1984.4 - Philip Kerr - E-Book

1984.4 E-Book

Philip Kerr

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Beschreibung

Wir schreiben das Jahr 2034. Der Staat hat die völlige Kontrolle über Leben und Tod, der geheimnisvolle «Winston» wacht über alle. Die 16-jährige Florence arbeitet aus voller Überzeugung für den sogenannten Senior Service, dessen Aufgabe es ist, ältere Menschen zu enttarnen und zu töten, die sich weigern, freiwillig aus dem Leben zu scheiden, um Platz für die Jüngeren zu machen. Doch dann verliebt sich Florence in Eric. Und sie beginnt, das System in Frage zu stellen. Bestsellerautor Philip Kerr liefert mit seinem letzten Buch nicht nur eine Hommage an Orwells Klassiker, sondern einen höchst aktuellen Roman – und zeigt, dass die Kraft der Liebe stärker ist als jede Unterdrückung.

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Seitenzahl: 340

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Philip Kerr

1984.4

 

Aus dem Englischen von Uwe-Michael Gutzschhahn

 

Mit einem Nachwort von Christiane Steen

Über dieses Buch

 

 

Wir schreiben das Jahr 2034. Der Staat hat die völlige Kontrolle über Leben und Tod, der geheimnisvolle «Winston» wacht über alle.

Die 16-jährige Florence arbeitet aus voller Überzeugung für den sogenannten Senior Service, dessen Aufgabe es ist, ältere Menschen zu enttarnen und zu töten, die sich weigern, freiwillig aus dem Leben zu scheiden, um Platz für die Jüngeren zu machen.

Doch dann verliebt sich Florence in Eric. Und sie beginnt, das System in Frage zu stellen.

 

Bestsellerautor Philip Kerr liefert mit seinem letzten Buch nicht nur eine Hommage an Orwells Klassiker, sondern einen höchst aktuellen Roman – und zeigt, dass die Kraft der Liebe stärker ist als jede Unterdrückung.

 

 

Weitere Informationen finden Sie unter www.fischerverlage.de/kinderbuch-jugendbuch

Biografie

 

 

Philip Kerr, geboren 1956 in Edinburgh, war ein international bekannter und vielfach ausgezeichneter Autor. Seine mehrbändige Krimireihe um den deutschen Privatdetektiv Bernie Gunther erhielt zahlreiche Preise, darunter den Ellis-Peters-Award. Mit seiner Fantasyserie «Die Kinder des Dschinn», «Winterpferde» und «Friedrich der Große Detektiv» machte er sich auch als Kinder- und Jugendbuchautor einen Namen. Philip Kerr verstarb 2018 in London. «1984.4» entstand als Manuskript bereits 2015 und erscheint nun posthum als sein letztes Buch.

«Heutzutage waren fast alle Kinder so schrecklich.»

George Orwell

«Die besten Bücher, erkannte er, sind diejenigen, die dir erzählen, was du schon weißt.»

George Orwell

Anmerkung des Autors

Stell dir eine Welt vor, in der Heinrich VIII. keine acht Frauen hatte, Amerika 1776 nicht seine Unabhängigkeit erlangte und John F. Kennedy nicht ermordet wurde. Wissenschaftler sagen, dass es solche Welten durchaus in Paralleluniversen geben könnte – Welten, die sich permanent gegenseitig subtil beeinflussen. Derartige Wechselbeziehungen könnten alles Merkwürdige und Unbegreifliche darüber erklären, wie Teilchen im mikroskopischen Bereich der Quantenmechanik funktionieren: Statt eines Zerfalls, bei dem sich die Quantenteilchen entscheiden, entweder den einen oder den anderen Zustand anzunehmen, besetzen sie in Wahrheit beide Zustände, und zwar gleichzeitig. Alle Möglichkeiten sind deshalb verwirklicht. Manche Welten sind unserer sehr ähnlich, andere hingegen sind vollkommen anders. In manchen Welten wurde Adolf Hitler nie geboren, und in anderen war Neil Armstrong 1969 nicht der erste Mensch auf dem Mond. Und ebenso bedeutend: In manchen Welten schrieb George Orwell nicht sein äußerst einflussreiches Buch «1984».

 

Das vorliegende Buch «1984.4» aus einem Paralleluniversum ähnelt Orwells großem Roman und ist gleichzeitig sehr anders. Das sollte niemanden überraschen: Versionen meines Hirns sind aufs Engste verflochten mit Parallelgehirnen; ein Gedanke in dieser Welt, diesem Bewusstsein, wird in einer Alternativversion meines Hirns registriert, die in einem Paralleluniversum existiert. «1984.4» ist von dem Roman «1984» beeinflusst. Die Zeit wird erweisen, ob umgekehrt «1984.4» auch den Roman «1984» beeinflusst.

 

Philip Kerr, April 2015

Es ist das Jahr 2034.4

1. Kapitel

Florence richtete ihre Waffe auf den Kopf des alten Mannes, der vor ihr kniete und seine vergilbten Hände erhoben hatte; dann drückte sie, ohne zu zögern, ab. Die Plastikpistole ruckte in ihrer Faust, als ob die Kugel tatsächlich abgefeuert worden wäre, und der alte Mann wurde rücklings auf die Straße katapultiert – in der Miniaturversion einer eCloud aus Blut, die überzeugend in der Luft hing wie ein Regenschauer. Der Mann musste mindestens 85 Jahre alt gewesen sein und wirkte für ein Hologramm extrem realistisch. Seine Hände waren mit kleinen braunen Flecken übersät, die wie Insekten aussahen, und seine silbergrauen Haare flatterten, als er mit ihr sprach. Man konnte sogar die Mottenkugeln seiner Tweed-Jacke und den Pfeifentabak in seinem Atem riechen. Und unmittelbar bevor Florence ihn erschoss, hatte er sie auf schreckliche Weise angelächelt und ihr mit keuchender Altmännerstimme gesagt, sie würde ihn an seine Enkelin erinnern, die ebenfalls sehr hübsch sei. Sie hatte ihn natürlich ignoriert. Sie hatte das alles schon mal gehört.

Halb taub durch den Schuss – Ohrenschützer waren für neue Rekruten nicht erlaubt, denn durch Geräuschunterdrückung würde die Simulation weniger überzeugend –, hatte Florence sogar wahrgenommen, wie die Messingpatrone auf den Boden fiel. Der alte Mann stieß deutlich hörbar seinen letzten Atemzug aus, zitterte und starb. So wie er schon vor Wochen hätte sterben sollen. Das Letzte, was geschah, war dann wirklich schaurig: Als der Mund der Simulation aufklappte, rutschten die falschen Zähne heraus und kullerten auf den blutigen Boden neben dem Kopf. Florence verzog angewidert das Gesicht.

