Wisperwasser. Es ist unser Geheimnis - Irmgard Kramer - E-Book

Wisperwasser. Es ist unser Geheimnis E-Book

Irmgard Kramer

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Beschreibung

Allein ist jeder von uns außergewöhnlich - aber zusammen sind wir unaufhaltsam! Auf der Inselschule Wisperwasser lernen Kinder, sie selbst zu sein. Lani weiß, wie es ist, nicht dazuzugehören. Auf mehreren Schulen ist eckte sie bereits mit ihrem Gerechtigkeitssinn an. Wisperwasser ist ihre letzte Chance! Sie hat ziemlich Bammel vor der berüchtigten schrecklichsten Schule der Stadt. Doch dann erfährt Lani: alles nur Tarnung! Auf der kunterbunten Insel finden Außenseiter einen Ort, an dem sie endlich so sein dürfen, wie sie sind. Aber all das hat einen Preis: Kein Geheimnis darf die Insel verlassen, sonst ist es vorbei mit der Idylle! Ausgerechnet mit Lanis Ankunft mehren sich unheimliche Zeichen: Das allgegenwärtige Wasser, das Wisperwasser beschützt, fließt plötzlich rückwärts. Das Geheimnis der Schule ist in Gefahr! Hat das etwas mit Lani zu tun - und wird sie auf Wisperwasser bleiben dürfen? Ein Abenteuer voller Freundschaft und kunterbunter Fantasie. Hier finden Außenseiter ihren Platz in der Welt - denn zusammen sind sie stark und bestehen die größten Abenteuer! Erfolgsautorin Irmgard Kramer erzählt wunderbar unpädagogisch, mit einer besonderen Botschaft für Vielfalt und Mut. Für Kinder ab 8 - zum Lesen und Vorlesen für die ganze Familie. Herrlich kunterbunt bebildert von Florentine Prechtel.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

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Seitenzahl: 230

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Irmgard Kramer,

1969 geboren, arbeitete zunächst als Lehrerin, bevor sie sich als Schriftstellerin selbstständig machte. Durch ihre Kinderbücher ist sie einem breiten Lesepublikum bekannt und verzaubert Klein und Groß mit ihren abenteuerlichen und humorvollen Büchern. Irmgard Kramer lebt in Wien und im Bregenzerwald und hat den Kopf stets voller kunterbunter Geschichten.

Florentine Prechtel

alias Betina Gotzen-Beek, 1965 in Mönchengladbach geboren, wusste bereits in ihrer Kindheit, was ihre Leidenschaft ist – das Malen. Seit ihrem Grafik-Design- und Malerei-Studium illustriert sie Kinderbücher. Dabei liebt sie es, immer wieder neue Techniken auszuprobieren. Die Illustratorin lebt mit ihrer Familie in Freiburg.

1. Auflage 2022

© 2022 Arena Verlag GmbH

Rottendorfer Str. 16, 97074 Würzburg

Alle Rechte vorbehalten

Cover und Innenillustrationen: Florentine Prechtel

E-Book ISBN 978-3-401-80984-7

Besuche den Arena Verlag im Netz:

www.arena-verlag.de

1

Wotan Killerwal

Alles begann mit einem dampfenden Hundehaufen. Ein dicker Mops setzte ihn vor meine Nase auf eine Brücke. Er trug ein geblümtes Mäntelchen und wollte seinen Haufen mit den Hinterbeinen verscharren, was nicht funktionierte, und so wuselte er mit erhobenem Kopf über die Brücke zum Eingang der Schule, als hätte er nichts mit dem Haufen zu tun.

Der Mops hieß Tante Inge – das erfuhr ich allerdings erst später – und der Gestank war … Puuu! Ich würde es also verstehen, wenn du die Nase jetzt schon voll hast von meiner Geschichte und deine Nase lieber in eine Tüte voller Himbeerbonbons steckst als in ein Buch. Leider wirst du dann aber nicht erfahren, was für unglaubliche Abenteuer ich an meinem ersten Tag auf der Inselschule Luschenau erlebt habe. An diesem einen Tag ist so viel passiert, dass es für ein ganzes Buch reicht. Und damit du weißt, mit wem du es zu tun hast: Ich bin Lani. Nicht Leni. Nicht Luna. Sondern Lani – das kommt aus Hawaii und bedeutet Himmel.

Freiwillig wollte ich nicht auf diese Schule, das kannst du mir glauben. Niemand geht freiwillig nach Luschenau. Nach Luschenau gehen nur Kinder, die das Kunststück fertigbringen, aus allen drei anderen Schulen rauszufliegen – so wie ich.

