Ein Löwe unterm Tannenbaum - Irmgard Kramer - E-Book

Ein Löwe unterm Tannenbaum E-Book

Irmgard Kramer

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Beschreibung

Eine ganz besondere Weihnachtsgeschichte in 24 Kapiteln für Kinder ab 8 Jahren und die ganze Familie Punkt Mitternacht am ersten Dezember klettert im Laden für eh fast alles ein kleiner Stofflöwe aus einer Kiste und hat von nun an 24 Tage Zeit, um jemanden zu finden, der ihn lieb hat – dann darf er für immer lebendig bleiben! Der griesgrämige Rockmusiker Richie kauft das Stofftier und der Löwe gibt alles, um sein Herz zu gewinnen. Doch das ist wahrlich nicht so einfach und Weihnachten rückt immer näher … Irmgard Kramer erzählt liebevoll und lustig eine ganz besondere Weihnachtsgeschichte rund um ein Mädchen, einen lebendigen Stofflöwen und einen griesgrämigen Rockmusiker, die am Ende gemeinsam Weihnachten feiern und Freunde werden. Die anrührende Geschichte ist sehr stimmungsvoll, kommt aber ganz ohne Kitsch aus. Mit wunderschönen Illustrationen von Carola Sturm ist diese Weihnachtsgeschichte ein besonderes Erlebnis.

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Inhalt

1  Eine Truhe öffnet sich

2  Der aufgewickelte Weihnachtsmann

3  Die Würgekette

4  Schokoladenmatsch

5  Die Rutschbahn

6  Der magische Vertrag

7  Im tiefen Wald verschwunden

8  Der kranke Hund

9  Der Feuerdrache

10  Hundewetter

11  Verschwörung hinter Autoreifen

12  Riesen in der Dunkelheit

13  Löcher im Bauch

14  Richies geheime Mission

15  Der Hilferuf

16  Der große Platsch

17  Schneegestöber vor dem Hexenhaus

18  Richie, der Eiszapfen

19  In der Tonne

20  Das Nilpferd

21  Das Autogramm

22  Zweiundzwanzigster Dezember

23  Mit Schnuller und Babyhaube

24  Heiligabend

Für Lina, Paula, Martin, Naja, Prisca und Rosa. I.K.

1Eine Truhe öffnet sich

Ding. Dong. Zwölf Schläge hallten vom Kirchturm des kleinen Städtchens. Die Glocken schlugen Mitternacht und im Laden für eh fast alles rumpelte es in einer Holzkiste.

„Aua!“, sagte eine leise Stimme im Inneren der Kiste. Der Kistendeckel öffnete sich einen Spalt. Heraus kamen zwei flauschige Pfoten mit Krallen. Zwei honiggoldene Katzenaugen spähten neugierig in die Dunkelheit des Ladens, eine glänzende Schnauze lugte aus der Kiste, und dann eine Mähne. Schließlich klappte der Deckel ganz auf und ein zerzauster Stofflöwe kletterte heraus. Um seinen Hals trug er ein Herz aus Glas. Für einen Moment schimmerte das Herz in der Dunkelheit durchsichtig, dann füllte es sich auf wundersame Weise mit allen Farben dieser Welt, Farben so bunt wie Bonbons in einer Tüte, wie Orchideen im Dschungel, wie Kugeln an einem Christbaum. Geheimnisvoll beleuchtete es alle Gegenstände im Laden für eh fast alles. Der Löwe bemerkte es kaum. Er leckte sich mit der Zunge die Pfoten sauber, plusterte sich auf und sagte: „Böff! Der Weihnachtslöwe ist wieder da!“

Er sah sich um. Der Laden war genauso vollgestopft wie letztes Jahr um die gleiche Zeit und wie im Jahr zuvor und wie im Jahr davor. Der Löwe wusste nicht, wie oft er schon am 1. Dezember in dieser alten Kiste aufgewacht und am 24. Dezember um Mitternacht wieder leblos in der Kiste gelandet war. Zwischen lauter Dingen, die keiner mehr brauchte. In der Kiste lag ein Schuh, den ein Einbeiniger zurückgelassen hatte, weil er nicht ein ganzes Paar hatte kaufen wollen. In der Kiste lag ein rostiger Schlüssel für ein Haus, das längst abgerissen worden war. Ein Mixer ohne Kabel. Ein Klodeckel ohne Klo. Eine Schreibmaschine ohne Tasten. Und ein Löwe ohne jemanden, der ihn lieb hatte. Aber in diesem Jahr wollte er alles richtig machen. Vierundzwanzig Tage hatte er Zeit. Diesmal würde er sich den richtigen Menschen aussuchen, einen Menschen, der bereit war, ihn zu kaufen, und damit einen magischen Vertrag einging. Der Löwe wollte sich einen Menschen aussuchen, der Spaß verstand, einen Menschen, der ihn lieb haben konnte. Gleich morgen früh, wenn der Laden öffnete.

