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Das Revolutionsjahr 1989 ist in weite Ferne gerückt. Gedenkroutine und Fernsehbilder verstellen den Blick. Bis heute wird es vor allem als Ende erinnert: als Ende der kommunistischen Diktaturen, des Kalten Krieges, der Utopien. Aber das ist höchstens die halbe Wahrheit, der Umbruch von 1989 war in gleichem Maße ein Aufbruch, ein Anfang. Er brachte Unverzichtbares in die europäische Geschichte: eine neue Kultur politischer Leidenschaften. Wie sieht ein Rückblick aus, der auch als Provokation der Gegenwart taugt? Jens Bisky fragt, warum den Herausforderungen von 1989 mit so viel Abwehr begegnet wurde und welche Erfahrungen auch nach 25 Jahren noch aktuell sind.
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Seitenzahl: 37
Jens Bisky
1989
Die letzte Revolution, die noch nichts von Facebook wusste
Ihr Verlagsname
Das Revolutionsjahr 1989 ist in weite Ferne gerückt. Gedenkroutine und Fernsehbilder verstellen den Blick. Bis heute wird es vor allem als Ende erinnert: als Ende der kommunistischen Diktaturen, des Kalten Krieges, der Utopien. Aber das ist höchstens die halbe Wahrheit, der Umbruch von 1989 war in gleichem Maße ein Aufbruch, ein Anfang. Er brachte Unverzichtbares in die europäische Geschichte: eine neue Kultur politischer Leidenschaften. Wie sieht ein Rückblick aus, der auch als Provokation der Gegenwart taugt?
«Wir müssen lernen, anders zu sprechen.»
Bärbel Bohley
Der Revolution von 1989 wird nachgesagt, sie sei ohne Utopien ausgekommen und habe folgerichtig nichts Neues, kaum Innovatives hervorgebracht. Das widerspricht meinen Erinnerungen an das Jahr, in dem alles anders werden sollte. Vor allem passt es nicht zur historisch verbürgten Regel, dass Revolutionen ohne utopischen Überschuss schwer möglich sind. Gewiss, kein neues Gesellschaftsmodell wurde entworfen, geschweige denn realisiert, und es sind technokratische Termini – «Beitritt», «Transformation», «Ost-Erweiterung» –, die die Umwälzungen nach dem Zusammenbruch der kommunistischen Diktaturen beschreiben. War da nicht mehr?
Wir hätten, sagte Joachim Gauck einmal, vom Paradies geträumt und seien in Nordrhein-Westfalen aufgewacht. Wir wollten, behauptete Bärbel Bohley, Gerechtigkeit und bekamen den Rechtsstaat. Von 1989 zu reden heißt, den Riss zwischen Erwartung und Erfüllung ernst zu nehmen. Dann wird der Blick frei dafür, dass vor fünfundzwanzig Jahren eine andere Gangart erprobt wurde, ein neuer politischer Stil. Dadurch bleibt die friedliche Revolution eine dauernde Provokation für die Gegenwart.
Während der Sekretär des Zentralkomitees der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands für Informationswesen auf einer Pressekonferenz herumstammelte, stand ich im Foyer des Kinos «International» und verteilte Eintrittskarten. Freunde mussten durch die Menge gelotst, Bekannte wenigstens durch Kopfnicken gegrüßt, die eigene Aufregung gedämpft werden. Vor den Glastüren drehte ein Team des ZDF-Kulturmagazins «Aspekte».
Schabowskis bald berühmte Worte – «das tritt nach meiner Kenntnis – ist das sofort, unverzüglich» – hörte und sah ich erst später. Der 9. November aber war seit Monaten in meinem Kalender markiert, an diesem Tag würde der DEFA-Film «Coming Out» seine Premiere haben. Ich kannte den Regisseur Heiner Carow und den Drehbuchautor Wolfram Witt, Schauspieler und Komparsen, hatte das jahrelange Hickhack um Genehmigungen, Drehorte, einzelne Szenen erlebt. In den siebziger Jahren hatte Carow mit «Die Legende von Paul und Paula», es soll der Lieblingsfilm Angela Merkels sein, einen legendären Erfolg verbuchen können; in der späten DDR wurde die «Legende», da die Hauptdarsteller Angelica Domröse und Winfried Glatzeder in den Westen ausgereist waren, kaum noch gezeigt. Um «Coming Out» produzieren zu können, hatte Carow Kontakte bis hinauf zum Chefideologen Kurt Hager genutzt.
«Coming Out» erzählt die Geschichte eines schwulen Lehrers, eines Außenseiters, der das Lügen aufgibt und ein Leben in Wahrheit beginnen will. Traurig und unvorstellbar langsam wirkt der Film heute. Er war vollgestopft mit Andeutungen auf aktuelle Probleme: das Anpasslertum in den Schulen, prügelnde Skinheads, Feigheit, Unfreundlichkeit. Er zelebrierte Kunst und Literatur als Fluchtwelten und warb für Zärtlichkeit in der Gesellschaft, dafür, all die zu akzeptieren, die der Norm nicht entsprechen. Am Ende des Films radelt der geläuterte Lehrer Philipp über Ostberliner Straßen, in die Ferne, in eine ungewisse Zukunft. Möge kommen, was wolle – eine Rückkehr ins geduckte, verlogene Leben war ausgeschlossen. Schwer zu beschreiben, wie viele Erwartungen wir mit dem Film verbunden hatten, ohne lächerlich zu wirken. Gesellschaft sollte den Einzelnen nicht nur dulden, gewähren lassen, sondern ausgehend vom Einzelnen überhaupt erst entstehen und Form gewinnen.
Während Tausende zur Mauer, zur innerdeutschen Grenze strömten, saß ich im Kino zwischen Stalinallee und Alexanderplatz und registrierte beglückt, wie der Film den Nerv des Publikums traf. Nach zwei Vorstellungen und viel Applaus zog ich mit Freunden zur Premierenfeier in den «Burgfrieden», eine Schwulenkneipe in der Nähe der Bornholmer Straße, Berlin, Hauptstadt der DDR