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Jens Bisky legt eine Gesamtdarstellung der Geschichte Berlins vor, wie es sie seit Jahrzehnten nicht gegeben hat, vom Dreißigjährigen Krieg bis in die Gegenwart. Eine faszinierende Erzählung über Aufstieg, Fall und Neubeginn – und zugleich ein packendes Panorama deutscher wie europäischer Geschichte im Spiegel einer einzigartigen Metropole. Parvenü der Großstädte, Labor der Moderne, Symbol des zerrissenen 20. Jahrhunderts: In Berlin konzentriert sich nicht nur deutsche, sondern auch europäische Geschichte. Beides hat Jens Bisky im Blick, wenn er die Entwicklung der Stadt seit ihrem Aufstieg zur preußischen Residenz schildert. Berlin war äußerst wandlungsfähig und offen: für die verfolgten französischen Hugenotten und die Denker der Aufklärung unter Hohenzollernherrschaft; später als Metropole der Proletarier und Großindustriellen, der Künstler und Journalisten und als «Place to be» der Goldenen Zwanziger. All das wird bei Bisky anschaulich erfahrbar, genauso aber auch die Zerstörung im Zweiten Weltkrieg und die spannungsgeladene Atmosphäre nach 1945, als sich hier die großen Machtblöcke gegenüberstehen.
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Seitenzahl: 1421
Veröffentlichungsjahr: 2023
Jens Bisky
Biographie einer großen Stadt
Veröffentlicht im Rowohlt Verlag, Hamburg, Oktober 2023
Copyright © 2019 by Rowohlt · Berlin Verlag GmbH, Berlin
Covergestaltung Frank Ortmann
Coverabbildung Norbert Bisky / VG Bild-Kunst, Bonn. Courtesy KÖNIG GALERIE, Berlin.
ISBN 978-3-644-01792-4
Schrift Droid Serif Copyright © 2007 by Google Corporation
Schrift Open Sans Copyright © by Steve Matteson, Ascender Corp
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Für Peter
«Vor Gott sind eigentlich alle Menschen Berliner.»
Theodor Fontane
Über dreißig Jahre ist es her, dass Berlin zum Symbol eines glücklichen welthistorischen Augenblicks wurde. In der Nacht des 9. November 1989 erzwangen Tausende Menschen die Öffnung einiger Grenzübergangsstellen zwischen dem Ost- und dem Westteil der Stadt. Die letzte Stunde der Mauer hatte geschlagen, man riss sie in Windeseile ab, verschenkte und verkaufte Bruchstücke in alle Weltgegenden. Die ersten Tage Berlins hatten begonnen.[1]
Die Voraussetzungen dafür waren andernorts geschaffen worden, in Gdańsk und Moskau, an der österreichisch-ungarischen Grenze, in Leipzig und Dresden. Die Bilder vom Ende des Kalten Krieges aber zeigten Szenen auf der Bornholmer Straße, zwischen Prenzlauer Berg und Wedding, auf dem Kurfürstendamm, am Brandenburger Tor. Sie dokumentierten den Ausnahmezustand, der die Stadt nach mehr als vier Jahrzehnten der Teilung vor die unerwartete Aufgabe stellte, eins und eine europäische Metropole zu werden. Es galt, unterbrochene Verbindungen noch einmal zu knüpfen, geschlossene Bahnhöfe wieder ans Netz zu nehmen, ein Regierungsviertel zu errichten, Brachen zu bebauen. Berlin erfand sich neu.
Inzwischen verklärt der Rückblick diese Zeit ebenso wie das Leben in den beiden Teilstädten davor. Die neunziger Jahre bescherten ungeahnte Freiheiten und Beschwerlichkeiten zugleich. Überall stieß man auf Unbekanntes, Unerwartetes. Alltägliche Fremdheitserfahrungen gehören zur Wirklichkeit der großen Städte. Es macht ihren Reiz aus, dass man sie nie ganz kennt, mit ihnen nicht fertig wird. Aber in Berlin betraf der Wandel das Ganze. Eine Zahl verdeutlicht dies schlagend: Jeder Zweite, der heute hier lebt, ist nach 1989 zugezogen.
Nahezu alle Akteure der Stadtentwicklung wirkten in den zurückliegenden drei Jahrzehnten überfordert: Bundespolitiker, die mit der neuen Wirklichkeit fremdelten, die vielen Schwaben oder Englisch sprechende Kellner beklagten; Landespolitiker, die Geld verjuxten, Großprojekte in den Sand setzten und keine funktionsfähige Verwaltung garantieren konnten; Bezirkspolitiker, die nicht begriffen, dass sie ihrem Bezirk schadeten, wenn sie nicht über dessen Grenzen hinausdachten; Bohemiens, die sich in dem Irrglauben einrichteten, die heiteren Jahre billiger Mieten und freier Flächen würden nie zu Ende gehen; Architekten, die zeitgenössische Urbanität in alte Formen packen wollten oder Ungeheures planten, das mit der Stadt in keinem Zusammenhang stand; Journalisten, die wenige Straßenzüge für das Gesamte ausgaben und zu spät verstanden, dass die Verheißungsfloskeln glänzender Zukunft – «Drehscheibe zwischen Ost und West», «Labor der Einheit», «Metropole der Zukunft» – hohl klangen und kaum weiterhalfen; Durchschnittsbürger, die brav ihrer Arbeit nachgingen und sich meckernd mehr Übel als nötig gefallen ließen.
Sie alle zusammen schafften in ihrer Überforderung, im Gegen- und Miteinander, Großartiges. Die Stadt ist ein Sehnsuchtsort für jene geworden, die ihr Leben gern selbst definieren. Und sie ist, wie schon oft in der Geschichte, den Bornierten ein Ärgernis. Sie zählt jedes Jahr einige zehntausend Einwohner mehr, gehört zu den beliebten Touristenzielen, ist selbstverständlich Gegenstand und Schauplatz von Romanen, Filmen, Serien. Und doch heißt es immer wieder, sie sei gescheitert, gleiche einem «failed state».
Die paradoxen Erfahrungen der Aufbaujahre nach 1989 prägen den Blick auf die Stadtgeschichte. Sie schärfen die Aufmerksamkeit dafür, dass von Verschiedenem sprechen kann, wer «Berlin» sagt: von der Bühne großer Politik oder von der Millionenstadt, die mit typischen Schwierigkeiten wachsender Metropolen kämpft, von einem Bundesland oder von einer alltäglich erfahrenen Lebenswelt, durch die sich jeder mit seinem individuellen Stadtplan schlägt, von einem imaginierten Gemeinwesen oder einem Lebensgefühl. Es existiert kein Ort, der dieses Ineinander verschiedener Realitäten, der das Ganze vergegenwärtigt.
Statistisch lässt sich etwas Klarheit gewinnen. Berlin umfasst 89112 Hektar, hier hatten 2022 über 3850000 Menschen ihren Hauptwohnsitz. Der Ausländeranteil lag bei 24,3 Prozent. Über die Hälfte der Privathaushalte sind Einpersonenhaushalte. Mehr als 330000 Wohngebäude machen die Metapher vom Häusermeer plausibel.[2] 96 Ortsteile gehören zu zwölf Bezirken, jeder eine Großstadt für sich. Sie sind erst gut hundert Jahre zusammen.
Ihre Geschichte ist Thema dieses Buches. Es handelt von den Freiräumen, die Berliner sich schon unter den Preußenkönigen eroberten, wie von den Zwangslagen, in die sie als Hauptstädter gerieten. Die Entwicklung an der Spree hatte über gut drei Jahrhunderte etwas Kurzatmiges, Überforderung war Normalzustand. Das begann mit dem Umbau der märkischen Handelsstadt in eine preußische Festung und Residenz, die kaum die Folgen der napoleonischen Besetzung überwunden hatte, als die Industrialisierung ganz andere Probleme mit sich brachte, ein Amalgam sozialer und politischer Verwerfungen. Deshalb gewannen die revolutionären Kämpfe von 1848 hier eine besondere Schärfe. Weil es preußische Residenz war, wurde Berlin Hauptstadt des Deutschen Reiches; weil es dessen größte Industriestadt war, ein wildwuchernder Moloch, wurde es Zentrum der deutschen Sozialdemokratie und der Reformbewegungen. Sowohl Obrigkeit als auch Rebellen, sowohl Reaktion als auch Fortschritt, sowohl Reformer als auch Radikale waren in Berlin stark. In der Revolution von 1918 kämpften sie in den Straßen der Hauptstadt gegeneinander, aber große Städte haben ihre eigene Gelassenheit im Umgang mit historischen Ereignissen. Der Augenzeuge Harry Graf Kessler notierte damals, im Januar 1919: «Abends in einem Kabarett in der Bellevue Straße. Rassige spanische Tänzerin. In ihre Nummer krachte ein Schuss hinein. Niemand achtete darauf. Geringer Eindruck der Revolution auf das großstädtische Leben. Dieses Leben ist so elementar, dass selbst eine weltgeschichtliche Revolution wie die jetzige wesentliche Störungen darin nicht verursacht. Das Babylonische, unermesslich Tiefe, Chaotische und Gewaltige von Berlin ist mir erst durch die Revolution klargeworden, als sich zeigte, dass diese ungeheure Bewegung in dem noch viel ungeheureren Hin und Her von Berlin nur kleine örtliche Störungen verursachte, wie wenn ein Elephant einen Stich mit einem Taschenmesser bekommt. Er schüttelt sich, aber schreitet weiter, als ob nichts geschehen wäre.»[3]
Kessler hat noch die Heraufkunft der Nationalsozialisten erlebt, die Berlin nie ganz erobern konnten, aber hier ihre Herrschaftszentrale errichteten und den Krieg planten, der das Babylonische, Chaotische und Gewaltige vernichten würde. Sie haben die bis 1933 prägenden Traditionen zerstört, das Jüdische, die Arbeiterbewegung, die Presse, die Unbefangenheit des Nachtlebens, die Vielfalt der Künste, die Freiheit des Geistes, auch das Preußische. Die Stadt wurde wieder aufgebaut, urbanes Leben meldete sich rasch wieder «in den Ruinen von Berlin», aber dieser Bruch, der Einst und Jetzt schärfer schied als jeder andere zuvor, blieb. Die Menschen fanden nach 1945 allmählich zur Normalität zurück, dies aber unter der perversen Ordnung des Kalten Krieges, der Ausnahmezustand wurde alltäglich, Berlin Bühne und Objekt der Systemauseinandersetzung.