«Das ist ja eklig», sagte sie und schoss noch einmal auf den alten Mann. Sie drehte sich zu dem Jungen um, der an der Simulation neben ihr spielte. Er hieß Tony Burgess und war im gleichen Alter wie sie. Sie waren zur selben Zeit in den Senioren-Service eingetreten. «Hast du das gerade gesehen? Hast du mitgekriegt, was da aus der Visage von diesem Greis fiel?»

«Die Leute, die die Sims programmieren, sind echt krank», antwortete Tony. «Gestern hatte ich einen, der hat sich die Lunge aus dem Leib geschrien, als ich ihn abgeknallt hab. Im wahrsten Sinne des Wortes. Sah aus, als würde er mir seine Lunge über die Stiefel kotzen. Bis mir wieder einfiel, dass das ja nur so eine bescheuerte Sim ist.»

«Bescheuert solltest du die Sim lieber nicht nennen», meinte Florence. «Das würde den Aufsehern bestimmt nicht gefallen.»

Tony schaute nervös die Galerie des Saals entlang. «Nein», sagte er. «Vermutlich nicht.»

Die Simulation, die sie jeden Tag spielten, folgte einem grausamen Konzept und war äußerst lehrreich. Sie kam der Realität so nah wie nur möglich, wenn man vermeiden wollte, dass irgendwer draufging oder ernsthaft verletzt wurde. Fehler wurden mit heftigen Stromschlägen oder Schlägen seitens der Ausbilder geahndet. Die vielleicht etwas vorsichtiger gehandelt hätten, wären die Waffen, die die Rekruten benutzten, tatsächlich echt gewesen. Offiziell hatte die Sim keinen Namen, aber inoffiziell wurde sie von allen bloß als Taschenuhr-Sim bezeichnet, da Taschenuhren als Synonym für alles – oder genauer gesagt jeden – galten, dessen Nutzen sich überlebt hatte.

«Aber es war nicht das Gebrüll, das mich so erschüttert hat», sagte Tony. «Auch wenn ich das nicht erwartet hatte. Ich schwöre, ich konnte den Kram riechen. Ich glaube, die haben echt Spaß dran, sich immer wieder was Neues auszudenken, womit sie uns schocken können.»

«Na klar», stimmte Florence zu. «Du darfst den Aufsehern nur nicht die Genugtuung gönnen, wirklich geschockt zu sein, das ist alles. Der Abzug dieser Pistolen scheint immer empfindlicher auf jedes Zögern zu reagieren.»

«Und die Elektroschocks werden immer heftiger. Beim letzten, den ich gekriegt hab, war mein Arm danach fast eine ganze Stunde lang taub. Ich fürchte, wenn ich nicht aufpasse, krieg ich ganz schnell selbst meine Taschenuhr.»

«Von mir aus könnten sie die Simulation ruhig noch ein bisschen schwieriger machen», sagte Florence. «Ich meine, aus dieser Entfernung kann man doch überhaupt nicht vorbeischießen, oder?»

Florence ahnte nicht, dass es bei der GUS nicht darum ging, die Treffsicherheit der neuen Rekruten zu verbessern – keines der Ziele war je weit entfernt, und bei der Ausgereiftheit der lasergesteuerten Waffen konnte man wirklich nicht vorbeizielen. Es ging vielmehr darum, auf diese Weise alle menschlichen Gefühle zu unterdrücken oder, besser noch, jede Menschlichkeit gänzlich zu eliminieren. Die GUS galt als eine hervorragende Methode, den neuen Rekruten jedwede Form von Mitleid, Mitgefühl, Bedauern, Sympathie oder Empathie für die wenigen asozialen Bürger abzutrainieren, die widerrechtlich entschieden hatten, sich dem Plan zur freiwilligen Euthanasie oder PFE zu entziehen. Die Ruhestands-Vollstrecker vom Senioren-Service hatten eine schwere Aufgabe, doch eine, von der jeder wusste, dass sie lebensnotwendig war für das künftige Wohl einer Welt, die schon jetzt als übervölkert und unterversorgt galt. Jeder schaffte es, einen anderen Menschen in den Ruhestand zu schicken, wenn dieser hundert Meter entfernt und im Visier nicht größer als eine Ameise war; aber um jemanden aus nur zehn Metern in den Ruhestand zu schicken, wenn man das Weiße in den Augen des Gegenübers sehen konnte, das antiquierte Parfüm seiner Haut roch und gelegentlich einen der Alten um Gnade flehen hörte, dazu brauchte es schon einen besonderen Menschen. Eindeutig die geeignetsten für den Senioren-Service, also die, die das Zeug hatten, einmal Ruhestands-Vollstreckungsoffiziere zu werden, waren deshalb junge Menschen zwischen 16 und 21 Jahren. Untersuchungen hatten gezeigt, dass sich Personen dieses Alters am gleichgültigsten gegenüber dem Leid anderer zeigten, ganz besonders, wenn diese anderen zu den 75–100-Jährigen zählten. Für die meisten jungen Leute im Jahr 2034 bedeutete Alter, ein nutzloses und schrecklich verschrumpeltes Wesen zu sein, das weggeworfen gehörte wie ein verfaulter Apfel.

Florence Newton war so ein junger Mensch. Sie war mit 15 zu einem sechsmonatigen Basistraining in den Senioren-Service eingetreten, was täglich bis zu 3 Stunden Training an der Taschenuhr-Sim einschloss. Die Alten in der Taschenuhr-Sim waren leicht zu töten, und Florence hatte nur ein vages Bewusstsein dafür, dass es mit jeder Sim, die sie tötete – sie musste schon Tausende erledigt haben –, zunehmend leichter wurde, auch einen realen Menschen zu erschießen. Das war ein Prozess, den die Aufseher Brutalisierung nannten.

Doch Florence war das ganze Simulieren leid und sehnte sich danach, aus der Burg raus und endlich auf die Straßen von London zu kommen, um all das in Realität zu erleben – was offenbar viel weniger vorhersehbar ablief, weil man nie wusste, wie ein wirklicher Greis reagieren würde. Die meisten dieser Flüchtigen, die so viele Jahre auf dem Buckel hatten, waren listig und schlau und kannten hundert Wege, um einen auszutricksen. Und nicht nur das: Sie hatten oft auch selbst eine Pistole dabei, und bisher war es noch niemandem gelungen, eine Sim zu erfinden, die so auf einen schoss, dass man sich tatsächlich tot fühlte. Ein elektrischer Schock, der durch den Griff des Sim-Revolvers kam, war eine Sache. Aber eine Kugel aus einer echten 9-mm-Waffe war etwas völlig anderes.

