsatz gemacht. Tante Elisabeth folgte mir, band sich eine Schürze um und fing mit den Vorbereitungen für das Mittagessen an: Salat in Eiswasser waschen, Kräuter hacken, Karotten schälen und hobeln, Salatdressing anmachen. Dabei sang sie mit hoher Stimme und ihrem Altfrauenvibrato Du bist das Licht der Welt. Man musste dankbar sein, dass es zu so früher Stunde nicht das Ave Maria war.

Während ich Schaum von der inzwischen köchelnden Suppe schöpfte, rief ich Germana an, die in aller Herrgottsfrüh mit meiner Mutter in die Stadt zum Friseur gefahren war, der extra für sie zeitig öffnete.

»Kannst du Lauch mitbringen?«, brüllte ich gegen den Lärm des Dunstabzuges an und riss eine Kühlschublade nach der anderen auf, um zu kontrollieren, ob sonst alles da war, was ich brauchte.

»Sag bloß, der Trottel hat schon wieder falsch geliefert!«, keifte Tante Germana. »Es muss doch möglich sein, einen Lieferanten zu kriegen, der einen höheren IQ hat als sein Gemüse?«

»Bring einfach den Lauch mit, ja? Bitte.« Ich würgte das Gespräch ab und warf das Telefon neben die Fritteuse.

Bis Germana mit meiner Mutter vom Friseur zurückkam, musste ich möglichst viel geschafft haben. Ich erhitzte Rapsöl, verquirlte Wasser, Salz, Mehl und Eier zu einem Teig und ließ ihn durch ein grobes Sieb in das heiße Öl tropfen. Die goldgelben Backerbsen verteilte ich auf Küchenkrepp. Kühl gelagert in einer Plastikschüssel, müssten sie für wenigstens vier Tage reichen.

Schon zehn. Die Zeit rann mir davon. Ich verarbeitete eine große Masse Hackfleisch zu einem Falschen Hasen – sobald er fertig war, würde ich ihn kalt stellen, dann brauchte man ihn nur noch scheibenweise in einer Soße aufzuwärmen. In Gedanken hakte ich die Speisekarte ab: Kürbiscremesuppe fertig. Backerbsensuppe so gut wie. Das Kalbsragout hatte gestern sieben Stunden geköchelt und würde bis Mitte nächster Woche reichen. Vom Schweinebraten waren noch fünf Portionen übrig – ich musste mich morgen um Nachschub kümmern. Spätzle, Kartoffelstampf, Knödel und Sauerkraut waren fertig in der Kühlkammer. Für die Birne Helene war auch alles vorbereitet. Und gestern hatte meine Mutter vier Apfelstrudel gebacken, die würden für heute genügen. Blieb der Linseneintopf. Ich seufzte. Das einzige vegetarische Gericht auf der Karte durfte nicht fehlen, und ich hatte es gestern nicht mehr geschafft, es anzusetzen.

Elisabeth verschwand wieder in die Waschküche. Ich holte Zwiebeln und Knoblauch aus der Kühlkammer und rutschte beinah auf dem glitschigen Boden aus, als das Wirtshaustelefon klingelte. Germana war es zuzutrauen, dass sie mich erbost zurechtweisen wollte, weil ich zu schnell aufgelegt hatte. Aber es war nicht die Nummer meiner Tante, die auf dem Display blinkte, sondern eine Festnetznummer mit unbekannter Vorwahl. Das konnte nur eines bedeuten.

»Nicht schon wieder ein Verbandswechsel!«, stöhnte ich und nahm den Anruf entgegen. Unsere Telefonnummer entsprach fast der einer sechshundert Kilometer entfernten karitativen Einrichtung, nur die beiden letzten Ziffern waren vertauscht. Dauernd riefen verzweifelte Kranke an, die mit offenen Beinen in einer Hauseinfahrt saßen und auf einen Transport oder eine Krankenschwester warteten.

»Ich habe eine sehr erfreuliche Nachricht … « Eine Männerstimme drang aus dem Hörer.

»Wie bitte?« Ich klemmte mir das Telefon zwischen Schulter und Ohr, griff nach meinem Messer und wetzte es am Rubin-Schleifer.

»Es geht um die Haube«, sagte der Mann.

Ich spielte mit dem Gedanken, das Telefon in der brodelnden Rindersuppe zu versenken. »Verzweifeln Sie mir jetzt nicht«, sagte ich und versuchte, beruhigend auf den Anrufer einzuwirken, »alles wird gut. Wenn Sie eine Haube oder einen Verbandswechsel brauchen, müssen Sie noch einmal wählen und die letzten beiden Ziffern vertauschen. Wir können Ihnen beim besten Willen keine Krankenschwester schicken. Höchstens einen Falschen Hasen mit Knödel. Hier ist das Wirtshaus Lamm in Moos am Buckel.«

»Genau dort wollte ich auch anrufen. Sind Sie Frau Lehner?«

»Welche Frau Lehner wollen Sie denn sprechen? Ich bin Johanna Lehner. Hier gibt es außerdem eine Germana, eine Antonia, eine Elisabeth und eine Francis – also Franziska – Lehner. Und die Töchter von Francis: Annabell, Fabienne, Pamela und Jessica.« Ich ersparte ihm, auch noch meine beiden Tanten Theresia und Hildegund zu erwähnen, die nicht mehr bei uns wohnten.

Erfahrungsgemäß waren die Leute schnell überfordert mit all den Namen. Dabei war es ganz einfach: Meine Großeltern Franz Xaver und Josefine hatten sechs Töchter und einen Sohn. Der Sohn, Gerhard, verunglückte mit einundzwanzig Jahren tödlich im Mooser Tobel. Ein Schicksal, das er mit vielen anderen jungen Männern aus Moos teilte.

Der Mann am anderen Ende sagte etwas, doch ich verstand kein Wort.

»Einen Moment bitte, hier ist es sehr laut«, sagte ich und versuchte den Dunstabzug zurückzuschalten, aber das Monster war kaum noch zu regulieren.

Der Mann überschüttete mich mit einem Wortschwall. Ich spitzte die Ohren, wetzte das Messer und verstand immer nur »Haube« und »Gault & Millau«.

»Sie haben dreizehn Punkte von uns bekommen. Ich gratuliere Ihnen sehr herzlich.«

Hatte Tante Germana etwa einen Antrag auf eine Haube, den renommierten Gastronomiepreis, gestellt? Niemals.

»Eine Haube, sagten Sie?« War jemals ein Gastronomietester hier gewesen? Wann und warum? Ich war so gut wie Tag und Nacht im Lamm. Ich kannte meine Gäste. Zumindest wusste ich, in welche Schublade ich sie stecken musste – einen Gastronomietester hätte ich sofort entlarvt. Oder? Vielleicht gingen diese Leute raffinierter vor, als ich dachte.

Das Lamm war ein dreihundert Jahre altes Wirtshaus mit zwei kleinen Wirtsstuben, einer niedrigen Holzdecke, einem ehemaligen Tanzsaal im ersten Stock, dem Agatha-Saal, einem Pub im Keller und sieben Gästebetten in drei Zimmern, die wir Morgentau, Bergblick und Sonnenaufgang nannten. Es gab außerdem einen kleinen Garten mit einem Kastanienbaum, drei grünen Blechtischen, die immer wackelten, und einem verblichenen Sonnenschirm, auf dem »Sinalco« stand.

Bis Mitte des neunzehnten Jahrhunderts hatte ein Saumweg am Lamm vorbeigeführt. Später war der Pfad ausgebaut worden, sodass Käseleiber von hier bis in die entferntesten Teile der Monarchie transportiert werden konnten. Auf dem Rückweg brachten die Fuhrwerke dann Fässer und Kisten voller Oliven, Trauben, südländischer Gewürze, Liebesäpfel und Kastanien aus Venetien mit. Außerdem war das Lamm eine Poststation gewesen. Hier wurden Pferde umgespannt und gewechselt, hier wurde getrunken und Karten gespielt, und wenn die Wirtin gut aufgelegt war, bekam man etwas zu essen. Das hatte sich bis heute kaum geändert.