In den Jahren der Teilung wurden Ost- und West-Berlin einander fremd, stärker noch entfremdeten sie sich gemeinsam dem übrigen Deutschland, der Bundesrepublik wie der DDR. Die Mauer trennte; sie immer vor Augen zu haben, verband. Diesseits wie jenseits der streng bewachten Grenze wuchs die Lust, einfach nur Berliner zu sein. Stadtgeschichte spielte dabei eine wichtige Rolle. Sie erlebte seit den achtziger Jahren eine Blütezeit. Hunderte Studien, Dokumentationen und Darstellungen erschienen, man misstraute den Grünanlagen und Brachen, erkundete die wechselnden Schicksale einzelner Häuser und Straßen, baute Denkmäler, eröffnete Gedenkstätten, nutzte verlassene Räume mit Wissen um das Gewesene neu.
Dieses Buch erzählt von einer Stadt der Konflikte und Gegensätze, nicht zuletzt zwischen den Interessen der Bürger und den Anforderungen einer Hauptstadt. Die Darstellung beginnt mit der Zurichtung Berlins zur Residenz der Hohenzollern, mit dem blendraketenartigen Aufstieg Brandenburg-Preußens zu einer europäischen Macht. Die Doppelstadt an der Spree war älter, aber erst seit dem Ende des Dreißigjährigen Krieges entwickelte sie sich zu einem Ort, der auf den Karten des politischen, künstlerischen, intellektuellen Europas verzeichnet werden musste. Damals begann Berlin, dem Brandenburgischen endgültig zu entwachsen, schaute in erster Linie nicht mehr auf Brandenburg an der Havel, Tangermünde oder Frankfurt an der Oder, sondern auf Rom, Wien, Paris und London. Es erhob sich über die märkischen Schwesterstädte, spielte künftig in einer anderen Liga. Damals wurde, schreibt der Kunstkritiker Florian Illies, die «letzte Chance» vertan, «auf Berlin ganz zu verzichten».[4]
Mit der Regierungszeit des Großen Kurfürsten begann die lange Geschichte obrigkeitlicher Modernisierungsmaßnahmen, die Berlin formten. Es wurde ein Sitz des Militärs und der Wissenschaften, während die kommunale Eigenständigkeit litt. Nicht die Interessen der Stadtbürger und des Gemeinwesens gaben den Ausschlag, sondern die der regierenden Hohenzollern. Zugleich aber zeigten sich einige Untertanen eigensinnig, und es bildete sich allmählich eine bürgerliche Kultur, wie sie in dieser Vielfalt, Stärke und Produktivität am Ende des 18. Jahrhunderts keine andere norddeutsche Stadt aufweisen konnte.
Zwischen dem Zusammenbruch Preußens 1806 und der Revolution von 1848 schien Berlin aufgeweckten Beobachtern die deutsche Stadt, in der sich die Widersprüche der Zeit am schärfsten ausbildeten, am deutlichsten zeigten. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts wurde Berlin als Hauptstadt zum entscheidenden Schauplatz der deutschen Geschichte. Gleichzeitig entwickelte es sich zur größten Industriestadt des Landes. Unter Wilhelm II. entstand die besondere Mischung einer Berliner Moderne. Der Gang der deutschen Geschichte im 20. Jahrhundert bestimmte das weitere Stadtschicksal: von der Revolution des Jahres 1918 über die kommunale und kulturelle Blüte in der Weimarer Republik bis zur Ernennung Adolf Hitlers zum Reichskanzler. Berlin wurde die Terrorzentrale des Dritten Reiches, hier wurden Holocaust und Vernichtungskrieg geplant, der erst ein Ende fand, als die Rote Armee die Stadt eroberte. Viereinhalb Jahrzehnte waren die Kriegsfolgen in Berlin unmittelbar zu spüren. Erst geteilt, dann von einer Mauer durchschnitten, entwickelten sich zwei eigenständige Städte; die Existenz Ost- und West-Berlins war ein Problem der internationalen Politik, die Mauer vom ersten bis zum letzten Tag ein Skandal, eine normal gewordene Abnormität. 1989 begann eine neue Epoche.
Charakteristisch für die Geschichte der Stadt waren wiederkehrende Phasen der Überanspannung aller Kräfte, der Anhäufung von Problemen. Man denke nur an den raschen Aufstieg des friderizianischen Preußen in den Kreis der großen europäischen Mächte, an die Krisen der Industrialisierung und das über Jahrzehnte explosionsartige Wachsen Berlins. Wahrscheinlich zeichnet deswegen eine hartnäckige Sehnsucht nach Ruhe, Entspannung, Normalität die Berliner aus. Neben dem Tempo, dem Verkehrschaos am Potsdamer Platz, rauchenden Schornsteinen, dem Zug, der am Gleisdreieck durch ein Haus fährt, Gewimmel am Alexanderplatz, vollen S-Bahn-Wagen sind ebenso die Idylle auf dem Balkon und in Kleingärten, das Mikromilieu der Eckkneipe oder des Späti kennzeichnend für den Alltag, neben der Anonymität unter Millionen stehen die Nachbarschaften in den Hinterhöfen, die vielen Vereine und Freundeskreise. Der Großstadtdschungel war hier immer einer mit Laube oder doch wenigstens dem Traum von dieser. Darüber hinaus führte die Hauptstadtfunktion dazu, dass hier Herrschende und Oppositionelle, repräsentative Kultur und alternative Milieus nebeneinander existierten.
Wer nach dem Besonderen der Berliner Entwicklung fragt, wird seit Jahren mit einem Satz Karl Schefflers aus dem Jahr 1910 über die Tragik der Stadt abgespeist: Sie sei «dazu verdammt: immerfort zu werden und niemals zu sein»[5]. Der Satz ergibt freilich nur dann Sinn, wenn man die Annahmen Schefflers teilt, der die Millionenstadt an seinen Vorstellungen einer organischen Entwicklung maß und viele kulturkritische Gemeinplätze zusammentrug. Ihn interessierte an Berlin, was diesem fehlte, warum es eben «bloß» Berlin war.
Diese Biographie nähert sich der Stadt mit sympathisierender Neugier. Jedes Urteil über Berlin verrät ebenso viel über politische, soziale, kulturelle Wünsche und Vorurteile des Wertenden wie über die Wirklichkeit. Wer über diese spricht, spricht immer auch über die deutsche Geschichte, über Großstadtprobleme, über europäische Verbindungen und Kiezbedeutsamkeiten. Einen Zugang zur Besonderheit dieser Stadt bietet die Fülle der Romane, Filme, Lieder und Gemälde, die zum einen die große Tradition der Selbstmystifikation belegen, zum anderen die Wahrnehmung Berlins stark geprägt haben. Es sind gar nicht so wenige Meisterwerke darunter, von Fontane und Döblin, Liebermann und Grosz, Billy Wilder und Wim Wenders, Friedrich Hollaender und «Ideal». Wo immer es sich anbot, kommen sie neben Statistiken, Dokumenten, Tagebüchern, Briefen, Beschreibungen zu Wort.
Wie Scheffler und andere mit kulturkritischen Vorurteilen auf die Stadt loszugehen, ist nicht der einzige Weg. Manchmal genügt ein freier, neugieriger Blick. Gut lässt sich die Eigenart Berlins etwa anhand der typischen Mundart, des Soziolekts der Großstadt, des Berlinischen beschreiben. Wer sich damit beschäftigt, steht in der Schuld von Agathe Lasch, die 1928 die erste «berlinische Sprachgeschichte» veröffentlichte, die wissenschaftlichen Ansprüchen genügte. Agathe Lasch wurde 1879 in einer jüdischen Kaufmannsfamilie geboren, absolvierte im Alter von zwanzig Jahren eine Lehrerprüfung. Ihr Hauptfach war Turnen. Als Lehrerin an Privatschulen verdiente sie das nötige Geld für ihren weiteren Bildungsweg. Da der Germanist Gustav Roethe sie seine Veranstaltungen an der Friedrich-Wilhelms-Universität nicht besuchen ließ, studierte sie in Halle und Heidelberg, wo sie 1909 promoviert wurde. 1912 stellte sie ein Frauencollege in Philadelphia, USA, an. Sie kehrte während des Krieges nach Deutschland zurück, arbeitete an der Universität Hamburg, wo sie ab 1923 den Professorentitel führen durfte. Eine bezahlte Stelle erhielt sie drei Jahre später.[6] Proteste von Kollegen verhinderten 1933 ihre sofortige Entlassung, wegen «nichtarischer Herkunft» wurde sie 1934 zwangspensioniert. 1937 zog sie zu ihrer Schwester nach Berlin. Ein Jahr darauf durfte sie keine Bibliotheken mehr benutzen, die SS konfiszierte ihre Bücher. Am 15. August 1942 wurde sie wie viele andere, darunter zwei ihrer Schwestern, nach Riga deportiert. Sie starb auf dem Transport.
Ihr Buch «Berlinisch» schildert das Stadtschicksal ohne voreilige Wertungen.[7] Es nimmt eine heute unmöglich gewordene Perspektive ein, blickt auf das Vergangene, ohne von der kommenden Selbstzerstörung zu wissen.
Agathe Lasch beschrieb das «Berlinische» mit Sinn für soziologische Differenzierungen und die Geistesart der Berliner. Wo andere «Jargon» oder ein «regelloses Gemisch in verwahrloster Form» erblickten, sah sie eine «in ihrer Schichtung besonders interessante Bildung» und stellte fest, dass Berlin auch in diesem Fall besser sei «als sein Ruf».[8] Sie erkundete die historische Wirklichkeit hinter «Icke, dette, kieke mal, Oogn, Fleesch und Beene, wenn de mir nich lieben tust, lieb ick mir alleene». Während des gesamten Mittelalters sprachen die Berliner Platt, Niederdeutsch und mieden die Sprache des Hofes, der Fremden. Der Handel veranlasste einen Wandel, eine Anpassung an die Leipziger Umgangssprache. Was der Berliner als «hochdeutsch» empfand, war mitteldeutsch und trug die «obersächsisch-meißnische Färbung».[9] Intonation und Aussprache aber behielten «niederdeutschen Charakter». Die Hofsprache erwuchs aus dem Fränkischen, woher die Hohenzollern stammten. Hinzu traten holländische Einflüsse, dann, seit Ende des 17. Jahrhunderts, französische. So wird aus «boutique» das Wort «Budike», das einen Laden bezeichnet, «in dem Eßwaren verkauft werden, … der mit einer Garküche und Kneipe verbunden ist, schließlich die Kneipe allein».[10] Um 1700 sprechen auch die Hofkreise Berlinisch. Erst im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts scheidet es sich als Mundart von der Hochsprache, findet nun Aufmerksamkeit und wird literarisch interessant, zuerst in Possen und Singspielen.