«Und das ist noch nicht alles», sagte Florence. «Sie sollten eine Sim entwickeln, die ein bisschen mehr Widerstand leistet. Wenn du mich fragst, sind die hier alle viel zu ergeben, viel zu passiv, wie sie sich in ihren Tod fügen. Als würde man auf Vögel im Käfig schießen. Behauptet Aaron zumindest. Es bereitet dich nicht auf das Unerwartete vor.»

Aber Florence hatte sich zu früh beklagt; die Sim-Aufseher hatten ihre Beschwerde über die Mikros im Simulationssaal gehört und entschieden, ihre neueste Software-Erfindung einzusetzen: eine alte Frau im Rollstuhl, die sie Medusa nannten.

Die alte Frau erschien ganz am Ende des Sim-Saals und rollte auf die beiden zu. In diesem Stadium der Simulation mussten Florence und Tony entscheiden, ob die Alte wirklich eine Greisin auf der Flucht war. Nur weil sie betagt war, bedeutete das noch nicht, dass sie aus einem Ruzi floh oder sich vor dem PFE drückte. Es gab viele alte Menschen auf den Londoner Straßen, die relativ legal existierten. Sie irrtümlich zu töten, würde einen schweren Elektroschock über den Griff der Pistole auslösen. Um herauszufinden, was mit der alten Frau los war, würden sie sie befragen müssen.

«Entschuldigung», sagte die Sim. «Ich glaube, ich habe mich verlaufen. Ich suche ein Gasthaus, es heißt Zum Adler.»

«Natürlich», antwortete Florence. «Aber zuerst brauche ich Ihren Ausweis. Sie wissen ja bestimmt, dass es illegal ist, in einen Pub zu gehen, wenn man älter als 75 ist.»

Die alte Frau lachte. «Ich bin ja noch nicht 75. Ich bin erst 73. Und ich brauche nur eine Wegbeschreibung, keine Belehrung. Das ist das Problem mit euch jungen Leuten heute. Ihr sagt uns Alten ständig, was wir zu tun haben.»

«Ich bin nicht für die Gesetze verantwortlich», antwortete Florence. «Drücken Sie einfach auf das Wristpad an Ihrem Handgelenk und schicken Sie mir eine Bestätigung Ihres Namens und Ihres Alters.»

«Ich habe es nicht dabei», sagte die Sim. «Meine Knochen schrumpfen, deshalb rutscht es mir ständig vom Handgelenk. Es ist in meiner Handtasche.»

Die alte Frau hatte eine Decke über ihren Beinen liegen, die leicht eine Waffe verbergen konnte.

«Ich muss Sie bitten, mir zu zeigen, was Sie da unter der Decke haben», sagte Florence.

«Unter der Decke sind meine Beine, was sonst? Und ich wüsste nicht, wieso du die sehen willst. Sie funktionieren schon seit Jahren nicht mehr.»

«Ich muss dennoch darauf bestehen», erwiderte Florence.

Weder sie noch Tony hatten ihre Waffen gezückt, aber Florence spürte bereits deutlich, dass diese Sim nicht das war, was sie zu sein vorgab.

«Okay, okay.» Die Sim warf die Decke zurück, um ihre Beine zu zeigen. «Sicher macht ihr bloß euren Job. Ohne Leute wie euch würde es mit diesem Land bergab gehen. Wahrscheinlich wären wir längst von Menschenmassen überflutet.» Die Sim fand ihre Handtasche und öffnete sie. «So, wo ist jetzt das Wristpad? Irgendwo hier drin muss es sein.»

Florence stieß einen Seufzer der Erleichterung aus, als sie das elektronische Teil sah.

«Und jetzt drücken Sie auf den Ausweisknopf», sagte sie. «Danach zeigen wir Ihnen den Weg.»

Die alte Frau aus der Simulation tippte auf die blaue Bildfläche ihres Wristpads.

«Nein. Funktioniert nicht. Der Knopf ist kaputt. Oder vielleicht ist es der falsche. Ich komme mit diesen neumodischen Dingern einfach nicht klar.»

«Es ist der mittlere Knopf», erklärte Tony hilfsbereit. «Der rote.» Er machte einen Schritt auf sie zu. «Kommen Sie, ich zeig’s Ihnen.»

«Danke, junger Mann. Du bist sehr zuvorkommend. Es ist nicht einfach, alt zu sein. Besonders mit all den Dingen, die wir uns merken müssen.»

«Wenn Sie den roten Knopf drücken, dann sollte es funktionieren», antwortete Tony und trat noch näher an sie heran. «Mein Wristpad empfängt dann gleich das Signal und Ihre Ausweisdaten.»

Die Sim griff nach unten und legte eine knochige Hand auf den Schalthebel des Rollstuhls. Und als Tony nur noch weniger als einen Meter entfernt war, sah Florence, wie sich die Hand der simulierten Frau streckte und den Schalthebel nach vorn drückte.

«Tony, pass auf!», schrie Florence.

Doch es war zu spät. Im Bruchteil einer Sekunde gab es einen blau schimmernden Blitz. Tony wurde von einem Stromschlag zu Boden geworfen, der aus dem Rollstuhl gekommen sein musste. Florence zog ihre Waffe, aber es nützte nichts mehr. Die Sim war erstarrt. Und irgendwo von der Beobachtergalerie über dem Saal hörte sie das harte Lachen der Sim-Aufseher und danach eine amüsierte Stimme aus dem Lautsprecher:

«Na, gefällt dir unsere neue Sim?»

«Sehr witzig», antwortete Florence und eilte Tony zu Hilfe. Er war nur halb bei Bewusstsein und weiß wie ein Bettlaken.

«Ab sofort werden alle Sims mit etwas Spannenderem bewaffnet sein als mit einer Pistole. Hört zu, Newton und Burgess, ihr wart beide viel zu vertrauensselig. Ihr hättet eure Waffen schon in dem Moment ziehen müssen, als die Sim den Ausweisknopf an ihrem Wristpad nicht drücken konnte.»

Tony setzte sich auf und rieb sich den Kopf. Er sah aus, als müsste er sich jeden Moment übergeben.

«Wow», stöhnte er. «Ich fühl mich, als wenn mir gerade ein Zug gegen den Kopf gedonnert wäre. Mein Kopf … meine Haare fühlen sich an wie versengt.»

«In ein paar Minuten geht es dir wieder gut», antwortete der Aufseher. «Aber lasst euch das beide eine Lehre sein. Das hier ist kein Spiel. Es sieht bloß so aus.»

2. Kapitel

«Ich weiß nicht, was Kunst ist», sagte Florence.