Meine Urgroßeltern hatten den Stall neben dem Wirtshaus zu Wohnungen umgebaut. Dort lebten Tante Francis mit ihren vier fast erwachsenen Kindern Annabell, Fabienne, Pamela und Jessica, und Tante Elisabeth mit Jesus, ihren Altären und Herrgottswinkeln. Das Wirtshaus und der ehemalige Stall waren auf Höhe des ersten Stocks durch einen hölzernen Trakt, eine Art Brücke mit Dach, verbunden. Dort residierte Tante Germana.

Die letzte Renovierung des Lamms war genauso lange her wie meine Geburt, nämlich achtunddreißig Jahre. Das Datum merkten sich deswegen alle, weil meine Mutter bei jeder Gelegenheit erzählte, dass ihr bei dem Versuch, einen Bauernschrank voller Tischwäsche in ein anderes Zimmer zu schieben, die Fruchtblase geplatzt sei. Seither konnte ich keine Servietten mehr aus dem Bauernschrank holen, ohne daran zu denken.

Das Lamm war schon so in die Jahre gekommen, dass mancher Gast unser Mobiliar für teuer gekaufte Retro-Accessoires hielt und fragte, wo man die Stühle bestellen und solche Ölgemälde anfertigen lassen konnte, die an den Holzwänden hingen und unsere Vorfahren darstellten – blasse, finster dreinblickende Frauen mit steifen Spitzenkrägen und dunklen ausladenden Kleidern auf schwarzem Hintergrund. Mittendrin Großvater Franz Xaver – der bei Holzfällerarbeiten von einem Baum erschlagen wurde, als meine Mutter mit mir schwanger war.

Wir hatten nichts gemeinsam mit den innovativen Gastronomiebetrieben, in deren Küchen Klimaanlagen und Induktionsplatten chromstählern glänzten und die mit gebürsteter Weißtanne und einer Wohlfühloase um zahlungskräftige Kunden warben. Bei uns gab es keine Genusspauschale. Bei uns gab es nicht einmal eine Badewanne, geschweige denn eine Sauna. Selbst in unseren kleinen Wohnräumen gab es jeweils nur ein winziges Bad mit einem Waschbecken und einer Dusche mit Plastikfalttür, die wirklich sehr schwer zu reinigen war.

Auch das Essen, das bei uns auf den Tisch kam, war zwar liebevoll und professionell zubereitet, aber keinesfalls Gourmetküche. Die Speisekarte wechselte ich nicht häufiger als viermal im Jahr, nur hin und wieder gab es eine Tagesempfehlung. Wer also hätte uns für eine Haube vorschlagen sollen?

Die meisten Leute besuchten das Lamm vor allem, um sich von Germanas Unberechenbarkeit unterhalten zu lassen und Wetten abzuschließen, ob sie ihr ein Lächeln entlocken konnten. Einige kamen aus Moos, weil sie schon immer gekommen waren. Oder aus Großdorf, dem Nachbarort, weil sie dem Massentourismus entfliehen wollten. Und ja, hin und wieder verirrten sich auch ein paar Städter zu uns, die es hip fanden, sich mit dem Flair der Siebzigerjahre zu umgeben, und die Perfektion satthatten.

Ich zog das Messer über einen Ledergürtel, der meinem Großvater gehört hatte. »Wie kommt es denn zu dieser Haube?«, fragte ich den Mann am anderen Ende der Leitung, der vermutlich schon gedacht hatte, ich hätte aufgelegt. In diesem Moment hörte ich Motorenlärm und trat ans Fenster.

Der »Ewige Benz«, wie wir ihn nannten – gurkengrün glänzend –, fuhr unter dem Verbindungstrakt durch, am Garten vorbei, und kam vor der Küche zum Stehen. Am Steuer saß Tante Germana. Der Wagen hieß so, weil meine Tante ihn im Jahr 1981 für die Ewigkeit gekauft hatte. So lange musste er mindestens halten. Globale Erderwärmung interessierte Germana nicht.

Sie stieg aus und strich den Hasenfellmantel glatt. Unter dem zu dick aufgetragenen Puder schwitzte sie wie verrückt. Wieder einmal hatte sie die passende Jahreszeit für ihren Mantel nicht erwarten können; es war erst September, und heiß dazu.

Meine Tante hängte sich die Handtasche um und rief meiner Mutter etwas zu, die ganz erschrocken aussah und ebenfalls ausstieg. Meine Mutter war zierlich wie ein Vögelchen, hatte aber erstaunlich muskulöse Arme und große Hände. Die widerspenstigen Locken, die ich von ihr geerbt hatte, waren vom Friseur zu einer schwungvollen Frisur geföhnt worden, die sie jünger machte.

Mein Anrufer ließ nicht locker. »Die Qualität Ihrer Küche hat sich herumgesprochen. Unsere Gastronomietester waren bei Ihnen. Dreizehn Punkte sind nicht gerade der Olymp, aber ein Anfang.« Er sprach inzwischen betont langsam und deutlich. Offenbar vermutete er, an eine Irre geraten zu sein. Womit er nicht ganz unrecht hatte.

»Eine Haube ist das Ende«, murmelte ich, legte das Messer beiseite und sah durch das Fenster zu, wie das Unheil nahte. Germana öffnete den Kofferraum, ließ meine Mutter beide Arme ausstrecken und belud sie bis unter die Nase mit Einkäufen.

»Kann man etwas tun, um die Haube zu verhindern?«, erkundigte ich mich schnell.

»Nein«, sagte der Mann und lachte.

»Nicht gut«, murmelte ich.

»Worauf wartest du? Rein mit dir, Antonia!«, rief Tante Germana und schob meine schwer bepackte Mutter durch den Garten, über die wenigen Stufen nach oben und hielt ihr die Küchentür auf.

»Wohin gehen wir denn?«, fragte meine Mutter mit ihrer zarten Stimme und versuchte den Lauchstangen auszuweichen, die ihr in die Nasenlöcher stachen.

»Antonia! Wir sind zu Hause. In der Küche.«

»Ja, ja, natürlich.« Meine Mutter stand da, beladen wie ein indischer Reisebus, und wusste nicht, was sie tun sollte. Mein Magen zog sich zusammen.

»Einen Moment, ich gebe Ihnen Germana Lehner, die Wirtin«, sagte ich ins Telefon, drückte es meiner Tante in die Hand und nahm meiner verwirrten Mutter die Einkäufe ab.

»Schau mal, mein Schatz, was für schöne Pflaumen wir auf dem Markt bekommen haben«, sagte meine Mutter lächelnd, strich mir über die Wange und hielt mir einen Korb Pfifferlinge unter die Nase.

»Sehr fein, Mama.« Ich roch an den Pilzen und beobachtete Germana, die den Telefonhörer umklammert hielt und zu explodieren drohte. Sie richtete ihren massigen Körper auf und hörte einen Moment zu, was an sich schon eine Seltenheit war, aber das Zittern der pechschwarzen Gewitterwolke, die sie toupiert auf dem Kopf trug, verhieß nichts Gutes. Ihre gepuderte Miene verdüsterte sich. Wütend riss sie eine Lauchstange aus dem Korb.

»Meine Mitarbeiter und ich vertreten eine gewisse Philosophie!« Sie schwang die Lauchstange, und ich fragte mich, wen sie mit »ihren Mitarbeitern« meinte – es gab keine Mitarbeiter. Es gab nur die Familie: Meine Mutter und ich kochten. Tante Francis führte das Pub im Keller und kümmerte sich im Sommer um die Gäste im Garten. Ihre Tochter Annabell bediente. Wenn noch mehr los war, halfen auch noch Annabells Schwestern, die in der Stadt am See verschiedene Schulen besuchten beziehungsweise eine Lehre machten und sich für jeden Kücheneinsatz, der ihnen wertvolle Zeit zum Fortgehen raubte, herzlich bedankten. Wenn es gar nicht mehr ging, kam Tante Theresia mit ihrem Quad, einem PS-starken Allradvehikel von der Alp. Tante Elisabeth war immer da. Sie putzte, bügelte, wusch und half, wo es ging, während sie betete oder Kirchenlieder sang. Und Tante Germana schikanierte die Gäste und behielt den Überblick. Von einer Philosophie, wie es meine Tante nannte, wusste ich nichts.