In der Schulvilla im Park (wo meine Stiefschwester Undine ein Star ist, weil sie die Hauptrolle in einem Hexenfilm spielt) war ein Mädchen, das alle »Stinksuppe« nannten. Ich fand das gemein und stopfte Stinkbomben in die Rucksäcke der anderen. Das haben sie mir nicht verziehen. Wirklich schlimm aber war, dass jeder Undine sagte, wie peinlich es für sie sei, mich zur Stiefschwester zu haben. Als ich merkte, wie wenig ich hierhin passte, fand ich es besser, die Schule zu wechseln.

In der Sir-Elton-John-Schule (wo meine zweite Stiefschwester Elouise ein Promi ist, weil sie zehntausend Follower für ihren Mode-Blog hat) lief ich einen Vormittag mit einem Riss in meiner Hose durch die Schule und merkte es nicht – im Gegensatz zu allen anderen, die mich fleißig von hinten fotografierten. Diese Fotos tauchten im Internet auf. Die Kommentare waren hässlich. Alle lachten über mich, aber noch mehr lachten sie über Elouise. Denn sie hatte zwar einen tollen Blog, schaffte es aber nicht, ihrer Stiefschwester beizubringen, wie man sich cool anzog. Elouise verlor Follower und Freundinnen. Als ich sie jeden Abend weinen hörte, fand ich es besser, die Schule zu wechseln.

In der König-Drosselbart-Schule (wo mein Stiefbruder Damion zum beliebtesten Schüler gewählt wurde) brach ich einem vierzehnjährigen Superfiesling die große Zehe – er hatte einem Mitschüler gesagt, dass er fett sei. Während ich ihm meine Meinung geigte, rammte ich wütend mein Fahrrad in den Ständer, es kippte auf andere Räder, die wie die Dominosteine umfielen und auf seiner Zehe landeten. Leider war der Superfiesling der beste Fußballer der Schule, weswegen sie das wichtigste Spiel der Saison verloren. Damion musste sich von allen anhören, was für eine Pissnelke seine Stiefschwester war. Eines Morgens stand ich vor dem Schultor, schaffte es nicht mehr hineinzugehen und fand es besser, die Schule zu wechseln.

Nun also meine letzte Chance: Luschenau.

Stell dir die schlimmste Schule vor, die es gibt, nur mit zehnmal volleren Vollidioten, mit zehnmal stinkigeren Umkleidekabinen, mit zehnmal fieseren Lehrern und mit tausendmal mehr Läusen auf den Köpfen. So ungefähr war Luschenau oder das, was man sich davon erzählte. Aber wenigstens bestand hier keine Gefahr, dass ich eines meiner Stiefgeschwister blamierte.

Meine Mama hatte mich an jenem Morgen begleiten wollen. Aber ich habe ihr erklärt, dass ich das nicht so cool fand, und sie ließ mich alleine gehen. Ich musste ihr versprechen, sie sofort anzurufen, wenn irgendwas wäre, dann käme sie schneller als die Feuerwehr, um mich rauszuholen. Mit einem mulmigen Gefühl im Bauch stand ich also da und sah ans Ende der langen Brücke.

Dort erhob sie sich: die schlimmste Schule der Welt. Schwarz und mächtig. Ein Eingang wie ein Gefängnistor und das Gebäude wie ein Betonklotz mit hundert blinden Fenstern. Kinder sah ich keine. Wahrscheinlich verbat man ihnen, aus den Fenstern zu sehen. Das Blubbern eines Tauchers im Fluss neben mir unterbrach die unheimliche Stille und eine gepresste Männerstimme sagte: »Mistvieh.«

Ich drehte mich um. Ein Mann betrachtete mürrisch den dampfenden Hundehaufen. In der Hand hielt er eine Angel. Er hatte eine lange Nase, einen Bart wie Sauerkraut, trug Fischerstiefel und ein kariertes Hemd. Unheimlich sah er aus. Das lag an einem Auge, das milchig weiß in eine Richtung starrte, während sich das andere nervös hin und her bewegte, um das Ufer zu beobachten, wo ein Lastwagen Rohre ablud. Unter uns im Fluss blubberte es immer lauter. Wir beugten uns über das Geländer. Gewaltige Luftblasen stiegen zwischen Plastikflaschen aus dem Wasser, das strudelte, als ob im Fluss ein Abfluss wäre.

»Sapperlot!«, knurrte der Angler. »So wird das nie was. Ich muss ein ernstes Wörtchen mit der Direktorin reden. Erst vertreibt mir der Köter mit seinem Teufelsgestank die Fische und dann kommt auch noch jemand auf die verrückte Idee, in dieser Drecksbrühe zu tauchen.«

»Ich glaube, da is’ was kaputt … Eine Leitung oder so?«, murmelte ich.

