Winterpferde - Philip Kerr - E-Book

Winterpferde E-Book

Philip Kerr

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Beschreibung

Es ist ein eisiger Winter 1941 auf Askania-Nowa, wo sich das jüdische Mädchen Kalinka versteckt hält. Hier auf dem alten Naturreservat leben auch die seltenen Przewalski-Pferde. Sie scheinen zu spüren, dass Kalinka eine von ihnen ist – denn wie Kalinka sind sie in großer Gefahr vor den Nazis, die Askania-Nowa besetzen. Mit Hilfe des treuen Tierwärters Max flieht Kalinka mit zwei Pferden und einem Wolfshund Hunderte von Kilometern über die weiße Steppe der Ukraine. Doch können ein Mädchen und drei Tiere der Übermacht der Deutschen entkommen? Spannend und stimmungsvoll erzählt Philip Kerr von der Flucht im ukrainischen Winter – aber auch davon, wie die Liebe zu den Pferden das erstarrte Herz eines einsamen Mädchens mitten im Krieg zu erwärmen vermag.

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Philip Kerr

Winterpferde

 

Aus dem Englischen von Christiane Steen

 

Über dieses Buch

 

 

Es ist ein eisiger Winter 1941 auf Askania-Nowa, wo sich das jüdische Mädchen Kalinka versteckt hält. Hier auf dem alten Naturreservat leben auch die seltenen Przewalski-Pferde. Sie scheinen zu spüren, dass Kalinka eine von ihnen ist – denn wie Kalinka sind sie in großer Gefahr vor den Nazis, die Askania-Nowa besetzen.

Mit Hilfe des treuen Tierwärters Max flieht Kalinka mit zwei Pferden und einem Wolfshund Hunderte von Kilometern über die weiße Steppe der Ukraine. Doch können ein Mädchen und drei Tiere der Übermacht der Deutschen entkommen?

 

Spannend und stimmungsvoll erzählt Philip Kerr von der Flucht im ukrainischen Winter – aber auch davon, wie die Liebe zu den Pferden das erstarrte Herz eines einsamen Mädchens mitten im Krieg zu erwärmen vermag.

 

 

Weitere Informationen finden Sie unter www.fischerverlage.de/kinderbuch-jugendbuch

Biografie

 

 

Philip Kerr ist vielfach ausgezeichneter Autor von über zwanzig Büchern, darunter die bekannte Kinderbuchreihe «Die Kinder des Dschinn». 2009 gewann er für seine Krimiserie für Erwachsene gleich mehrere wichtige internationale Preise. Philip Kerr lebte bis zu seinem Tod in London.

Inhalt

[Widmung]

Viele Teile dieser [...]

Es war im [...]

Max war nicht [...]

Die Zeit verging, [...]

Max war fast [...]

Auch die arme [...]

Am nächsten Tag [...]

In dieser Nacht [...]

Der Hunger war [...]

Max zündete sich [...]

Am nächsten Morgen [...]

Der alte Mann [...]

Kalinka wickelte sich [...]

Die Männer des [...]

Als Kalinka noch [...]

Selbst in ihrem [...]

In dieser Nacht [...]

Noch eine Stunde [...]

Hauptmann Grenzmann betrachtete [...]

Sie kamen gut [...]

Hauptmann Grenzmann lieh [...]

Endlich näherten sie [...]

Die Dinge liefen [...]

In dem Lichtschein [...]

Temüdschin war kaum [...]

Unteroffizier Hagen stieg [...]

Als Kalinka das [...]

Der Streitwagen war [...]

Sie galoppierten kilometerweit [...]

Joachim Stammer war [...]

Die erste Artilleriebombe [...]

Unter ständiger Bombardierung [...]

Es war kurz [...]

Nachwort des Autors

Dieses Buch ist Naomi Kerr gewidmet.

Viele Teile dieser alten Geschichte wurden zusammengesetzt wie die Scherben einer kaputten Vase. Die Stücke passen nicht immer so gut ineinander, wie man es sich wünschen würde, und es ist durchaus möglich, dass einige von ihnen überhaupt nicht hierhergehören. Man kann nicht abstreiten, dass die Geschichte viele Lücken hat und einer genaueren Überprüfung nicht standhalten würde. Die Historiker würden ihr widersprechen – wie sie es wohl immer tun – und behaupten, es gäbe keine Beweise dafür, dass der alte Mann und das Mädchen – die Helden dieser Geschichte – wirklich gelebt hätten. Doch wenn man heute in der Ukraine ist und es wagt, das Ohr in den Wind zu halten oder sogar einen Spaziergang über die Steppe zu machen, und wenn man dann den tiefen Stimmen der Bisons lauscht, dem Ruf der Kraniche oder dem Lachen der Przewalski-Pferde, dann würde man doch spüren, dass die Tiere sich in der Wahrheit niemals irren können; und selbst wenn einige Teile dieser Geschichte nicht ganz genau so gewesen sind, dann hätten sie doch genau so sein können, und das ist viel wichtiger. Die Tiere würden sagen: Wenn es eine Wahrheit gibt, die größer ist als alle anderen, dann ist es die, dass historische Fakten manchmal hinter der Legende zurücktreten müssen.

Es war im Sommer 1941, als die gesamte Belegschaft des Staatlichen Naturreservats der Ukrainisch-Sozialistischen Sowjetrepublik die Flucht ergriff. Bevor ihr oberster Leiter, Boris Demianowitsch Krajnik, in seiner schwarz glänzenden Limousine davonfuhr, hatte er Maxim Borisowitsch Melnik, der für die Tiere des Reservats zuständig war, ebenfalls die Flucht befohlen.

