Die schaurigste Geschichte der Welt - Philip Kerr - E-Book

Die schaurigste Geschichte der Welt E-Book

Philip Kerr

0,0
9,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Roald Dahl trifft Frankensteins Monster! Ein schaurig-spannend-komischer Gruselschmöker von Bestsellerautor Philip Kerr Billy Shivers führt nicht gerade ein aufregendes Leben – am liebsten verbringt er seine Tage in der öffentlichen Bibliothek des kleinen Städtchens Hitchcock. Doch eine außergewöhnliche Buchhandlung namens «Das Spukhaus der Bücher» sowie die Ankündigung einer gruseligen Lesenacht, in der «Die schaurigste Geschichte der Welt» vorgelesen werden soll, verändern sein Leben von einem Tag auf den anderen! «Das Spukhaus der Bücher» ist eine Mischung aus Buchhandlung und Geisterbahn. Und auch sein skurriler Besitzer Mr. Rapscallion könnte direkt einem Gruselkabinett entsprungen sein. Doch das Allerunheimlichste an der Buchhandlung sind die Geschichten, die in ihren Regalen stehen. Sie sind so unheimlich, so gruselig, so schaurig, dass derjenige, der sie liest, danach nicht mehr derselbe ist. Wird Billy sich trauen, sie zu lesen? Traust du dich?

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 350

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Philip Kerr

Die schaurigste Geschichte der Welt

 

Aus dem Englischen von Christiane SteenLieder von Uwe-Michael Gutzschahn

 

Vignetten von Regina Kehn

Über dieses Buch

 

 

Roald Dahl trifft Frankensteins Monster! Ein schaurig-spannend-komischer Gruselschmöker von Bestsellerautor Philip Kerr

 

Billy Shivers führt nicht gerade ein aufregendes Leben – am liebsten verbringt er seine Tage in der öffentlichen Bibliothek des kleinen Städtchens Hitchcock. Doch eine außergewöhnliche Buchhandlung namens «Das Spukhaus der Bücher» sowie die Ankündigung einer gruseligen Lesenacht, in der «Die schaurigste Geschichte der Welt» vorgelesen werden soll, verändern sein Leben von einem Tag auf den anderen!

«Das Spukhaus der Bücher» ist eine Mischung aus Buchhandlung und Geisterbahn. Und auch sein skurriler Besitzer Mr. Rapscallion könnte direkt einem Gruselkabinett entsprungen sein. Doch das Allerunheimlichste an der Buchhandlung sind die Geschichten, die in ihren Regalen stehen. Sie sind so unheimlich, so gruselig, so schaurig, dass derjenige, der sie liest, danach nicht mehr derselbe ist.

Wird Billy sich trauen, sie zu lesen? Traust du dich?

 

 

Weitere Informationen finden Sie unter www.fischerverlage.de/kinderbuch-jugendbuch

Biografie

 

 

Philip Kerr ist vielfach ausgezeichneter Autor von über zwanzig Büchern, darunter die bekannte Kinderbuchreihe «Die Kinder des Dschinn». Für seine Krimiserie für Erwachsene gewann er gleich mehrere wichtige internationale Preise. Philip Kerr lebte bis zu seinem Tod in London.

Dieses Buch ist für

Toni und Leo Steen

1. Kapitel Billys Leidenschaft für Bücher

Willkommen in Hitchcock, einem ganz normalen Städtchen mit zweihundertfünfzigtausend Einwohnern. Bei seiner Gründung im Jahr 1800 errichtete man als eines der ersten Gebäude diese wunderschöne öffentliche Bücherei, damit die Leute, die nicht genug Geld für Bücher besaßen, sich hier welche ausleihen konnten.

Lasst uns hineingehen.

Unter dem ausladenden zwiebelförmigen Dach befindet sich der große Lesesaal, wo die älteren Einwohner von Hitchcock gern ihre Zeitung lesen und manchmal darüber einnicken. Es gibt kilometerlange Regale aus Holz, und darin stehen massenweise Bücher. Die Stadtbücherei von Hitchcock besitzt über zwanzigtausend Stück, von denen viele allerdings noch niemals gelesen wurden.

Einer, der mindestens hundert Bücher gelesen hat, ist der Junge dort drüben in der Kinderabteilung. Sein Name ist Billy Shivers.

Hätte Billy Shivers sprechen dürfen, dann hätte er bestimmt gesagt: «Ich freue mich, dich kennenzulernen.» Aber dies ist eine Bücherei, und hätte er irgendetwasgesagt, dann hätte die Bibliothekarin Miss Junker ärgerlich «Psst!» gezischt, auf ein großes Schild gedeutet, auf dem RUHE steht, und Billy vermutlich daran erinnert, dass das ‹Reden in der Bücherei streng verboten› ist. Du wirst ihm also verzeihen, dass er nur kurz von seinem Buch aufblickt und dir freundlich zunickt.

Nun, Schweigen ist manchmal wirklich Gold, und in diesem Fall ist es sogar sehr nützlich. Denn so bekommst du Gelegenheit, Billy in aller Ruhe zu betrachten. Dir wird auffallen, dass er ziemlich groß ist und irgendwie blass – vielleicht sogar ein bisschen bleich, so als wäre er lange krank gewesen. Aber das ist nur verständlich bei jemandem, der einen schlimmen Autounfall hinter sich hat.

Billy kann sich nicht mehr gut an diesen Unfall erinnern, außer dass er nun genau weiß, wie sich eine dünne Schicht Erdbeermarmelade zwischen zwei riesigen dicken Brotscheiben fühlen muss. Vor dem Unfall war Billy wie jeder andere Junge in seinem Alter gewesen – er spielte gern und lief viel draußen herum. Aber seit dem Unfall hat sich eine Menge verändert. Jetzt wird er schnell müde und meidet großen Lärm. Seine Augen können das Sonnenlicht nicht gut vertragen, und er friert leichter als früher. Darum hält er sich lieber drinnen auf, und das erklärt, warum Billy so viel Zeit in der öffentlichen Bücherei von Hitchcock verbringt. Denn hier ist es schön warm. Und natürlich gibt es viele Bücher.

Billy liest leidenschaftlich gern Bücher.

Viele Bücher.

 

Und jetzt beginnt seine Geschichte.

***

Billy war schon immer ein begeisterter Leser gewesen. Doch nach seinem Unfall war seine Begeisterung noch größer geworden. Er konnte einfach nicht genug von Büchern bekommen. Er liebte es, dass man schon nach wenigen Seiten an einen ganz anderen Ort getragen wurde, als säße die Phantasie in einer Art Taxi. Manchmal setzte er sich mit einem Buch an einen ruhigen Platz, und wenn er das nächste Mal aufsah, waren bereits mehrere Stunden vergangen. Beim Lesen vergaß er sich selbst und auch, dass es je einen Unfall gegeben hatte.