»Musst du nicht zur Schule?«, fragte der Angler. »Es ist schon spät.«

Ich seufzte, gab mir einen Ruck und setzte mich in Bewegung.

Da passierte es.

Der Fischer stolperte über seine Angelschnur, landete mit einem Stiefel mitten im Haufen von Tante Inge, und weil der noch so frisch und feucht und glitschig war, legte er … AAAARRRRGHHHH … einen astreinen Spagat hin. Braune Spritzer sprenkelten sein Gesicht. Richtig eklig.

Ich hatte keine Zeit, mich darüber zu gruseln, denn ob ihr es glaubt oder nicht, fing die Brücke an, sich zu bewegen. Zuerst zitterte sie nur leicht. Dann wackelte sie. Dann schwankte sie. Aber wie! Ich konnte mich kaum auf den Beinen halten.

»Erdbeben!«, brüllte ich.

Die Brücke schlug Wellen – wie ein langer, schmaler Teppich, den man ausschüttelte. Während ich mich ans Geländer klammerte, wurde der Fischer in die Luft geschleudert. Er ruderte mit Armen und Beinen und klatschte mit dem Bauch voran in den Fluss, wo der Taucher gerade seinen Kopf aus dem Wasser steckte. Ich wollte ihn warnen, da bäumte sich die Brücke wieder auf. Vor Schreck ließ ich das Geländer los, plumpste auf den Hosenboden und sauste wie über eine Rutschbahn auf den Eingang der Schule zu.

Rasend schnell kam das dunkle Tor näher. Das geschlossen war! Es würde ein fürchterliches Unglück geben. Und zwei gebrochene Beine.

»HILFE!«, brüllte ich und war drauf und dran, das Tor zu rammen, als es wie durch Zauberhand aufschwang. Ich rutschte in die Mitte des Schulhofs und sah nur noch Tante Inges Schwanz, die mit mir hindurchrutschte und in der Schule verschwand.

Ausgerechnet vor den Riesenschuhen des größten Schülers der Welt war meine Fahrt zu Ende. Ich schnappte nach Luft und starrte seinen rechten Schuh an, durch den sich ein Zehennagel bohrte. Langsam hob ich meinen Blick. Der Schüler war so alt wie ich und, okay, er war vielleicht nicht der größte Schüler der Welt. Aber er war trotzdem fast so groß wie Edgar, mein Stiefvater. Und das will was heißen.

Wie ein grinsender Killerwal in weißen Jogginghosen kam er mir vor.

Mit pochendem Herzen sagte ich: »Oh Mann! Das war voll das verrückte Erdbeben! Hast du so was schon mal erlebt? Die Brücke hat Wellen geschlagen. Also, ich hab so was noch nie erlebt, nur ein Mal hab ich bisher ein Erdbeben erlebt, aber das war ein winziges, das kam nicht mal in den Nachrichten, da hat nur die Lampe an der Zimmerdecke gewackelt, aber das da, auf der Brücke, das war voll unheim…«

»Redest du immer so viel?«, unterbrach mich Killerwal. Beinah musste ich kichern, weil seine Piepsstimme nicht zu seiner Größe passte. Gelangweilt sah er auf mich herab und wartete auf eine Antwort.

Äh, wie war noch mal die Frage gewesen? Ach ja, ob ich immer so viel redete. »Ja, leider«, sagte ich und seufzte. »Schlechte Angewohnheit.« Allerdings redete ich nur so viel, wenn ich aufgeregt war. Und ich war aufgeregt, sehr aufgeregt, aber das musste ich diesem Killerwal ja nicht unbedingt auf die Nase binden. Schon wieder plapperte es aus mir heraus. Ich konnte gar nicht aufhören, über das Erdbeben zu reden. »Du hättest sehen sollen, wie der Fischer durch die Luft gesegelt ist –«

»STOPP!«, unterbrach er mich so barsch, als hätte er mir die Hand auf den Mund geklatscht. Ich verstummte. Er wandte sich von mir ab und brüllte über den Schulhof: »Alle mal herhören!«

Die Bewegungen rund um uns froren ein. Erst jetzt bemerkte ich die anderen Menschen auf dem Hof. Viele waren es nicht. Außer dem Killerwal und mir zählte ich vier Mädchen und drei Jungen, alle in meinem Alter. Dazu ein Lehrer mit einem gepflegten Bart, einem Haarknödel auf dem Kopf und einem Tattoo am Hals. Gelangweilt lehnte er an der Schulmauer und starrte auf sein Smartphone, während er Kartoffelchips aus einer Tüte in sich hineinschüttete.