«Die Deutschen kommen», hatte er Max erklärt. «Ihre Armeen haben die Sowjetunion ohne jede Vorwarnung angegriffen. Kiew ist bereits eingenommen, und bald werden sie hier sein. Vielleicht schon nächste Woche.»

Während er mit Maxim Borisowitsch Melnik sprach, räumte Krajnik seinen Schreibtisch und packte seine Taschen. Dann machte er sich bereit zu gehen.

«Aber ich dachte, die Deutschen wären unsere Verbündeten», sagte Max, denn seit 1919 hatte sich in der Ukraine viel verändert.

«Das waren sie mal. Aber jetzt nicht mehr, verstehst du das nicht? Das ist Politik. Bestimmt haben sie es auf die Ölfelder der Krim abgesehen. Um ihre Kriegsmaschinerie zu bedienen. Pass auf, Maxim Borisowitsch, du brauchst nur eins zu wissen: Die Deutschen sind Faschisten, und wenn sie hierherkommen, werden sie dich töten. Natürlich wird unsere eigene Rote Armee sie bald besiegen, aber bis es so weit ist, solltest du das Reservat verlassen.»

«Aber wo soll ich hingehen?», wollte Max von Krajnik wissen.

«Das ist dein Problem, Kamerad. Aber ich rate dir, nach Osten zu gehen, in Richtung unserer eigenen Armee. So schnell du nur kannst. Doch bevor du gehst, erteile ich dir noch einen wichtigen Befehl. Sehr wichtig. Er kommt vom Zentralkomitee.»

Max wunderte sich darüber, dass das Zentralkomitee der Kommunistischen Partei überhaupt von seiner Existenz wusste, ganz zu schweigen davon, dass sie ihm einen wichtigen Befehl gab. Bei dieser Vorstellung musste er lächeln.

«Ein Befehl für mich? Und wie lautet er, Kamerad?»

«Das Komitee befiehlt dir, alle Tiere im Reservat zu töten.»

«Du machst Witze, Boris Demianowitsch. Oder vielleicht macht das Komitee Witze.»

«Das Zentralkomitee macht keine Witze, Maxim Borisowitsch.»

Das Lächeln verschwand ebenso schnell aus Max’ bärtigem Gesicht, wie es gekommen war. Nachdenklich rieb er sich das Genick – es schien immer ein wenig zu schmerzen, wenn das Gespräch darauf kam, ein Tier zu töten.

«Ich soll alle unsere Tiere töten, sagst du?»

«Alle.»

«Was – die Zebras auch? Die Pfaue? Und die Lamas?»

«Ja, Kamerad.»

«Auch die Przewalski-Perde?»

«Auch die Pferde.»

«Um Gottes willen, warum?»

«Damit sie nicht in die Hände der Feinde gelangen, natürlich. In diesem Reservat spaziert genug Fleisch herum, um eine kleine Armee zu versorgen. Wild, Ziegen, Bisons, Pferde, Hühner … sie müssen alle erschossen werden. Ich würde dir ja helfen, aber – ich habe selbst wichtige Befehle zu befolgen. Ich werde dringend in Charkiw erwartet. Darum muss ich heute gehen. Jetzt. Sobald wir unser Gespräch beendet haben.»

«Aber ich kann unsere Tiere nicht töten, Kamerad», sagte Max. «Einige von ihnen sind sehr selten. So selten, dass sie vom Aussterben bedroht sind. Und nicht nur das – einige von ihnen sind meine Freunde.»

«Das ist sentimentaler Quatsch. Wir befinden uns im Krieg, verstehst du das nicht? Und unsere Leute sind es, die vom Aussterben bedroht sind. Die Deutschen wollen unser Land besetzen und uns alle ausrotten, damit sie hier leben können. Also, wenn ich zurückkomme und feststelle, dass du meine Befehle nicht ausgeführt hast, dann rufe ich die Geheimpolizei und lasse dich erschießen. Du hast ein Gewehr. Also benutz es.»

«Jawohl», sagte Max, obwohl er ganz offensichtlich nicht die Absicht hatte, irgendein Tier zu töten; außerdem bezweifelte er sehr, dass Boris Demianowitsch Krajnik so bald wiederkommen würde. «Es gefällt mir nicht, aber ich tue, was du mir sagst, Kamerad.»

«Mir gefällt es auch nicht, Maxim Borisowitsch, aber wir kämpfen hier um unser Vaterland. Wir kämpfen ums nackte Überleben. Entweder die Deutschen oder wir. Und nach dem, was ich so gehört habe, haben sie in Polen schon ein paar schreckliche Dinge angestellt. Du tust also gut daran, dich vor ihnen zu fürchten.»

Und mit diesen Worten fuhr Krajnik so schnell er konnte davon.

Max verließ das Haus und ging zurück in seine einfache Hütte am Rande der Steppe.

Das Reservat, über das er nun die alleinige Aufsicht hatte, war ein entlegener, verzauberter Ort mit einem Zoo und einer offenen Steppe, die mehr als dreihundert Quadratkilometer umfasste. Es war eine wilde, öde wirkende Region mit offenem baumlosem Weideland, abgesehen von Abschnitten mit dichten Wäldern, die sich in der Nähe von Flüssen und Seen befanden. Die Steppe ist dafür bekannt, dass sie so kahl ist wie die Handfläche eines Menschen; dass es hier im Winter vor Wind und Kälte nicht auszuhalten ist und im Sommer vor Hitze. Doch in Wahrheit ist das Wetter viel unberechenbarer.