»Eine Haube ruiniert uns das Geschäft. Was glauben Sie denn, warum unsere Stammgäste zu uns kommen? Genau weil wir keine Haube haben, weil wir noch normal kochen, weil bei uns jeder Einzelne aus voller Überzeugung die Hand ins Heft legt!« Ich verdrehte die Augen. Typisch Tante Germana – sie war einfach nicht in der Lage, auch nur eine Redewendung richtig zu verwenden, immer warf sie gleich mehrere Sprichwörter durcheinander. Ich war schon so lange mit ihr zusammen, dass ich oft selbst nicht mehr wusste, welche Redewendung richtig und welche Germanas Erfindung war. »Wie viel, sagten Sie? Dreizehn Punkte? Wollen Sie mich beleidigen? Meine Küchenbrigade kocht besser als dreizehn Punkte. Sie können sich Ihre Haube selbst aufsetzen! Ich will sie nicht! Würde mir ohnehin meine Frisur ruinieren.« Das meinte sie wohl als Scherz, gleichzeitig aber knallte sie die Lauchstange derart heftig auf den Herd, dass meine Mutter vor Schreck einen Meter zurücksprang. Germana drückte mir das Telefon in die Hand und wankte in ihrem Fellmantel wie ein Riesenhase hinaus in den Garten, bewaffnet mit einem Päckchen Dunhills. Zwischen den Zigaretten steckte ein Joint in der Packung, den sie sich täglich vor dem Frühstück drehte, um den Anforderungen des Alltags gewachsen zu sein. Den Anbau des Krauts hatte Tante Francis, die jüngste der Schwestern, vor Jahren übernommen und perfektioniert. Während sich Germana also mit einem Joint beruhigte, kümmerte ich mich um meine Mutter.

»Alles gut, Mama, es war nur der Lauch.« Etwas ermattet sagte ich ins Telefon: »Sie haben’s gehört, keine Haube.«

»Tut mir leid. Damit werden Sie wohl leben müssen.«

Ich unterbrach die Verbindung.

ZWEI

 

Ich schob das Telefon tief unter einen Stapel frischer Geschirrtücher und begutachtete die Einkäufe. Germana hatte dabei vor allem an sich selbst gedacht: Wildschweinsugo aus der Maremma, luftgetrocknete Salami aus dem Piemont, Kalamata-Oliven, ein paar Flaschen Col del Moro di Valdobbiadene und Schokozigarren. Sündhaft teure italienische Feinschmeckerspezialitäten, die sie ganz sicher keinem Gast, wahrscheinlich nicht einmal uns anbieten würde.

Ich lenkte meine Aufmerksamkeit auf die Pfifferlinge, befühlte ihre Konsistenz, betrachtete sie von allen Seiten und roch daran. Sie waren wirklich frisch. Ich warf meine Pläne kurzerhand um und entsorgte den bereits gehackten Knoblauch im Komposteimer: Statt des üblichen Linseneintopfs würde es heute Pfifferlinge mit Knödel geben.

Meine Mutter band sich die Schürze um, stellte mit Leichtigkeit die dreiundzwanzig Kilo schwere Eisenpfanne auf die Herdplatte, drehte den Regler bis zum Anschlag auf und hastete in die Kühlkammer, um den Butterschmalzeimer zu holen.

»Kinder, legen wir los. Ist dein Mise en Place fertig, Elisabeth?«, rief sie. Ich seufzte. Für meine Mutter war Mise en Place das Wichtigste. Genauso gut hätte sie fragen können: »Ist dein Arbeitsplatz fertig? Hast du alle Zutaten bereit?« Oder noch einfacher: »Hast du alles, was du brauchst, am richtigen Fleck, damit du nicht suchen musst, wenn’s stressig wird?« Sie war unglaublich stolz auf ihr Küchenfranzösisch, und keine Wörter mochte sie lieber als Mise en Place.

»Natürlich, aber könntest du bitte das Dressing probieren? Irgendwas ist noch nicht in Ordnung.« Elisabeth lotste meine Mutter an ihren Posten, damit ich hinter ihrem Rücken den Herd ausschalten und die Pfanne wieder versorgen konnte. Es war noch zu früh.

Der Geruch von Marihuana waberte vom Garten in die Küche, und ich sah nervös aus dem Fenster. Meine Freundin Caro hatte sich für zehn Uhr angekündigt, und ich hatte keine Lust auf eine moralschwere Diskussion über den öffentlichen Konsum illegaler Drogen, wenn sie meine Tante da draußen entdeckte. Es war Viertel vor zehn – ich huschte aus der Küche durch den Flur, vorbei an den Gästezimmern und öffnete die Haupteingangstür, um sie abzufangen.

Im Saal im ersten Stock würde heute Abend eine Veranstaltung stattfinden, die Caro organisiert hatte und für die sie nun alles vorbereiten wollte. Meine literatur- und schreibverrückte Freundin hatte das geschafft, was keiner für möglich gehalten hatte: Sie hatte den berühmten Schriftsteller Ruben Sauter, der seit einem Jahr im Wald über unserem Dorf wohnte und sich noch nie hatte blicken lassen, zu einer Lesung überredet, obwohl es hieß, er scheue die Öffentlichkeit. Caro wusste, wie man Männer verführte. Sie besaß ein Dauerabo bei einer Elite-Partnerbörse, wechselte ihre Partner mit den Jahreszeiten und war entweder furchtbar traurig oder frisch verliebt.

Es dauerte nicht lange, und ich sah durchs Küchenfenster ihre durchtrainierte Gestalt auf dem Fahrrad den Sonnenrein heraufkommen. Ich wischte meine Hände an der Schürze ab, trat vor die Tür, und wir umarmten uns.

»Ist Schack noch nicht da?«, fragte sie. Schack war ihr vorletzter – oder ihr vorvorletzter? – Lover. Als Tontechniker im Landesmuseum kannte er sich mit Mikrofonen und Verstärkern aus, und er hatte Caro versprochen, eine Tonanlage für die Lesung am Abend vorbeizubringen.

»Ich schicke ihn zu dir rauf, wenn er kommt«, sagte ich und lotste Caro am Garten vorbei hinauf in den Agatha-Saal.

Als ich kurz darauf die Küche wieder betrat, putzte meine Mutter am Spülbecken die Pfifferlinge. »Johanna?« Gedankenverloren sah sie mir entgegen. »Verkaufen die jetzt eigentlich schon Hauben übers Telefon?«, fragte sie. Offensichtlich hatte sie das die ganze Zeit über beschäftigt.

»Scheint so«, knurrte Germana, die von draußen hereinkam und wie Bob Marley roch. Sie zog ihren Hasenfellmantel aus, ging an der Durchreiche vorbei zur Theke und schaltete die Kaffeemaschine an.

»Sag denen, Hauben stricken wir selbst«, gab meine Mutter zufrieden von sich. »Elisabeth, ist das Mise en Place endlich fertig?«

»Natürlich«, sagte Elisabeth. »Wir können loslegen.«

»Gut«, sagte meine Mutter, vergaß augenblicklich, was sie gesagt hatte, und betrachtete die Pfifferlinge, als sähe sie sie zum ersten Mal. Ratlos blickte sie mich an und fragte: »Wo sind eigentlich die Pflaumen?«

 

Ein Jahr war es her, als wir das Wort »Alzheimer« zum ersten Mal aus dem Mund eines Arztes gehört hatten. Zurück im Wirtshaus, hatte Germana nach der Flasche Rum gegriffen, die meine Mutter, als sie noch allein kochen konnte, zur Verfeinerung von Mehlspeisen wie Kaiserschmarrn und Palatschinken verwendete. Germana hatte die Flasche aufgeschraubt und einen kräftigen Schluck vom Achtzigprozentigen genommen.