Zuerst las Billy am liebsten Bücher über Pferde; danach über Raumfahrt. Als er Dutzende von Geschichten zu diesem Thema gelesen hatte, verschlang er mehrere Dutzend Bücher über Detektive und Kriminalfälle. Danach handelten seine Lieblingsbücher von Zauberern und Hexen. An Büchern über Sport war Billy nicht sonderlich interessiert. Er sah sich Sport lieber an, als darüber zu lesen. In derselben Woche, in der er keine Lust mehr hatte, Geschichten über Zauberer zu lesen, versuchte er es mit Büchern über Kochen, Dschungelexpeditionen, Spionage, Löwen, Schottland und die Geschichte der Musik. Doch keines dieser Themen fesselte ihn besonders. Und dann, ganz zufällig, bekam er ein Buch über Geister in die Hand. Billy las noch eins und noch eins – und bald war ihm klar, dass Bücher mit Geistergeschichten seine absoluten Lieblingsbücher waren.

Etwa zur gleichen Zeit bemerkte er ein kleines, etwas zerschlissenes Plakat, das am Schwarzen Brett der Bücherei hing. Es hatte wohl schon eine ganze Weile dort gehangen, und das Ereignis, das darauf angekündigt wurde, war längst vorbei – doch erst jetzt fiel es Billy ins Auge.

Auf dem Plakat stand Folgendes:

EINLADUNG

ins SPUKHAUS DER BÜCHER in der High Street, ZU EINEM HALLOWEENABEND VOLLER unheimlicher Geister- und Gruselgeschichten. Ganz zu schweigen von unserer neuesten Attraktion: dem Fluch des Pharaos. Um Mitternacht ERWARTEN WIR DEN BESUCH EINIGER UNHEIMLICHER AUTOREN, DIE IHRE schauerlichsten BÜCHER SIGNIEREN WERDEN … MIT BLUT. Snacks und Glühwein gratis, plus ZEHN PROZENT RABATT AUF JEDEN BAREINKAUF. FÜR ALLE WEITEREN EINZELHEITEN wähle 666–6666 ODER SCHICKE EINE E-MAIL AN REXFORD RAPSCALLION, [email protected], wenn du dich traust.

Billy war sofort fasziniert. Es war ihm egal, dass Halloween schon einige Monate her war und dass keiner dieser unheimlichen Autoren mehr anwesend sein würde, um seine schauerlichen Bücher zu signieren. Was Billy faszinierte, war die Vorstellung, dass es eine Buchhandlung geben sollte, in der es spukte. Was konnte wunderbarer sein? Was konnte aufregender sein? Was konnte fantastischer sein als das?

Wer je in einer Buchhandlung gewesen ist, dem wird nicht entgangen sein, dass Bücher Geld kosten. Manchmal sogar sehr viel Geld. Das Buch, das du gerade in der Hand hältst, kostet ein kleines Vermögen, und ehrlich gesagt solltest du demjenigen, der es dir gekauft hat, sehr dankbar sein. Es sei denn, du hast es dir selbst gekauft, in welchem Fall du stinkreich sein musst. Warum sollte man sonst für etwas Geld bezahlen, das man nur ein Mal benutzt? Außer natürlich, du hast vor, das Buch noch einmal zu lesen. Oder du willst es zusammen mit vielen anderen Büchern in ein Regal stellen und eine hübsche Hausstaubsammlung anlegen – oder du willst anderen bloß zeigen, wie schlau du bist. Was völlig in Ordnung ist. Aber wer hat heutzutage noch Geld, um es auf Bücher zu verschwenden? Oder Platz für Bücherregale?

Billys Familie hatte jedenfalls kein Geld, um es auf irgendetwas zu verschwenden, und Billy erst recht nicht. Aus diesem Grund war er ja in die öffentliche Bücherei von Hitchcock gegangen, um zu lesen. Doch ansehen wollte er sich dieses Spukhaus der Bücher auf jeden Fall.

2. KapitelDas Spukhaus der Bücher

Billy verließ die Bibliothek und ging um die Ecke bis zur High Street. Wie üblich war diese Straße voller Autos und Fußgänger, und ein großer Hund knurrte ihn ohne Grund wütend an, was Billy sehr nervös machte. Billy mochte Hunde, doch diese schienen ihn nicht besonders zu mögen. Mit Katzen war es noch schlimmer. Also beschleunigte er seine Schritte, so gut er konnte, bis er schließlich vor der Buchhandlung stand.

Er brauchte das Schild, das neben der Tür an einem Haken hing, gar nicht zu lesen, um zu wissen, dass er richtig war. Die Tür und die Fensterrahmen waren pechschwarz gestrichen. Das Fenster war mit diesen falschen Spinnweben überzogen, mit denen man seine Großmutter besprühen kann, wenn sie in ihrem Sessel eingeschlafen ist. Im Schaufenster selbst sah man einen Liegestuhl, auf dem ein erwachsenes Skelett im Badeanzug lag und in einem Buch mit dem Titel Der Schatten des Toten schmökerte. Neben dem Liegestuhl befand sich ein großer Bücherstapel, so als ob das Skelett all diese Bücher noch lesen wollte. Es waren Das Phantom von Foggy Bottom, Das Wort des Todes, Aus dem Leben eines Vampirs, Eine dunkle, stürmische Nacht, Die Rache des Hausgespenstes, Ein Kichern in der Dunkelheit und Knarren auf meiner Treppe. Direkt hinter dem Schädel des Skelettes schwebte ein Geist – oder zumindest ein Bettlaken, das wie ein Geist angemalt war. Doch das Aufregendste an der Schaufensterdekoration war ein großer Spiegel, in dem alle paar Sekunden das Gesicht einer sehr gruseligen Hexe auftauchte und wieder verschwand.

Billy fand, es war die beste Schaufensterdekoration, die er je gesehen hatte, und klatschte so begeistert die Hände zusammen, dass ein paar Fußgänger ihn befremdet ansahen, als wäre irgendwas mit ihm nicht in Ordnung, und dann schnell weitergingen.

Glücklich grinsend öffnete Billy die Ladentür.

An manchen Ladentüren befindet sich eine kleine Klingel, die bimmelt, wenn man die Tür öffnet. Das Spukhaus der Bücher war jedoch kein normaler Laden. Darum ertönte beim Öffnen der Tür ein hohles, bösartiges Lachen, das direkt aus einem alten Horrorfilm zu kommen schien. Und nicht nur das: Beim Hereinkommen trat man auf ein altes U-Bahn-Gitter, und ein Schwall kalter Luft blies von unten herauf. All das sollte dem Kunden einen kleinen Schrecken einjagen. Und Billy war keine Ausnahme. Er schrie laut auf, aber dann musste er natürlich lachen.

Das Innere des Ladens war keineswegs weniger interessant als das Schaufenster.

Billy Shivers fand sich in einer Art altem Herrenhaus wieder. Es gab eine richtige Eingangshalle mit einem staubigen Kerzenleuchter an der Decke, einem Konzertflügel, einer geschwungenen Holztreppe und am Fuß der Treppe einem glänzenden Holztresen in Form eines Sargdeckels. Auf dem Tresen stand eine antike Registrierkasse aus Messing mit einer Kurbel an der Seite. Billy fand, die Kasse sah aus, als gehöre sie zu dem alten U-Boot in dem Buch von Jules Verne, das 20000 Meilen unter dem Meer hieß.