Max glaubte nicht, dass er Krajnik sehr vermissen würde. Einer der Gründe, weshalb der alte Mann das Reservat so sehr liebte, war, dass man nur selten Menschen wie Krajnik begegnete: Es gab nur sechs kleine Dörfer im Reservat, und die nächste Stadt, Mykolajiw, lag über drei Stunden mit dem Auto entfernt. Max gefiel das, schließlich war es der Sinn eines Naturreservats, den Tieren Schutz vor den Menschen zu gewähren, einen Platz zu geben, wo sie leben konnten, ohne arbeiten zu müssen oder gejagt zu werden. Und trotz allem, was Krajnik über die Deutschen gesagt hatte, hoffte der alte Mann, dass sie besser waren als die ukrainische Sowjetregierung. Und er glaubte nicht, dass seine Hoffnung unbegründet war.

Denn schließlich war es ein Deutscher gewesen, kein Ukrainer oder Russe, der die Tiere so geliebt hatte, dass er das Reservat in Askania-Nowa gegründet hatte. Derselbe Deutsche – Baron Falz-Fein – war außerdem der einzige Mensch gewesen, der zu Max je wirklich freundlich gewesen war. Max’ Bild von den Deutschen auf Askania-Nowa ließ ihn glauben, dass er mit ihnen würde reden können, falls sie wirklich hier auftauchten und versuchten, die Tiere zu töten. Immerhin sprach er Deutsch, auch wenn es schon viele Jahre her war, seit er es gebraucht hatte. Und als Krajnik aus Askania-Nowa abfuhr, tötete Max kein Tier, sondern kehrte stattdessen in seine Hütte zurück und suchte nach dem deutschen Wörterbuch und der Grammatik, die ihm der Baron vor über vierzig Jahren zu seinem Geburtstag geschenkt hatte. Und da er nur ein kleines Regal besaß, auf dem die Bibel stand, ein langes Gedicht namens Eugen Onegin und Die hypermoderne Schachpartie von Savielly Tartakower, fand er die Bücher schnell und begann, seine Erinnerung an die deutsche Sprache aufzufrischen.

 

Es dauerte noch zwei Wochen, bevor die deutsche SS in Lastwagen und auf Motorrädern heranfuhr und das Haupthaus in Beschlag nahm. Die Männer schienen in sehr guter Stimmung zu sein und benahmen sich höflich, als Max sich einem der Wachmänner vorstellte und darum bat, den befehlshabenden Offizier zu sprechen. Trotz des Totenschädels und der gekreuzten Knochen auf ihren Mützen und Helmen hatte Max keine Angst vor ihnen. Sie führten ihn in das ehemalige Arbeitszimmer des Barons, wo Max sich die Mütze vom Kopf riss und sich einem Hauptmann Grenzmann vorstellte. Er kramte sein Deutsch hervor und erklärte dem Hauptmann, dass das Naturreservat Askania-Nowa von einem deutschen Baron namens Ferdinand von Anhalt-Köthen gegründet worden und später an den Baron Fein verkauft worden war, für dessen Urenkel, Friedrich Falz-Fein, Max gearbeitet hatte. Der Hauptmann hörte geduldig zu und machte deutlich, dass ihn die Geschichte von Maxim Borisowitsch faszinierte.

«War es Baron Falz-Fein, der dir Deutsch beigebracht hat?», fragte er Max.

«Ja, Herr Hauptmann.»

«Das dachte ich mir.»

«Tatsächlich war es genau hier, wo er es mir beibrachte. Ich bin seit zwanzig Jahren nicht mehr in diesem Zimmer gewesen.»

Der Hauptmann lächelte. «Ich möchte nicht unhöflich sein – Max, nicht wahr?»

Max nickte.

«Aber du musst zugeben, dass dein Deutsch ein wenig merkwürdig klingt. Aristokratisch. Wenn man dich so ansieht, ist das schon amüsant. Nimm es mir nicht übel, aber es klingt so wie der Schwan, der aus dem hässlichen Entlein spricht.»

«So habe ich es noch nicht betrachtet, Herr Hauptmann.»

«Was ist mit ihm passiert? Mit dem Baron und seiner Familie?»

«Ich glaube, der Baron lebt mit seiner Familie in Deutschland, Herr Hauptmann. Aber die alte Baronin wurde von der Roten Armee getötet. Und ich wurde eingesperrt und gefoltert, weil ich für sie gearbeitet habe.»

«Und darum bist du wohl auch nicht von hier geflohen. Weil du wusstest, dass du von den Deutschen nichts zu befürchten hast.»

«Ja, Herr Hauptmann.»

«Und was tust du hier auf dem Gelände?»

«Ich bin eine Art Zoowärter, Herr. Nur dass es keine Käfige oder Gehege gibt – zumindest nicht für die meisten Tiere. Wir halten ein oder zwei in Gehegen, wenn wir wollen, dass sie sich vermehren. Aber die meisten Tiere laufen hier so frei herum, wie die Natur es vorgesehen hat.»

Hauptmann Grenzmann stand auf und ging zu einer gerahmten Landkarte des Reservats, die an der Wand des Arbeitszimmers hing.

«Zeig es mir.»

Max deutete auf die wichtigsten Merkmale des Reservats und versuchte, sich beim Hauptmann beliebt zu machen, und sei es nur zum Wohl der Tiere von Askania-Nowa.