Der Löwe leckte sich die Pfoten sauber und bürstete sich den Pinselschwanz. Er sortierte seine sieben Barthaare – vier nach rechts, drei nach links. Er putzte sich die Ohren. Er fand einen Parfümzerstäuber, drückte an dem kleinen Ballon und besprühte sich mit Rosenduft. Das Parfüm kitzelte in der Nase. Er musste dreimal kräftig niesen. „Höbötschö! Höbötschö! Höbötschö!“ Er war der schönste Weihnachtslöwe im ganzen Laden und niemand duftete so gut wie er.

Er reckte seine Brust und kletterte über ein fernsteuerbares Auto ohne Fernsteuerung auf ein Regal, machte es sich auf rosaroter Damenunterwäsche bequem und sah hinaus in die Nacht auf den Marktplatz.

Er sah den Stadtbrunnen und er sah das Rathaus. Es war geschmückt wie ein Lebkuchenhaus. Das erste Fenster leuchtete hell. Eine Eins war in dem Fenster zu sehen und ein Engel, der auf einer Wolke saß, aus der Schneeflocken fielen.

Der Löwe dachte, dass er noch nie einen so schönen Engel gesehen hatte. Der Löwe beschloss, dass dieser Engel ihm Glück bringen würde. Schließlich war bald Weihnachten. Diesmal würde es klappen.

2Der aufgewickelte Weihnachtsmann

Den wunderbaren Engel, den der Löwe um Mitternacht vom Regal des Ladens für eh fast alles betrachtete, hatte ein Mädchen namens Lenja in der Schule mit einer Schere ausgeschnitten. Lenjas Klasse war ausgewählt worden, die Fenster des Rathauses zu schmücken, und Lenja war ziemlich stolz gewesen, als ihr Engel es ins erste Fenster geschafft hatte. Aber wer ihren Engel da gerade bewunderte, davon hatte Lenja natürlich keine Ahnung. Sie selbst schlief nämlich tief und fest, wie es sich für ein Mädchen von neun Jahren auch gehörte. Und zwar in ihrem kuscheligen Bett in einem Haus am anderen Ende des kleinen Städtchens am Rande eines dichten Waldes. Also – eigentlich stand das Haus schon fast im Wald, so weit entfernt vom Städtchen, dass es niemand anders außer Lenjas Eltern hatte haben wollen.

Lenja wohnte gern in dem Haus am Waldrand. Es gab nur ein Problem: Die nächste Bushaltestelle war furchtbar weit weg. Glücklicherweise musste Lenjas Papa jeden Morgen in die Stadt. Er war Schornsteinfeger und Lenja konnte mit ihm zur Schule fahren. Nur Lenjas Freunde hatten keinen Papa, der am Nachmittag zufällig einen Termin am Waldrand hatte. Darum bekam Lenja nicht oft Besuch, und wenn, dann war das immer sehr kompliziert mit dem Hinbringen und Abholen. Einsam war Lenja deswegen nicht. Sie hatte den Garten, sie hatte die Tiere (indische Laufenten und Hasen und natürlich Otto, ihren Hund), sie hatte eine kleine Schwester namens Mia und einen großen Bruder namens Finn. Finn war im Oktober sechzehn geworden und hatte einen Motorroller geschenkt bekommen. Finn hatte es gut. Er konnte jetzt in die Stadt fahren, wann immer er wollte.

In dieser Nacht, als der Weihnachtslöwe im Geschäft erwachte, träumte Lenja von ihrem eigenen Roller. Sie schlief und träumte, dass sie den Motorroller aus der Scheune hinaus auf die Straße schob. Sie träumte, dass sie aufstieg und startete. Der Motor knatterte und der Auspuff spuckte kleine Benzinwölkchen aus. Lenja gab Gas und brauste über die Landstraße. Sie beschleunigte und zog das Lenkrad nach oben, und auf einmal löste sich das Vorderrad vom Asphalt. Lenja stieg in die Luft, den Wolken entgegen, die den Mond verdunkelten. Ihre Haare flatterten im Wind. Sie zog weite Kurven über den Nachthimmel. Plötzlich rissen die Wolken vor dem Mond auf und ein eigenartiges Gefährt flog auf Lenja zu. Sie hielt den Atem an, zog die Bremse an und blieb in der Luft stehen. Gegen das Mondlicht sah das Gefährt aus wie ein Scherenschnitt: Rentiere zogen einen mit Geschenken voll beladenen Schlitten. Der Weihnachtsmann saß auf dem Kutschbock, riss die Hände in die Höhe und brüllte: „Sappramoscht und Sternenhagel!“

Die Rentiere galoppierten rechts am Schornstein vorbei. Der Schlitten mit dem Weihnachtsmann hingegen flog links am Schornstein vorbei. Das konnte nicht gut gehen, denn sie hingen mit Seilen aneinander. Und so wickelte sich der Schlitten mitsamt dem Weihnachtsmann und den Geschenken wie ein Jo-Jo mehrmals um den Schornstein.