Die Kasse schien nicht weniger alt als der sonderbare Mann dahinter. Billy fand sogar, dass es der sonderbarste Mann war, den er je gesehen hatte.

Er war ein wenig stämmig, aber nicht fett.

Seine Kleidung war die eines altmodischen Bestattungsunternehmers: ein langer schwarzer Gehrock, schwarze Hosen, ein weißes Hemd und eine schwarze Schnürsenkelkrawatte.

Er war sehr alt – ungefähr sechzig – und nicht sehr groß, doch auch nicht besonders klein.

Sein langes graues Haar hatte er hinten zu einem Zopf gebunden. Sein silbriggrauer Bart passte genau zu den Lachfalten in seinem Gesicht und rahmte seinen Mund ein wie ein zusätzlicher Ober- und Unterkiefer. Und eine seiner Augenbrauen war geschwungen wie die Brücke von Sidney.

An seinen kurzen Fingern trug er mehrere Silberringe mit Totenköpfen, und in seinem Ohr war ein Ring, und an dem Ring hing ein winziger Dolch, und an der Spitze des Dolches war ein winziger Klecks rote Farbe, so als hätte der Dolch gerade jemanden sehr Kleines erstochen.

Auf der Nase hatte er eine dick umrandete Brille mit seltsam gelblichen Gläsern, die den neugierigen Glanz in seinen Augen zu verstärken schienen. Billy war davon überzeugt, dass er noch nie solche glänzenden Augen gesehen hatte. Oder auch so ein weißes, wölfisches Lächeln. Das Lächeln dieses Mannes war so weiß und wölfisch, dass Billy sich einen Augenblick fragte, ob er vielleicht Reißzähne hatte und eigentlich ein Vampir war. Aber das Lächeln war nicht unfreundlich. Verschmitzt, ja, vielleicht auch ein bisschen müde, aber keineswegs böse.

«Kann ich dir helfen?», fragte der Mann höflich.

Seine Stimme war tief und hallte wie ein Bariton in einer Kohlengrube.

Billy näherte sich nervös dem sargdeckelförmigen Tresen. Seine Mutter hatte ihm beigebracht, niemals mit Fremden zu sprechen, doch das galt wohl nicht, wenn man sich in einem Laden befand und jemand, der vermutlich dort arbeitete, einen fragte, ob er einem helfen könnte.

«Ich suche nach einem Buch über Geister», sagte er darum.

Der Mann seufzte und deutete auf ein Schild links neben der Kasse. Darauf stand:

Sehr geehrter Kunde: Sie befinden sich im SPUKHAUS DER BÜCHER. Spuk wie in GEISTER, herrje. Dinge, die nachts Krach machen. DAS BEDEUTET, WIR VERKAUFEN KEINE BÜCHER ÜBER COMPUTER, REISEN, MUSIK, THEATER, SELBSTHILFE ODER STARS. Wenn Sie nach einem Buch über einen Star fragen oder auch nur daran denken – raus! Wir verkaufen auch keine Bücher über den 2. WELTKRIEG, FERNSEHEN, GEOGRAPHIE, RELIGION, KOCHEN und schon gar nicht über Sport. Wenn Sie nach einem Buch über Sport fragen oder auch nur daran denken, dann müssen Sie total bekloppt sein. Gehen Sie weg und suchen Sie Ihr Hirn, bevor es dunkel wird, Sie armseliger Trottel. WIR VERKAUFEN GRUSELIGE BÜCHER AN LEUTE, DIE SICH SCHNELL GRUSELN WOLLEN. DAS HEISST, BÜCHER ÜBER GEISTER, GHULE, GESPENSTER, HERUMIRRENDE SEELEN, ERSCHEINUNGEN, VAMPIRE, WERWÖLFE, ZOMBIES, HEXEN UND SPUK. Wir haben außerdem eine große Abteilung für Kinder. Alles klar?

«Äh, ja», sagte Billy. «Alles klar. Ja. Danke. Äh, was ist ein Ghul?»

«Ein Grabräuber», sagte der Mann hinter dem Sargdeckel-Tresen. «Jemand, der Leichen aus den Gräbern holt und sie verkauft oder aufisst. Was mich angeht, so halte ich es für sinnvoller, sie zu verkaufen, als sie zu essen. Der Geschmack von Menschenfleisch hat mir noch nie besonders zugesagt. Ghule stehen jedenfalls oben, wenn du die Treppe raufgehst links, letzter Raum, im hintersten Regal.»

«Wer würde denn eine Leiche kaufen wollen?»

«Oh, es gab mal einen durchaus schwunghaften Handel mit Leichen in einer Stadt namens Edinburgh.»

«Dann werde ich sicherlich niemals nach Edinburgh fahren», sagte Billy.

«Ich werde ihnen gleich heute schreiben und sie darüber informieren, bevor ich irgendetwas anderes tue», sagte der Mann. «Ich gehe davon aus, dass man den Schotten diese schlimme Nachricht so schnell wie möglich mitteilen möchte.»

«Danke», sagte Billy.

«Keine Ursache.»

Billy bemerkte ein Namensschild am Revers des Mannes und beugte sich vor, um es zu lesen. Darauf stand: REXFORD E. RAPSCALLION, EIGENTÜMER.

«Eigentümer», sagte Billy. «Das heißt, Ihnen gehört die Buchhandlung, oder?»

Der Mann, von dem Billy nun wusste, dass er Rexford Rapscallion hieß, seufzte und deutete auf ein Schild auf der rechten Seite der Kasse. Darauf stand:

WERTER KUNDE. HERZLICHEN GLÜCKWUNSCH! KLOPFEN SIE SICH AUF DIE SCHULTER, DENN SIE SIND NICHT GANZ SO DUMM, WIE SIE AUSSEHEN. JA, ICH BIN DER EIGENTÜMER, UND DAS BEDEUTET, MIR GEHÖRT DER LADEN. UND BEVOR SIE WEITERFRAGEN, ICH HABE DEN LADEN SEIT BEINAHE ZWANZIG JAHREN. SUPER IDEE, WAS? UND NEIN, VORHER WAR ES KEIN RESTAURANT. ES WAR EIN CAFÉ, DOCH DER KAFFEE SCHMECKTE WIE SCHLAMM, WAS VERMUTLICH DER GRUND IST, WESHALB SIE PLEITE MACHTEN UND MIR DAS GANZE FÜR eine Menge GELD VERKAUFTEN. GELD, DAS ICH GERN NOCH HÄTTE. JA, WIR HABEN UNS SCHON IMMER AUF GEISTERGESCHICHTEN ETC. SPEZIALISIERT. UND WENN SIE SCHON FRAGEN: IN DIESEM HAUS SPUKT WIRKLICH EIN GEIST HERUM. ICHHABE IHN NOCH NIE MIT EIGENEN AUGEN GESEHEN, DOCH MIR HABEN LEUTE GESAGT, DASS MAN IHN MANCHMAL IN DER VOODOO-ABTEILUNG ZU SEHEN BEKOMMT. ABER DARAUF WÜRDE ICH NICHT VIEL GEBEN. Er soll ganz schön unheimlich sein, habe ich gehört. Ich habe Sie gewarnt. Das Management übernimmt keine Verantwortung für jemanden, der hier vor Angst stirbt. Wenn Sie eher der nervöse Typ sind, was Gespenster angeht – was machen Sie dann hier in diesem Laden?!! Sind Sie verrückt? DANKE FÜR IHRE AUFMERKSAMKEIT.