«Nun, ich danke dir, Max. Du hast mir sehr geholfen. Nicht, dass es dich irgendwas angeht, aber wir werden wohl eine Weile hierbleiben, denke ich. Meine Männer sind müde und brauchen dringend Ruhe.»

«Dann sind Sie hier genau richtig, Herr Hauptmann. Hier kann man sich sehr gut erholen.»

«Das höre ich gern, Max. Weißt du, wir sind seit Juni ohne Pause unterwegs. Unsere Arbeit war eine große Herausforderung. Aber diese Art von Rückzugsort ist mehr nach unserem Geschmack. Sag mal, diese drei Pferde im Stall – sind das Hannoveraner?

«Ja, Herr.»

«Schöne Tiere.»

«Sie kennen sich mit Pferden aus. Petrenko, der Parteivorsitzende des Ortes, ist oft mit seiner Tochter hergekommen. Ich war sein Reitknecht. Und habe mich für sie um das Sattelzeug gekümmert.»

«Vielleicht würdest du dasselbe für mich tun?»

«Wann immer Sie möchten. Reiten Sie gern, Herr Hauptmann?»

Der Hauptmann gestattete sich ein kleines Lächeln. «Das kann man wohl sagen. Ich gehörte 1936 zum deutschen Olympiateam.»

«Das ist wundervoll, Herr Hauptmann. Sie müssen ein exzellenter Reiter sein.»

«Ja, das bin ich. Leider nicht gut genug, um allein zu gewinnen. Trotzdem holte Deutschland alle sechs Goldmedaillen, weißt du? Sechs Goldmedaillen und eine Silbermedaille.»

«Das überrascht mich nicht, Herr Hauptmann, nach allem, was ich über die Deutschen und ihre Pferde weiß. Niemand liebte Pferde mehr als der Baron. Es wird beinahe so sein wie in alten Zeiten, wenn ein Deutscher wieder durch Askania-Nowa reitet. Ein richtiger Reiter und Pferdekenner. Das ist großartig, Herr Hauptmann.»

«Ich bin froh, dass du das sagst.»

«Wissen Sie, dass es der Baron war, der die Przewalski-Pferde hergebracht hat?»

«Diese Przewalskis sind doch diese prähistorischen Pferde, oder? Die die primitiven Steinzeitmenschen an die Wände ihrer Höhlen gemalt haben.»

Max nickte.

«Ich glaube, ich habe als Kind ein paar dieser Pferde im Berliner Zoo gesehen», sagte Hauptmann Grenzmann. «Es waren etwa sechs.»

Max nickte begeistert. «Ja, ich erinnere mich an sie. Wir haben einen Hengst und eine Stute nach Berlin verkauft. Sie konnten sehr erfolgreich mit ihnen züchten. Ich wusste nur von vier Przewalski-Pferden in Berlin.»

«Du scheinst eine Menge darüber zu wissen, Max.»

Der alte Mann zuckte die Schultern. «Ich habe bei der Zucht geholfen. Erst unter dem Baron. Und dann unter der Leitung des Staatlichen Steppenreservats. Die Pferde sind sehr selten, wissen Sie. Vielleicht die seltensten Pferde der Welt.»

Hauptmann Grenzmann lachte. «Vielleicht. Nimm es mir nicht übel, aber ich glaube, sie sind aus einem guten Grund selten.»

«Das stimmt. Sie wurden so lange gejagt, dass sie fast ausgestorben sind. Wie der Riesenalk. Und sie sind schwer zu fangen.»

«Das ist nicht der Grund, den ich meinte.»

«Nein, Herr Hauptmann?»

«Nein. Ich glaube eher, sie sind beinahe ausgestorben, weil die Natur es so will. Das ist das Gesetz des Stärkeren. Hast du davon schon mal gehört? Charles Darwin erklärt uns damit die natürliche Auslese. Im Existenzkampf sind manche Arten und eben auch manche Rassen einfach stärker als andere. Also überleben die Starken, und die Schwachen verschwinden. So einfach ist das.»

«Oh, die Przewalskis sind stark, Herr Hauptmann. Es gibt keine stärkeren Pferde. Und sie sind auch klug. Findig. Sogar gerissen.»

«Gerissen, sagst du?»

«Schlau wie ein Fuchs, Herr. Zu schlau, um gezähmt zu werden. Ich nehme an, darum mag ich sie so sehr.»

«Das ist ein interessanter Vergleich. Aber du kannst nicht abstreiten, dass sie sehr hässlich sind. Und ganz sicher sind sie diesen herrlichen Hannoveranern unterlegen.»

Max wollte dem Hauptmann schon widersprechen, doch Grenzmann lächelte und hob die Hand. «Nein, Max, bitte sag nichts mehr. Ich sehe schon, wir könnten den ganzen Tag hierblieben und über Pferde sprechen, aber ich habe noch eine Menge Papierkram zu erledigen. Berichte für meine Vorgesetzten in Berlin über die Erfolge meiner Spezialtruppe in den letzten Wochen. Wenn du mich also entschuldigen würdest, ich muss jetzt arbeiten.»

«Soll ich morgen früh den großen Hengst für Sie satteln? Sein Name ist Molnija.»

«Ja, tu das. Ich freue mich darauf.»