Alle Blicke wanderten zu Killerwal. Er breitete seine dicken Arme aus und fragte laut: »Hat irgendjemand von euch ein Erdbeben gespürt?«

Einer sah zum anderen.

Ein dunkelhaariges Mädchen klimperte mit ihren Armreifen und sagte: »Da war kein Erdbeben, Wotan!«

»Ich hab auch nichts gespürt!«, rief das größte von den Mädchen, das ein enges Glitzer-T-Shirt trug und gierig einen Energydrink aus einer knallbunten Dose in sich hineinschüttete.

»Da war nichts!«, riefen auch die anderen.

Nur ein einzelner Junge rief nicht mit. Blass und traurig stand er abseits. Er trug eine dicke Brille und knabberte an einer Reiswaffel, als müsste er sich zwingen zu essen, um nicht zu verhungern – so dünn sah er aus. Er sah einem Jungen zu, der mit dem abgerissenen Kopf einer Puppe Fußball spielte.

»Da war nichts«, wiederholte Wotan zufrieden. »Hast du’s gehört? Kein Erdbeben. Das hast du dir eingebildet. Wahrscheinlich stimmt mit deinem Gehirn etwas nicht.«

Jemand kicherte.

»Mit meinem Gehirn?«, murmelte ich.

»Lass deine Birne untersuchen, du Neuling. Es kann nicht gesund sein, wenn man ein Erdbeben spürt, wo keins ist.«

Boah, war der gemein! Mit meinem Gehirn war alles in Ordnung. Entweder das Erdbeben war nur auf der Brücke zu spüren gewesen oder hier lief eine Verschwörung, die hieß: Alle gegen mich.

Das kannte ich schon von den anderen Schulen; daran gewöhnen würde ich mich nie. War es möglich, dass mich hier alle schon vor meiner ersten Schulstunde hassten? Das war Rekord.

Hilfe suchend schaute ich zu dem Lehrer hinüber. Er starrte auf sein Handy und tat, als ginge ihn das alles nichts an.

»Es war doch ein Erdbeben!«, sagte ich, so fest ich konnte.

Wotan baute sich vor mir auf, stemmte die Arme in die Hüften und grinste breit. »Sagt wer?«

»Ich sage das. Lani.« Ich richtete mich auf.

Da meldete sich, kaum hörbar, die leise Stimme des schüchternen Jungen mit der Brille: »Ich habe das Erdbeben auch gespürt.«

Für einen Moment schien die Zeit stillzustehen. Alle Blicke richteten sich wie Scheinwerfer auf den Jungen, der vergaß, an seiner Reiswaffel zu knabbern.

»Du lügst!«, sagte Wotan. »Aber das ist ja nichts Neues. Willst dich bei der süßen Lola einschleimen, was?« Er schlenderte zu dem Jungen, legte ihm einen schweren Arm um die Schultern und sabberte ihm ins Ohr: »Hättest sie wohl gern als deine niedliche, schnuckiputzige Freundin. Willst du die Lola küssen?«

Der Junge ließ die Reiswaffel fallen. Ohrenbetäubendes Gelächter erfüllte den Hof. Mein Herz raste. Die schrecklichste aller Schulen machte ihrem Namen alle Ehre. Der reinste Gruselfilm!

Da sagte der Reiswaffeljunge und seine Stimme war kaum mehr als ein Flüstern: »Sie heißt Lani und nicht Lola.«

Wotans Gesicht wurde krebsrot. Er tippte dem Jungen wie einem Dreijährigen auf die Nasenspitze. »Mein lieber Justus. Es tut mir leid, dich enttäuschen zu müssen, aber von dir lässt sich nicht einmal ein Frosch küssen.«

Lautes Gelächter. Das Mädchen mit den Armreifen klatschte, dass es klingelte. Die Kinder formierten sich zu einem Kreis und rückten näher um Justus. Der Fußballspieler warf den Puppenkopf nun in seiner Hand bedrohlich auf und ab.

»Lügner!«, rief ein Mädchen mit blonden Kringellocken und einem kurzen Jeanskleid mit Trägern.

»Lügner!«, wiederholte die Große mit dem Energydrink.

Wie eingeschworene Hexen fingen sie an, sich um Justus herumzudrehen. Ich stand außerhalb des Kreises und ballte meine Hände zu Fäusten. Irgendetwas musste ich tun. Justus wurde mit jedem Schritt, den sie näher rückten, blasser.