Billy nickte. «Keine Ursache», sagte er. «Warum sieht der Tresen aus wie ein Sargdeckel?»

Mr. Rapscallion verzog ärgerlich das Gesicht. «Das verleiht dem Laden Atmosphäre, Kind. Es wirkt gruselig, verstehst du? Wie das Skelett im Schaufenster. Das Lachen, wenn man zur Tür reinkommt. Und all der andere Kram.»

«Welcher andere Kram?», wollte Billy wissen.

Mr. Rapscallion lächelte ein besonders wölfisches Lächeln, das Billy ein bisschen unheimlich fand, zog seine bereits hochgezogene Augenbraue noch höher und sagte mit einem hellen Glänzen in den Augen: «Das werde ich dir nicht verraten. Du musst es schon selbst herausfinden, mein Sohn. Auf die harte Tour.»

Und dann lachte Mr. Rapscallion. Kein normales Lachen, sondern ein irres Lachen, eines, das aus dem Nichts hervorflatterte wie ein großer Vogel, der von einem Hund aus dem Busch aufgescheucht wurde. Es war ein gackerndes, kreischendes, unkontrolliertes, nicht aufhören wollendes Lachen, das durch den Laden sprudelte wie eine Wasserfontäne, die man nicht abstellen konnte.

So ein Lachen hatte Billy noch nie gehört. Er hätte auch nicht gedacht, dass ein Mensch zu so einem Lachen fähig wäre. Es war ein Lachen, das Billy gern selbst gekonnt hätte, und gleichzeitig wäre er am liebsten davor davongelaufen.

«Wo geht es denn zur Geisterabteilung?», fragte er tapfer.

Mr. Rapscallions seltsames, verrücktes Ich-konnte-leider-nicht-anders-Lachen brach ebenso plötzlich ab, wie es angefangen hatte.

«Die Kinderbuchabteilung ist gleich um die Ecke», sagte er. «Ich denke, dort findest du, wonach du suchst.»

«Ich bin zwölf», sagte Billy. «Ein bisschen zu alt für die Kinderbuchabteilung, finde ich.»

«Wenn du meinst. Aber sag mir nachher nicht, ich hätte dich nicht gewarnt, Kind. Ich habe keine Lust, dass deine Mutter mich verklagt, weil ich so böse zu ihrem kleinen Söhnchen gewesen bin.»

«Wenn Sie meine Mutter kennen würden, dann wüssten Sie, dass sie das nie täte.»

Mr. Rapscallion zuckte die Achseln.

«Die Geisterabteilung ist die Treppe rauf und dann rechts. Du gehst durch Vampire und Voodoo, dann die wacklige Wendeltreppe rauf – keine Sorge, sie ist sicherer, als sie aussieht –, den langen Flur entlang, durch das Rote Zimmer hindurch – bleib nicht die ganze Nacht da drin, wenn es nicht sein muss –, und dann stehst du direkt davor. Vielleicht.»

Billy nickte und ging auf die Treppe zu.

«Wenn du Hilfe brauchst», sagte Mr. Rapscallion und rollte wild mit den Augen, als wären es zwei Murmeln in seinem Kopf, während seine Stimme sich zu einem Flüstern senkte, «dann schrei einfach.»

Und dann fing er wieder an zu lachen.

3. Kapitel Billy geht auf Entdeckungstour

Das Spukhaus der Bücher war viel größer, als Billy erwartet hatte. Und noch viel großartiger, als er sich hätte vorstellen können. Die Fußbodendielen knarrten unter seinen Füßen wie die Planken eines alten Schiffes, und von irgendwo hinter einer Wand meinte er zu hören, wie jemand jammerte oder vor sich hinmurmelte oder gleichzeitig jammerte und vor sich hinmurmelte – es war schwer zu sagen.

Billy wunderte sich kein bisschen, dass es in der Buchhandlung tatsächlich spuken sollte. Ein paarmal glaubte er, den Geist zu sehen, und war dann doch sehr erleichtert, als sich herausstellte, dass es nur andere Kunden waren. Einer dieser Kunden war ein großer Mann in einem schwarzen Mantel, der in der Vampirabteilung herumstöberte. Billy war sicher, dass der große Mann kein Geist war, denn während er las, kratzte er sich ständig am Kopf, und da Billy das Kratzen hören konnte und sogar sah, wie die Schuppen dabei vom Kopf herabrieselten, war er davon überzeugt, dass der Mann aus Fleisch und Blut sein musste. Und damit kein Geist.

Der andere Kunde war eine dünne Frau mit geflochtenen schwarzen Haaren und einem dunkelgrünen Ledermantel. Sie stand vor der Wendeltreppe und starrte unschlüssig hinauf.

«Glaubst du, sie ist sicher?», fragte sie Billy. «Die Treppe, meine ich?»

Billy dachte, ein echter Geist würde sich bestimmt keine Sorgen darüber machen, ob eine Wendeltreppe sicher war. Ein echter Geist wäre einfach hinaufgeschwebt wie eine Wolke.

«Ja», sagte er. «Ich glaube schon. Das hat Mr. Rapscallion jedenfalls gerade eben gesagt. Er hat gesagt, sie ist sicherer, als sie aussieht oder sich anfühlt.»

Er begann, die Treppe hinaufzusteigen, während ihm die Frau im grünen Ledermantel zusah. Die Treppe wackelte ein bisschen, doch nicht mehr als eine hohe Leiter, die an einem Haus lehnte.

«Sei bloß vorsichtig», sagte die Frau und knabberte ängstlich an ihrem Fingernagel.

Etwas, das ein Geist garantiert nicht tun würde, dachte Billy. «Es ist wirklich okay», sagte er. Doch ein Stück weiter oben begann die Treppe plötzlich zu rutschen, als wäre sie nicht richtig an der Wand und am Fußboden befestigt, was ein wenig erschreckend war, und Billy beeilte sich, nach oben zu kommen, bevor das ganze Ding unter ihm zusammenbrechen konnte.

«Ich glaube, du bist mutiger als ich», sagte die Frau und ging davon.

«Nein», rief Billy ihr hinterher. «Ich bin überhaupt nicht mutig.»