Max war nicht der einzige Mensch auf Askania-Nowa, der ein Herz für die wilden Przewalski-Pferde besaß. Seit einiger Zeit versteckte sich ein Mädchen im Wald am Rande der Steppe. Wie viele Mädchen hatte es Pferde schon immer geliebt, doch das erklärte nicht, warum die wilden Przewalski-Pferde Freundschaft mit ihm geschlossen hatten. Und es war gut so, dass sie es getan hatten, da das Mädchen keine menschlichen Freunde besaß. Ihre Familie war tot, und die wenigen Menschen, die in den verstreuten Dörfern der Region wohnten, hatten sie weggescheucht, sobald sie an ihrer Tür auftauchte, denn sie hatten Angst – Angst davor, dass das Mädchen von den Deutschen gefangen genommen werden würde und sie gleich mit. Das Mädchen verstand die Menschen und machte ihnen keinen Vorwurf daraus; sie verzieh ihnen und sagte sich, dass sie vermutlich ebenso gehandelt hätte. Obwohl das, wie diese Geschichte zeigen wird, nicht stimmte.

Das Mädchen hieß Kalinka. Ihr Vater hatte große Wladimirer Kaltblutpferde besessen, die er für seine Arbeit vor die Kutschen spannte, und sie hatte sich auch mit ihnen befreundet. Doch ihre Verbindung zu den wilden Pferden auf Askania-Nowa – deren Namen ‹Przewalski› sie nicht wusste – war eine andere. Sie nahm an, dass es etwas mit der Intelligenz und Neugierde der Pferde zu tun hatte. Die Tiere waren ungewöhnlich klug und besaßen eine beinahe kindliche Verspieltheit, die sie noch nie bei Pferden gesehen hatte. Und vielleicht erkannten sie – da sie selbst Ausgestoßene waren – etwas Ähnliches in Kalinka; zumindest stellte sie sich das so vor. Das menschliche Herz ist ein seltsames Ding, doch das gilt auch für Pferde und ganz besonders für Wildpferde.

Kalinka war eines frühen Morgens aufgewacht, nachdem sie die Nacht, eingewickelt in eine zerrissene Decke, unter einem Moosbeerenbusch verbracht hatte, weil eines der Pferde – eine Stute – über ihr stand. Instinktiv hatte Kalinka gewusst, dass das Pferd trotz seiner Wildheit mit ihr Freundschaft schließen wollte.

«Hallo», sagte sie. «Wie geht es dir? Möchtest du die Moosbeeren fressen? Bedien dich ruhig, ich hatte schon mehr als genug davon. Vermutlich sogar zu viele.»

Kalinka stand auf, strich dem Pferd über die Nüstern und ließ es an ihr schnuppern. Sie wusste, dass Pferde beinahe alles, was sie über einen Menschen wissen müssen, an seinem Geruch erkennen. Bei diesem Gedanken runzelte sie die Stirn, denn ihr fiel ein, dass sie sich seit längerem nicht gewaschen hatte.

«Vielleicht hast du deshalb keine Angst vor mir», sagte sie und streichelte dem Pferd über die Blesse. «Weil ich genauso rieche wie du – nach einer Ausgestoßenen. Vielleicht liegt es bloß an der Seife und der Zivilisation, weshalb Tiere den Menschen misstrauen.»

Als ihr Magen laut knurrte, verzog sie das Gesicht.

«Tut mir leid», sagte sie. «Diese Moosbeeren sind lecker, aber wenn man so hungrig ist wie ich, halten sie nicht lange vor.»

Die Stute nickte, als würde sie Kalinka verstehen.

«Du weißt wohl nicht zufällig, wo ich hier in der Nähe etwas zu essen finde, oder?»

Die Stute nickte wieder, drehte sich um und sah dann zurück, als wollte sie Kalinka dazu auffordern, ihr zu folgen. Dann ging sie weiter und führte sie etwa einen oder zwei Kilometer bis zu einer blau angestrichenen Hütte, die neben einem kleinen See stand. Die Stute witterte sorgfältig, als prüfe sie, ob die Luft rein war, dann schnaubte sie. Kalinka nahm das als Zeichen, dass sie sich der Hütte nähern durfte.

Die Vordertür war nicht verschlossen, und Kalinka ging schnell hinein und sah sich in dem ordentlichen Raum um.

«Es ist schön hier», sagte sie. Besonders gefiel ihr ein hübsch gerahmtes Ölbild, das gegen eine der hölzernen Wände lehnte. Es zeigte die Veranda eines großen weißen Hauses mit hübschen Gartenmöbeln und Blumenbeeten und einer wunderschönen Dame in einem langen weißen Kleid. Es erinnerte Kalinka an längst vergangene Sommer und – wie sie hoffte – an zukünftige.

«Ich tue das wirklich nicht gern», sagte sie, als sie etwas Brot und Käse für sich nahm und einen Apfel für die Stute. «Aber verhungern tue ich noch weniger gern.»

Nachdem sie wieder aus dem Haus getreten war, kehrten sie beide in den Schutz des Waldes zurück und aßen das Essen, das Kalinka aus der blauen Hütte gestohlen hatte. Bisher hatte sie immer nur von den Deutschen gestohlen, was sich – wenn man bedachte, dass diese von allen anderen stahlen – nicht ganz so falsch anfühlte. Aber es war sehr gefährlich, und Kalinka wusste genau, was mit ihr geschehen würde, wenn sie je erwischt würde.

Später führte die Stute Kalinka zu den anderen Wildpferden, und sie verbrachte die Nacht zwischen den warmen Körpern der Stute und ihres Hengsts, als wäre sie ihr Fohlen.

«So gut habe ich nicht mehr geschlafen, seit ich von zu Hause weg bin», sagte sie am nächsten Morgen. «Ich bin euch wirklich dankbar. Mein alter Mantel und meine Decke werden langsam schlissig, fürchte ich. Der Wind bläst direkt durch die Löcher hindurch.»