Berliner konnte man werden, die Mundart nahm Wörter «aus allen den zahlreichen Sprachgruppen» auf, die mit dem Berlinischen «in Berührung traten». Zum Niederdeutschen und Obersächsischen kamen das Slawische, das Französische, das Jüdische, «die Sprache der Landstraße, des Handwerks und der sonstigen Fahrenden, des Gauners, die Studenten- und Schülersprache», einiges aus anderen Dialekten.[11] Seit Berlin Hauptstadt des Kaiserreichs war, Weltstadt wurde, sprach kaum einer mehr reines Berlinisch; «man hört von derselben Person schriftdeutsche und berlinische Formen nebeneinander.»[12] Dazu trug der Zuzug der Fremden ebenso bei wie der «Wille zur Angleichung an die Oberklasse».[13] Beide Entwicklungen bedrohten die «Stadtmundart ohne Hinterland».[14] Das Mundartliche in der Großstadt war nun nicht mehr allein als bloße Sprachform zu verstehen, es erlaubte, bestimmte Inhalte zum Ausdruck zu bringen: «Dir ham se woll mit ’ne Mohrrübe aus’n Urwald gelockt.»[15] Als ein Budiker warb: «Knorkes Buletten sind die besten», setzten Berliner «knorke» scherzhaft mit «dem Besten» gleich. Das Wort breitete sich rasch aus, wurde dann auch außerhalb Berlins verstanden und gebraucht. Auf diese Weise spiegelt die Mundart Geschichte, Weltsicht, Eigenart der Berliner, die gar nicht an der Spree geboren sein mussten, um etwas «knorke» zu finden. Auch Freunde des Hochdeutschen nutzten die Möglichkeiten des Berlinischen für Fopperei und schlagfertige Bemerkungen. Derber Witz, rasche Auffassung paarten sich «mit der Überlegenheit, der Behendheit der Hauptstadt», mit nüchterner Kritik und Skepsis.[16]
Dem Berliner und der Berlinerin sagte man nach, dass sie helle, geistig regsam seien, geschwinde dächten, sich nicht so leicht verblüffen ließen, zum Politisieren ebenso neigten wie zur Besserwisserei.[17] Agathe Lasch attestierte den Berlinern eine «zweifelnde Überlegenheit».[18] Im Sinne eines derart gebrochenen Selbstwertgefühls nähert sich diese Biographie der «großen Stadt». Agathe Laschs Beschreibung des Berlinischen aufgreifend, stehen die verschiedenen Schichtungen, Überlagerungen, das Ineinander von Groß und Klein, Eingeboren und Zugezogen im Mittelpunkt. Es geht um das Kuddelmuddel der großen Stadt, ihr «Menkenke», Gemisch, Durcheinander, die Umstände.[19]
Seit Jahren damit beschäftigt, den besonderen Zustand Berlin für ein Nichtberliner Zeitungspublikum zu beschreiben und zu kommentieren, will ich die Stadt als ein einzigartiges Durchkreuzungs-, Vermischungs- und Attraktionsphänomen darstellen. Folgende Biographie ist der Versuch einer Synthese, sie bringt verschiedene exemplarische Perspektiven auf Berlin zusammen, selbstverständlich nicht alle möglichen.
Über die Jahrhunderte ist ein stolzes Repertoire an überhöhenden Bezeichnungen für Berlin zusammengekommen: Sparta und Spree-Athen, Spree-Chicago, Parvenupolis, Babylon, märkisches Ninive, Metropolis, Exerzierfeld der Moderne, Schaufenster der Freiheit, Pompeji der Zeitgeschichte, Werkstatt der Einheit. Mich interessiert der Ort voller Geschichten, die allemal interessanter sind, als es Schlagworte je sein können.
«Komm an und siehe, wie so schnelle
Hier Schanzen sind gebaut und Wälle.
Nicht daß wir Lust zum Kriege hätten:
Der Märker schliefe ja so gern
Zu Haus auf seinen weichen Betten
Als, Festung Dresden, Deine Herrn.
Doch weil er nicht kann Frieden haben,
So muss er Wäll und Schanzen graben.»
Nikolaus Peucker, 1660
Händler am Flussübergang – Unwille – Memhardts Plan: Eine Mauer wird errichtet – Hauptstadtpolitik – Ein renitenter Liedermacher – Einwanderer – Schlüter baut ein Schloss – Bedeutende Köpfe – Friedrich Wilhelm I. spart – Johann Andreas Kraut wird reich – Ordnung muss sein
Am Anfang war die Spree. Zehn Kilometer entfernt von ihrer Mündung in die Havel, an einer leichter zu passierenden Stelle des Urstromtals, entstanden vor knapp achthundert Jahren zwei Städte: Berlin und Cölln. Eine Gründungslegende, wie Rom oder Prag sie kennen, ist nicht überliefert. Auch die historischen Quellen geben kaum Aufschluss, fiel doch ein Großteil der Dokumente den wiederkehrenden Stadtbränden zum Opfer. Immerhin steht auf einer Urkunde vom 28. Oktober 1237, die nicht den Städten galt, sondern dem Bistum, der Name des Pfarrers Simeon aus Cölln – Symeon plebanus de Colonia. Er bezeugte neben anderen eine Einigung zwischen den regierenden Markgrafen und dem Bischof von Brandenburg über die Erhebung des Zehnten. Auf dieses Datum berief man sich 1937 und 1987 zur Feier runder Jubiläen. Derselbe Simeon wird 1244 noch einmal als Zeuge auf einer markgräflichen Urkunde erwähnt, als dominus Symeon de Berlin prepositus.
Nicht alle haben sich mit den kärglichen Überlieferungen abfinden wollen. Da Berlin eine so wichtige Stadt geworden war, sollten auch ihre Anfänge in etwas glänzenderem Licht erscheinen. Die einen stürzten sich in Spekulationen über den Namen. Albrecht der Bär müsse nach seinem Sieg über die Wenden die Stadt gegründet haben, deshalb führe sie den Bären im Wappen und heiße eben Berlin. Ein Jesuit glaubte gar, die Stadt sei so schön, dass man sie «Perlein» genannt habe, nach der «Perle». Schon der Aufklärer und Stadthistoriker Friedrich Nicolai hat über derlei «mit einer poßierlich-gelehrten Miene» vorgetragene Berichte gespottet.[1] Heute führt man den Namen auf das Wort «brlo» zurück, was «Sumpf» oder Morast bedeutet, Berlin war ein Ort im Sumpf. Nicht wenige dramatisierten den Unterschied zwischen einst und jetzt. Die viel gelesene Stadtgeschichte des Schriftstellers Adolf Streckfuß erhielt 1885 den einprägsamen Untertitel «Vom Fischerdorf zur Weltstadt». Aber auch das war phantasiert. Fischerdörfer, die sich zu Städten mauserten, sind weder Berlin noch Cölln gewesen.
Ihre Entstehung verlief prosaischer und in mehreren Stufen.[2] Weltliche und geistliche Herren, Siedler, Kaufleute, all die Kräfte, deren Zusammenwirken der deutschen Ostsiedlung ihren Schwung verlieh, spielten früher oder später eine Rolle. Sicher scheint, dass ohne den Schutz einer unmittelbar benachbarten Burg am Flussübergang Marktorte errichtet wurden, dass Kaufleute sich dort niederließen, dass man rodete, trockenlegte, baute. Der Handelsweg von der Ostsee zur Elbe und ins Meißnische führte durch die sumpfige Spreeniederung zwischen den Hochflächen des Barnim und Teltow, die hier auf vier Kilometer zusammenrückten. Andernorts weist das Urstromtal eine Breite von zehn bis fünfzehn Kilometern auf. Es war die schmalste Stelle, Erhebungen, Talsandinseln erleichterten das Hinüber. Neuere archäologische Holzfunde sprechen dafür, dass auf dem Gebiet der mittelalterlichen Doppelstadt bereits um 1180 gebaut wurde, nicht lange also nachdem Albrecht der Bär die Mark Brandenburg erobert hatte.[3] Er wurde der erste Markgraf von Brandenburg, übernahm nach dem Tod des Heveller-Fürsten Pribislaw-Heinrich 1150 dessen Residenz, die Burg Brandenburg, und eroberte diese einige Jahre später vom sprewanischen Fürsten Jaczo zurück. Daher gilt Albrecht der Bär aus dem Geschlecht der Askanier als Begründer der Mark Brandenburg, diese seit der Rückeroberung 1157 als Territorium des Heiligen Römischen Reiches. Es war ein Gebiet am Rande, in dem viele um die Herrschaft stritten, die Erzbischöfe von Magdeburg, die wettinischen Markgrafen von Meißen, die Pommernherzöge, slawische Siedler und ihre Fürsten sowie die Askanier.[4] Köpenick und Spandau, die heute zu Berlin gehören, begannen als slawische Burg, Berlin und Cölln als Stützpunkte für den Fern handel.
Ihre Privilegien erhielt die Stadt nach Brandenburger Recht; die Brüder Johann I. und Otto III., die im Kindesalter Markgrafen wurden und bis 1257 gemeinsam regierten, erweiterten und sicherten ihre Herrschaft. Ein genaues Datum ist nicht zu ermitteln, aber es muss vor 1253 geschehen sein, dem Jahr, in dem Johann I. Frankfurt an der Oder das berlinische Stadtrecht verlieh. Brandenburg war die Mutterstadt Berlins, Frankfurt die Tochterstadt. Der Barnim, ein Höhenzug im Nordosten Berlins, und der Teltow im Südwesten waren erst wenige Jahre zuvor nach einem Krieg vollständig zur Mark gekommen. Das verbesserte die Bedingungen für den Ostsee- und Oderhandel, die «Aufsiedlung des Umlandes»[5] beflügelte die wirtschaftliche Entwicklung.