In der nächsten Sekunde flog etwas durch die Luft und traf sie am Kopf. Es tat nicht sonderlich weh. Sie schaute nach unten auf ihre nackten Füße, um zu sehen, was sie getroffen hatte: Es waren die Reste des Bug Mac, den Aaron gerade noch gegessen hatte. Sie wusste genau, dass es seiner war, denn niemand sonst hätte seinen Bug Mac einfach geworfen. Aaron mochte ihn so wenig wie alle anderen Burger, die aus Mehlwurmfleisch bestanden. Er meinte, es hätte nichts damit zu tun, dass ihm die Dinger nicht schmeckten, sondern nur damit, dass er es für moralisch verwerflich hielt, Mehlwurmfleisch zu essen. Er fand, dass auch Mehlwürmer Gefühle hätten und dass es grausam wäre, sie extra dafür so zu züchten. Aaron war einer von den sensibleren Jungen, und Florence fragte sich, wieso man ausgerechnet ihn zum Anführer einer Gruppe von Ruhestands-Vollstreckern gemacht hatte. All das ging ihr in Sekundenschnelle durch den Kopf, nachdem sie der Bug Mac getroffen hatte.

«Kunst», sagte Aaron. «Das Wort steht für etwas Albernes, Unnützes und Sinnloses, etwas, das niemand versteht. Und das schließt dich offenkundig mit ein, du verschlafener kleiner Dummkopf.»

«Katzenkacke?», rief der Ansager.

«Katakonischer Sumpf», antwortete Florence. «Möglicher geistiger Zustand eines alten Menschen.»

«Kev?»

«Jemand, der so hart ist wie Kevlar. Benannt nach der Kevlarjacke.»

«Rolex?»

«Etwas, das Mist ist, Fake. Alles, was nicht funktioniert.»

«Bananensplit?»

Florence zögerte.

Der Ansager wiederholte. «Bananensplit?»

«Äh –»

Ein Stück Käse traf sie am Ohr. Es tat weh – so sehr, dass sie am liebsten angefangen hätte zu heulen. Doch das hätte ihre automatische Disqualifizierung von der Prüfung bedeutet.

Viva: Das war Jargon für den persönlichen Jubeltag, also den Tag, an dem man in der Burg seinen Abschluss machte – wobei Burg für das stand, was man normalerweise Internat nannte und was in den letzten sechs Monaten Florence’ Zuhause gewesen war. An seinem sechzehnten Geburtstag – oder zumindest um diesen Dreh herum, so wie es gerade passte – musste man sich mit einem zweiten RUV-Azubi vor dem Rest der Truppe auf eine Kiste stellen und wurde im Kreuzverhör auf sein Jar-Wissen geprüft – den speziellen Jargon, den die Leute im Senioren-Service zu kennen hatten. Der eigentliche Zweck des Jubeltags war, sein Jar-Wissen unter erhöhtem Druck zu testen, denn wie man Florence immer wieder eingebläut hatte, konnte das Leben davon abhängen, dass man wusste, was irgendein Jar-Ausdruck bedeutet. Also hielt Florence die Tränen zurück und zeigte sogar ein tapferes Lächeln, während sie darauf wartete, dass der Chef-RUV die Antwort gab.

«Bananensplit bedeutet Gnadenschuss», sagte Gabriel müde. «Das, was du jemandem gewährst, mit dem du zu sorglos umgegangen bist, um ihn gleich mit dem ersten Schuss zu erledigen. Gewöhnlich richtet man den Gnadenschuss auf den Kopf, und zwar aus kurzer Distanz, was zur Folge hat, dass jede Menge TK aus dem Loch spritzt, so wie ein Schwall … na ja … wie Tomatenketchup eben.»

Aaron stöhnte. «Deshalb heißt Blut ja überhaupt TK, du vertrantes Stück Kunst.»

«Ja, klar», sagte Florence. «Tut mir leid, Gabriel.»

Und es tat ihr wirklich leid. Denn mehr als alles auf der Welt wollte sie ihre Prüfung schaffen, um ihre Lizenz zu bekommen. Tatsächlich genoss sie ihre Tage in der Burg in vollen Zügen. Die letzten sechs Monate waren die beste Zeit ihres noch jungen Lebens gewesen. Essen, so viel man wollte, Fernsehen ohne Ende, Training, eine coole schwarze Uniform und die Kameradschaft der besten Freunde, die sie je gehabt hatte. Die Burg war einfach phantastisch. Viel besser als das Leben mit ihren Eltern. «Sei glücklich in deiner Arbeit», hatten ihr die Ausbilder zu Beginn und Ende eines jeden Tages in der Burg gesagt. Und das war sie. Oder würde sie sein, wenn sie ihren Jubeltag schaffte und ihre Lizenz bekam.

«Spielzeit?»

«Entspannung.»

«Grab?»

«Etwas, das alt und grau und bereit für die Abdeckerei ist.»

«Diese Jars sind zu einfach», beklagte sich Gabriel. «An meinem Jubeltag waren die Fragen deutlich schwerer.»

«Das ist doch ewig her», antwortete jemand. «War bestimmt in der Zeit vor den Religionskriegen. Wundert mich, dass du dich daran überhaupt noch erinnerst.»

«Dann mach du doch den Ansager», sagte Aaron. «Von mir aus gern.»

«Okay», antwortete Gabriel. «Einverstanden.»

Während er einen Moment nachdachte, nahm Florence das Stück Käse von ihrer Stiefelspitze und aß es auf. Edamer, ihre Lieblingssorte.

«Wär doch schade, so was verkommen zu lassen», sagte sie. «Außerdem liebe ich Käse.»

Die anderen aus der Truppe johlten. Ihre Worte bewiesen, dass Florence nicht pingelig war. Denn das konnte draußen auf der Straße den Tod bedeuten.

«Seni?», sagte Gabriel.

«Altenheim», antwortete Florence. «Nur dass das nicht mehr so heißt. Altenheime heißen jetzt Ruzis. Ruhestandszentren. Niemand sagt heute noch Seni dazu.»

«Sie hat recht», fuhr Aaron dazwischen. «Macht dreizehn Punkte. Was ihr Leistungssoll ist, und das bedeutet, jetzt ist Tony dran.»

Florence setzte sich dankbar und untersuchte die Schäden an ihrer Kleidung. Nicht dass die Flecken von Bedeutung waren. Für seinen Jubeltag wurde man dazu ermutigt, die umfangreiche Kleiderkammer und Make-up-Abteilung der Burg zu nutzen und als eine Gestalt aus der Literatur zu erscheinen. Das Problem war nur, dass kein Mensch mehr Literatur kannte – Literatur war etwas für traurige alte Schachteln –, aber in der Kostümabteilung hatte Florence, versteckt zwischen Theaterrequisiten, ein paar echte Bücher gefunden, die den Flammen entkommen waren. Und eines davon enthielt ein Foto von einem Mann namens Gandhi. Niemand sei je zuvor als Gandhi verkleidet zum Jubeltag gekommen, meinte Major McKendrick.