Geahnt hatten wir es schon länger, aber Gewissheit darüber zu bekommen, dass meine Mutter, meine zauberhafte Mutter, die gute Seele des Lamms, ihr Gedächtnis verlieren sollte, hatte die ganze Familie in eine Krise gestürzt. Tante Elisabeth begann einen Gebetsmarathon, holte sich dabei eine Entzündung im Kniegelenk und fackelte mit ihren Kerzen beinahe das Nebenhaus – den ehemaligen Stall – ab. Tante Francis ließ die Gäste im Garten sitzen und soff sich im Pub jede Nacht einen kapitalen Rausch an. Tante Theresia donnerte mit dem Quad von der Alp, um uns zu unterstützen. Tante Hildegund, die als Einzige nicht in Moos lebte, kam angerannt und gab uns die Schuld für den Alzheimer.

Meine Mutter verkroch sich nach der Diagnose auf dem Dachboden. Nur dort konnte sie allein sein. Wir hörten sie herumräumen, Schachteln, Matratzen und Stühle schieben. Manchmal ging sie stundenlang im Kreis. Wie ein Poltergeist kam sie uns vor. Dann grub sie den Garten um. Es waren dermaßen großräumige, mächtige Erdbewegungen, als wollte sie nicht bloß neue Terrassen und Hügel für ihre Küchenkräuter anlegen, sondern sich selbst vergraben. Während ich traurig und wie gelähmt zusah, marschierte Germana in den Garten, packte Antonia am Kragen, schleifte sie in die Küche und berief eine Familienversammlung an der Kochinsel ein.

Mit der Aggressivität eines Politikers im letzten Wahlkampfduell krempelte sie die Ärmel hoch und schnürte ein offizielles, innerfamiliäres Rettungspaket: »Wir werden den Teufel nicht vor dem Abend loben!«, wetterte sie. »Die Lehner-Frauen haben sich noch nie unterkriegen lassen! Erst recht nicht von einer Krankheit, die schon nach Altersheim klingt, noch bevor sie ausgebrochen ist. Nichts wissen die schlauen Ärzte über diese Krankheit. Gar nichts. Das Gehirn ist ein einziges Mysterium! Aber wir wissen es! Wir wissen, dass Antonia, also du, meine liebe Antonia, dass du eine begnadete Köchin bist. Wir wissen, dass du die Klügste von uns bist und das größte Herz von uns Schwestern hast. Wir werden dich nicht aufgeben, Antonia! Wir werden um dich kämpfen! Mit dir! Gegen die Krankheit!« Dann nahm sie den Rum, schenkte allen ein, hob ihr Glas und sprach feierlich: »Mit dir! Gegen die Krankheit!«

Wir erhoben unsere Gläser und sprachen ihr im Chor nach: »Mit dir! Gegen die Krankheit!« Ich nahm einen Schluck, und in meinem Magen explodierte ein Öltanker. Das hellgrelle Flammenmeer fuhr durch meine Speiseröhre wie bei dem Lkw-Brand im Straßentunnel zwischen Moos und Großdorf im Mai 1996. Tränen traten mir in die Augen. Wir weinten ein bisschen.

Vielleicht hatte Germana den Achtzigprozentigen aus Solidarität gewählt, um auch in unseren Gehirnen ein paar Zellen zu töten, damit wir auf gleichem Stand wie meine Mutter waren. Aber Germanas sture, irrationale Zuversicht tat meiner Mutter und deswegen uns allen gut.

Seitdem war alles im Lamm ein bisschen anders geworden. Bis zu diesem Zeitpunkt hatte ich vorwiegend die Gäste bedient und nur manchmal in der Küche ausgeholfen, aber die Familie ging selbstverständlich davon aus, dass ich, weil ich es gelernt hatte, das Kochen übernahm.

Das Schwierige dabei war, dass wir beschlossen hatten, meiner Mutter weiterhin das Gefühl zu geben, sie sei die Chefin. Wir wollten sie nicht kränken, also führten wir in der Küche eine Zweifrontenschlacht: Während wir so taten, als würden wir ihren Anweisungen folgen, versuchten wir gleichzeitig heimlich, den größten Schaden zu verhindern. Inzwischen hatte ich die Küche – natürlich inoffiziell – so gut wie übernommen, kochte viel vor und arbeitete immer weniger im Service, was mir leidtat, weil es mir immer gefallen hatte, unter Menschen zu sein.

Meine Mutter tat, was sie konnte, aber es wurde von Tag zu Tag schwieriger. Es trieb mir die Tränen in die Augen, wenn sie einen Apfel auf eine Gabel spießte und versuchte, ihn zu schälen wie eine heiße Kartoffel. Sie war wie die tausendjährige Linde auf unserem Dorfplatz, deren gelbe Blätterkrone ich von der Tür des Gasthauses aus sehen konnte. Sie musste ein Blatt nach dem anderen fallen lassen. Nur würde es für meine Mutter keinen Frühling mehr geben.

 

Es war kurz nach drei am Nachmittag, als ich meine Küchenklamotten gegen ein leichtes Kleid tauschte, barfuß in Holzschlappen schlüpfte, meine Mutter in die Obhut von Tante Elisabeth gab und das Lamm nach einer stressigen Mittagsschicht mit einem Seufzer der Erleichterung durch den Haupteingang verließ. Ich blieb unter dem Vordach des Gasthofes stehen und machte ein paar tiefe Atemzüge. Holzgeruch drang in meine Nase. Sonne auf alten Schindeln roch gut. Die Grillen zirpten wie im Hochsommer.

In zwei Tagen war Alpabtrieb. Dann würden sich die Ziegen auf der Weide von Bauer Dokus, die sich vor dem Lamm ausbreitete und deren Rand wir als Parkplatz benutzten, wieder das Gras mit den Kühen teilen müssen. Ich freute mich darauf, ich mochte es, wenn mich das Gebimmel der Kuhglocken durch den Alltag begleitete.

Der Himmel über mir war so klar wie poliertes Kristallglas. Das Lamm stand am Sonnenrain, dem schönsten Fleck von Moos. Erhaben. Ich konnte von hier aus das ganze Dorf überblicken – selbst die Kirche, die viel zu groß geraten war, lag unter mir –, mitsamt dem Dorfplatz und der alten Linde. Mir gegenüber erhob sich ein senkrechtes, schroffes Bergmassiv, um das sich viele Legenden rankten. »Die Schwarze Wand« wurde sie genannt. Sie teilte Moos in eine Sonnenseite und eine Schattenseite. Die Schattenlinie wanderte je nach Jahreszeit zwischen Dorfplatz, Durchgangsstraße und Schwarzwasserfluss hin und her. Wir gehörten zu den Privilegierten – das Lamm bekam selbst im Dezember etliche Sonnenstunden ab.

»Johanna!«, hörte ich eine Stimme von weiter unten. Ich zuckte zusammen. Nach und nach erkannte ich eine Gestalt, die sich mühsam den Hang hinauf auf mich zubewegte. O nein!

Sybille Fuchs stellte keuchend ihr Fahrrad ab. Von welcher Seite war die denn gekommen? Für einen Moment schloss ich die Augen, aber vergeblich – als ich sie wieder öffnete, stand Sybille immer noch am Wegrand.

Wie an fast jedem Nachmittag hatte ich nur schnell zu Mathias flüchten wollen, um eine Tasse Kaffee mit ihm zu trinken und eine kurze Pause zu machen. Mir blieben bis zum Abendbetrieb ein paar mickrige Stunden, und wenn Sybille einmal anfing zu reden, konnte das dauern. Sie wohnte ein paar Häuser weiter und war hauptberuflich die Frau ihres Mannes Fritz, der vor seiner Pensionierung Landtagsabgeordneter gewesen war.

»Fritz hat mich geschickt. Er wollte sicherstellen, dass du uns für heute Abend einen guten Platz reserviert hast.«

»Am Tisch in der ersten Reihe. Ihr sitzt alle zusammen. Dafür hat Caro schon gesorgt.« Zwei Stufen brachte ich erfolgreich hinter mich, dann kam mir Sybille entgegen, hielt mich mit beiden Händen fest und fragte verschwörerisch: »Ist Ruben Sauter denn schon da?« Sie verrenkte den Hals und spähte nach oben zum Balkon, der vom Saal im ersten Stock abging.