Warum aber eine Doppelstadt? Warum waren Cölln auf der Spreeinsel mit seiner Petrikirche und Berlin mit St. Nikolai auf der rechten Spreeseite sowie der später errichteten Marienkirche auf dem Neuen Markt nicht von Anfang an ein Gemeinwesen? Es gab Doppelgründungen auch andernorts, etwa in Brandenburg an der Havel. Mehrere Erklärungen bieten sich an. An der Spree könnte ein Rechtsträger Cölln und ein anderer Berlin gegründet haben, wobei ihr Einvernehmen vorausgesetzt wäre. Oder aber ein Gründer hatte verschiedene «Lokatoren» mit der Planung und Erschließung beauftragt. Es ist auch vermutet worden, dass «den Markgrafen hier zwei Siedlergruppen unterschiedlicher Herkunft und mit abweichenden Rechtsgewohnheiten zur Verfügung standen»[6].
Wie auch immer, die natürlichen Gegebenheiten begünstigten den Handel, die Machtpolitik der Askanier und der Landesausbau ermöglichten eine rasche Entwicklung. Nie hat eine Mauer Berlin und Cölln gegeneinander abgeriegelt, nach außen vertraten sie gemeinsam ihre Interessen, auch wenn sie im Inneren wirtschaftlich getrennt waren, mit verschiedenen Besitztümern und Innungen. Die Bürger konnten stets von einer Stadt in die andere, ohne ein Tor zu passieren. Der Mühlendamm und die Lange Brücke verbanden sie. 1307 vereinigten sie sich unter Beibehaltung ihrer Selbständigkeit und errichteten auf der Langen Brücke ein gemeinsames Rathaus, zusätzlich zu den zwei bereits vorhandenen.
In seinen ersten drei Jahrhunderten wurde Berlin zur wichtigsten Stadt der Mark, doch mehr als regionale Bedeutung gewann es nicht. Der Handel, vor allem mit Getreide und Heringen, verband es mit Hamburg, Sachsen, Stettin, den pommerschen Städten. Das einheimische Handwerk aber produzierte überwiegend für einfache Bedürfnisse, für den Nahmarkt, die Ortsansässigen und das Umland. Die Einwohnerzahl blieb deutlich unter zehntausend. Es gab Kirchen, Klöster, Spitäler, jedoch keine Meisterwerke der Architektur und Kunst. In Brandenburg und Frankfurt waren die Gotteshäuser größer, in Prenzlau und Tangermünde eindrucksvoller, nicht so «dürftig und unbedeutend»[7] wie an der Spree.
Über den Status einer mittleren Stadt gelangte man vorerst nicht hinaus, alles behielt mittelmärkischen Zuschnitt. Zu den üblichen Heimsuchungen, zu Bränden, Hunger und Seuchen, trat im 14. Jahrhundert eine schwere Krise des Getreidemarkts. Auch hemmten Wirren der Landespolitik immer wieder die Entwicklung. Die wechselnden Markgrafen, die auf die Askanier folgten, waren oft zu schwach oder desinteressiert, um Konkurrenten, Adelsgeschlechter wie die berüchtigten Quitzows oder Nachbarn wie die Pommernherzöge, in die Schranken zu weisen. Die Fehden und Streitereien behinderten den Handel, aber die landesherrliche Schwäche ermunterte das vergleichsweise wohlhabende, prosperierende Gemeinwesen, weitgehende Autonomie zu entwickeln. Wie beschränkt seine tatsächliche Bedeutung vom 13. bis ins 15. Jahrhundert gewesen ist, zeigt eine auffallende Leerstelle: Wir kennen keine Berlin-Ansichten aus dieser Zeit. Erst im 16. Jahrhundert, und auch dann eher zufällig, wird die Stadt zu einem künstlerischen Sujet. Die kontinuierliche Produktion von Berlin-Bildern beginnt noch später, erst nach dem Dreißigjährigen Krieg.
Es gibt keinen Grund, die Jugendjahre Berlins geringzuschätzen. Ihren angemessenen Platz fände deren Schilderung in einer Geschichte der Mark Brandenburg. Der Aufstieg zu einer großen Stadt, die neben Paris, London, New York genannt werden wollte und nicht neben Brandenburg, Stendal, Tangermünde, ging einher mit der Abkehr von den früheren Zuständen, mit dem unaufhaltsam scheinenden Verschwinden der mittelalterlichen Doppelstadt. Das geschah freilich nicht an einem Tag und nicht dank einer Maßnahme allein. Es benötigte mehrere, oft verstolperte Anfänge. Deren Voraussetzungen wurden um die Mitte des 15. Jahrhunderts in einem dramatischen Konflikt mit dem Kurfürsten geschaffen. Das bedeutendste Ereignis der frühen Stadtgeschichte war eine Niederlage, war ein Verlust an städtischer Eigenständigkeit.
Die Mark hatte keine Hauptstadt. Der Herr des Landes, mit dessen Besitz die Kurwürde und das Amt des Reichserzkämmerers verbunden waren, residierte an mehreren Orten. In Berlin diente dazu das Hohe Haus, direkt an der Stadtmauer, nördlich der Klosterkirche gelegen. Der beinah quadratische Ziegelbau mit Keller und zwei fünf Meter hohen Geschossen beherbergte auch den Hohenzollern Friedrich, als er 1440 die Erbhuldigung entgegennahm. Er war noch nicht dreißig Jahre alt, in Tangermünde, der früheren Kaiserpfalz Karls IV., geboren und am polnischen Königshof in Krakau aufgewachsen. Sein Auftreten im November 1440 irritierte, sorgte für Aufregung. Friedrich ließ sich zuerst vom Rat und von den Bürgern huldigen, sie schworen ihm Treue und Gehorsam, was sonst, «alze vns god helffe vnd dy heiligen», und erhielten eine Antwort, die sie nicht befriedigen konnte, ja beunruhigen musste. Ihre Privilegien bestätigte Friedrich II. lediglich «mit schlechten worden», «nicht in eydes stad tu den hilgen».[1] In einfachen Worten, nicht an Eides statt, ohne die Heiligen zu bemühen – das klang, als sei er im Fall der Fälle bereit, die Rechte der Berliner und Cöllner hintanzusetzen.
Der Vorfall wurde eigens im Berlinischen Stadtbuch festgehalten, man nahm ihn also sehr ernst. In diesem Buch verzeichneten Schreiber seit dem Ende des 14. Jahrhunderts, nachdem so viele Urkunden verbrannt und verloren gegangen waren, die Einnahmen und Ausgaben der Stadt, landesherrliche Privilegien, Statuten des Rats, das Schöffenrecht, entdeckte und bestrafte Verbrechen, Schuldbriefe und einiges mehr. Zwei Bilder eröffneten die Sammlung der Rechtsgrundlagen des damaligen städtischen Lebens: Christus als Richter und Maria mit dem Jesuskind als Fürbitterin.[2]
Der Schreiber verband die Bemerkung zur Huldigung für Kurfürst Friedrich II. mit einem Hinweis für künftige Generationen: «Item tu merken, in kumftigen tyden.» Der gnädige Herr solle erst die Privilegien in aller Form bestätigen und «dy confirmacie» in Gegenwart des Rats und aller Bürger verlesen lassen. Wer das notierte, rechnete mit Konflikten.
Die Stadt war darauf vorbereitet. Sie hatte einige landesherrliche Rechte erworben. Die sogenannte Niederlage war ihr verliehen worden; diese zwang Kaufleute, die Waren durch Berlin transportierten, eine Gebühr zu bezahlen. Die Gerichtsgewalt hatte Berlin 1391 gekauft. Um sich gemeinsam gegen Angriffe vonseiten der Fürsten, des Adels oder der Geistlichkeit zu wehren, wurde 1431 ein Bündnis mit anderen märkischen Städten geschlossen. Kontakte zur Hanse, dem mächtigsten Gegenspieler städtefeindlicher Politik, waren geknüpft. 1432 gaben sich Berlin und Cölln ein Statut, das der Gemeinsamkeit eine neue Grundlage schuf – oder doch schaffen sollte. Sie war immer wieder durch Zänkereien um Geld beeinträchtigt worden. Nun einigten sich die Räte auf ein Zusammengehen und Regeln, um Streit künftig zu vermeiden.
Der Berliner Rat hatte üblicherweise zwölf Mitglieder, der Cöllner wohl sechs. Aus ihren Reihen wählten sie Bürgermeister und bestimmten ihre Nachfolger, die Amtszeit endete nach einem Jahr. Allerdings berieten der alte und der neue Rat meist gemeinsam, auch war es Brauch geworden, dass die Zurücktretenden wieder ihre Vorgänger wählten, sodass ein kleiner Kreis der Bürger, Kaufleute aus den ratsfähigen Geschlechtern, die Geschicke der Stadt über längere Zeit bestimmte. Das Verhältnis von Rat und Bürgern erinnert an das von Obrigkeit und Untertanen, die von der Mitwirkung an städtischen Angelegenheiten und sie betreffenden Entscheidungen weitgehend ausgeschlossen sind.
Die wichtigste Aufgabe der Ratsleute und Bürgermeister bestand in der Verwaltung des Vermögens, der Einkünfte und Ausgaben. Auch beaufsichtigte der Rat die Innungen.[3] Unter diesen standen die Knochenhauer, Tuchmacher, Schuhmacher und Bäcker obenan, die «Viergewerke». Die übrigen Handwerker zählten zur «Meinheit», zu den geringeren Bürgern. Der Vertrag von 1432 wurde mit Zustimmung der «Viergewerke» und der «Meinheit» geschlossen. Vorgesehen war die Wahl eines gemeinsamen Rates durch die Bürgermeister und Ratsmänner beider Städte.[4] Im Rathaus auf der Langen Brücke sollten sie fortan zusammen beraten und entscheiden. Berlin hatte zwei Bürgermeister und zehn Ratsmänner zu bestimmen, Cölln fünf Ratsleute und einen Bürgermeister. Das städtische Eigentum sollte vereint werden, aber so, dass keiner eine Beeinträchtigung erlitt. Die Wiesen, Wälder, Äcker durften von Bürgern beider Städte genutzt werden. Es galt ein gemeinsames Bürgerrecht. Die Innungen blieben vorerst getrennt, doch wurde nicht ausgeschlossen, dass der Rat sie eines Tages zusammenführt. Cölln beglich mit einer Entschädigungszahlung ältere Ansprüche.