»Du lügst, wenn du deinen Mund aufmachst«, zischten sie.

»Deine Lügen stinken.«

»So wie du stinkst.«

Verzweifelt drehte sich Justus um seine Achse und suchte nach einem Ausweg, aber der Kreis war dicht. Tante Inge sprang kläffend außen herum.

»LÜGNER! LÜGNER! LÜGNER!«

Sie stießen ihn hin und her. Einer riss Justus seine Brille von der Nase. Blind wie ein Maulwurf, tastete er mit seinen Händen und Armen um sich. »Lasst mich! Bitte! Ich hab euch doch gar nichts getan!«

»Aufhören!«, schrie ich. Keine Sekunde länger konnte ich das ertragen. Das war so hundsfiesfurzgemein, dass sich mein Magen umdrehte. »Hört sofort auf!«

Nichts passierte. Sie machten weiter, als wäre ich gar nicht da. Ich rannte zu dem Lehrer, der immer nur auf sein Handy starrte und taub sein musste. Ich zog ihn am Arm.

»Die machen Justus fertig!«, rief ich atemlos. »Sie müssen sofort eingreifen. SCHNELL!«

Er ließ sein Handy sinken, hob gelangweilt eine Augenbraue und musterte mich, während er demonstrativ die leere Chipspackung zerknüllte und sie mir vor die Füße warf. »Und?« Er bleckte seine Zähne, zwischen denen Chipsreste steckten.

»Der Justus … Sie müssen helfen«, stammelte ich.

»Hat die Blindschleiche schon wieder gelogen?« Er seufzte genervt. »Stört mich das? Nein. Was kann ich für eure Probleme. Und jetzt würde ich gern, wenn’s der oberklugen Öko-Pipi angenehm ist, die Ergebnisse der Fußballliga fertig lesen, bevor es klingelt. Sonst werde ich sauer. Und glaub mir, das willst du nicht erleben.«

Fassungslos starrte ich ihn an und versuchte, nicht an dem Kloß in meinem Hals zu ersticken, der immer dicker wurde. Der Lehrer versteckte sich hinter dem Handy und überhörte den Schlachtruf, der durch den Schulhof dröhnte: »LÜGNER! LÜGNER! LÜGNER!«

»AUFHÖREN!«, brüllte ich und rannte auf den Kreis der Kinder zu. Inzwischen schubsten sie Justus wie eine Flipperkugel. Sie griffen nach seinen Haaren. Sie zogen ihn an den Ohren und an der Nase.

»SEID IHR ALLE VERRÜCKT?« Mein Herz drohte zu zerspringen. Sieben gegen einen, alle größer als er! Irgendetwas musste ich unternehmen. Aber was?

In meinem Kopf rotierte es. Wotan war der Schlimmste von allen. Er hatte angefangen! Wahrscheinlich taten alle, was er sagte. Ihn musste ich ausschalten. Aber wie? Ich hatte nichts, womit ich ihn ablenken konnte. Oder vielleicht doch?

Ich riss meinen Rucksack auf, holte den Kakao heraus, öffnete den Verschluss und stellte mich hinter Wotan. Meine Hände zitterten. Am liebsten hätte ich ihm den Kakao über den Kopf geleert, aber da kam ich nicht ran.

Deswegen tat ich das Nächstbeste.

Ich schüttete den Kakao in Wotans Hosen. Was mir wahnsinnig leidtat – nicht um Wotan, sondern um den Kakao! Ich liebe Kakao und hatte ihn in der großen Pause trinken wollen.

Er brüllte wie am Spieß. Alle erstarrten. Mir brach der Schweiß aus. Plötzlich verstummte Wotan, verengte die Augen zu Schlitzen und piepste: »Dich mach ich kalt!«

Nichts wie weg. Aber wohin? Das Tor zur Brücke war verschlossen. Tante Inge bellte, sabberte die Glastür im Erdgeschoss voll und wedelte mit dem Schwanz, als wollte sie mich zu sich winken. Ich rannte, hinein in die Schule, dem Mops hinterher.

2

Aber nur für einen Tag

Die Horde folgte mir. Ich rannte so schnell wie noch nie in meinem Leben auf der Suche nach dem nächsten Klo, in dem ich mich einsperren konnte. Ich sprang über eine verschimmelte Orange und bog in den ersten Flur ab. Verdammt! Ein rothaariges Mädchen versperrte mir den Weg. Ich schlug einen Haken in die andere Richtung. Hundegetrappel vor mir. Fußgetrappel hinter mir. Nur nicht umsehen. Weiterrennen.