Der Hengst schien sich nicht weiter dafür zu interessieren, was Kalinka sagte, drehte sich um und galoppierte davon. Doch die Stute blieb. Und weil Kalinka keinen Ort hatte, an den sie gehen konnte, beschloss sie, noch einen Tag länger in der Gesellschaft der Pferde zu verbringen.

Aus einem Tag wurde eine Woche, dann zwei.

Die Wildpferde mischten sich nicht unter die anderen Tiere auf Askania-Nowa, und nachdem Kalinka eine Zeit bei ihnen verbracht hatte, merkte sie, dass sie sich sehr von den Pferden unterschieden, die sie kannte. Als sie sah, wie eines der Wildpferde einem Stock hinterherlief, den sie geworfen hatte, und ihn genau wie ein Hund zurückbrachte, konnte sie es nicht fassen. Die Pferde liebten es, Verstecken zu spielen und Kalinka zu necken: Sie hätte nicht sagen können, wie oft sie ihr die Mütze vom Kopf geschnappt hatten und damit davongelaufen waren oder wie oft sie ihr ein Taschentuch aus der Tasche gezogen hatten, und das mit einer Geschicklichkeit, auf die ein Dieb stolz gewesen wäre. In den seltenen Momenten, wenn Kalinka im Gebüsch oder hinter einem Baum allein sein wollte, tauchte oft plötzlich ein Pferd auf und spielte Kuckuck. In diesen Momenten war Kalinka davon überzeugt, dass die Wildpferde von Askania-Nowa die Fähigkeit besaßen zu lachen. Ganz im Gegensatz zu ihr selbst. Sie lächelte selten und lachte niemals. Nach allem, was sie durchgemacht hatte, schien es ihr, als würde sie nie wieder lachen können.

Besonders auffällig war, wie vielseitig die Pferde sich ausdrückten. Der Leithengst beherrschte verschiedene Grundgeräusche – leises und lautes Wiehern, Schnauben und Schreien –, die er vielfach variieren konnte. Nach einiger Zeit fand Kalinka heraus, dass die Pferde mindestens sechs verschiedene Arten des Schnaubens beherrschten, und schon bald erkannte sie, dass die Pferde auf einem ziemlich gehobenen Niveau miteinander kommunizierten. Auf diese Weise funktionierte die kleine Herde wie ein Rudel Hunde. Manchmal schickte der Leithengst ein paar Späherpferde los, die nach besserem Gras Ausschau halten sollten, und er warnte den Rest der Herde, wenn seine Nase ihm sagte, dass Wölfe in der Nähe waren – auch wenn diese Wölfe es gar nicht erst wagten, die Pferde anzugreifen. Diese konnten nämlich sehr aggressiv sein, wie Kalinka feststellen musste. Sie selbst war schon bei einigen Gelegenheiten schmerzhaft in den Hintern gebissen worden. Sie verstand, dass es als Spaß gemeint war, auch wenn sie es nicht besonders komisch fand. Manchmal war sie sogar getreten worden.

Kalinka merkte bald, dass diese Wildpferde überaus listig waren. Sie konnten Gatter öffnen, Essen stehlen, rivalisierende Zebras überfallen und sogar zählen. Außerdem waren sie extrem schnell. Sie besaßen einen hervorragenden Geruchssinn und konnten phantastisch hören und sehen – viel besser als die Pferde ihres Vaters und vielleicht so gut wie ein Wolf.

Allerdings waren sie ein wenig komisch anzusehen. Die Stute, die sich zuerst mit Kalinka angefreundet hatte, war gerade mal eineinhalb Meter hoch und hatte einen dicken, kurzen Hals und einen durchhängenden Bauch. Der Kopf und der gebogene, beinahe halbrunde Hals waren dunkler als der Pferdekörper, und von der stehenden Bürstenmähne lief ein Streifen über den breiten Rücken bis zum Schweif. Sie besaßen auch keinen Stirnschopf. Ihre Nüstern waren hell und die kräftigen Beine gestreift wie die eines Zebras, doch der größte Unterschied zu den Pferden, die Kalinka kannte, war ihr kurzhaariger, beinahe buschiger Schweif, der eher dem Schwanz eines Fuchses oder Zobels glich. Kalinka gelangte bald zu der Meinung, dass dieser seltsam buschige Schweif ein Beweis für die Klugheit dieser Wildpferde war.

Die Zeit verging, doch die Deutschen blieben, und wie jeder andere lernte auch Maxim Borisowitsch Melnik, sie zu fürchten. Sie schossen viele Hirsche auf dem Gelände, Ziegen, Enten und Gänse – sogar einige der Lamas und Kamele – und aßen sie auf. Doch das war nicht der Grund, warum Max die Soldaten fürchten lernte. Er fürchtete sich vor den Deutschen, weil sie hin und wieder Befehle zu «polizeilichen Sondereinsätzen» erhielten, woraufhin eine Gruppe von ihnen mit grimmigen Gesichtern aus Askania-Nowa abfuhr und ein paar Tage darauf sturzbetrunken zurückkehrte, mit wildem Blick in den blauen Augen, manchmal hysterisch lachend und zitternd vor Adrenalin, ihre Waffen immer noch warm und blutbefleckt.