Dann wandte er sich um. Er stand am Ende eines langen, mit Teppich ausgelegten Flurs, der ziemlich normal wirkte, wenn man bedachte, dass er sich in einem Spukhaus für Bücher befand. Ein Kind – das sehr viel kleiner war als er – hatte sein Dreirad in einer Ecke stehen lassen, und Billy fand, dass das nicht gerade zu der Gruselatmosphäre beitrug, von der Mr. Rapscallion gesprochen hatte. Ebenso wenig die lebensgroßen Wachsfiguren der Zwillingsmädchen, die er am Ende des Flurs entdeckte, nachdem er um die nächste Ecke gegangen war. Beide Mädchen waren etwa so alt wie Billy. Sie trugen hübsche blaue Kleider und hielten sich an den Händen und sahen so aus, als könnten sie kein Wässerchen trüben.

Das war doch komisch, fand Billy. Es war gar nicht gruselig.

Er drückte die rote Tür des Roten Zimmers auf und ging hinein. Der Raum war viel größer, als er erwartet hatte. Das Rote Zimmer war mindestens so groß wie ein Tennisplatz. Es gab viele Bücherregale mit Tausenden von Büchern. Zu Billys Freude handelten alle von Geistern. Einige Minuten lang tat er nichts anderes, als sich die Buchrücken anzusehen. Und es verging beinahe eine halbe Stunde, bevor er bemerkte, dass hinter dem Roten Zimmer kein weiterer Raum mehr kam – anders als Mr. Rapscallion gesagt hatte. Und noch seltsamer war, dass die Tür, durch die er das Rote Zimmer betreten hatte, auf einmal verschwunden war. Nun war er von allen vier Seiten von Regalen und nichts als Regalen umgeben. Offenbar gab es eine Geheimtür, doch in welcher Wand sie lag und wie man sie öffnete, das wusste Billy nicht. Einige Minuten lang stand er einfach in der Mitte des Raumes, sah erst in die eine Richtung, dann in die andere und dann wieder in eine dritte.

Er nahm an, das Rote Zimmer hatte seinen Namen daher, dass der Teppich und die Decke und alle Regale rot waren. Die einzigen Dinge, die nicht rot waren, waren die Bücher und Billy selbst. Der Raum wurde von sieben Kerzen erleuchtet, was Billy in einer Buchhandlung ganz schön gefährlich vorkam. Doch das Kerzenlicht warf einige seltsame Schatten ins Zimmer und ließ es noch unheimlicher aussehen.

Besonders als eine der Kerzen im Wandhalter plötzlich ausging. Und dann noch eine.

Billy nahm eine der Kerzen, die noch brannten, und trat zu den beiden verloschenen hinüber. Doch schon gingen zwei weitere Kerzen aus, als ob unsichtbare Finger die Dochte zusammendrückten.

«Das ist ja komisch», sagte Billy und wollte auch diese Kerzen wieder anzünden. Beinahe im selben Moment erloschen noch zwei Flammen, und die Dunkelheit schien mit großen Schritten auf Billy zuzukommen.

Der Junge schluckte laut.

«Was ist hier los?», fragte er mit leichter Panik, die seine bereits helle Stimme noch höher klingen ließ. «Ich will, dass diese Kerzen anbleiben.» Mit zitternder Hand eilte er von einer Kerze zur anderen und schaffte es kurz, alle sechs wieder anzuzünden.

Doch dann gingen gleich vier Kerzen auf einmal aus, und Billy schrie vor Schreck auf. Die Dunkelheit schien ihn einzuholen. «Hilfe, das wird langsam unheimlich.»

Aber es wurde noch schlimmer. In seiner Eile, die erloschenen Kerzen wieder anzuzünden, neigte sich die Flamme der Kerze in seinen zitternden Händen plötzlich wie in einem Luftzug und verlosch ebenfalls. Billy schluckte wieder, ließ die Kerze auf den Teppich fallen und griff nach einer der beiden, die immer noch brannten – doch schon flackerte auch diese Flamme und erstarb in einer kleinen, gespenstischen Rauchsäule.

Entsetzt wandte sich Billy der letzten Kerze zu, die noch zwischen ihm und der vollkommenen Dunkelheit stand. Doch in diesem Moment verlosch auch sie.

Die Dunkelheit umgab den Jungen wie ein dicker Umschlag. Es war so dunkel, als hätte ihn jemand in einen Sack aus schwarzem Samt gesteckt, ihn zugeschnürt und dann in ein tiefes Loch geworfen.

Dann hörte er die Dielenbretter knarren. Er versuchte, sich zu sagen, dass sie vermutlich unter seinem eigenen Gewicht knarrten. Doch es war sehr leicht vorstellbar, dass er sich gar nicht allein im Roten Zimmer befand. Dass irgendjemand oder irgendwas hier bei ihm war. Und versuchte, ihn zu erschrecken.

«Ist hier jemand?», fragte er und hoffte dabei sehr, dass derjenige oder dasjenige nicht antworten würde. «Weil ich finde, es ist ziemlich gemein, jemanden so zu erschrecken. Auch wenn das hier das Spukhaus der Bücher ist.»

Wieder knarrten die Dielenbretter. Es klang unheilvoll.

Irgendwie gelang es Billy, nicht die Fassung zu verlieren. Er hoffte, dass seine Augen sich langsam an die Dunkelheit gewöhnen würden und er schließlich etwas sehen konnte. Doch die Dunkelheit blieb tiefschwarz. Sie schien sich sogar zu verdichten. Es war beinahe, als könnte er die Dunkelheit um ihn herum anfassen. Alles, was er hörte, war das Geräusch seines eigenen Atems, und er spürte, wie sich seine Nackenhaare aufstellten, als wollten sie die Decke berühren.

Die Angst packte Billy wie eine feuchte, kalte Hand.

Und aus keinem besonderen Grund – außer dass Mr. Rapscallion es ihm in diesem Fall geraten hatte – fing Billy an zu schreien.

4. KapitelDas Haus gibt seine Geheimnisse preis

Sobald Billy losschrie, schwang eines der roten Regale wie eine Geheimtür auf und gab den hell erleuchteten Flur frei, den er vierzig Minuten zuvor entlanggegangen war. Die Wachsfiguren der Zwillingsmädchen in den blauen Kleidern waren immer noch da. Sie hielten sich freundlich an den Händen wie vorher, aber – und vielleicht bildete er sich das nur ein – es schien Billy, als er schreiend aus dem Roten Zimmer rannte, dass sie jetzt lächelten.

Am Ende des Flurs schob Billy das Dreirad aus dem Weg und trat nervös auf die Wendeltreppe. Er versuchte, so gut es ging, das Schwanken der Stufen unter seinen Füßen zu ignorieren, und kam schließlich sicher unten an.

Der große Mann im schwarzen Mantel stöberte immer noch in der Vampir- und Voodoo-Abteilung, und als Billy ihn jetzt ansah, stellte er fest, dass der Mann einen Priesterkragen und ein Kreuz an einer Kette um den Hals trug.