Ich durchquerte die Eingangshalle, wollte die Treppe rauf, da stand das rothaarige Mädchen schon wieder. Wie war die so schnell von dort nach hier gekommen? Vielleicht war mit meinem Gehirn doch etwas nicht in Ordnung. Keine Zeit zu denken. Rennen. Den Flur entlang.

»Wohin rennst du denn?«, rief ein rothaariger Junge, der genau gleich aussah wie das rothaarige Mädchen, nur dass er eben ein Junge war. Mein Gehirn war kaputt. Definitiv.

Ich rannte um ein paar Ecken, doch statt das Klo zu finden, prallte ich gegen einen Schrank. Okay, es war kein richtiger Schrank, aber es fühlte sich so an.

Ich starrte nach oben, in die blauen Augen von Captain America, der sich im Flur wie ein Felsen aufgebaut hatte. Captain America ist ein Superheld mit wahnsinnig vielen Muskeln und einem eckigen Kinn. Ich kenne ihn aus den Comics, die überall bei uns zu Hause rumgelegen haben, denn mein Daddy hat Comics geliebt. Diesen Captain America hier mochte ich sofort, auch wenn er kein Superheldenkostüm trug, sondern einen grauen Mantel, der sich über seine Oberarm- und Brustmuskeln spannte. In der Hand hielt er einen Besen, den Tante Inge ankläffte.

»Jaja, ist ja schon gut«, sagte er mit tiefer Stimme, griff in seinen Mantel und holte einen Kaugummi heraus, den er Tante Inge zuwarf, die ihn schnappte und eifrig zu kauen begann.

»Hallo Lani!« Er zeigte sein Zahnpastalachen.

Mein Mund klappte auf. »Woher kennen Sie meinen Namen?«

»Wir haben dich erwartet. Ich bin Ikarus Kaiser, der Hausmeister. Wenn du ein Problem hast, kannst du jederzeit zu mir kommen … oje, du Arme, so wie du rennst, hast du ein Problem.«

Endlich einer, der das erkannte. Obwohl ich die anderen für den Moment abgehängt hatte, fühlte ich mich auf einmal wie ein Gummiboot, dem die Luft ausging. Tränen wollten aus mir heraus. »Die … die … die da draußen … die sind alle so fies …« Alles an mir zitterte und bebte.

Er lächelte mich an. »So übel, wie du denkst, sind sie gar nicht, du musst sie nur einmal richtig kennenlernen.«

»Niemals!«, brach es aus mir heraus. »Weil ich nämlich nicht hierbleibe. So viele fiese Kinder auf einem Haufen habe ich noch nie erlebt und ich habe schon viele fiese Kinder erlebt, das können Sie mir glauben. Ich bin Expertin in fiesen Kindern. Sie haben den armen Justus fertiggemacht. Und keiner hat was getan!«

Jetzt kamen die Tränen doch.

»Aber du! Du hast doch etwas getan …«, sagte er. »Schau mal, Lani, wenn du nicht bleiben möchtest, verstehe ich das. Aber sieh es mal so: Wenn die netten Kinder immer weggehen, bleiben nur die fiesen übrig … Also mich würde es freuen, wenn jemand wie du bei uns wäre, der gegen das Unrecht kämpft. Stell dir mal vor, was mit Justus passiert wäre, wenn du nicht eingegriffen hättest!«

Ich zögerte. Da war was dran.

Doch dann verschränkte ich trotzig die Arme. »Die sagen Lola zu mir.«

»Ist doch ein schöner Name. Die vierte Frau meines Urgroßvaters mütterlicher Seite hieß auch Lola. Interessante Frau.« Er beugte sich zu mir hinunter. »Ich mach dir einen Vorschlag. Ich zeige dir die Schule. Wenn es dir dann immer noch nicht gefällt, bringe ich dich persönlich über die Brücke nach draußen, in Ordnung?«

Zögernd sah ich ihn an. Sein Lächeln war wirklich freundlich. Und vielleicht stimmte, was er sagte – von wegen, dass nur die fiesen Kinder übrig blieben. Kein Wunder, dass diese Schule die schlimmste der Welt war.

»Okay«, sagte ich vorsichtig.

In dem Moment ließ Tante Inge eine Kaugummiblase zerplatzen.

»Wusste ich es doch!«, rief Ikarus Kaiser strahlend.

»Das heißt aber nicht, dass ich bleiben werde«, warf ich schnell ein.

»Nein, nein, natürlich nicht, du entscheidest dich, nachdem du alles gesehen hast. Komm mit.«

Wir liefen den Flur entlang. Ich erwartete jeden Moment, Wotan zu begegnen, aber die Gänge waren menschenleer.