Florence wusste nicht viel über Gandhi, doch anhand dessen, was man auf dem Bild sah, war sie in der Lage gewesen, ein überzeugendes Kostüm zusammenzustellen, von dem alle behaupteten, dass es zum Besten gehöre, was sie jemals gesehen hätten. Es stimmte, niemand hatte eine Ahnung, wer Gandhi war, außer dass er Politiker gewesen sein musste, was ihn automatisch zu einer verachtenswerten Figur machte, doch das spielte keine Rolle. Wichtig war nur, dass es ein äußerst auffälliges Kostüm darstellte, und darum ging es beim Jubeltag. Sie hatte natürlich Hilfe bekommen. Major McKendrick mochte Florence und hatte wirklich keine Mühe gescheut, um das Kostüm zu perfektionieren. Florence war gertenschlank, was dem Ganzen sehr entgegenkam. Doch mit dieser albernen kleinen grauen Schneckenspur von einem Bart (genau wie die Dinger, die die TAS über der Oberlippe trugen), der Glatzkopf-Attrappe, dem schlichten handgenähten Umhang, der kleinen TAS-Brille und natürlich dem braunen Körper-Make-up kam sie dem Foto von Gandhi wirklich sehr nahe.

Florence hatte versucht, mehr über ihn rauszufinden, für den Fall, dass man ihr wegen des Kostüms Fragen stellte. Aber sie fand nicht viel mehr, als dass Gandhi ein indischer Freiheitskämpfer gewesen sein musste. Auch wenn sie sich nicht vorstellen konnte, dass er ein großer Kämpfer hatte sein können – nicht mit der Brille und dieser schmächtigen Gestalt.

«Du warst bei der Prüfung echt protz», sagte Vic gerade – er war einer von den Chefs, die sie während der Fragen schikaniert hatten.

«Danke.»

«Übrigens, was war eigentlich mit diesem Gandhi?»

«Er wurde erschossen.»

«Passt.»

Er zeigte ihr das Video, das er bereits auf seinen Me Channel hochgeladen hatte, doch Florence wollte sich den Film jetzt nicht anschauen, denn nun stand Tony auf der Kiste.

Florence war sich ganz und gar nicht sicher, wen er darzustellen versuchte. Er trug Ballerinas, rosa Strümpfe, ein weißes Hemd, eine schmale schwarze Krawatte, eine sehr enge gelbe Seidenhose und dazu eine passende gelbseidene Halbjacke. Über der Schulter lag etwas aus einem roten Material, das offenbar einen Umhang darstellen sollte.

«Seife?», sagte der Fragesteller.

«Ein Politiker», antwortete Tony.

«Moment», unterbrach Aaron die beiden. «Du hast noch gar nicht gesagt, wen du darstellst.»

«Ich bin ein Stierkämpfer.»

«Ein was?»

«Ein Stierkämpfer. Jemand, der früher gegen Stiere kämpfte.»

«Aber nicht in den Klamotten, niemals.»

«Ich schwöre, es stimmt. Hab ein altes Video gesehen.»

«Und wo ist seine Ticktock?»

«Ja, genau, wo ist seine Glock?»

«Ein Stierkämpfer hatte keine Ticktock. Er benutzte einen Umhang, so wie den hier.»

«Wie kann man mit einem Umhang gegen einen Stier kämpfen?»

«Weiß ich auch nicht genau», gab Tony zu.

«Kann kein richtiger Kampf gewesen sein», sagte Aaron. «Jeder Stier, der etwas auf sich hält, würde dich zum Frühstück verspeisen. Selbst mit einer Ticktock würde ich es mir zweimal überlegen, gegen einen Stier zu kämpfen.»

«Ich glaube, du erzählst uns Märchen», meinte Gabriel.

«Es stimmt, ehrlich. Ich hab das Video gesehen.»

«Und wo soll der gewesen sein, dieser Stierkampf?»

«Auf der West-Halbinsel 5», sagte Tony. «Glaube ich.»

Alle stöhnten. «Dann ist ja klar», meinte jemand.

Die West-Halbinsel 5 war die ehemalige Region Spanien, wo man, wie es hieß, vieles anders machte als auf der Westhalbinsel 1 – der Region, die früher England und Wales genannt wurde.

«Okay», sagte der Fragesteller und brachte sie wieder zur Ruhe. «Lasst uns jetzt mit dem Jubeltag weitermachen. Aber genau genommen ist ein Stierkämpfer – immer vorausgesetzt, dass es so etwas je gab –»

«Ich hab das Video gesehen», wiederholte Tony.

«Genau genommen ist das keine Figur aus der Literatur. Um eine Figur zu sein, muss man einen Namen haben.»

«Ich hab einen Namen», beharrte Tony. «Ich bin Sancho Pansa, der Stierkämpfer.»

«Na gut», sagte der Ansager und schleuderte einen Kuchen auf Tony, einfach bloß so, weil es ihm zustand.

«Zuschlagen?», rief er.

Florence zuckte zusammen, als der Kuchen Tonys Auge traf.

«Etwas stehlen», antwortete Tony unbeirrt.

«Große Taschen haben?»

«Reich sein.»

Und so ging es immer weiter.

Es kam Florence gar nicht so vor, als ob es schon sechs Monate her war, seit sie sich dem Senioren-Service angeschlossen hatte. Florence fand jedenfalls, dass es die besten sechs Monate ihres Lebens waren.

3. Kapitel

Florence Newton hatte sich freiwillig für den Dienst bei den RUVs gemeldet, um ihre Familie zu unterstützen, damit sie über die Runden kamen und vielleicht sogar irgendwann mal die Kurve kriegten. Nicht dass Florence’ Erzeuger arbeitslos waren oder aus Krankheitsgründen keinen Job hatten – niemand wurde mehr krank. Es lag nur daran, dass sie nicht sonderlich erfolgreich waren. Arbeit widerstrebte ihnen einfach, was ein verbreitetes Leiden unter den Bewohnern der West-Halbinsel 1 war. Darum hatten die Newtons stets finanzielle Probleme. Irgendwie schaffte es Florence’ Vater immer, das Falsche zu sagen, woraufhin er gefeuert wurde – er war schon aus einer ganzen Reihe von Jobs geflogen. Ihre Mutter dagegen war einfach nur faul, konnte ihre Zeit nicht vernünftig einteilen und war eine ziemliche Tratschtante. Auch wenn der Staat relativ viel Nachsehen für ihr Scheitern zeigte, so gab es im Haushalt der Newtons keine finanziellen Verbesserungen. Genauer gesagt wurde alles nur schlimmer, sodass sich Florence schließlich zum freiwilligen Dienst bei den RUVs meldete, um ihre Familie zu unterstützen und sich gleichzeitig von dem ganzen Elend zu befreien.