Die Bestimmungen scheinen ausgewogen, die Vorteile des Zusammengehens ebenso berücksichtigt wie Gewohnheitsrechte. Drei Jahre später, 1435, erwarb der Rat großen ländlichen Besitz, die Güter des Johanniterordens, Tempelhof, Rixdorf, Marienfelde, Mariendorf. Stärker als in diesem historischen Augenblick ist Berlin nie zuvor gewesen. An diesem Wendepunkt scheint eine andere Zukunft leicht vorstellbar. Hätte die Stadt durch Zukauf ein geschlossenes Territorium um sich herum in Besitz genommen; hätte das Hilfsversprechen auf dem Lübecker Hansetag im Juni 1435, an dem Berlin neben Stendal, Frankfurt, Salzwedel teilnahm, die Feinde städtischer Freiheiten tatsächlich zurückschrecken lassen; hätte der Rat die neue Einheit geschickt verwaltet – dann wäre Berlin vielleicht eine große Handelsstadt geworden statt Residenz der Hohenzollern. Die Landesherren hätten Tangermünde zur Hauptstadt wählen können. Doch wer auf diese Weise spekuliert, vergisst den innerstädtischen Zwist und die Unzufriedenheit der selbstbewussten Innungen angesichts der patrizischen Obrigkeit im Rathaus auf der Langen Brücke. Die Einigung der Räte von Cölln und Berlin konnte den Streit der Bürger untereinander nicht beruhigen, auch wenn zur Beratung und Kontrolle ein Sechzehner-Ausschuss aus nicht ratsfähigen Berlinern gebildet worden war.
Wenige Jahre später erhielt der Kurfürst die Gelegenheit, den Rat in die Schranken zu weisen. Friedrich II. war nicht der Mann, sie ungenutzt verstreichen zu lassen. Man hat ihn einerseits den «Eisernen», den «Eisenzahn» genannt und ihm andererseits eine melancholische Grundstimmung nachgesagt, weil seine Braut, eine polnische Königstochter, früh verstorben war. Seinen Triumph über das Selbständigkeitsstreben der Städte erzielte er dank einer Mischung aus Härte und Umsicht.
Ende 1441, spätestens Anfang 1442 hatten sich die Konflikte zwischen der Obrigkeit und den Bürgern derart zugespitzt, dass diese keinen anderen Ausweg fanden und den Landesherrn als Schiedsrichter anriefen. Die «Viergewerke» und die Gemeinde klagten, dass die Vereinigung nichts als Verderben gebracht habe. Der gemeinsame Rat rechtfertigte sich und übergab Friedrich II. die Schlüssel der Stadttore. Am 26. Februar 1442 schied der Landesherr die Städte wieder und untersagte ein neuerliches Zusammengehen. Zwölf Ratsmänner sollten Berlin, sechs Cölln regieren, auf immer getrennt voneinander. Er verlangte, künftig in beide Räte auch Männer aus den «Viergewerken» und gemeine Bürger zu wählen. Die Namen der Gewählten waren ihm vorzulegen, demonstrativ betonte er sein Recht, sie zu bestätigen oder abzulehnen und anstelle der Abgelehnten andere einzusetzen. Auch Bündnisse mit anderen Städten sollte es nur mit seiner ausdrücklichen Genehmigung geben, bestehende seien aufzulösen.
Welche Ereignisse die Lage in Berlin hatten eskalieren lassen, was durch die Vereinigung schlechter geworden war, was die Verwaltung schließlich paralysierte, ist anhand der überlieferten Urkunden schwer auszumachen. Spätere Berichte widersprechen einander. Im Kern ging es um die Macht in der Stadt, um den Unwillen der Handwerker und geringeren Bürger, dauerhaft von der Selbstverwaltung ausgeschlossen zu sein, die allein in den Händen der ratsfähigen Geschlechter lag, und um den Unwillen der Regierenden, das geschlossene System der Selbstergänzung zu ändern.
Die Einsetzung der neuen Räte für Berlin und Cölln bildete nur den Auftakt dafür, die Zerstrittenen vollends niederzuwerfen. Mit der Begründung, sie seien ohne Zustimmung des Landesherrn gekauft worden, beschlagnahmte Friedrich II. die von den Johannitern erworbenen Güter. Am 29. August 1442 wurde zwischen dem Landesherrn und den Städten ein Vertrag geschlossen, der ihnen mannigfache Übeltaten vorwarf, ihnen ihr Eigentum zurückgab und dafür vieles einkassierte. Friedrich «Eisenzahn» nahm sich die Niederlage, die Berlin 1298 überlassen worden war, das Gericht, das Berlin 1391 gekauft hatte, das gemeinsame Rathaus, in dem der von ihm abgesetzte Rat getagt hatte. Und er verlangte einen Bauplatz für ein Schloss in Cölln, eine befestigte Wohnung nach seinem Belieben, mit Mauern, Türmen, Brücken. Berlin und Cölln gestanden all das zu. Der Vertrag war ohne Gewaltandrohung, unter Vermittlung von Ratsleuten anderer Städte, zustande gekommen. Das Fehlen entschlossenen Widerstands der Berliner und Cöllner ist wohl am ehesten darauf zurückzuführen, dass sie durch den andauernden Streit zwischen den Gewerken und dem Rat zu geschwächt waren.
Friedrich II. ergriff die Partei der oppositionellen Handwerker gegen die patrizische Obrigkeit. Er wusste genau, was er wollte. Der Platz für das Schloss war gut gewählt, hier hatte er Raum für eine angemessene Hofhaltung. Am 31. Juli 1443 begannen die Bauarbeiten. Dass es sich um eine «Zwingburg» gehandelt habe, gehört ins Reich der Legende, aber ein Symbol der landesherrlichen Gewalt über die Stadt und in ihr war das Schloss allemal und blieb es.
Es dauerte einige Jahre, bis die Städter sich gesammelt und den Umfang ihrer Niederlage begriffen hatten.[5] Die Fortschritte des Schlossbaus konnten alle sehen, manche wurden aufmüpfig. Eine Klageschrift des Kurfürsten listet sorgfältig die Widersetzlichkeiten auf, zu denen es ab 1447 in der renitenten Stadt kam. In Weinkellern lästerten und schimpften Bürger wie Ratsmänner über Friedrich II. Die Arbeit der kurfürstlichen Zöllner wie des Gerichts wurde behindert, ein kurfürstlicher Richter sechs Wochen im Gefängnis gehalten. Kurfürstlichen Trompetern verwehrten die Aufrührer den Zugang zur Stadt. Trotz des landesherrlichen Verbots versuchte der Rat, Bündnisse zustande zu bringen. Er beklagte sich in anderen Städten der Mark über «Eisenzahns» Vorgehen, wandte sich an Fürsten und auswärtige Ratsleute und bat um Hilfe. Pferde wurden gestohlen. Ein gemeinsamer Rat tagte wieder im gemeinsamen Rathaus. Gewaltsam verschaffte man sich Zutritt zur Kanzlei und beschädigte Dokumente. Auf die Mauern des neuen Schlosses setzten die Bürger einen Zaun, und sie öffneten das cöllnische Mühlenwehr, auf dass die Baustelle mit Spreewasser geflutet werde.
Wenn stimmt, was der Kurfürst in seiner Klage auflistete, dann bewiesen die rebellischen Städter diesmal großen politischen Verstand. Sie attackierten Beamte und Geldeintreiber ihres Gegners, suchten die für sie verhängnisvollen Urkunden des Jahres 1442, machten die damals verordnete Trennung rückgängig und bemühten sich um Verbündete. Sie fanden keine. Der Kurfürst forderte die Bürger der Doppelstadt vor sein Gericht nach Spandau, wo empfindliche Strafen – zumindest die Einziehung des Eigentums – drohten. Aber Berlin und Cölln blieben stur, sie bereiteten ihre Verteidigung vor. Dabei ging es ihnen auch weiterhin nicht um einen Umsturz, nicht darum, ganz neue Verhältnisse herbeizuführen. Sie wollten bewahren und erhalten, ihre alten Freiheiten und Privilegien «in kumftigen tyden» garantiert wissen, so wie sie es zur Erbhuldigung 1440 erwartet hatten.
Da sich all das in der Mark Brandenburg ereignete, kam es nicht zum Äußersten. Einige märkische Städte nahmen sich der Sache an und schlugen ein Schiedsgericht vor, dessen Entscheidung sich beide Seiten beugen sollten. Die Berliner Unwilligen lehnten das zunächst ab, was Friedrich II. zugutekam, der auf das Unverständnis seiner Stände für derlei Trotz zählen konnte. Die Rebellen, Verteidiger der städtischen Vorrechte, Freiheiten und Gewohnheiten, hatten inzwischen verstanden, dass ihnen niemand zu Hilfe kommen würde. Daher ließen sie sich auf einen Vermittlungsversuch von Vertretern der Stände ein, darunter der Bischof von Brandenburg, der Hochmeister des Johanniterordens, Bürgermeister und Räte aus Brandenburg, Frankfurt, Prenzlau. Dem Kurfürsten glückte es, einen vollständigen Sieg mit der nötigen Zurückhaltung zu verbinden. Er wusste, dass nur so eine weitere Eskalation zu verhindern war.
Ein Vergleich beendete am 25. Mai 1448 den «Berliner Unwillen». Es fällt schwer, ihn von einer Unterwerfung der Städte zu unterscheiden. Der Vertrag von 1442 trat wieder in Kraft, der Kurfürst erhielt zurück, was ihm genommen worden war, einzelne Bürger, nicht die schlechtesten, mussten sich für ihre Vergehen vor Gericht verantworten. Friedrich II. zog die Lehen der Verurteilten ein, einige, wie den Bürgermeister Bernhard Ryke, verbannte er aus Berlin und den großen Städten der Mark. 1451 bezog «Eisenzahn» sein Schloss in Cölln. Geschickt hatte er die Uneinigkeit der Bürger und seine Verbindungen zu den Ständen genutzt, um die Doppelstadt zu schwächen, zu isolieren, seinen Machtanspruch durchzusetzen. Er gewann dabei politisch und pekuniär.
Mehr als es den Bürgern lieb sein konnte, band das Ereignis die Entwicklung der Stadt an den Willen des Landesherrn. Berlin und Cölln besaßen zwar immer noch einige Eigenständigkeit gegenüber den Beauftragten des Kurfürsten, der weder die Leute noch die Mittel hatte, eine vollständige Unterordnung der Städte zu bewerkstelligen. Aber Stolz und Selbständigkeitsstreben waren gebrochen, ein verheißungsvoller Aufschwung beendet. Mit dem Schlossbau hatte Friedrich II. zugleich die Voraussetzung für das Residenz- und Hauptstadtdasein Berlins geschaffen. Hundert Jahre später holte Joachim II. die Gebeine seiner in Lehnin bestatteten Vorgänger nach Berlin und erklärte die Domkirche auf dem Schlossplatz zur Grabstätte für sich und seine Nachkommen, ein Entschluss, der die Dynastie der Hohenzollern symbolisch band.