In einer Ecke lag ein vergammeltes Wurstbrot, das ziemlich eklig aussah. Sogar Tante Inge machte einen Bogen herum. Ich rümpfte die Nase in Richtung Wurstbrot. Aber anstatt dass Ikarus Kaiser den Besen benützte, sagte er: »Lass das bloß liegen. Das züchte ich schon seit neun Tagen. Langsam kriegt es die richtige Farbe. Bald fängt es an zu leben, das wird ein Spaß.«

Hier sind doch alle komplett verrückt!, dachte ich – oder war mir das tatsächlich laut herausgerutscht? Tante Inge bellte vergnügt.

»Du hast recht«, sagte Herr Kaiser, »wir sind komplett verrückt, plemplem, übergeschnappt, irre.«

Er sagte es so lustig, dass ich mitlachen musste. Im gleichen Augenblick begann hinter einer Tür im Flur, ein Lehrer zu brüllen: »Ihr seid doch der allerletzte strunzdumme Faulhaufen. Dumm wie Brot. Ach was, dumm wie eine ganze Bäckerei!« Er schlug auf den Tisch oder sonst wohin, jedenfalls knallte es gewaltig.

Ich hatte die Nase voll. Ohne zu überlegen, riss ich die Tür auf, um dem Lehrer zu sagen, dass Kinder kein Brot sind und eine Bäckerei schon gar nicht und … aber … das Klassenzimmer war leer! Tante Inge zupfte mit der Schnauze an meinem Hosenbein.

»Oh, oh«, murmelte Herr Kaiser hinter mir. »Die Tür hätte eigentlich zugesperrt gehört. Wer ist hier zuständig? Ich muss ein ernstes Wörtchen mit Wenzel reden …« Es klang, als redete er mit sich selbst, während ich mich fühlte, als sei ich mit der Stirn gegen eine unsichtbare Wand geknallt. Wo war dieser böse Lehrer? Wo die Kinder? In dem düsteren Klassenzimmer standen nur staubige Tische und Stühle. Über der Tafel hing ein Lautsprecher, aus dem der Lehrer brüllte.

Herr Kaiser nahm mich an der Hand. »Komm weiter«, drängte er. Verwirrt ließ ich mich mitziehen. Vor einer Tür mit der Aufschrift Chemiesaal hielten wir an.

»Diese Tür musst du dir merken.« Er klopfte sieben Mal.

Ein Jugendlicher mit Haaren wie Struwwelpeter öffnete. Er war schon groß – sechzehn oder siebzehn. Der Mops sprang an seinen Beinen hoch.

»Tante Inge!«, rief Struwwelpeter erfreut und kraulte ihm das Kinn. In der anderen Hand hielt er ein Klemmbrett mit einer Namensliste: »Und du musst die Neue sein … ah ja, hier habe ich dich … Lani Mandelbaum … Eintritt um …« Er schaute auf eine altmodische Taschenuhr, die an seinen Jeans an einer Kette hing, und trug murmelnd ein: »… acht Uhr zweiunddreißig. Ich bin Wenzel, der Schulsprecher. Coole Aktion übrigens, wie du Wotan den Kakao in die Hosen geschüttet hast.« Er nahm meine eiskalte Hand und schüttelte sie. »Das war einzigartig, ist vor dir noch keinem eingefallen, geht zweifellos in die Geschichte von Wisperwa… äh, sorry, von Luschenau ein. Bitte, tritt ein.«

Der Hausmeister gab mir einen sachten Schubser. Ich stolperte in den Chemiesaal. Die Tür hinter mir fiel zu und ich erstarrte. Denn im Raum hatte sich die ganze fiese Meute vom Schulhof versammelt. Wie waren die so schnell hierhergekommen?

Auf einem Tresorschrank warnte ein Schild mit einem Totenkopf: ACHTUNG CHEMIKALIEN! Die Kinder drängten sich davor, als gäbe es darin kein Gift, sondern die besten Eissorten der Welt. Nur Wotan Killerwal saß am Pult zwischen zerbrochenen Reagenzgläsern und grinste mich an. Unter ihm hatte sich eine kleine Kakaopfütze gebildet.

Ängstlich sah ich mich um. Herr Kaiser war verschwunden. Er hatte mich in die Höhle des Löwen geführt! Ich war geliefert. Rückwärts schlich ich Richtung Tür und drückte hinter mir die Klinke runter. Sie war verschlossen. Mist. Mist. Mist.