In der Burg war die Bezahlung ausgesprochen gut, was natürlich bedeutete, dass es einen starken Andrang auf den Job gab. Fünfzigtausend Mädchen und Jungen hatten sich auf gerade mal zwei Azubi-Stellen in ihrem Gebiets-Code beworben, um RUVs zu werden. Danach hatte Florence eine Aufnahmeprüfung und eine Reihe von Tests machen müssen, damit der Senioren-Service feststellen konnte, ob sie die richtigen Anlagen für diesen Job mitbrachte.

Viele der Tests waren von einer Professorin namens Kosminski entwickelt worden, die die Prüfungen den PATHway nannte. Kurz gesagt entschieden die Tests darüber, ob man mehr mit dem Herzen dachte oder mit dem Kopf. Kopfmenschen waren die, die der Staat als RUVs haben wollte, aber so was konnte man nicht lernen. Man war es einfach, genauso wie man Linkshänder oder farbenblind war. Nach Professor Kosminski verkörperten die Leute, die Topnoten bekamen, einen anderen Typ Mensch. Florence hatte fast den Idealwert von hundert Punkten erreicht, was bedeutete, sie verkörperte wirklich einen ganz anderen Typ. Später erklärte ihr Professor Kosminski, dass Florence mit ihrer schriftlich eingereichten Selbsteinschätzung einen besonders guten Eindruck hinterlassen habe.

«Du siehst, Florence», hatte die Professorin zu ihr gesagt. «Wir versuchen solche Menschen zu rekrutieren, die vielleicht in der Evolution früher einmal den entscheidenden Unterschied für unsere Art gebracht hätten, falls das nicht allzu hochtrabend klingt. Menschen, die eine Gesellschaft erfolgreicher machen, zeigen oft ein individuelles Verhalten, das die gesamte Spezies auf eine höhere Ebene führen kann.»

Die Professorin war mit ihren wallenden blonden Haaren und ihrem teuren Schmuck eine ziemlich glamouröse Erscheinung. Und Florence stellte sich vor, dass sie eine sehr schöne Frau gewesen sein musste, als sie noch jünger war. Sie besaß eine tiefe Stimme, die eher nach einem Mann klang, und sie hielt beim Reden Florence’ Hand und fühlte ihr gelegentlich den Puls, auch wenn Florence nicht hätte sagen können, wieso.

«Als du mir erzählt hast, du würdest dich als Katze in einer Welt von Mäusen sehen … weißt du, da dachte ich, du könntest so jemand sein, Florence. So ein Mensch, den wir hier im PATHway-Institut suchen. Nach allem, was wir als Gesellschaft durchgemacht haben – den Zusammenbruch unserer Währung, unserer juristischen Einrichtungen, unserer Regierung und dann noch die Religionskriege –, glaube ich, dass wir mehr Katzen und weniger Mäuse brauchen. Aber was denkst du darüber? Bitte, ich würde gern deine Meinung hören.»

Florence überlegte einen Augenblick.

«Mäuse können Krankheiten verbreiten», antwortete sie. «Ganz zu schweigen von all der Nahrung, die sie vertilgen.» Sie zögerte, weiterzureden.

«Fahr fort.»

«Soweit ich noch aus dem Biologieunterricht weiß», sagte Florence, «kann eine Maus pro Jahr zehn Würfe haben. Wenn diese Mäuse weitere Mäuse zeugen, heißt das, ein Weibchen produziert quasi mehr als hunderttausend neue Mäuse pro Jahr. Katzen dagegen werfen vielleicht zweimal im Jahr, und aus einem üblichen Wurf überleben in der Regel nur drei Junge. Das heißt, am Ende des Jahrs sind es vielleicht zwölf Katzen. Ich finde, zwölf Katzen klingt wesentlich besser als hunderttausend Mäuse.»

«Nicht wahr?» Professor Kosminski lächelte. «Das ist eine sehr gute Antwort. Und genau die Art von kluger Antwort, die ich von jemandem wie dir erwartet habe. Magst du Biologie?»

«Biologie ist mein Lieblingsfach.»

«Vielleicht kannst du das ja studieren, wenn du ein bisschen älter bist. Aber im Moment würde ich erst mal sagen: Willkommen in der Gesetzvollstreckungs-Gemeinde. Willkommen im Senioren-Service.»

 

Florence vermisste ihre Brüder John und Adam, und manchmal vermisste sie sogar ihren Vater, doch nur sehr selten ihre Mutter, die sie als große Enttäuschung empfand. Florence konnte sie ja irgendwie verstehen – sogar anerkennen, wie sie zu dem geworden war, was sie war –, aber gleichzeitig hatte sie wenig Mitgefühl. Nicht mehr. Die Leute entschuldigten Rachel Newton immer, doch in Wirklichkeit war sie ihr eigener schlimmster Feind. Und Florence redete sich ein, sie hätte schon aufgehört, sich Gedanken zu machen, was mit Rachel Newton geschah, lange bevor sie ihr Zuhause verließ, um in der Burg zu leben. Manchmal war es, als ob ihre Mutter überhaupt nicht mehr existierte.

An ihrem letzten Tag bei ihren Erzern in SW11 hatte Florence ihre neue Uniform angezogen und sie Adam, John und ihrem Vater vorgeführt, doch nicht der Mutter, die ihre starke Ablehnung dadurch zum Ausdruck gebracht hatte, dass sie bei geschlossener Tür in ihrem winzigen Zimmer blieb.

«Du siehst toll aus», sagte ihr Vater. «Ich bin ja so stolz auf dich.»

«Danke, Dad», antwortete Florence und umarmte ihn.

«Du siehst echt super aus», sagte auch Adam. «Schwarz steht dir.»

«Ist der Dolch echt?», fragte John, der Jüngste.

«Natürlich ist der echt», erklärte sie ihm und zog ihn aus der Scheide, damit er ihn untersuchen konnte.

«Auch wenn wir den Dolch nur zu zeremoniellen Zwecken verwenden. Als Teil der Uniform.»

«Aber man könnte damit schon jemanden umbringen», sagte John und fuhr mit dem Daumen über die Kante des schimmernden Dolchs, dass sie leise summte wie ein Insekt. «Scharf genug ist er auf jeden Fall.»

Florence küsste ihm den blonden Schopf und meinte: «Pass auf, dass du dich nicht schneidest.»