Ich musste lachen. »Es geht ja erst um acht los.«

»Ich finde es wunderbar, dass hier endlich mal ein bisschen Kultur stattfindet«, sagte sie und strich sich durchs Haar, das so akkurat saß wie ihr Hosenanzug. »Ach, ich würde so gern öfters ins Theater gehen. Oder ins Kino. Aber der Fritz, der fährt ja nachts nicht mehr gern durchs Tobel in die Stadt.«

»Sybille, es tut mir wirklich leid, aber ich habe Mathias versprochen, kurz bei ihm vorbeizukommen, und ich habe nicht viel Zeit …«

Blitzartig ließ sie meine Hand los und nickte schuldbewusst. »Natürlich, natürlich. Du solltest ihn nicht warten lassen. Sag ihm einen lieben Gruß von mir.«

»Mach ich.« Schnell sprang ich an ihr vorbei und rannte die wenigen Meter quer durch den Garten, an der Kastanie vorbei. Die Tür zum Haus der Familie Ritter war selten abgeschlossen.

Mathias wohnte im Erdgeschoss. Seine Schwester Marlies und ich waren vier Jahre alt gewesen, als er geboren wurde. Wir hatten den Kleinen überall hin mitgeschleppt und ihn mit unserem Puppenwagen durch die Gegend gefahren. Wir hatten ihn vermisst, als er mit elf Jahren aufs Sportinternat gewechselt war, und wir hatten ihm später bei seinen Erfolgen zugejubelt. In den letzten Jahren war unsere Freundschaft womöglich noch intensiver geworden. Er war für mich wie ein Bruder, den ich nie hatte, während ich Marlies, die in der Stadt als Anwältin arbeitete, leider viel zu selten sah.

Mathias saß am Computer und war damit beschäftigt, eine Trainings-App für Spitzensportler zu entwickeln, die schon längst hätte online gehen sollen. Ich begrüßte ihn flüchtig und eilte zur Küchennische, um Kaffee aufzusetzen. Er arbeitete, schlief und aß in einem großen Raum.

»Schön, dich zu sehen, Johanna«, sagte er und hob seinen Blick über den Rand des Bildschirms in meine Richtung.

»Liebe Grüße von Sybille Fuchs«, sagte ich und verdrehte dabei die Augen.

»Danke.«

Ich fummelte einen Filter aus der Pappschachtel. »Du solltest dir endlich eine Espressomaschine anschaffen.«

Er lächelte. Über dieses Thema stritten wir dreimal pro Woche.

Ich löffelte Pulver in den Filter, schüttete Wasser in die Maschine, schaltete sie ein und begann in der Wohnung ein bisschen Ordnung zu machen.

»Johanna, lass das.«

»Gleich.« Ich kratzte Spaghetti von einem Teller, warf eine leere Dose Tomaten in den Müll, räumte Geschirr in die Maschine, stellte Butter in den Kühlschrank.

»Du machst mich nervös. Fahr mal deine Festplatte runter. Du rotierst ja«, sagte er.

»’tschuldige.« Ich zwang mich dazu, still neben der Kaffeemaschine stehen zu bleiben und darauf zu warten, dass sie anfing zu röcheln. Es dauerte eine Ewigkeit. Die Maschine sollte dringend entkalkt werden. Ich trommelte auf die Ablage, polierte einen Löffel, füllte Zucker in eine Dose.

»Kannst du dich bitte hinsetzen?«

Ich setzte mich an den Tisch, seufzte laut und ließ meine Schultern sinken. Zum ersten Mal an diesem Tag spürte ich mich. Der Mathias-Effekt setzte ein. Endlich kam ich zur Ruhe. Ein Grund, weshalb ich so gern hier war. In Mathias’ Gegenwart konnte ich mich erholen. Seine Wohnung war eine Insel der Langsamkeit und der Gelassenheit. Wenn einer Geduld hatte, dann Mathias. Er hatte gelernt zu warten, im Vergleich zu ihm waren wir alle hyperaktiv – wir waren es gewohnt den ganzen Tag zu rennen, und es fiel uns schwer, damit aufzuhören. Ich nahm die Stille um uns herum wahr: keine Telefone, keine Rührwerke, kein Töpfeknallen, keine keifende Germana, nur das leise, beruhigende Summen des leistungsstarken Computers. Auch den Geruch in seinem Zimmer mochte ich, der so ganz anders war als der ewige Gasthausgestank. Der störte mich am meisten in meinem Beruf – immerhin nahm ich ihn noch wahr. Er fraß sich in der Haut fest, wenn ich mich nicht täglich duschte – oder sogar zweimal täglich. Romantiker, die keine Ahnung hatten, stellten es sich vielleicht schön vor, in einer Küche zu arbeiten. Sie dachten nicht an den immerwährenden Gestank von Fett und Zwiebeln, der bis in die Haarspitzen drang.

Nachdem wir Kaffee getrunken hatten, machten Mathias und ich uns daran, seine Schallplatten und CDs zu digitalisieren, damit er von der Festplatte aus darauf zugreifen konnte. Damit waren wir schon etliche Wochen beschäftigt. Die riesige Sammlung und einen unter Musikfreaks legendären Plattenspieler hatte er von seinem Onkel geerbt. Der hatte in Wien eine Bar besessen und war, mit nur knapp fünfzig Jahren, an einem Wespenstich gestorben, als er auf dem Brunnenmarkt Obst kaufen wollte. Jahrelang hatten die Kisten unbeachtet in der Garage gestanden. Aber als Mathias’ Interesse an der Musik früherer Generationen immer größer wurde, hatte er die Sammlung hervorgeholt und mit der Zeit zunehmend erweitert. Inzwischen kannte er sich wohl besser aus als sein Onkel. Mathias saß am Computer, ich bediente den Plattenspieler.

»J. J. Cale, Really, 1973«, sagte ich, schob die Platte in die Hülle, steckte sie zurück in die Kiste, zog mit spitzen Fingern J. J. Cale, Naturally, 1972, heraus, legte sie auf seinen teuren Plattenspieler und senkte die Nadel in die erste Rille. Sobald die Musik erklang, atmeten wir beide tief durch. Ich hatte versehentlich die B-Seite erwischt, aber ich wollte nicht mehr abbrechen. Die Musik stieß alle Fenster auf einmal auf, sie ließ die Türen bersten und das Dach vom Haus fliegen. Die Welt stieg zu uns herein, ballte die Fäuste und verpasste dem Dorfmief, der uns ständig belagerte, einen kräftigen Uppercut. Ich drehte mich im Kreis um den Dorfmief herum, der wimmernd vor mir auf dem Boden lag, und wir sangen:

»After midnight

We’re gonna let it all hang out

After midnight

We’re gonna chug-a-lug and shout

We’re gonna cause talk and suspicion

Give an exhibition

Find out what it is all about.«

Manchmal verzog Mathias lachend das Gesicht, weil ich offenbar nicht die richtigen Töne traf. Das war mir egal. Ich drehte mich, bis mir schwindlig wurde und ich atemlos gegen das Fensterbrett torkelte. Die Sonne schien auf den Tisch, ich schloss die Augen, lehnte mich zurück und lauschte. Wenn wir in dem Tempo weitermachten, würden wir noch lange brauchen. Aber uns hetzte ja niemand.

»Wie viele noch?«, fragte Mathias.

»J. J. Cale?« Ich blätterte die Platten durch – »acht« – und nahm einen Schluck von meinem Kaffee. »Heute Abend liest übrigens Ruben Sauter bei uns im Saal.« Ich versuchte, es beiläufig klingen zu lassen. »Kommst du?«

Er hob eine Augenbraue und grinste. »Netter Versuch.«

Ich schmunzelte.

»Du musst dich schon ein bisschen mehr anstrengen. Ruben Sauter. Also bitte. Wenn du mir sagst, dass J. J. Cale im Lamm spielt, könnte ich schwach werden.«

»Gut, dann engagiere ich J. J. Cale.« Ich stand auf, hob die Nadel und drehte die Schallplatte auf die A-Seite.

»J. J. Cale ist seit 2013 tot.«

Der Dorfmief streckte mir die Zunge raus, rappelte sich auf, scheuchte die Welt nach draußen, setzte dem Haus wieder das Dach auf und verriegelte Fenster und Türen.