Die wusste, was sie an Friedrich II. «Eisenzahn» hatte. Sein Denkmal in der Siegesallee Kaiser Wilhelms II. zeigte den Sieger über Berlin und Cölln, die Unterwerfungsurkunde in der rechten Hand, zerrissene Urkunden und einen Köcher voller Pfeile zu seinen Füßen. Die Stadt bewies weniger Geschichtssinn. Als sie sich, zu neuer Eigenständigkeit gelangt, ein neues Rathaus an alter Stelle baute, wählte sie anspielungsgierig architektonische Formen und Verzierungen aus manchen Ländern. Alte Baulichkeiten mussten weichen, auch die Gerichtslaube aus dem 13. Jahrhundert, ein Anbau des alten Rathauses. Dieses Zeugnis seiner mittelalterlichen Geschichte schenkte Berlin dem damals regierenden Hohenzollern, Wilhelm I., der es im Babelsberger Park wieder aufbauen ließ. Dort steht die Laube, in der einst Recht gesprochen wurde, steht das Zentrum frühen städtischen Lebens, frei im Grünen wie ein romantischer Pavillon zur Unterhaltung der Schlossbesitzer und Spaziergänger.
Der Aufstieg der Residenzstadt begann erst nach dem Dreißigjährigen Krieg und mit den Anstrengungen des Kurfürsten Friedrich Wilhelm, Militär- und Finanzwesen neu zu ordnen. Die größten Erfolge seiner Regierungszeit, von 1640 bis 1688, waren außenpolitische. Er erlangte die Souveränität über das Herzogtum Preußen und konnte mit dem Sieg in der Schlacht von Fehrbellin die Schweden weitgehend aus Norddeutschland vertreiben. Im Inneren änderte er vieles, nicht aus Neuerungssucht, sondern zwecks Unterhaltung eines stehenden Heeres. Er schuf die Grundlagen für den Aufstieg Preußens in den Kreis der europäischen Großmächte und, damit verbunden, für die Verwandlung der Doppelstadt Berlin-Cölln in eine zeitgemäße, moderne Residenzstadt. Für die meisten Städter war dies eine Zumutung, aber es fiel etwas Glanz auch auf sie.
Sein Sohn, Friedrich III., der von 1688 bis 1713 regierte, schaffte die Rangerhöhung, krönte sich 1701 zum König in Preußen und wollte, dass Berlin mit Rom und Paris konkurrieren könne. Sein Nachfolger, der junge, tüchtige Friedrich Wilhelm I., liebte es dagegen spartanisch. Das Herrscherhaus gab den Ton an, der Charakter des Regierenden prägte Berlin. Die Staatsräson, die sich gerade erst herausbildete, die Handlungslogiken von Hof, Verwaltung, Militär wogen schwerer als lokale Traditionen und angestammte Geschlechter. Deswegen besaßen in Berlin Zuwanderer, ob verfolgte Juden oder adlige Abenteurer, ehrgeizige Pfarrerssöhne oder hugenottische Handwerker, größere Chancen. Deswegen auch hatte die Stadtgesellschaft dem Herrscher meist wenig entgegenzusetzen. Stadtbürgerbewusstsein musste in der preußischen Montur neu entstehen.
Als der Baumeister Johann Gregor Memhardt im Jahr 1650 an die Spree kam, sah er eine Stadt, die ihr mittelalterliches Erscheinungsbild weitgehend bewahrt hatte. Sie erstreckte sich auf dem Gebiet zwischen Spree und der heutigen S-Bahn-Trasse, zwischen den Stationen Jannowitzbrücke und Hackescher Markt. Eine Mauer mit drei Toren auf Berliner und zwei Toren auf Cöllner Seite umschloss sie. Die Türme der Pfarrkirchen St. Petri, St. Nikolai und St. Marien prägten die Silhouette. Wie die Befestigung waren sie aus Ziegeln über einem Feldsteinsockel errichtet, im Mittelalter die typische Bauweise in der Doppelstadt. Renaissancegiebel dominierten im Residenzbezirk, doch auch diese dürften den niederschmetternden Eindruck des Verfalls nicht gebessert haben. Die armseligen Umstände, die vielen Spuren der Not kann Memhardt nicht übersehen haben.[1]
Das Schloss wirkte vernachlässigt, die Dächer undicht, Mauern halb zusammengesunken. Schon vor den schlimmsten Kriegsjahren hatten die Mittel für Reparaturen kaum gereicht. Zu Verteidigungszwecken hatte der kurfürstliche Statthalter Schwarzenberg gegen den Willen der Bürger die Vorstädte niederlegen lassen. Von den 845 Häusern Berlins standen etwa 200 wüst, in Cölln 150 Häuser von insgesamt 364.[2] Brunnen waren verschlammt, Brücken wacklig. Pest und Hunger hatten Tausende dahingerafft, Brandschatzungen den Wohlstand vernichtet. Um von Plünderungen verschont zu werden, mussten die Bürger zahlen, was beim ersten Mal schmerzte, aber bewerkstelligt werden konnte, doch es folgten weitere Zwangslagen, eine zweite und dritte Brandschatzung. Obendrein waren die Kosten für Einquartierung und Verteidigung zu tragen, während die Geschäfte daniederlagen und immer weniger Menschen in der Stadt lebten. Zwölftausend Einwohner soll Berlin vor dem Dreißigjährigen Krieg gezählt haben, 1648 waren es wohl nur noch siebentausendfünfhundert. Die Schätzungen sind umstritten, die Folgen des Krieges in Zahlen ohnehin nur anzudeuten. Er hatte Seuchen gebracht, Vermögen und Reserven aufgezehrt, das Umland verwüstet – und gedauert, als wolle er nie enden. Die Berliner kannten Berichte über die Grausamkeiten der Soldaten in den Dörfern und Städten Brandenburgs. Sie hatten von den Foltermethoden gehört, mit denen Lebensmittel- und Geldverstecke ausfindig gemacht wurden oder einfach sadistische Lust befriedigt; beides ging meist Hand in Hand. Ein Stadtbrand mochte furchtbar sein, aber wenn die Flammen gelöscht waren, konnte der Wiederaufbau beginnen. Die Fortdauer des Schreckens und der Bedrückungen hatte schlimmere Folgen: Sie zermürbte. Alle Kräfte waren auf das tägliche Überleben gerichtet, ohne Aussicht auf Besserung. Die Stadt war ausgelaugt, als Johann Gregor Memhardt im Dienst des Kurfürsten hierherkam. An der Cöllner Petrikirche behinderte ein Müllhaufen das Durchkommen, auch der Neue Markt in Berlin fiel durch Berge von Kot und Kehricht auf.
Dabei waren Berlin und Cölln besser durch den Dreißigjährigen Krieg gekommen als andere Städte und die Dörfer Brandenburgs. Kurfürst Georg Wilhelm, der von 1619 bis 1640 regierte, hatte versucht, sich aus der Kette von Kriegen herauszuhalten, die mit dem Aufstand der böhmischen Stände begann. In den ersten Jahren ging das Leben in der Residenz seinen gewohnten Gang, bis Georg Wilhelm Partei ergreifen, sich auf eine Seite schlagen musste. 1627 schloss er, Herrscher eines protestantischen Landes, selber reformierter Konfession, eine Allianz mit den Kaiserlichen, die damals die größeren Erfolge vorweisen konnten.
1631 zogen die Schweden unter Gustav Adolf in die Mittelmark, der einem Berliner Gesandten beschied, er verstehe nicht, was Neutralität sei, wenn Gott und Teufel streiten.[3] Schwedische Truppen stellten sich vor den Mauern in Schlachtordnung auf, richteten ihre Kanonen auf das Schloss. Georg Wilhelm gestand ihnen das Recht des Durchzugs zu, zahlte Subsidien, ordnete sich militärisch jedoch nicht der schwedischen Kommandogewalt unter. 1635 wechselte er wiederum die Seiten. Drei Jahre später verlegte er seine Hofhaltung ganz nach Königsberg. Sein Statthalter Adam von Schwarzenberg wollte die Stadt zur Festung ausbauen, stieß aber auf entschiedenen Widerstand der Bürger, die den Schweden über dreißigtausend Taler Kontribution zahlten, um ihre Neutralität beizubehalten.
Berlin und Cölln wurden nicht geplündert und zerstört, litten aber unter den allgemeinen Kriegsfolgen. Münzverschlechterung und Teuerung führten zu Hungersnöten, mehrfach wütete die Pest, zum letzten Mal 1637 bis 1639. Die Unterhaltung der eigenen Truppen verschlang Unsummen, etwa zweitausend Taler im Monat.[4] Die Wirtschaft lag danieder, die Mark Brandenburg war nach zwei kriegerischen Jahrzehnten, nach all den «Durchzügen, Winterquartieren und Kampfhandlungen»[5], ausgeblutet und verheert. Berlin war vergleichsweise glimpflich davongekommen, aber allein das Niederbrennen der Vorstädte unter Schwarzenberg verursachte einen Schaden von etwa 43000 Talern.
Wie Memhardt die Stadt sah, belegt sein «Grundriß der Beyden Churf: Residentz Stätte Berlin und Cölln an der Spree». Er erschien 1652 in der «Beschreibung Brandenburgs», im dreizehnten Band der «Topographia Germaniae» des Frankfurter Kupferstechers Matthias Merian. Im Maßstab 1:5300 zeigt er den Verlauf des Flusses, ein wenig von der Umgebung, das Straßenraster und wichtige Gebäude in perspektivischer Darstellung, auch Tore, Brücken. Sechsunddreißig Orte sind mit Buchstaben oder Ziffern bezeichnet. Das Blatt war nicht dazu gedacht, als Stadtplan im heutigen Sinne zu dienen, etwa das Haus eines Berliner Händlers oder Cöllner Handwerkers zu finden. Es enthält keine Straßennamen, die Bebauung der Gassen und Plätze ist bloß summarisch skizziert und erlaubt lediglich eine grobe Orientierung. Auch haben spätere Historiker Fehler, Vergessenes, Abweichungen vom tatsächlichen Zustand festgestellt. Detailliert festgehalten wurden dagegen die Stadtmauer, das Schloss und dessen nähere Umgebung. Memhardts «Grundriß» dokumentiert einen besonderen Blick, den des Landesherrn, der entschlossen war, seinen Residenzstädten ein anderes Aussehen zu geben. Damit einher ging die Abkehr von der Stadt, wie sie bis dahin bestand. Sie sah um die Mitte des 17. Jahrhunderts elend genug aus. Vor allem war sie schutzlos und sollte daher nach neuesten Grundsätzen befestigt werden. Dieser Absicht ist der Plan aus Merians und Zeillers «Topographia Electoratus Brandenburgici et Ducatus Pomeraniae» zu verdanken, er diente in erster Linie dazu, den Festungsbau vorzubereiten. Deswegen zeigt er neben dem Schloss und dem Lustgarten auf der Insel zwischen beiden Spreearmen auch die bis dahin erhaltene Stadtmauer so genau.