John schob den Dolch in die schwarze Scheide zurück und wischte sich eine Träne aus dem Auge. «Wenn ich älter bin, werde ich auch ein RUV», sagte er.

«Na klar.»

Florence wusste, dass John sie wahrscheinlich am meisten vermissen würde. Sie war stets mehr eine Mutter für ihn gewesen als die große Schwester. Sie drückte ihn fest an sich und sagte:

«Sobald ich den ersten Urlaub kriege, komme ich dich besuchen, Johnny. Bis dahin musst du für Mum und Dad ein braver Junge sein, okay?»

Der Junge nickte traurig.

Ein rechteckiges Stück synthetischer Haut oben an ihrem Handgelenk blinkte auf und sandte ihr einen wichtigen Reminder. Das war ihr Wristpad.

«Du solltest lieber aufbrechen», meinte Adam. «Sonst verpasst du womöglich noch deinen Zug. Ich wünschte, ich könnte mitkommen.»

«Vielleicht kannst du dich ja nächstes Jahr noch mal für die RUVs bewerben», erklärte Florence ihrem Bruder.

Sein Gesicht lief tiefrot an, als er versuchte, die Erinnerung an seine schwere Enttäuschung zu verbergen.

«Danke, Schwesterherz, aber wir beide wissen genau, dass das niemals passieren wird. Selbst wenn ich hundert würde, schaffe ich die Prüfung nicht.» Er grinste, als er begriff, was er gerade gesagt hatte.

Sie grinste zurück. «Wenn du meinst.»

Dann rief sie den Flur hinunter: «Kommst du nicht, um dich von mir zu verabschieden, Mum? Du wirst mich die nächsten sechs Monate nicht sehen und wer weiß, wann danach.» Sie schwieg einen Augenblick. «Die Arbeit ist gefährlich, weißt du? Ich könnte getötet werden.»

Doch es kam keine Antwort.

«Kümmere dich nicht um deine Mutter», sagte ihr Dad. «Sie ist nur neidisch, sonst nichts. Sie wünscht sich bloß, dass sie selbst zu den RUVs gehen könnte und nicht du.»

«Meinst du?» Florence hatte da ihre Zweifel.

«Bestimmt. Und wäre nicht jeder neidisch auf dich? Ich bin es ja selbst ein bisschen. Eine schicke Uniform. Neue Stiefel. Ein zeremonieller Dolch. Neue Freunde. Die Chance, ein bisschen Geld zu verdienen. Mit guten Bonuszahlungen und Aufstiegschancen. Auf der Halbinsel herumreisen. Interessante Leute treffen. Und eine wichtige Aufgabe übernehmen – eine Aufgabe, die entscheidend ist für die Zukunft unserer Gesellschaft –, das ist doch tausend Mal besser als in der Fabrik arbeiten.»

Ihr Dad arbeitete neuerdings in einer Fabrik, die PIT-Marker für den FILE herstellte – den passiven integrierten Transponder, der per Gesetz jedem Bürger implantiert werden musste. Die PITs, die nicht größer als ein Reiskorn waren, enthielten Ausweisdaten und die persönliche Geschichte jedes Einzelnen und waren zugleich das Teil, mit dem man über das Wristpad sämtliche Kommunikation senden und empfangen konnte. Über diese PITs konnte der ATC – der Alan-Turing-Computer – vom Zentrum in Cheltenham aus alles und jeden überwachen. Es brauchte nur einen winzigen Klick am ATC, um sämtliche Daten zu löschen, die den Menschen ermöglichten, in der Gesellschaft zu funktionieren. Ein PIT war nicht unangenehm; man merkte eigentlich kaum, dass er da war, solange er nicht abgeschaltet wurde. Denn ohne eine Nummer konnte man nicht arbeiten, ohne eine Nummer konnte man nicht kommunizieren, ohne eine Nummer konnte man keine Geschäfte tätigen, ohne eine Nummer verhungerte man normalerweise.

Sie umarmten sich noch einmal.

«Sei glücklich in deiner Arbeit», sagte Dad.

Das wünschte man sich immer zu Beginn eines neuen Arbeitstages. Niemand wusste eigentlich, wieso, denn nur wenige auf der West-Halbinsel 1 konnten behaupten, dass sie glücklich waren, schon gar nicht in ihrer Arbeit. Aber als Florence Newton ihr Zuhause verließ, um den Zug zu bekommen, der sie zur Nachwuchsschule des Senioren-Service in der Burg brachte, hatte sie das Gefühl, als könne dieser Wunsch für sie tatsächlich Wahrheit werden.

4. Kapitel

Am Tag nach der Jubelfeier versammelte sich der gesamte Senioren-Service – das heißt etwa tausend Jungen und Mädchen im Teenageralter – in der großen Halle der Burg unter dem wachsamen Auge eines Schwarzweißporträts, das man fast überall in der WH1 sah. Das Foto zeigte einen kahlköpfigen, ziemlich griesgrämigen alten Mann. Er stützte sich auf die Lehne eines Stuhls in einem holzgetäfelten Raum, der wie die Bibliothek oder Halle der Burg aussah. Der Mann trug eine gepunktete Fliege, ein schwarzes Jackett mit Weste, eine gestreifte Hose und eine Art Kette über dem vorstehenden Bauch. Wieso jemand eine Kette über dem Bauch trug, schien niemand so richtig zu wissen. Wie es aussah, steckte eine Zeitung in der einen Jackentasche und ein Taschentuch in der andern. Die hypnotisierenden Augen – vor allem das linke – starrten Florence förmlich an, und es schien fast so, als könnten sie direkt in ihre Seele schauen, als wüssten sie um ihre innersten Gedanken und wollten ihr sagen, dass nun, nachdem sie ihren Jubeltag gehabt hatte, mehr von ihr verlangt werde, dass sie von nun an noch dieses letzte Quäntchen mehr drauflegen müsse, um ihren Wert in den Augen der Genossen zu beweisen. Der Mann war wirklich eine ziemlich angsteinflößende Gestalt. Er hieß Winston und war schon ewig tot, doch in Gesprächen wurde immer wieder auf ihn Bezug genommen, besonders von den Oberen, die stets mit einer für Florence beinah lächerlich wirkenden Ehrfurcht von ihm sprachen.

«Winston beobachtet dich», sagten sie zum Beispiel oder «Was würde Winston dazu sagen?», «Sag es nicht mir, sag es Winston» und «Ich liebe Winston».

Florence hatte sich wirklich bemüht, diesen alten Mann zu lieben, doch es fiel ihr nicht leicht. Ihr ganzes Training schien sich dagegen zu wehren.

Einmal war ein Junge, nicht viel älter als sie, die Wand eines alten Denkmals in Whitehall hochgeklettert und hatte versucht, das extragroße Foto von Winston herunterzureißen, das dort hing, woraufhin ihn die Polizei sofort erschoss. Jeder im Senioren-Service fand, der Junge hätte den Tod verdient.