»Wieder nichts.« Ich seufzte. »Okay, dritte Option: Ich spiel dir was auf der Gitarre vor. Caro, Steffi und ich treffen uns jetzt jeden Montag und üben.«

Mathias kostete es offensichtlich einiges an Selbstdisziplin, den Kaffee vor Lachen nicht über den Tisch zu prusten. »Du und Gitarre spielen?« Er schüttelte den Kopf. »Das ist so was von sinnlos.«

»Danke. Heute bist du wieder besonders nett.«

»Nein, im Ernst, ich kenne niemanden, der unmusikalischer ist als du. Dein Vater muss vergessen haben, dir ein paar seiner Musiker-Gene zu vererben.«

Ich war mir sicher, dass Mathias mehr Muskeln in seinem Gesicht hatte als jeder andere. Man sah ihm sofort an, was er dachte, und das, was jetzt in ihm vorging, war eine Mischung aus Mitleid, Schadenfreude und Überlegenheit.

»Es macht mir Spaß. Wirklich. Und ich spüre, dass da etwas in mir schlummert«, sagte ich und untermalte meine Aussage mit einer theatralischen Armbewegung.

»Natürlich tut es das«, erwiderte Mathias. »Aber die Musik ist es sicher nicht. Soll ich dir sagen, was tatsächlich in dir schlummert?«

Jetzt kam die Leier wieder.

»In dir schlummert das Verlangen, dich endlich unabhängig zu machen. Im Lamm wirst du genauso gaga wie der Rest deiner Familie.« Niemand war so direkt wie Mathias. Das hasste und das mochte ich an ihm.

»Das sagst ausgerechnet du. Du wohnst ja selbst noch bei deiner Mutter. Von wegen unabhängig machen.«

Er ließ die Schultern hängen. »Das ist was anderes.« »Quatsch, das ist überhaupt nichts anderes!«, erwiderte ich heftig. Es machte mich jedes Mal wütend, wenn er so etwas sagte. Mathias schwieg. Ich blieb stehen und sah der Nadel auf dem Plattenteller zu. Er hatte ja recht, seine Situation war eine andere, das wusste er, und das wusste ich. Und er hatte auch damit recht, dass ich irgendwann noch komplett plemplem werden würde, bliebe ich noch länger bei meinen verrückten Tanten im Lamm. Aber ich konnte einfach nicht weggehen. Ich hatte da nämlich ein wirklich großes Problem. Eigentlich sogar zwei große Probleme.

DREI

 

Vor zwanzig Jahren war ich felsenfest davon überzeugt gewesen, den Absprung in ein eigenes Leben zu schaffen. Ich glaubte an mich, ich dachte, dass ich anders sei als alle Lehner-Frauen, weil mein Vater anders war als ihre Väter. Mein Vater war ein irischer Musiker. Durch meine Adern floss zur Hälfte irisches Blut, und das gab mir genügend Kraft, mich gegen den Fluch zu wehren, der die Familie traf, seit mein Großvater Franz Xaver von einem Baum erschlagen wurde: Männer überlebten uns nicht. So ungefähr könnte man das auf den Punkt bringen.

Tante Germanas Mann Egon hatte sich gediegen zu Tode gesoffen. Tante Elisabeths Mann Dieter hatte sich im Badezimmer erhängt, weswegen sie beschlossen hatte, nur noch Jesus zu lieben. Tante Theresias Mann Gottfried, von allen liebevoll Göpf genannt, hatte geglaubt, nach einem massiven Wintereinbruch, bei dichtem Schneefall und höchster Lawinenwarnstufe, eine lockere Tour machen zu müssen, weil er jeden Sonntag eine lockere Tour machte, weil sein Sturschädel auf lockere Sonntagstouren programmiert war. »Es gibt kein schlechtes Wetter, nur schlechte Kleidung«, war der letzte Satz, den Tante Theresia von Göpf gehört hatte, wenige Stunden bevor er oberhalb von Großdorf am Buckel eine Lawine auslöste, die zwar knapp an den Luxushotels vorbeischrammte, aber drei historische Berghütten und ein Räumfahrzeug niederwalzte. Sechsundsiebzig Soldaten vom Bundesheer rückten an, um nach Überlebenden zu graben. Ein Lawinenhund fand den toten Lenker des Räumfahrzeugs und Onkel Göpf. Vielleicht hätte man ihn retten können, aber in seinem Lawinenpiepser, den ihm Theresia geschenkt hatte, waren keine Batterien gewesen. Theresia war eine stolze und schöne Witwe. Aber als bei der Beerdigung eine zweite Witwe auftauchte mit drei süßen, kleinen Mädchen an der Hand, die ins Grab ihres Papas Rotz und Wasser heulten, geriet Theresia ins Wanken und musste von ihren Schwestern gestützt werden. Während des Leichenschmauses – Grießnockerlsuppe, Schnitzel und Pommes, Birnenkompott – wurde ihr mit jedem Bissen klarer, warum Göpf so viel weg gewesen war und nie Zeit für sie gehabt hatte und warum er, obwohl er vorgegeben hatte, dauernd zu arbeiten, trotzdem nie Geld gehabt hatte, und vor allem, warum er von Theresia partout keine Kinder wollte. Weil er schon drei Kinder hatte. Der anderen Witwe ging es nicht viel besser. Ihr wurde während des Leichenschmauses, spätestens aber, als Germana beide Frauen an einen Tisch zitierte und eine Flasche Rum spendierte, klar, warum Göpf sie nie hatte heiraten wollen, weil er schon verheiratet gewesen war, mit Theresia nämlich, die danach nichts mehr von der Welt wissen wollte und mit ein paar Ziegen auf die Alphütte zog.

Tante Francis’ Männer waren allesamt Armleuchter. Francis hatte ein ausgesprochen gutes Händchen für Armleuchter. Von jedem Armleuchter hatte sie eine Tochter. Der Erste, Annabells Vater, hieß René und war Verkehrspolizist. Nach der Geburtstagsfeier eines Kollegen, die mit Kaffee und Kuchen im Revier begonnen und sich bis vier Uhr morgens gezogen hatte, fuhr er mit seinem roten Alfa 156 Sportwagen zu schnell aus dem neu eröffneten Mooser Tunnel heraus und zu schnell ins Radar hinein und schrammte in letzter Sekunde an der Kleiderbügelfabrik vorbei, was ganz erstaunlich war, denn die meisten anderen, die damals zu schnell unterwegs gewesen waren, aus Freude über den neuen Tunnel, waren in die Kleiderbügelfabrik gefahren, was der Grund gewesen war, weswegen Charlys Vorgänger für einen Radarkasten gekämpft hatte. Nur, weil René ins Radar gefahren war, war er natürlich noch kein Armleuchter, das konnte jedem passieren. Ein Armleuchter war er, weil er den Radarkasten einen Tag zuvor eigenhändig aufgestellt hatte. Um einer Blamage zu entgehen, fuhr René in seinem Volldampf zum Bauer Dokus, der ihm einen Gefallen schuldete, klingelte ihn aus dem Bett und lieh sich den großen Traktor aus. Mit dem fuhr er gegen fünf Uhr früh zurück zum Radarkasten und band ihn mit mehreren Kälberstricken an den Traktor. Mit Schwung und 450 PS fuhr er rückwärts, riss den Radarkasten aus der Verankerung und fuhr gleich weiter, rückwärts die Böschung hinab, wobei sich der Traktor mitsamt dem Radarkasten überschlug und im reißenden Schwarzwasserfluss unterging. Die Bergungsarbeiten gestalteten sich schwierig. Renés Überreste fand man Tage später im Rechen der Kläranlage draußen am Land. Eine der Folgen war, dass der Bauer Dokus lange kein Wort mit Francis gesprochen hatte, weil er den Verlust seines Traktors nicht überwinden konnte.