Als er Billy sah, lächelte der Priester. «Du warst oben im Roten Zimmer, habe ich gehört.»

«Ja», sagte Billy.

«Warst du zum ersten Mal drin?»

«Ja.» Billy versuchte, die Panik in seiner Brust im Griff zu behalten. Er wischte sich mit dem Ärmel den Schweiß von der Stirn, und langsam beruhigte sich sein Atem.

Das Lächeln des Mannes wurde breiter. «Habe ich mir gedacht. Vielleicht hätte ich dir etwas sagen sollen, bevor du da raufgegangen bist, aber ich wollte dir nicht den Spaß verderben.»

Billy runzelte die Stirn. «Sie meinen, Sie wussten, was passieren würde?»

«Natürlich. Der ganze Laden hier ist gebaut wie eine altmodische Geisterbahn. Wie man sie in Vergnügungsparks findet.»

«Sie meinen, das Rote Zimmer – darin spukt es gar nicht?»

«Nein, nein, nein», sagte der Mann. «Nun, jedenfalls glaube ich das nicht. Nein, das ist alles nur ein Trick, mein Junge. Ein Trick. Die Tür verschwindet zum Beispiel, wenn man auf ein bestimmtes Dielenbrett mit einer Feder darunter tritt. Und sie öffnet sich erst wieder, wenn ein elektronischer Sensor das Schreien eines Menschen aufnimmt, wie das von dir. Das heißt, wenn du laut genug schreist. Der Sensor wird langsam ziemlich alt und sollte mal ersetzt werden. Man muss die Tür mit einem schweren Buch blockieren, wenn man das alles verhindern will.»

«Ich verstehe.»

Der Priester stellte das Buch, in dem er gerade geblättert hatte, wieder ins Regal zurück und nahm eine kleine, goldumrandete Brille vom Ende seiner langen Nase. «Ich bin Pater Merrin», sagte er lächelnd und streckte Billy eine lange, dünne Hand hin.

Billy schüttelte sie und sagte: «Ich heiße Billy Shivers.»

«Freut mich, dich kennenzulernen», sagte Pater Merrin. «Wirklich.»

«Was ist mit den Kerzen im Roten Zimmer?», wollte Billy wissen. «Wie geht das?»

«Ganz einfach. Nachdem du eine Weile im Zimmer bist, schalten sich kleine Luftströme an, die durch winzige Löcher in den Wänden hinter den Kerzen kommen.»

«Oh.»

Billy hielt Pater Merrin für älter als Mr. Rapscallion. Er sah auch ziemlich krank aus. Billy fragte sich, ob Pater Merrin vielleicht selbst eine Leiche war, oder noch etwas Schlimmeres.

«Hören Sie, Sie sind nicht zufällig ein echter Geist, oder?», fragte er den Priester darum.

«Nein.» Pater Merrin lächelte. «Ich bin aus Fleisch und Blut. Genau wie du, Billy. Nur viel, viel älter.»

Billy sah erleichtert aus. «Eine Geisterbahn, also.» Er nickte. «Das erklärt vieles.»

«Es erklärt alles», sagte Pater Merrin kichernd.

«Aber es muss sehr teuer gewesen sein, das Haus so umzubauen», sagte Billy. «Glauben Sie nicht?»

«Oh ja. Ein kleines Vermögen. Ich glaube, der Mann, der Mr. Rapscallion dabei geholfen hat, diesen Laden zu bauen, war ein erstklassiger, hauptberuflicher Magiker. Ein Bühnenzauberer aus Las Vegas, der Tricks für die besten Zauberer der Welt erdachte und baute. Zum Beispiel den hier.»

Pater Merrin führte den Jungen sanft zu einem Regal am Ende der Vampir- und Voodoo-Abteilung. Vor dem Regal stand ein Tisch. Und auf dem Tisch lag eine Voodoo-Puppe, in der mehrere Nadeln steckten.

«Also», sagte der Pater. «Die Voodoo-Puppe. Nimm sie und pass auf, was passiert.»

Billy nahm die Puppe hoch und starrte sie erwartungsvoll an. Nichts passierte.

Pater Merrin runzelte die Stirn. «Warte mal. Es ist schon eine Weile her, seit ich mit dieser Puppe gespielt habe. Ah, ja, jetzt weiß ich wieder: Du musst eine der Nadeln herausziehen. Das unterbricht einen elektrischen Kreislauf irgendwo hier im Zimmer, aber frag mich nicht nach Einzelheiten. Ich bin nicht so gut in technischen Dingen.» Er nickte Billy zu. «Mach ruhig, Billy.»

Billy sah sich nervös um und fragte sich, was wohl gleich passieren würde. Doch dann tat er, was der Priester gesagt hatte. Er zog eine der langen Nadeln aus der Plastik-Voodoo-Puppe.

Sofort wich ein Stück Teppichläufer vom Boden zurück, und zwei der Dielenbretter hoben sich langsam an Scharnieren in die Höhe. Draußen vor dem Fenster sah man einen Blitz und hörte lautes Donnern, dann flackerte das Licht an der Decke und wurde schwächer. Rauch qualmte unter den hochgeklappten Dielenbrettern hervor und kroch wie etwas Lebendiges durch den Raum.

«Trockeneis», murmelte Pater Merrin. «Es gibt der Sache Atmosphäre, findest du nicht?»

«Das Wort hat Mr. Rapscallion auch benutzt», sagte Billy. «Atmosphäre.»

«Pssst», sagte Pater Merrin. «Jetzt kommt der beste Teil.»

Langsam, als kehre nach langer Zeit das Leben in ihn zurück, setzte sich ein Mann auf, der scheinbar unter den Dielenbrettern begraben gelegen hatte. Sein Kopf war kahl und seine Ohren und die Nase so spitz wie die eines Kobolds. Seine Augenbrauen waren zusammengewachsen, als schüttelten sie sich in der Mitte auf grässliche Weise die haarigen Hände. Seine Zähne waren scharf wie die eines bösen Tieres. Und seine Fingernägel waren länger als die Tasten auf einem Klavier und mindestens so gelb. Er trug einen Mantel, dessen Kragen bis zum Hals geschlossen war, sodass es wirkte, als besäße dieses seltsame Wesen überhaupt keinen Hals.

Billy keuchte und wich mehrere Schritte zurück, bis er dem Pater auf die großen Füße trat.

«Herrje», sagte er. «Was ist das?»

«Alles in Ordnung, Billy. Das ist nur ein Vampir. Oder eher eine Puppe, die einen Vampir darstellen soll.» Pater Merrin beugte sich vor und tätschelte der Puppe den kahlen Schädel. «Siehst du? Aber warte noch. Wir sind noch nicht ganz fertig.»

Für einen Moment verloschen plötzlich alle Lichter, und als sie wieder angingen, war die Puppe verschwunden, und die Dielenbretter und der Teppichläufer lagen wieder auf ihren Plätzen.

«Wow», sagte Billy.

Pater Merrin deutete auf den Türrahmen. «Sieh mal dahin.»