Der Burg-Kommandant, Brigadeführer Arthur North, bat alle um Aufmerksamkeit und sprach dann einige Minuten, um einen besonderen Gast anzukündigen. Der Gast war niemand anderes als der Regierungschef für den Senioren-Service, Henry Hayder persönlich. Er trug eine sehr schicke Uniform mit Silberknöpfen und jeder Menge Abzeichen, doch die konnten nicht darüber hinwegtäuschen, dass er keine besonders militärische Figur hatte. Er war klein und dick, trug Nickelbrille und einen albernen Schnurrbart. Florence zuckte förmlich zusammen, als sie merkte, wie sehr der Regierungschef Gandhi ähnelte. Der Gedanke, irgendjemand unter ihren Genossen und Vorgesetzten könnte glauben, sie hätte sich über Regierungschef Hayder lustig machen wollen, versetzte sie in Panik. Schließlich hatten die andern ja bloß ihre Aussage, dass es mal jemanden mit dem Namen Gandhi gegeben habe. Kaum war ihr der Gedanke gekommen, warf auch schon Aaron, ihr Gruppenleiter, einen Blick die Reihe entlang, in der sie entspannt standen, und flüsterte halblaut: «Das ist er. Das ist dein Typ, dieser Gandhi.» Alle aus der Gruppe fanden das lustig – alle außer Florence. Es waren schon öfter Leute aus der Burg geflogen, weil sie respektlos über die Regierung gesprochen hatten. Ihre PITs waren deaktiviert worden, und es hieß sogar, dass ein oder zwei von ihnen in einem Gefängnislager irgendwo auf der Ost-Halbinsel gelandet seien.

Da jeder ein Wristpad trug, ließen sich Widerstand und Aufruhr sehr leicht ermitteln. Das Wristpad mochte zwar hauchdünn sein, doch in seinem Innern befand sich ein leistungsstarker Computer, der direkt mit dem ATC verbunden war. Der ATC wiederum steuerte eine Videokamera, die alles in hyperrealer Klang- und Bildqualität aufzeichnete. Sie konnte sogar erfassen, was man im Schlaf sagte. Selbst eine unterbewusste Straftat, wie etwa im Schlaf die Regierung zu kritisieren, konnte eine zweijährige Gefängnisstrafe zur Folge haben. Oder noch Schlimmeres.

Hayder war so wenig ein großer Redner, wie er einen richtigen Soldaten hermachte. Und er sprach seltsamerweise mit einem starken Yorkshire-Akzent. Seine derben Witze kamen nicht an, und seine Rede schweifte von einem Thema zum andern. Zu Beginn ging es hauptsächlich um Winston, um einen zweiten, der Nelson hieß, und darum, dass die beiden von jedem im Senioren-Service erwarteten, dass er seine Pflicht tat. Was Florence irgendwie seltsam fand, schließlich hatten doch alle beim RUV längst einen Blutschwur geleistet, genauso zu handeln. Und ein Blutschwur war ja schließlich nichts, was man einfach so dahersagte. Besonders, da der Schwur auch einschloss, den eigenen zeremoniellen Dolch zu benutzen, um sich in den Finger zu schneiden. Und wenn dann das Blut von der Hand auf die Flagge der West-Halbinsel tropfte, die man mit der anderen Hand festhielt, sprach man die folgenden gewichtigen und feierlichen Worte:

«Ich gelobe dir, Winston, als Regierungschef der West-Halbinsel 1 meine immerwährende Loyalität, meinen bedingungslosen Gehorsam und meinen standhaften Mut. Ich gelobe dir und den Anführern des Senioren-Service absolute Treue bis in den Tod dafür, dass du mich in deiner weisen Entscheidung berufen hast. Dies schwöre ich beim Blut meines Lebens und allem, was mir lieb und teuer ist.»

Florence hatte noch nie zuvor einen Eid geschworen, und sie hatte nicht vor, den hier auf die leichte Schulter zu nehmen. Ein Eid wie dieser bedeutete, dass die Mitgliedschaft beim Senioren-Service auf mehr als bloßer Pflichterfüllung basierte. Es war eher eine Sache von Leben und Tod.

Schließlich schien Regierungschef Hayder auf den Grund seiner Anwesenheit in der Burg zu kommen:

«Genossen. Ich will zu Ihnen in einer schwierigen Angelegenheit sprechen. Hier unter uns können wir darüber natürlich offen reden, aber es scheint mir besser, dass wir das Thema außerhalb des Senioren-Service nicht diskutieren. So wie wir auch noch nie öffentlich diskutiert haben, wenn wir dem Befehl gehorchend unsere Pflicht erfüllen und Genossen, die gegenüber unserem Land versagen, an die Wand stellen und erschießen. Zum Glück hatten wir stets die innere Stärke, diese Dinge unter uns nicht in Frage zu stellen, und so wollen wir es auch in Zukunft halten, weil Derartiges gewöhnlich KDT ist – kein Diskussionsthema. Wir waren in den genannten Fällen natürlich alle schockiert, und doch hat jeder von uns verstanden: Wenn der Befehl käme, würden wir, wenn es sein müsste, das Notwendige wieder tun.

Nun, viele von Ihnen werden sich der großen Fortschritte bewusst sein, die wir bislang in puncto Gesundheit unseres Landes und bei der Beseitigung nahezu sämtlicher Krankheiten, die unsere Spezies früher heimsuchten, durch genetischen Eingriff erreicht haben. Krebs und Herzinfarkte, die einst für Millionen von Menschen den Tod bedeuteten, sind Vergangenheit. Viertausend Jahre lang war die Lebenserwartung gering. Das Durchschnittsalter lag bei vierzig Jahren. Doch seit Anfang des neuen Jahrhunderts ist die Lebenserwartung immer weiter gestiegen mit dem Ergebnis, dass das Durchschnittsalter bis Ende des Jahrhunderts bei über hundert liegen wird. Das aber hat uns ein anderes Problem beschert. Im Jahr 1940 verbrachte der Durchschnittsbürger 17 Prozent seines Lebens im Pensionsalter, inzwischen sind es mehr als 50 Prozent. In der gleichen Zeit hat sich die Zahl derer, die an einer Degeneration des Hirns leiden, erst verdreifacht und inzwischen verzehnfacht. Es scheint gerade so, als ob Demenz und Alzheimer ansteckende Krankheiten wären. Und ja, heute wissen wir, dass alte Lebewesen sterben müssen, um die zunehmend knappen Ressourcen für jüngere freizugeben, die womöglich neu entwickelte genetische Strukturen