»Sorry, hier kommst du nicht mehr raus«, sagte Wenzel der Schulsprecher. Ich war kurz davor, in Panik auszubrechen, da wuselte Tante Inge unter einem Tisch hervor und drückte ihren warmen Körper an mich. Ich strich dem Hund über den Kopf und irgendwie beruhigte mich das.

»Da bist du ja endlich«, sagte das Mädchen mit den blonden Kringellocken, nahm ihre Daumen aus den Trägern ihres Jeanskleides und hopste vom Tisch.

»Ich bin Rosa. Ach, Lani, du warst so cool vorhin auf dem Schulhof – ich kann gar nicht erwarten, dir die Insel zu zeigen … Oh, jetzt habe ich dich verwirrt.«

Das war leicht untertrieben. Ich verstand gar nichts mehr. Sie hatte eben doch auch mitgemacht! Hatte sie nicht am lautesten von allen geschrien?

»Wenn ihr mich mal durchlassen wollt …« Wenzel bahnte sich den Weg zum Schrank. »Du meine Güte, hört auf zu drängeln. Müsst ihr immer alle zuerst sein? Geduld, Geduld … Ihr kommt noch früh genug zum Unterricht.« Schließlich gaben sie ihm den Weg frei.

»Umdrehen!«, befahl er und alle gehorchten. Hinter uns schnurrte, klickte und ratterte es, dann machte es PFFF und die Schranktür öffnete sich. Tante Inge stolzierte zwischen meinen Beinen durch und betrat als Erste den dunklen Schrank. Ein Kind nach dem anderen verschwand in der Dunkelheit. Wotan schwenkte seinen Kakaopopo, als er vor mir in den Tresorschrank trat.

»Da rein?«, fragte ich.

»Wenn ich bitten dürfte!«, sagte Wenzel. »Lehrer Goldfaden wird ungeduldig, wenn ihr nicht bald kommt.« Worauf die meisten Kinder vergnügt lachten und ich immer weniger verstand.

»Dir passiert nichts«, sagte Rosa und aus einem Grund, den ich selbst nicht verstand, vertraute ich ihr.

Der Tresor entpuppte sich als eine finstere Kammer, in der sich nun alle drängten. Es war feucht. Ich roch Moor und Meer und Sommerregen. In allen Ecken gluckste und tropfte Wasser … Plitsch – platsch – schwipp – schwapp … wie in einer Tropfsteinhöhle. An einer Wand war ein deckenhohes Regal, in dem Handys, Computer und Uhren lagen – klassenweise aufgereiht und mit Namensetiketten versehen.

»Deine Uhr und dein Handy, bitte«, sagte Wenzel.

Ich zögerte.

»Keine Sorge. Du kriegst sie wieder«, ermutigte mich Rosa, »unsere liegen auch da. Ist Vorschrift.«

Ich starrte sie an und dachte an meine Mama, die ich dann nicht mehr anrufen konnte. Aber all das kam mir so absurd vor, dass mir plötzlich etwas einfiel, was mich erleichtert auflachen ließ. Natürlich!

Das hier war nur ein Traum! Ich hätte es schon viel früher merken müssen. Das Erdbeben! Der Lehrer! Diese grauenvolle Schule. Der Hausmeister, der Wurstbrote vergammeln ließ. Klarer Fall! Ich träumte. Ich träume oft ziemlich wild. Das liegt an meiner Fantasie. Dieser Gedanke beruhigte mich. Meine Angst verflog und auf einmal war ich neugierig, wie der Traum weiterging. Noch nie hatte ich in so kräftigen Farben geträumt – ich konnte Flusswasser riechen und den Kaugummi von Tante Inge.

»Jetzt kommt das Beste«, flüsterte Rosa. Erwartungsvoll blickten alle zu Wenzel, der einen Lichtschalter an der Wand drückte. Er war kaputt, denn die Glühbirne an der Decke blieb dunkel. Es begann, gruselig zu knarren. Dann vibrierte der Boden unter unseren Füßen. Krachend schob sich das große Uhrenregal, ja, die ganze Wand, zur Seite. Das Plätschern, Gurgeln, Rauschen und Schwappen wurden lauter. Schillerndes Licht zerschnitt die Dunkelheit. Der Lichtkegel wurde größer. Ein Unterwasseraquarium? Dann sah ich es: Hinter dem Regal war eine Wand aus Wasser.

Ich konnte weder erkennen, woher das Wasser kam, noch, wohin es fiel. Eigentlich fiel es gar nicht. Es schwebte, kreiselte, sprudelte und glitzerte in allen Regenbogenfarben. Das Schauspiel zog mich so in Bann, dass ich Justus erst bemerkte, als er schon dicht neben mir stand und mich mit der Schulter anstupste.