„Sappramoscht!“, fluchte der Weihnachtsmann.

Die Rentiere rissen die Augen auf, galoppierten noch ein paar letzte Meter übers Dach, bogen ihre Knie durch und versuchten, mit den Hufen zu bremsen. Dabei lösten sich Dachziegel und fielen krachend zu Boden. Es ratterte. Es knirschte und knallte. Und Lenja wachte auf.

Was für ein Albtraum! Aufrecht saß sie im Bett und ihr Herz pochte wild. Im Garten unten knirschte es. Waren das doch der Weihnachtsmann und die Rentiere? Nein, so etwas gab es nur im Traum oder in Geschichten. Sie rieb sich die Augen und sah auf ihren leuchtenden Eulen-Wecker. Mitternacht.

„Sappramoscht und Sternenhagel!“, hörte sie plötzlich draußen jemanden fluchen.

Lenja hatte zwei Möglichkeiten: Entweder sie verkroch sich unter der Bettdecke oder sie sah einfach nach. Und weil Lenja das mit der Bettdecke dumm fand (dann würde sie ja nie rauskriegen, was da draußen los war), zog sie entschlossen die Bettdecke um die Schultern und lief zum Fenster. Die Decke schleifte sie hinter sich her über den Boden. Sie steckte ihre Nase zwischen die Vorhänge, schaute in die Dunkelheit und konnte nicht glauben, was sie sah: Der Weihnachtsmann persönlich stand zwischen dem Hasenstall und der Hundehütte in ihrem Garten. Er war sehr groß, trug eine braune Piloten-Fliegerkappe mit einem herabhängenden Teddyfell über den Ohren und spitze Lederstiefel. Neben ihm standen volle Säcke. Und aus ihnen ragten …

Gurken! Und eine Rolle Küchenpapier. Und ein Flaschenhals.

Oh Mann. Das war gar nicht der Weihnachtsmann, sondern nur Richie, ihr alter, griesgrämiger Nachbar, vor dem sich Lenja immer ein bisschen fürchtete. Richie hüpfte auf einem Bein, fuchtelte mit seinen Armen und machte irre Verrenkungen. Es sah aus, als tanzte er.

Richie wohnte in einem kleinen Haus mitten im Wald, zu dem es keinen Weg gab. Er parkte immer neben Lenjas Haus und ging dann zu Fuß durch den Wald. Offenbar war er einkaufen gewesen. Warum er aber in ihrem Garten tanzte, das wusste Lenja nicht. Und auch nicht, warum er das mitten in der Nacht tat. Vielleicht hatte er getrunken? Dann waren Erwachsene manchmal komisch.

Lenja zog die Vorhänge zu. Da sah sie den Adventskalender von der Oma auf ihrem Schreibtisch liegen. Es war wenige Minuten nach Mitternacht. Also durfte sie das erste Türchen öffnen. Dahinter verbarg sich ausgerechnet ein Schlitten. Lächelnd kroch Lenja zurück in ihr warmes Bett. Sie schloss die Augen, stellte sich vor, wie sie die Rentiere an ihren fliegenden Motorroller band und so lange rückwärts um den Schornstein kreiste, bis das Durcheinander aufgelöst war. Bald war sie wieder eingeschlafen und ahnte nicht, dass Richie überhaupt nicht betrunken war, sondern ein ganz anderes Problem hatte.

3Die Würgekette

Richie kämpfte im Garten mit einer Lichterkette. In der hing er nämlich fest. Die Lichterkette war noch nicht da gewesen, als Richie in die Stadt gefahren war, um seinen Weihnachtsgroßeinkauf zu erledigen. Wenn Richie Glück hatte, würden die Lebensmittel ausreichen, bis die Weihnachtsfeiertage vorbei waren, und Richie musste sein Haus bis Silvester nicht mehr verlassen. Richie hasste Weihnachten. Und Richie hasste einkaufen. Aber wenn er nicht verhungern wollte, musste er manchmal einkaufen. Und wenn er es schon tun musste, dann tat er es am Freitag spätabends. Da hatte der Supermarkt bis 22 Uhr offen und es waren nicht mehr ganz so viele Leute unterwegs. Danach hatte er in seiner Lieblingsbude einen vegetarischen Döner gegessen, war über die Landstraße geknattert, hatte seinen alten Pick-up wie immer am Waldrand neben dem Auto des Schornsteinfegers geparkt, hatte sich mit den Einkaufstaschen beladen und wollte die Abkürzung nehmen, die zwischen Hasenstall und Hundehütte verlief. Und plötzlich hatte sich dieses Kabel um seinen Hals gewickelt.

Richie erschrak, bekam keine Luft mehr, ließ die Taschen fallen, weil er dachte, jemand wollte ihn erwürgen, und brüllte: „Sappramoscht und Sternenhagel!“ Er schlug um sich und zerbrach ein paar Glühbirnen.