Noch als er sprach, sah Billy, wie der schwarze Schatten der Kreatur aus dem Zimmer kroch. Billy lief zur Tür und sah den Schatten gemächlich wie eine Katze an der Wand bis zum Treppenabsatz gleiten, wo er schließlich verschwand.

«Wow», sagte er wieder beeindruckt. «Das war toll. Es sah wirklich so aus, als würde der Schatten ganz allein aus dem Zimmer kriechen.»

«Nicht wahr?», sagte Pater Merrin fröhlich.

«Sollte das wirklich ein Vampir sein?», fragte Billy.

«Ja. Der Schatten ist irgendeine Projektion von einer versteckten Kamera. Und die Puppe ist einfach nur eine Puppe. Sie sieht furchtbar aus, aber dieser arme kahle Kerl war schon immer einer meiner Lieblinge in der Buchhandlung.»

«Sie meinen, Sie kommen oft her?», wollte Billy wissen.

«Oh ja. Oft genug, um zu wissen, dass Mr. Rapscallion böse auf mich wird, wenn ich noch mehr Geheimnisse aus seinem Laden verrate. Ich habe schon genug gesagt. Aber ich wollte nicht, dass du Angst bekommst, Billy. Wie du siehst, kommen nicht viele Kinder hierher. Nicht mehr. Ich vergesse manchmal, dass Mr. Rapscallion diesen Laden eigentlich für Kinder entworfen hat.»

«Ehrlich?»

«Ja. Vor Jahren war es hier noch voll von Kindern. Richtig voll. Es war einer der erfolgreichsten Läden in Hitchcock. Aber wie du siehst, sind jetzt nur noch erwachsene Kinder wie ich hier.»

«Aber es ist so phantastisch hier», sagte Billy. «Warum kommen denn keine Kinder mehr?»

«Ich weiß es nicht.»

«Vielleicht sind sie aus Angst weggeblieben», vermutete Billy.

«Ich fürchte, es liegt eher daran, dass Kinder heutzutage kein Interesse mehr an Büchern haben», sagte Pater Merrin. «Das gilt selbst für Mr. Rapscallions Tochter Altaira, mit der er sich auseinandergelebt hat.»

«Wie alt ist sie denn?»

«Zwölf, glaube ich.»

«Und sie haben sich auseinandergelebt? Das heißt, sie mögen einander nicht mehr, oder?»

«Das würde ich nicht sagen. Aber auf jeden Fall wohnt sie nicht mehr bei ihm. Sie wohnt bei ihrer Mutter, die sich ebenfalls nicht sehr für Bücher interessiert.»

«Ich liebe Bücher», sagte Billy. Er blickte gerade rechtzeitig hoch, um ein paar großartig aussehende Ratten mit dem Kopf nach unten über die Zimmerdecke hasten zu sehen. «Ich kann mir ein Leben ohne Bücher gar nicht vorstellen.»

«Unglücklicherweise scheint die Mehrheit der Kinder heutzutage deine Meinung nicht zu teilen», ertönte eine Stimme.

Billy drehte sich um. Mr. Rapscallion stand in der Tür der Vampir- und Voodoo-Abteilung. Er sah müde und verärgert aus, genau wie vorher.

«Sie sind zu sehr mit ihren dämlichen elektronischen Spielen und ihrem dummen Fernseher und ihren nervigen Handys und ihren fürchterlichen Computern beschäftigt, um Bücher zu lesen», sagte Mr. Rapscallion. «Man fragt sich, warum man sich in der Schule überhaupt noch die Mühe macht, ihnen das Lesen beizubringen.» Er seufzte laut. «Ich mache mir Sorgen um die Zukunft der Menschheit. Wenn sie mich überhaupt interessieren würde, meine ich.»

«Ach, kommen Sie, Mr. Rapscallion», sagte Pater Merrin. «Das meinen Sie gar nicht so.»

«Tue ich nicht?», grunzte Mr. Rapscallion. «Nein?»

«Nein», beharrte Pater Merrin. «Ich denke, das tun Sie nicht.»

«Vielleicht haben Sie recht.» Mr. Rapscallion runzelte die Stirn. «Vielleicht.»

«Ich weiß, dass ich recht habe.» Der Pater deutete auf Billy. «Dies hier ist Billy Shivers.»

Mr. Rapscallion grunzte.

«Wie geht es Ihnen, Sir?», sagte Billy.

«Ich möchte ja nicht neugierig erscheinen oder so», sagte Mr. Rapscallion, «aber da wir uns hier in einem Laden befinden, muss ich es fragen: Hat eine von euch zwei farbenfrohen Kreaturen tatsächlich vor, ein Buch zu kaufen? Denn ansonsten schließen wir jetzt.»

Pater Merrin reichte Mr. Rapscallion das Buch, in dem er gelesen hatte. Es trug den Titel Fazit eines Vampirs.

«Das hier klingt gut», sagte er. «Was meinen Sie?»

Mr. Rapscallion warf einen Blick darauf und zuckte die Schultern. «Kann sein.» Dann sah er zu Billy. «Was ist mit dir, Junge? Hast du etwas gefunden, was du lesen möchtest?»

«Oh, da sind massenhaft Bücher, die ich lesen möchte. Und als ich im Roten Zimmer war, habe ich einige Kapitel in einem Buch gelesen, bevor die Kerzen ausgegangen sind und ich Angst bekommen habe.» Billy sah etwas beschämt aus. «Aber um ehrlich zu sein, habe ich überhaupt kein Geld.»

«Kein Geld.» Mr. Rapscallion seufzte.

«Nein. Gar keins. Tut mir sehr leid.»

«Wunderbar», sagte Mr. Rapscallion. «Das ist genau das, was wir in einer Buchhandlung brauchen, die bereits kurz vor der Pleite steht. Einen Kunden, der kein Geld hat.»

«Normalerweise gehe ich in die öffentliche Bücherei von Hitchcock», erklärte Billy.

«Büchereien.» Mr. Rapscallion starrte Billy an und verzog das Gesicht. «Büchereien sind voll mit Leuten wie dir, die sich Bücher leihen, anstatt sie zu kaufen. Mit Geizhälsen, die offenbar glauben, dass Bücher einfach so auf Bäumen wachsen. Ich frage dich, was für eine Welt wäre das, wenn alle sich immer nur Sachen ausleihen würden? Stell dir vor, Menschen würden sich Autos oder Fahrräder oder Hühnersuppe oder Schmuck oder Handys borgen, anstatt sie zu kaufen. Dann wäre die Welt pleite. So ist das nämlich. Aber aus irgendeinem Grund scheinen die Leute zu glauben, es wäre in Ordnung, sich Bücher zu leihen. Und dann wundern wir uns, warum Buchhändler schließen müssen.» Er schüttelte den Kopf. «Ich hasse Büchereien.»

Pater Merrin und Billy folgten Mr. Rapscallion die geschwungene Treppe hinunter zur großen Registrierkasse neben dem Eingang.

«Aber was ist mit armen Leuten?», fragte Billy.