Johann Gregor Memhardts Grundriss, 1652 erstmals veröffentlicht, zeigt Berlin und Cölln. Am unteren Rand ist eine Baumallee zu sehen, die bis in den Tiergarten führt. Daraus entwickelt sich allmählich die Prachtstraße Unter den Linden. Die Spree teilt die Doppelstadt, Übergänge gibt es am Mühlendamm (12) und der Langen Brücke (V). Um die Nikolaikirche (G) verlaufen radial kleine Gassen. Regelmäßig angelegt sind das Viertel um die Marienkirche (I) und die Klosterkirche (K). Auf der Cöllner Seite sind die Petrikirche (H) und das Cöllnische Rathaus (T) hervorgehoben. Die größte Aufmerksamkeit widmet Memhardt dem Schloss (A), dem Lustgarten (B) sowie der Mauer nebst Toren und Befestigungsanlagen.
Auf Berlinischer Seite wurden die Festungswerke vor die Stadtmauer gesetzt, auf der Cöllnischen, wo der morastige Grund besondere Schwierigkeiten bereitete, bezog man auch vorstädtisches Gelände, den Werder und Neu-Cölln mit ein. Die Arbeiten begannen 1658, Memhardt beaufsichtigte sie. Wie der Kurfürst hatte er in den Niederlanden die neuesten Festungen gesehen, deren Vorbild man in Berlin folgte. Acht Meter hohe Wälle verbanden dreizehn Bollwerke, auf denen genug Platz für Kanonen war und die dank ihrer Sternform Gelegenheit boten, jeden Angreifer ins Schussfeld zu bekommen. Vor den Wällen verliefen Wassergräben. Auf den Grundriss der bisherigen Stadt nahm man wenig Rücksicht. Die Tore wurden versetzt, sodass sie nicht immer lagen, wo die Hauptstraßen hinführten. 1662 war das Spandauer Tor vollendet, erst 1683 das Leipziger Tor. Die alte Handelsstadt war zur Festung geworden.
Dieses Unternehmen war das größte Bauprojekt des Kurfürsten Friedrich Wilhelm in seinen beiden Residenzstädten. Fünfundzwanzig Jahre Arbeit, Tonnen von Sand und Stein, die bewegt werden mussten, wasserbautechnische Glanzleistungen – kaum war das Mammutwerk fertig, behinderte es schon die weitere Entwicklung der Stadt, die unaufhaltsam wuchs und nicht ins kurz nach dem Westfälischen Frieden projektierte Korsett passte. Bis weit ins 19. Jahrhundert hinein sind Klagen über Verkehrsprobleme zu hören, die ihren Ursprung in der Festung haben.[6]
Dass Kurfürst Friedrich Wilhelm nicht an die kommende Großstadt dachte, wird man ihm nicht vorwerfen. Aber ein auffälliger Gegensatz verdient es, festgehalten zu werden: der zur «Bau-Ordnung für die Stadt Berlin vom 30. November 1641». Darin geht es hauptsächlich um die Regelung von Nachbarschaftskonflikten, die unausweichlich sind, wenn man nebeneinanderwohnt, der eine baut, der andere nicht, wenn Brunnen, Zugänge gemeinsam genutzt werden müssen. Eine Hauptrolle spielen in dieser Verordnung Schweineställe, ob auf freien Straßen, unter Stubenfenstern, auf Freihöfen oder direkt an Häuserwänden.[7] Es folgten Verordnungen zum Brandschutz und zur Straßenreinigung, sie atmen denselben Kleinigkeitsgeist. Friedrich Nicolai berichtet, 1671 sei, damit es auf dem Neuen Markt reinlicher werde, der Befehl ergangen, «jeder Bauer, der zu Markte käme, sollte eine Fuhre Koth zurücknehmen»[8].
Der Kurfürst führte oft genug Krieg, um eine Befestigung der beiden Residenzstädte für sinnvoll zu halten. Aber die große, zusammenfassende Geste der sternförmigen Anlage – auf einer Ansicht aus dem Jahr 1688 wirkt sie regelrecht erhaben – kontrastiert mit der Lebenswelt der Städter zwischen Kot, schlecht gepflasterten Straßen, Schweineställen, Gottesdiensten, Alltagsgewerbe, baufälligen Häusern. Zwei Wirklichkeiten standen in Spannung zueinander: die sich mühsam erholende Nachkriegsstadt und die Garnison eines Territorialfürsten.
Als Friedrich Wilhelm den Festungsbau befahl, musste der von ihm eingesetzte Kommandant, Heinrich von Uffeln, vom Rat die Schlüssel zu den Stadttoren verlangen. Im September 1658 votierte Bürgermeister Trumbach: «Weil H. Uffeln einmahl als Commendant Vorgestellet worden, So werde man auch in diesem passu wegen der Schlüßell, wenn er Sie auch alle haben wolte, Ihm pariren müssen.»[9] Unter Friedrich «Eisenzahn» war die Übergabe der Schlüssel ein widerwillig geleisteter Akt der Unterwerfung. Unter Friedrich Wilhelm scheint es nur noch um die Routine des Gehorchens zu gehen. Im April 1660 fasste Bürgermeister Trumbach sein Votum prägnanter: «Was solle man votiren, wehre der Befehl doch da. … Man soll ihm die Schlüssel hergeben: So habe man keine Verandtwortung.»[10] So klingen Zermürbte.
Der Rat und die Bürger gaben keineswegs in allem klein bei. Für das militärische Projekt waren Grundstücke enteignet worden, für die man Entschädigung verlangte. Der Kurfürst schob es auf die lange Bank, verwies die Frage an die Stände, die sich jedoch nicht einigen wollten. Einen Prozess vor dem Landgericht scheuten die beiden Städte, sicher waren hohe Kosten, unsicher der Ausgang. So blieben die Entschädigungen dem Belieben der kurfürstlichen Behörden überlassen, wurden hier und da gezahlt, an anderer Stelle verweigert. Berlin und Cölln argumentierten in dem Streit überzeugend. Die Absicht der Fortifikation liege darin, dem Fürsten, seiner Familie, seinem Hof, ja dem ganzen Land im Falle der Not Asyl zu gewähren; Berlin hätte über 11000 Taler, Cölln mehr als 4900 vorgeschossen. Auch sei es notwendig gewesen, «daß wegen dieses Vestungs-Bawes die ümbliegende Häuser, Schäffereyen, Meyereyen, Scheunen, Gärtten, Wiesen, Mühlen, Brennoffen, Ziegelscheunen weggebrochen, abgestochen und eingezogen werden»[11]. Die Einbußen seien groß für die Städte wie für Privatleute. Wenn aber die Sicherheit des ganzen Landes die Befestigung erfordert habe, müsse sich doch auch das ganze Land an den Kosten beteiligen. Ein frühes Beispiel für Streit um die Hauptstadtfinanzierung. Immerhin erhielten die Handwerker Lohn, die Auslagen der Städte – nicht ihre Einbußen durch Enteignungen – wurden mit der aufzubringenden Kontribution verrechnet.
Täglich waren tausend, in Spitzenzeiten viertausend Arbeitskräfte – Bauern, Soldaten, Bürger – mit Schanzarbeiten beschäftigt. Selbst wenn für das Jahr 1660 großzügig zehntausend Einwohner angenommen werden, ist das eine gewaltige Zahl. Wollte man es mit heute vergleichen, müsste man sich vorstellen, dass in Mitte dreihundertfünfzigtausend Menschen physisch, mit Spaten, gemeinsam ans Werk gehen. Berlin umfasste damals siebenundvierzig Hektar, Cölln dreiundzwanzig. So groß war das nicht. Die Massen der beim Festungsbau Tätigen prägten Rhythmus und Atmosphäre. Auch wer den Aufstieg Preußens zur europäischen Großmacht bewundert, der eben damals begann, als in Berlin und Cölln die Spaten klapperten, wird zugeben, dass die Aufgabe zu gewaltig war für die im Grunde kleine Stadt, in der man noch auf Schritt und Tritt die Verheerungen des Dreißigjährigen Krieges spürte.
Johann Gregor Memhardt beaufsichtigte die Arbeiten, er hatte auch sonst gut zu tun, war ein vielgefragter Mann. Seine Karriere steht exemplarisch für die neuen Zeiten, er verkörperte einen anderen Typus als die Ratsmänner und Bürgermeister, die resigniert den Befehlen folgten, die Verantwortung gern loswurden. Memhardt stammte nicht aus der Mark, er hatte etwas von der Welt gesehen und verfügte über spezielle Kenntnisse. Die Mutter des 1607 in Linz an der Donau Geborenen war mit ihm ins damals protestantische Regensburg gezogen, wohl um konfessioneller Feindseligkeit zu entkommen. Dort wuchs Memhardt auf, er besuchte die Universität in Tübingen, ging in die Niederlande, erlernte den Wasser- und Festungsbau, trat in brandenburgische Dienste. Kaum war er in Berlin angekommen, wurde nach seinem Entwurf im eben der Verwilderung entrissenen Lustgarten ein Lusthaus mit einem gewitzten Grundriss gebaut, er war aus mehreren Achtecken zusammengesetzt. Für die Kurfürstin errichtete er in Bötzow, nördlich von Berlin, das Schloss Oranienburg, neben dem sie Musterwirtschaften nach niederländischem Vorbild anlegte. Da war zu erleben, was holländische Siedler in Schäferei und Brauerei, in Kuhgarten und Molkereiwirtschaft zu leisten verstanden.