Bei den seltenen Gelegenheiten, wenn Max in eines der Dörfer ging und mit den Bauern sprach, die dort lebten – und die sich in diesen Tagen mehr vor den Deutschen fürchteten als vor dem sowjetischen Ministerium für Staatssicherheit, dem schrecklichen NKWD, und deshalb nicht mehr wagten, Max aus dem Weg zu gehen –, hörte er von den unaussprechlichen Dingen, die der SS-Kommandant und seine Männer angerichtet hatten. Tausende von Menschen waren ermordet und in Massengräbern verscharrt sowie ganze Städte in Brand gesetzt worden, und Max schauderte bei dem Gedanken, dass er wieder nach Askania-Nowa zurückkehren und in der Nähe solch unmenschlicher Monster leben musste.

Die Dorfbewohner drängten Max, von Askania-Nowa zu fliehen, doch aus Sorge um die Tiere kehrte er immer wieder zurück. Max war es auch, der den Soldaten die schwächsten Tiere unter den Hirschen und dem Federvieh zeigte, damit sie sie für ihren Kochtopf schießen konnten. Was die Lamas betraf, so hatte er sie nie besonders gemocht. Lamas spuckten. Es ist eine Sache, von einem Tier gebissen zu werden, aber etwas vollkommen anderes, angespuckt zu werden. Max hatte sich nie daran gewöhnen können, ebenso wenig wie er sich an den Gedanken gewöhnen konnte, dass Hauptmann Grenzmann seinen Männern erlaubte, solche unsäglichen Barbareien zu begehen, wo er doch selbst ein feiner Mann zu sein schien. Er war nicht nur ein Hauptmann und ein Olympiareiter, sondern besaß zudem noch künstlerisches Talent. Seine Federzeichnungen von den Hannoveranern in den Ställen gehörten zu den besten Pferdebildern, die Max je gesehen hatte. Seltsamerweise waren die Hannoveraner die einzigen Objekte, die Grenzmann zeichnete. Eines Morgens, als Max dem Hauptmann beim Aufsteigen auf Molnija half, sammelte er allen Mut zusammen und fragte ihn danach.

«Warum zeichnen Sie nicht einmal eines unserer anderen Tiere, Herr Hauptmann?», fragte er. «Die Europäischen Bisons sind sehr interessant, finde ich. Oder vielleicht die Przewalski-Pferde. Ich würde nur zu gern sehen, was ein so fähiger Künstler wie Sie daraus machen würde.»

Grenzmann sah Max mit vernichtendem Blick an, der noch vernichtender wirkte, weil der Hauptmann von einem so großen Pferd wie Molnija herunterblickte.

«Ich bin nicht im Geringsten an irgendeinem anderen Tier interessiert», erklärte er Max. «Ganz besonders nicht an deinen Unterpferden. Tatsächlich überlege ich noch, was wir mit diesen schlitzäugigen Bastarden anstellen sollen. Bevor wir gehen.»

«Sie gehen, Herr Hauptmann?»

«Das müssen wir wohl bald. Der Krieg in diesem Teil der Welt läuft nicht gut für uns. Eure Rote Armee ist nur noch hundert Kilometer von hier entfernt. Und wir riskieren, eingekesselt zu werden, wenn wir hierbleiben. Vermutlich müssen wir uns nach Kiew zurückziehen.»

Max musste sich anstrengen, um seine Freude über diese Nachricht zu verbergen.

Kurz nach dieser Unterhaltung schenkte Grenzmann Max eine seiner besseren Zeichnungen, und jedes Mal, wenn der alte Mann sie betrachtete, wunderte er sich darüber, dass ein Künstler von solch großer Feinfühligkeit in der Lage war, solch diabolische Grausamkeiten zu begehen. Vor allem aber machte er sich Sorgen darüber, was der Hauptmann damit gemeint hatte, als er davon sprach, etwas mit den Przewalski-Pferden «anzustellen».

Der Schnee kam früh in diesem Jahr und überzog das Land mit seiner eisigen Stille. Alle Seen froren zu und färbten sich in unterschiedlichen Farben: Einer war grün, der andere violett, einer silbern – doch der größte See war schwarz und sein Eis so dick und hart wie Roheisen, und sobald Max mit Hammer und Meißel zum dunklen Wasser durchgedrungen war, fror es sogleich wieder zu. Die endlose Steppe war mit einem makellosen weißen Tuch aus dickem Schnee bedeckt und spiegelte den azurblauen Himmel wie ein versteinertes Meer, auf dem kein Schiff segelte. Fichten- und Birkenwälder überzogen sich mit Silber wie Max’ Bart, und alles – vor allem Max selbst – schien den frostigen Atem anzuhalten. Der alte Mann spürte, dass irgendetwas Schlimmes auf Askania-Nowa geschehen würde und dass es an ihm lag, es irgendwie zu verhindern; doch er war nur ein Mann gegen viele. Er konnte zwar gut mit einem Gewehr umgehen, doch gegen ein ganzes Bataillon von deutschen Soldaten würde er nichts ausrichten können. Also hoffte und betete er, und währenddessen buckelte und kratzte er vor dem gut aussehenden jungen Hauptmann und sattelte ihm jeden Morgen den großen Hengst.

Max musste zugeben, dass der Deutsche ein exzellenter Reiter war. Auf dem Pferderücken war der Hauptmann ein anderer Mensch: Er war geduldig und verständnisvoll und im Sattel entspannt genug, um das Beste aus dem Pferd herauszuholen. Es war klar zu erkennen, warum er für die olympische Mannschaft ausgewählt worden war. Wenn man ihm beim Reiten zusah, erkannte man das perfekte Zusammenspiel von Mensch und Tier. Manchmal legte Grenzmann sein Gesicht an Molnijas Nase und sprach mit ihm, als wäre er sein Liebhaber, und er brachte dem Pferd immer eine kleine Belohnung mit – einen Apfel, eine Mohrrübe oder ein paar Zuckerwürfel.