Der zweite Armleuchter, Fabiennes Vater, hieß Björn und dealte mit Kampfhunden, wodurch Tante Francis Orte wie Košice, Ostrawa und Mistelbach kennenlernte, als sie nächtelang seine aggressiven Köter durch Osteuropa kutschieren musste. So lange, bis einer der Kampfhunde Björn verletzte. Nein, der Hund hatte ihm nicht die Kehle durchgebissen oder ihm das Gesicht weggefressen, er hatte ihn nur überschwänglich begrüßt und ihm mit der verdreckten Pfote ein wenig die Haut vom Handrücken gekratzt. Nicht der Rede wert. Leider entzündete sich der Kratzer. Björn weigerte sich standhaft zum Arzt zu gehen, erstens, weil er niemals zum Arzt ging, zweitens, weil er sich von einer Frau grundsätzlich und von Francis schon gar nichts sagen ließ, und drittens und vor allem, weil er das Champions-League-Endspiel nicht verpassen wollte. Das bisschen Fieber, der Schüttelfrost und das Herzrasen würden schon wieder vergehen. Unkraut verdirbt nicht. Er rieb sich die Wunde mit Obstler ein, nahm einen ordentlichen Schluck und knallte sich mit einem Bier vor den Fernseher. Das Tor in der sechsundzwanzigsten Minute, das der blutjunge Cristiano Ronaldo gegen Chelsea schoss, kriegte Björn wohl schon nicht mehr ganz mit. Beim Ausgleich von Frank Lampard in der fünfundvierzigsten Minute war er sicher schon bewusstlos. Das eigentliche Drama aber war, dass er die Schlussphase nicht mehr erleben durfte, die ebenfalls von erhöhter Dramatik geprägt war, weil Didier Drogba wegen Tätlichkeit des Feldes verwiesen worden war und deswegen nicht beim anschließenden Elfmeterschießen mitmachen durfte und von John Terry ersetzt wurde, der beim entscheidenden fünften Strafstoß ausrutschte und den Ball an den Pfosten setzte, was Manchester im Spiel hielt. Van der Sar sorgte schließlich für einen Sieg. Monatelang hatte ich mir diese ermüdenden Analysen unter den Stammgästen im Pub anhören müssen, während ich Francis, die vorgab zu trauern, in Wahrheit aber heilfroh war, Björn losgeworden zu sein, an der Bar vertreten hatte.

Armleuchter Nummer drei, Pamelas Vater, hieß Joachim, war Staubsaugervertreter und in der Sadomaso-Szene als Sir Gustavo berühmt. Dass er ein Doppelleben geführt hatte, erfuhr Francis erst, nachdem er während einer merkwürdigen Sexpraktik in den Armen seiner Sklavinnen gestorben war. Details hatte Francis uns gegenüber keine erwähnt.

Jessicas Vater Jürgen, Armleuchter Nummer vier, war frühpensionierter Hobbygärtner und anfangs sehr nett. Einen ganzen Winter lang hatten wir geglaubt, sie hätte nun doch den Richtigen gefunden. Dann kam der Frühling, und er verwandelte die Wiese hinterm Haus in einen englischen Rasen. Jürgen liebte Kunstdünger. Ich hatte ihn im Verdacht, einen Golfplatz anlegen zu wollen. Dann grub der Maulwurf einen Hügel, und noch einen, und noch einen dritten. »Kein Problem, mit dem Tierchen fahre ich elegant ab«, sagte Jürgen mit bewundernswerter Gelassenheit – er kannte die Maulwürfe in Moos am Buckel nicht. Da es sich um ein gesetzlich geschütztes Tier handelte, holte er bei der Behörde eine Genehmigung für das Aufstellen einer Lebendfalle ein, die er mit viel Liebe zimmerte. Nur der Maulwurf hatte nicht vor, sich fangen zu lassen, weder lebend noch tot. Jürgen, immer noch frischen Mutes, legte sich, trotz all seiner Bandscheibenvorfälle, derentwegen er frühzeitig aus dem Schuldienst ausscheiden hatte können, während der ersten drei bis vier Morgenstunden, in denen der Maulwurf am aktivsten war, mit einer Schaufel auf die Lauer und versuchte den Unhold auf frischer Tat zu ertappen. Nach zwei Wochen lagen seine Nerven blank. Der heilige Zorn packte ihn. Er erklärte den Maulwurf zum Feind, rief den Krieg aus und rüstete auf. Er steckte Böller und jegliche Art von Feuerwerkskörpern in die Löcher. Er fuhr eine Null-Toleranz-Strategie gegen den Maulwurf, schob ein Moped mit einem Zweitaktmotor in den Garten, steckte einen Schlauch an den Auspuff und leitete die stinkenden Gase in das Höhlensystem. Er stopfte vergorene Milch, alte Heringe, Katzenhaare und in Lampenöl getränkte Socken in die Erde, trieb mit einem Blasebalg den Qualm in die Gänge und schüttete schließlich das Benzin direkt in den Boden, was den Kräutern im Garten nicht wirklich guttat. Nichts konnte dem Maulwurf etwas anhaben. Er band Gummireifen an Francis’ Moped und fräste durch den Garten. Der Maulwurf baute neue Löcher. Dann setzte Jürgen auf Masse statt Geschwindigkeit, baute sich eine 380 Kilogramm schwere Walze, verdichtete den Boden und verlor auch diese Schlacht. Er installierte Summer, Schallgeräte und ein elend quietschendes Windrad, um den Eindringling akustisch zu zermürben. Er lieh sich von Tante Germana das Gewehr, riskierte ihren Jagdschein und schoss mit Schrot und Luftdruck in die Löcher, in der Hoffnung, dass dem Maulwurf die Lungen platzten. Germana mischte sich erst ein, als er mit einem Bagger anrückte und alles umgraben wollte. Er brachte den Bagger zurück, bastelte sich einen Maulwurfspieß mit zwanzig Eisenzacken und jagte in blindem Hass in Captain-Ahab-Manier den Feind, während sich der Garten munter in eine Mondlandschaft verwandelte. Da brannte Jürgen die letzte Sicherung durch. Er versah den gesamten Garten mit Metallstäben, schloss sie an ein 380-Volt-Kabel an und ließ den Starkstrom durch die Erde fließen – statt des Tieres erwischte es Jürgen, der vergessen hatte, seinen Garten vor dem Einschalten des Stroms zu verlassen. Wir dankten jedem Tag, an dem Francis keinen Mann hatte.

Tante Hildegund hatte von vornherein auf einen Mann verzichtet und mittels Samenbank und künstlicher Befruchtung drei kluge Mädchen bekommen. Sie spielte glückliche Familie. Immerhin hatte sie es geschafft, Moos zu verlassen und in die Stadt am See zu ziehen, aber Tante Hildegund war eiskalt, berechnend und grundböse, und so wollte ich auch nicht werden.

Der einzige Mann, der zwar gegangen, aber hoffentlich überlebt hatte, war mein Vater, und deswegen war ich anders, und deswegen war mein Plan: wegkommen. Und zwar so schnell wie möglich. So weit wie möglich. Für mindestens ein Jahr.

»Das schaffst du nie!«, hatte Germana damals gelangweilt abgewunken. »Das hat noch keine von uns geschafft.« Da wollte ich es erst recht! Mit Marlies’ und Mathias’ Hilfe organisierte ich meine Reise.

Einen Tag nach meiner Abschlussprüfung in der Hotelfachschule flog ich so weit wie möglich weg, nämlich nach Neuseeland. Dort arbeitete ich in einer Lodge auf Waiheke Island an der Rezeption des Spa-Bereichs, vergab Massage- und Kosmetik-Termine, wusch Handtücher, richtete nach jeder Behandlung die Räume wieder her und sorgte für einen reibungslosen Ablauf. Die Insel und die Leute waren traumhaft. Alle waren nett zu mir, alle waren zufrieden mit mir, und trotzdem brachten mich das Heimweh und das schlechte Gewissen fast um. Ich wusste, dass meine Mutter jeden Tag stressige sechzehn Stunden in der Küche des Lamms bewältigen musste und so gut wie nie freihatte. Sie jammerte nicht, aber ich konnte trotz der großen Entfernung fühlen, wie erschöpft sie war.