«Du sprichst mit armen Leuten», sagte Mr. Rapscallion. «Bitte mach nicht den Fehler zu glauben, dass man mit Bücherverkaufen Geld verdient, Kind. Denn so ist es nicht. Ich bin der lebende Beweis dafür.» Er lächelte langsam und schelmisch. «Nun, so gut wie lebend. Eigentlich kann man das hier kein Leben nennen.»

«Ich habe vielleicht kein Geld», sagte Billy. «Keinen Cent. Aber ich liebe Ihren Laden, Mr. Rapscallion. Wirklich, ich glaube, es ist der phantastischste, wunderbarste, beste Buchladen, den ich je gesehen habe.»

«Erzähl das nicht mir, mein Junge», sagte Mr. Rapscallion. «Erzähl das deinen Freunden.»

5. KapitelRexford Rapscallion hat noch mehr Überraschungen parat

Am nächsten Tag besuchte Billy wieder das Spukhaus der Bücher in der High Street von Hitchcock. Und am übernächsten Tag auch. Sowie am Tag darauf. Er kam, wenn das Geschäft öffnete. Und er war meistens noch da, wenn der Laden schloss. Er las eine Menge Bücher über Geister und Ghule. Und auch einige über Vampire und Voodoo.

Mr. Rapscallion schien sich nicht daran zu stören, dass Billy kein Buch kaufte. Zumindest sagte er nichts. Er war nicht besonders freundlich zu Billy. Aber er schickte ihn auch nicht weg. Nach ungefähr einer Woche schien Mr. Rapscallion Billys Anwesenheit einfach akzeptiert zu haben, denn eines Morgens nickte er dem Jungen zu und murmelte etwas, das sich ein bisschen wie eine Begrüßung anhörte. So etwas wie ein ‹Hallo›.

Später an diesem Morgen, als Mr. Rapscallion mit einem Rollwagen im Laden herumging und die staubigen Regale auffüllte, begegnete er Billy in der Abteilung für Spukschlösser und zwang sein schnauzbärtiges Gesicht zu einem Lächeln. Und dabei grunzte er in Billys Richtung.

«Wie geht es Ihnen heute, Mr. Rapscallion?», fragte Billy höflich.

Mr. Rapscallion nickte und zuckte die Schultern und seufzte ein bisschen, dann legte er den Kopf zur Seite und verzog das Gesicht. «Weiß nicht», sagte er. «Nicht schlecht, glaube ich. Ich meine, ging mir schon besser, glaube ich. So wie jeden Morgen, weißt du? Was soll ich dir sagen? Das Leben geht weiter, was?»

«Ja», sagte Billy. «Das tut es.»

Mr. Rapscallion sah aus, als hätte er Schmerzen. «Du machst mir irgendwie Sorgen, Junge, weißt du das? Ich meine, was machst du hier jeden Tag? Den ganzen Tag. Solltest du jetzt nicht in der Schule sein?»

«Es sind Sommerferien», erklärte Billy. «Die Schulen in Hitchcock sind für drei Monate geschlossen.»

«Drei Monate?», grunzte Mr. Rapscallion. «Das wusste ich nicht.»

«Geht Ihre Tochter nicht zur Schule?»

«Wer hat dir gesagt, dass ich eine Tochter habe?»

«Pater Merrin. Wie heißt sie?»

«Altaira», antwortete Mr. Rapscallion. «Der Name stammt aus einem alten Film, der Alarm im Weltall heißt. Es bedeutet ‹Stern›.»

«Das ist ein schöner Name», bemerkte Billy.

Mr. Rapscallion schnaubte. «Sie hasst ihn. Fast ebenso sehr, wie sie mich hasst. Sie nennt sich absichtlich anders, bloß um mich zu ärgern.» Er zuckte verlegen die Schultern. «Wir sind beide nur selten einer Meinung.»

«Wie nennt sie sich denn jetzt?»

«Geht dich nichts an.» Der Buchhändler schüttelte den Kopf. «Was würde ich darum geben, wieder in die Schule zu gehen. Ich kann mich noch nicht mal mehr an die Zeit erinnern, so lange ist das her. Weißt du, was? Es ist so lange her, dass ich dir nicht mal sagen könnte, ob ich gern zur Schule gegangen bin oder nicht. Bestimmt bin ich es, wenn ich drei Monate Sommerferien hatte. Wie kann man da nicht gern zur Schule gehen?»

«Für mich sind drei Monate zu lang», sagte Billy. «Man weiß nicht recht, was man die ganze Zeit mit sich anfangen soll.»

«Nun, wenn du nicht in der Schule bist, solltest du dann nicht draußen an der frischen Luft sein?», fragte Mr. Rapscallion. «Und das tun, was andere Kinder so in den Sommerferien tun – in ein Ferienlager fahren, die Wände mit Graffiti besprühen, Sport treiben, Autos knacken. Solche Sachen?» Er kniff die Augen zusammen. «Ich meine, sieh dich mal an. Du bist klapperdürr, hast eine Hühnerbrust, bleiche Wangen, Vitaminmangel und Schatten unter den Augen. Den ganzen Tag hier drinnen zu hocken, kann nicht gut für dich sein. Ehrlich gesagt, siehst du fürchterlich aus. Du könntest ein bisschen Sonne gebrauchen, Junge.»

«Ich fürchte, wir haben zu Hause kein Geld übrig für solche Sachen wie Ferienlager», gestand Billy. Er beschloss, die Bemerkung über das Autoknacken zu überhören. Er hatte in seinem ganzen Leben noch nie etwas gestohlen. «Ich muss das Beste daraus machen. Außerdem erhole ich mich immer noch von einem Unfall.»

«Wirklich?»

«Ja.» Und Billy erzählte Mr. Rapscallion alles über den Autounfall.

«Das tut mir leid», sagte der Buchhändler.

«Ist nicht schlimm. Ich denke gar nicht mehr viel daran. Ehrlich nicht. Und Ihr Laden hat mich wirklich aufgemuntert.»

«Das ist gut», sagte Mr. Rapscallion. «Es ist schön zu wissen, dass es wenigstens ein Kind in dieser elenden Stadt gibt, das Bücher gernhat.»

In diesem Moment schlug die große Standuhr in der Eingangshalle, und irgendwo anders im Haus erklang eine Kirchenorgel. Es war ein bewegender Klang, aber gleichzeitig auch unheimlich.

«Was ist das?», fragte Billy.

«Das klingt für mich nach Bachs Toccata und Fuge in d-Moll», sagte Mr. Rapscallion.

«Aber wo kommt das her?»

«Die Orgelmusik? Natürlich aus dem Keller.»

«Ich wusste nicht, dass es hier einen gibt», gestand Billy. «Einen Keller, meine ich.»

«Wie kann man nur so eingebildet sein», sagte Mr. Rapscallion. «Glaubst du wirklich, du würdest alle Geheimnisse des Spukhauses der Bücher kennen, nur weil du seit ein paar Tagen herkommst?»