 

Eines Tages im Dezember sagte Grenzmann beim Aufsteigen zu Max: «Molnija, bedeutet das irgendetwas, Max? Oder ist es bloß ein Name wie Boris oder Iwan?»

«Es bedeutet ‹Blitz›, Herr.»

Das schien den Hauptmann zu freuen, denn er lächelte und tätschelte Molnijas Hals.

«Wie passend», sagte er, und als Max ihn verwirrt ansah, nahm er das Abzeichen am Kragen seines Mantels zwischen die Finger und beugte sich zu dem alten Mann hinunter.

«Bist du denn ebenso blind wie dumm?», sagte er. «Sieh dir das SS-Abzeichen an: Es gleicht einem Doppelblitz. Ich wünschte, ich hätte seinen Namen vorher gewusst. Wirklich, Max, es war sehr nachlässig von dir, ihn mir erst jetzt zu sagen. Ich hätte Lust, dich dafür erschießen zu lassen.»

Instinktiv ließ Max die Zügel los, riss sich die Mütze vom Kopf und verbeugte sich mit ernster Miene.

«Es tut mir leid, Herr Hauptmann», sagte er. «Wirklich, es tut mir leid. Sie haben recht, ich hätte es Ihnen sagen sollen.»

Doch der Hauptmann lachte. «Ich habe nur Spaß gemacht, Max», sagte er. «Jetzt lächle wieder. Sei nicht so griesgrämig.»

«Oh, ich verstehe», sagte Max. Er versuchte zu lächeln, doch er konnte nur seine Zähne zeigen, die schief und gelb waren, und das große Pferd wich vor dem alten Mann zurück, als fürchte es, gebissen zu werden.

«Ruhig, Junge», sagte der Hauptmann und zog den Gurt fester. «Ruhig, Molnija.» Er missdeutete die Nervosität des Pferdes und fügte hinzu: «Ich hätte ihn nicht wirklich erschossen. Nicht den alten Max. Nicht nach all den treuen Diensten, die er uns erwiesen hat.»

«Danke, Herr Hauptmann.»

«Seine räudigen, minderwertigen, herkunftslosen Pferde jedoch sind eine andere Sache.»

«Was meinen Sie damit?», fragte Max.

«Habe ich das nicht schon erwähnt? Die Przewalskis sind jetzt geächtet, eine verbotene Rasse, und müssen als solche vernichtet werden.»

«Das können Sie doch nicht ernst meinen!»

«Es tut mir leid, Max, aber das liegt nicht in meiner Hand. Das SS-Hauptquartier trifft die Entscheidungen in allen Rassenangelegenheiten. Und im Falle der Przewalski-Pferde hat Berlin mir befohlen, die Arbeit zu vollenden, die die Natur bereits begonnen hat, Max. Nämlich eine biologisch ungeeignete Rasse aus der Tierpopulation des Großdeutschen Reiches zu entfernen, um die Linie von vernünftig domestizierten Pferden wie Molnija davor zu schützen, von euren herumstreunenden Höhlenponys verunreinigt zu werden. Das gehört alles zu unserem Plan der völligen Zerstörung ukrainischer und asiatischer Kultur, damit euer Volk vernünftig germanisiert werden kann. Du solltest dich eigentlich darüber freuen, Max. Schließlich bist du beinahe selbst ein Deutscher, so wie du sprichst. Vielleicht nicht von deiner Erscheinung, das ist sicher. Dein Äußeres lässt viel zu wünschen übrig. Du bist beinahe so hässlich wie diese schlitzäugigen Zigeunergäule.»

Max wollte schon protestieren, wollte sagen, dass die Befehle aus Berlin ein Verbrechen wären, doch dann biss er sich auf die Zunge und dachte, dass die Ausrottung einer seltenen Pferderasse – im Vergleich zu all den grässlichen Verbrechen gegen die Menschheit, die Hauptmann Grenzmann und seine Männer in diesem Teil der Ukraine bereits begangen hatten – wahrscheinlich nur einem Zoologen oder jemandem wie Max, der die Przewalski-Pferde einfach liebte, als Verbrechen erscheinen musste.

«Ein paar Exemplare müssen nach Berlin gebracht werden», fuhr Grenzmann fort, «damit Reichsmarschall Göring sie auf seinem Anwesen Carinhall jagen kann. Er ist selbst ein großer Jäger, weißt du? Doch der Rest der Przewalski-Pferde wird ohne weitere Verzögerung zusammengetrieben und erschossen.»

«Herr Hauptmann, es ist nicht ihr Fehler, dass sie beinahe ausgestorben sind. Es ist unser Fehler. Wenn es den Menschen nicht gäbe, dann gäbe es noch eine große Menge dieser Pferde.»

«Nun, es hat keinen Sinn, darüber zu streiten, Max. Die Entscheidung ist bereits gefallen. Morgen werden wir mit der Säuberung beginnen.»

Und mit diesen Worten ritt der Hauptmann davon.

Max war fast die ganze Nacht wach und überlegte, was er tun sollte. Er saß vor seinem Feuer, rauchte mehrere Pfeifen, starrte in die Flammen und fragte sich, was der Baron getan hätte, wenn er jetzt hier gewesen wäre. Als deutscher Aristokrat war er daran gewöhnt, dass man ihm gehorchte, und darum hätte der Baron bestimmt mit Grenzmann diskutiert und den SS