»Ich komme schon zurecht«, sagte sie, wenn wir telefonierten, eifrig darum bemüht, sich ihre Müdigkeit nicht anmerken zu lassen. »Für die Hochzeit am Wochenende habe ich schon alles vorbereitet. Stell dir vor, der Bruder von Alice Mangold heiratet eine Großdorferin. Neunzig Gäste – der Agatha-Saal und die Stuben platzen aus allen Nähten. Hildegund kommt und hilft.« Etwas Schlimmeres hätte sie mir nicht sagen können – Hildegund in der Küche war ein Albtraum; sie hatte von nichts eine Ahnung und wusste alles besser. »Hildegund ist nicht so ungut, wie du denkst … Nein, natürlich lasse ich mir nichts gefallen. Zerbrich dir nicht meinen Kopf, und genieß deine Reise, mein Schatz. Ich bin sehr stolz auf dich, und vergiss nicht, dass du das Reisen im Blut hast. Dein Vater war ein Weltenbummler.«

Damit legte sie auf, und tatsächlich war ich einige Minuten lang beruhigt – bis das Telefon erneut klingelte und mir meine Cousinen mitteilten, was zu Hause alles schiefging. Hildegund machte meine Mutter sehr wohl nervös, und prompt schnitt sie sich während der Hochzeitsvorbereitungen mit einem Fleischermesser tief in den Zeigefinger. Laut den bildhaften Schilderungen meiner Tanten und meiner Cousinen wäre sie beinahe verblutet, und der Finger war so gut wie ab. In einer dramatischen Rettungsaktion mussten die Cousinen den Ewigen Benz mit Plastikplanen auslegen, damit die Ledersitze nicht blutig wurden und Germana sie zu unserem Dorfarzt Ariel Dorner, der gerade sein Studium abgeschlossen hatte, fahren konnte.

Ariel Dorner wollte meine Mutter in die Klinik bringen lassen, aber das ging nicht, weil meine Mutter für neunzig Hochzeitsgäste kochen musste. Also nähte er die Wunde und steckte ihre Hand in einen Lederhandschuh.

»Der versteht seine Arbeit. Es war überhaupt kein Problem, wirklich nicht«, beteuerte meine Mutter.

»Dreimal ist sie am Herd in Ohnmacht gefallen«, sagten meine Cousinen.

Vielleicht taten sie es nicht absichtlich, aber alle zusammen übten so großen Druck auf mich aus, dass es mir unmöglich war, mein schlechtes Gewissen und mein Heimweh loszuwerden. Jede Nacht weinte ich mich in den Schlaf und versuchte mir einzureden, dass es bald besser werden würde. Aber genießen konnte ich meine Auszeit nicht. In Gedanken war ich im Lamm.

Und dennoch biss ich mich weiter durch – ich wollte auf keinen Fall schon nach wenigen Wochen zu Hause angekrochen gekommen. Von Neuseeland reiste ich nach Dänemark und lernte in einem der besten Restaurants in Kopenhagen. Doch das Heimweh wurde noch schlimmer. Die Schnittwunde meiner Mutter hatte sich in der Zwischenzeit entzündet, blumig und lustvoll schilderten mir die Tanten, wann wie viel Eiter in welcher Farbe herausquoll. Sie sprachen von einer möglichen Blutvergiftung. Das machte mir dann wirklich Angst. Wenn meine Mutter an einer Schnittverletzung starb, weil ich sie im Stich gelassen hatte, würde ich mir das nie verzeihen. Bevor ich den Rückflug buchte, wollte ich mich aber noch vergewissern. Wie schlimm stand es wirklich um sie?

Ich rief Ariel Dorner an. Unser Dorfarzt war zwei Meter groß, hatte einen kahl geschorenen Schädel und trug extravagante Brillen. Die meisten Leute erschraken, wenn sie das erste Mal in seine Praxis kamen und einem Schrank gegenüberstanden, dem sie kaum zur Brust reichten, aber ich vertraute ihm schon damals.

Blutvergiftung? Wer? Antonia? Er lachte am Telefon, und ich musste feststellen, dass meine Tanten und Cousinen schamlos übertrieben hatten. Das machte mich so wütend, dass ich beschloss, meine Reise fortzusetzen. Ich flog nach Long Island, wohnte als Mädchen für alles in der Villa einer reichen Familie, brachte vormittags den Pudel zum Friseur, bastelte nachmittags Prinzessinnenkronen mit den Kindern und kochte abends oft für zwanzig Gäste. Wenn ich nicht mehr weiterwusste, rief ich zu Hause an und erfuhr von meiner Mutter, wie man Kokos-Mousse-Törtchen und Grießflammerie zubereitete, und von meinen Tanten, wie wahnsinnig schlecht es meiner Mutter ging und wie sehr ich an allen Ecken und Enden fehlte. Die Gelatine in Amerika war eine Katastrophe, man konnte sie an die Wand klatschen, und sie blieb kleben. Obwohl ich permanent mit Essen zu tun hatte, nahm ich zehn Kilo ab. Mathias, der mich in der Zeit einmal besuchte, weil er sich in Beaver Creek auf den Weltcup vorbereitete, erschrak richtiggehend. Zuletzt flog ich nach San Diego und heuerte dort in einem Fünfsterne-Luxusresort an, das einem Öl-Milliardär gehörte. Ich war geschockt über die Misswirtschaft und erlebte, wie schnell man viel Geld vernichten konnte. Kontrolle gab es keine. Der Weinkeller, in dem Flaschen für Zigtausende Dollar lagerten, stand immer offen. Jeder der fünfhundert Mitarbeiter nahm sich, was er brauchte. Sie bedienten sich am Wein, den Weingläsern, dem Silberbesteck, der Tischwäsche und den Bademänteln und verscherbelten die Ware in Mexiko. Den Besitzern war alles egal. Sie hatten drei Raffinerien und ein Tankstellennetz mit zweitausend Tankstellen. Das Resort machte nicht einmal drei Prozent des Umsatzes der ganzen Firma aus.

Ich dachte an das gute alte Lamm, an meine Familie, die ich im Stich gelassen hatte, bekam hohes Fieber und brach endgültig zusammen.

An den Rückflug konnte ich mich kaum erinnern. Ich brauchte Monate, um mich von dem Schock zu erholen, dass Germana recht behalten hatte: Ich hatte es nicht geschafft, das Jahr bis zum Ende durchzuziehen. Siebzehn Tage hatten gefehlt. Kopfvoran war ich in die Welt gestürmt, und die Welt hatte mich einmal durchgekaut und dann einfach wieder ausgespuckt; so jedenfalls fühlte ich mich.

Tante Elisabeth räumte ihre Wohnung im ehemaligen Stallgebäude für mich und übersiedelte ihren Altar in die Dachkammer. Meine Mutter, meine Cousinen und die Tanten päppelten mich im Kollektiv auf. Sie fütterten mich mit Hühnersuppe und löffelten mir noch mehr Schuldgefühle ein.

Als es mir wieder besser ging, bestand ich darauf, in die Dachkammer zu ziehen. Elisabeth sollte zurück in ihre Wohnung. Ich bildete mir ein, den Absprung in die Freiheit besser zu schaffen, wenn ich möglichst unkomfortabel wohnte. Immer noch wollte ich mir eine Arbeit und einen Mann suchen, ausziehen und unabhängig werden. Aber bald begann ich meine Kammer mehr zu lieben, als mir recht war. Ein Trick half mir dabei, die Gegenwart auszublenden: Ich fand heraus, dass ich die lockende Fremde da draußen in meinem Kopf geschehen lassen konnte, indem ich Geschichten aufschrieb. Ich nahm ein altes Schulheft, tauschte das wahre Leben gegen Schrift auf Papier aus und ermöglichte mir all die Abenteuer, die ich eigentlich hatte erleben wollen. So linderte ich meine Sehnsucht und mein Fernweh.

Ich machte mir nichts vor. Auf meiner Reise hatte ich viele Erfahrungen gesammelt, doch die mächtigste aller Erfahrungen war, feststellen zu müssen, dass ich unter Schuldgefühlen und Heimweh litt, und zwar so massiv, dass ich es seither kaum schaffte, länger als drei Tage wegzubleiben.