Memhardt zeichnete den ersten Stadtplan, koordinierte die Befestigungsarbeiten, wurde zum Hofbaumeister ernannt und mit einem Grundstück neben der Hundebrücke beschenkt. Dort, an der heutigen Adresse Unter den Linden 1, baute er für sich ein zweigeschossiges Haus mit Walmdach. Da Memhardt kurfürstlicher Beamter war und sein Haus jenseits der alten Mauer auf dem Werder stand, unterlag er nicht den Weisungen des Rates, war frei von städtischen Lasten und Abgaben. Aber als dann die von ihm geplante Neustadt groß genug geworden war und eine eigene Verwaltung benötigte, wurde Johann Gregor Memhardt einer der beiden ehrenamtlichen Bürgermeister der Residenz und Feste Friedrichswerder. Er starb 1679, nachdem er viele Jahre erfolgreich die Verholländerung Berlins vorangetrieben hatte.
Verholländerung war – mit einem anachronistischen Wort – Regierungsprogramm in Brandenburg. Die Generalstaaten genossen damals viel Bewunderung, weil sie ihre Unabhängigkeit zäh gegen die Großmacht des habsburgischen Spanien verteidigten, weil sie gute Händler und Seefahrer hervorbrachten, auch große Gelehrte und Maler. Reichtum, Gelehrsamkeit und Kunstsinn gingen Hand in Hand, ein Ende des «Goldenen Zeitalters» war nicht abzusehen. Vier Jahre hatte Kronprinz Friedrich Wilhelm in der Republik der Vereinigten Niederlande gelebt und gelernt. Er verließ sie achtzehnjährig. Das allein reicht nicht aus, seine Hinwendung zu niederländischen Vorbildern zu erklären. Ob er ihnen auch gefolgt wäre, hätte er, wie beabsichtigt, eine schwedische Prinzessin geheiratet? Man muss das Erleben Leidens und Den Haags im Kontrast zur anschließenden Zeit in Königsberg sehen, wo Nachrichten eintrafen, wie schwedische oder kaiserliche Truppen die Kurmark plünderten, ohne dass der Landesherr, sein Vater Georg Wilhelm, dem entschlossen entgegentreten konnte. Auch meint Verholländerung weit mehr als Geschmackspräferenzen. Man erkennt sie an den Formen des niederländischen Klassizismus, die Memhardt verwendete, oder an der Trinkschokolade, die am Hof gereicht wurde. Doch darin ging die kurfürstliche Westorientierung nicht auf.
Ihre Grundlage war das gemeinsame Glaubensbekenntnis. 1613 war Kurfürst Johann Sigismund zum Calvinismus übergetreten. Welche frommen Gefühle ihn dabei leiteten, kann dahingestellt bleiben. Mit seinem Bruder und einigen Räten hatte er zu Weihnachten im Berliner Dom das Abendmahl nach reformiertem Ritus genommen und ein ausführliches Glaubensbekenntnis veröffentlicht. Das Entsetzen der Berliner war groß, es kam zu Tumulten. Und in der Tat stellte der Konfessionswechsel eine Zumutung dar. Auch wenn der Landesherr nicht verlangte, dass man seinem Beispiel folgte, war er doch zugleich oberster Kirchenherr, summus episcopus all der wackeren Lutheraner, die Calvinisten ebenso verabscheuten wie Papisten. Aber die Konversion zahlte sich im Jülich-Kleveschen Erbfolgestreit aus – der Kurbrandenburger erhielt die Territorien im Westen. Und sie legte den Grund für die enge kulturelle Bindung an die Generalstaaten. Hinzu kam, dass Friedrich Wilhelm eine Oranierin heiratete. Luise Henriette war eine Enkelin Wilhelms I., des «Vaters des Vaterlandes», und eine Tochter des Statthalters der Niederlande. Diese Ehe beförderte die Verholländerung.
Der Terminus klingt beinah zu niedlich, denn im Zentrum der Maßnahmen nach niederländischem Vorbild stand das Militär, stand die Einrichtung eines stehenden Heeres. Friedrich Wilhelm, der achtundvierzig Jahre regierte, wurde als einzigem nichtköniglichem Herrscher «Größe» attestiert, weil er ein treuer Schüler der oranischen Heeresreform war. In dieser verbanden sich Überlegungen zur gesellschaftlichen Rolle der Soldaten und zu ihren Tugenden mit neuen Wegen der Finanzierung und der Ausbildung. Indem Friedrich Wilhelm diese Reform in Brandenburg-Preußen adaptierte, beendete er in seinen Ländern das Zeitalter der eigenmächtigen Kriegsunternehmer und der Söldner, die den Dreißigjährigen Krieg so blutig hatten werden lassen. Stattdessen: ein stehendes Heer, aus Steuern bezahlt, dem Landesherrn verpflichtet, einem disziplinarischen Regime unterworfen. Selbstredend waren die hergebrachten Gewohnheiten zäh, bis ins 18. Jahrhundert haderten die adligen Offiziere mit ihrer neuen Rolle. Aber am Ende seiner Regierung war es Friedrich Wilhelm gelungen, etwa dreißigtausend Soldaten zur Verfügung zu haben, zwanzigtausend in der Feldarmee, die anderen in den Festungen. Kein Fürst im Heiligen Römischen Reich deutscher Nation gebot über größere Streitkräfte. Imposanter war nur die kaiserliche Armee.
Was die oranische Heeresreform auf märkischem Sumpf und Sand bedeutete, sah man in Berlin täglich an den Festungswällen, deren kostspieligen Bau Johann Gregor Memhardt mit seinem Plan vorbereitet hatte. Dieser zeigte auch die angenehmere Seite der Verholländerung: Gärten und Alleen. Zuerst hatte Friedrich Wilhelm in Berlin die verkommene Grünanlage neben dem Schloss herrichten lassen. Ein kleiner Kanal trennte den alten Lustgarten mit Lusthaus vom Medizin- und Kräutergarten, dann folgte der Küchengarten. Das Ensemble wurde später berühmt, weil Johann Sigismund Elßholtz, seit 1657 Gärtner und Hofmedicus an der Spree, es ausführlich beschrieb und dabei die herbeigeschafften Tulpen nicht vergaß. Und man sieht auf Memhardts Plan, an der Hundebrücke beginnend, Reihen von Linden- und Nussbäumen. Sie waren Anlagen in Utrecht und Den Haag nachempfunden, der kurfürstliche Statthalter Johann Moritz von Nassau-Siegen hatte in Kleve Ähnliches unternommen.[12] Westlich von Cölln verbanden nun eintausend Bäume in sechs Reihen das Schloss mit dem Tiergarten, der damals viel näher an der Stadt lag.
Die Baumreihen, später Unter den Linden genannt, führten weg von der Doppelstadt. Sie war eingerahmt von den Festungswerken, neue Wege führten in den Westen. Beides, die Festung und die Erweiterungen, verschatteten von nun an die alte Stadt.
Berlin lag etwa in der Mitte zwischen den östlichen und westlichen Territorien des Kurfürsten, auf halbem Weg zwischen Preußen und dem Niederrhein; gut siebenhundert Kilometer entfernt von Königsberg, wo Friedrich Wilhelm seine letzten Jahre als Kurprinz verbracht hatte, etwa sechshundert Kilometer von Kleve, wo er nach seinem Regierungsantritt residiert hatte. Die kriegsmüden Städter profitierten von der Rückkehr des Hofes, der ein wichtiger Wirtschaftsfaktor war, aber die Erholung brauchte lange, beinah dreißig Jahre. Immer wieder geriet sie ins Stocken, so als der Kurfürst 1655 in den schwedisch-polnischen Krieg zog oder 1675, als er die Schweden endgültig aus der Mark vertrieb. Dann stiegen zugleich die Steuerlasten und die Brotpreise und in der Folge auch die Zahl der Todesfälle. Die Armen litten Hunger. Für die Truppen war Kontribution zu zahlen, die jährliche Belastung der Einwohner Alt-Berlins betrug «fast doppelt so viel wie während der schlimmsten Zeiten des Dreißigjährigen Krieges zwischen 1635 und 1641»[1]. Die Hauptstadtwerdung war für die Mehrheit – Handwerker, Gesellen, Tagelöhner, Arme – kein Vergnügen.
Wer in die Stadt kam, hatte sich auszuweisen, Pulvervorräte und Montierungskammern wurden angelegt. Die Festung Berlin wurde auch Garnison für zunächst tausendfünfhundert Soldaten und Offiziere. 1679 waren es schon zweitausend, die nebst Frauen und Kindern in den Bürgerhäusern Berlins und Cöllns Quartier nahmen. Wer sich nicht mit Geld davon freikaufen konnte, hatte den Einquartierten Betten zu geben, für Holz und Licht zu sorgen, Essig, Gewürze und Getränke herbeizuschaffen.[2] Das Militär gehörte von nun an zum Alltag, einschließlich der Reibereien und des Streits, die auf engem Raum kaum zu vermeiden waren und unausweichlich wurden, wenn die Löhnung der Soldaten ausblieb. Obwohl viele von diesen Brandenburger, ja Berliner waren, gestaltete sich das Zusammenleben konfliktreich. Bürgermeister und Ratsmänner klagten, dass Häuser verwahrlosten oder durch Unachtsamkeit in Brand gerieten, Soldaten ihre Wirte schlugen, Töchter verführten und die täglichen Geschäfte störten.[3] Die drakonischen Strafen für die Übeltäter vollzog man auf städtischer Bühne. Der Galgen für die Soldaten stand am Molkenmarkt, dem ältesten Platz der Stadt. In der noblen Breiten Straße, die zum Schloss führte, traten die Delinquenten zum Spießrutenlauf an.
Im Todesjahr des Großen Kurfürsten, 1688, erschien eine Darstellung Berlins aus der Vogelperspektive, angefertigt vom Kurfürstlich Brandenburgischen Ingenieur und Medailleur Johann Bernhard Schultz. Sie zeigt die zur Garnison und Festung gewordene Residenz, deren Erweiterung nach Westen bereits begonnen hat. Die Befestigungsanlagen waren in Wirklichkeit nicht ganz so üppig. Gut zu sehen: die meist zweigeschossigen Häuser und das Schloss, bevor der Architekt Andreas Schlüter auf den Plan trat.
Während die Schanzarbeiten und die Einquartierungen für Murren sorgten, stieß eine neue Steuerordnung auf Zustimmung. 1667 wurde in Berlin die Akzise eingeführt, eine Verbrauchssteuer auf Getreide, Fleisch,
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