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Jens Bisky

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Beschreibung

Als im Oktober 1929 Gustav Stresemann, der erfolgreiche Außenminister, starb, fragten sich die Zeitgenossen, wie es nun mit der Republik weitergehen könne. Gerade formierte sich eine faschistische Koalition, die 1933 an die Macht kam; Bauern warfen Bomben, die öffentlichen Haushalte litten unter wachsenden Defiziten, bald schien das parlamentarische System gelähmt. Demokratische Republik oder faschistischer Staat – so lautete ab dem Sommer 1930 die Alternative. Was folgte – der Aufstieg radikaler Kräfte, die Pulverisierung der bürgerlichen Milieus, der Aufruhr der Mittelschichten, die Selbstüberschätzung der Konservativen und Nationalisten, die sich einbildeten, Hitler zähmen zu können, Verelendung und Bürgerkriegsfurcht –, mündete in die verbrecherischste Diktatur des 20. Jahrhunderts. Jens Bisky erzählt, wie die Weimarer Republik in einem Wirbel aus Not und Erbitterung zerstört wurde. Es kommen Politiker und Journalisten der Zeit zu Wort, erschöpfte Sozialdemokraten, ratlose Liberale, nationalistische Desperados, Literaten, Juristen, Offiziere. Wie nahmen sie die Situation wahr? Welche Möglichkeiten hatten sie? – Das große Panorama einer extremen Zeit, die noch immer ihre Schatten auf die Gegenwart wirft.

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Jens Bisky

Die Entscheidung

Deutschland 1929 bis 1934

 

 

 

Über dieses Buch

Als im Oktober 1929 Gustav Stresemann, der erfolgreiche Außenminister, starb, fragten sich die Zeitgenossen, wie es nun mit der Republik weitergehen könne. Gerade formierte sich eine faschistische Koalition, die 1933 an die Macht kam; Bauern warfen Bomben, die öffentlichen Haushalte litten unter wachsenden Defiziten, bald schien das parlamentarische System gelähmt. Demokratische Republik oder faschistischer Staat – so lautete ab dem Sommer 1930 die Alternative.

Was folgte – der Aufstieg radikaler Kräfte, die Pulverisierung der bürgerlichen Milieus, der Aufruhr der Mittelschichten, die Selbstüberschätzung der Konservativen und Nationalisten, die sich einbildeten, Hitler zähmen zu können, Verelendung und Bürgerkriegsfurcht –, mündete in die verbrecherischste Diktatur des 20. Jahrhunderts. Jens Bisky erzählt, wie die Weimarer Republik in einem Wirbel aus Not und Erbitterung zerstört wurde. Es kommen Politiker und Journalisten der Zeit zu Wort, erschöpfte Sozialdemokraten, ratlose Liberale, nationalistische Desperados, Literaten, Juristen, Offiziere. Wie nahmen sie die Situation wahr? Welche Möglichkeiten hatten sie? – Das große Panorama einer extremen Zeit, die noch immer ihre Schatten auf die Gegenwart wirft.

Vita

Jens Bisky, geboren 1966 in Leipzig, studierte Kulturwissenschaften und Germanistik in Berlin. Er war lange Jahre Feuilletonredakteur der «Süddeutschen Zeitung» und arbeitet seit 2021 am Hamburger Institut für Sozialforschung. Er ist Autor viel beachteter Bücher, darunter «Geboren am 13. August» (2004), «Unser König. Friedrich der Große und seine Zeit» (2011) und «Berlin. Biographie einer großen Stadt» (2019). 2017 verlieh ihm die Deutsche Akademie für Sprache und Dichtung den Johann-Heinrich-Merck-Preis für literarische Kritik und Essay.

Impressum

Veröffentlicht im Rowohlt Verlag, Hamburg, November 2024

Copyright © 2024 by Rowohlt · Berlin Verlag GmbH, Berlin

Covergestaltung Frank Ortmann

Coverabbildung Europahaus in der Saarlandstraße (heute Stresemannstraße), Berlin/bpk

ISBN 978-3-644-01068-0

 

Schrift Droid Serif Copyright © 2007 by Google Corporation

Schrift Open Sans Copyright © by Steve Matteson, Ascender Corp

 

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www.rowohlt.de

«Wir sind auf alles gefaßt.»

Klaus Mann, 1927

Prolog: «Mehr als ein Verlust: ein Unglück!»

Als die Nachricht vom Tod Gustav Stresemanns in der Redaktion der Wochenschrift Das Tagebuch eintraf, war die nächste Nummer bereits gesetzt, die Druckmaschinen liefen. Es blieben nur wenige Minuten, um «die Bedeutung des Verlustes» zu umreißen. So knapp die Bemerkungen ausfielen, so düster geriet das Bild der Republik nach dem Hingang ihres Außenministers: Wer «Gefühl für politische Wirklichkeiten habe», wisse seit langem, «daß eigentlich nur dieser eine Mann den Kitt zwischen den auseinanderstrebenden gesellschaftlichen Kräften bildete, daß nur seine Person … eine ausschlaggebende Bürgerschicht im Lager der Verfassung und des Friedens hielt».[1] Eine Persönlichkeit, die diese Rolle in Zukunft übernehmen könne, sei nirgends zu entdecken; niemand sei in der Lage, Stresemanns Erbe anzutreten.

Nicht allein das Tagebuch sah im Tod des nationalliberalen Politikers ein Menetekel, ein nicht von allen verstandenes Anzeichen drohenden Unheils. «Mehr als ein Verlust: ein Unglück!» titelte die Vossische Zeitung am 3. Oktober 1929 in ihrer Abendausgabe.[2] Obwohl er fieberte, war der Einundfünfzigjährige am Tag zuvor noch in den Reichstag geeilt, um seine Fraktion, die der Deutschen Volkspartei (DVP), vom Sturz der Regierung abzuhalten. Der rechte Flügel, die schwerindustrielle Gruppe der DVP-Abgeordneten, wollte gegen ein Gesetz zur Reform der Arbeitslosenversicherung stimmen, was den sozialdemokratischen Reichskanzler Hermann Müller wohl das Amt gekostet hätte. Es brauchte aber eine stabile Regierung, das Bündnis von Sozialdemokraten und Bürgerlichen, um die Neuregelung der Reparationsfragen und die nächsten Schritte zur Revision des Versailler Vertrags nicht zu gefährden. Darüber wurde seit Monaten mit den Siegermächten des Weltkriegs verhandelt. Deswegen erschien der schwer Kranke am 2. Oktober persönlich im Reichstag. Ohne seine Autorität wäre im Sommer des Vorjahres die Große Koalition nicht zustande gekommen, nun musste er sie retten, was knapp gelang. Als ihm am Abend die Krankenschwester Mundwasser und Zahnbürste reichte, platzte ein Äderchen im Gehirn, er erlitt einen Schlaganfall, seine rechte Seite war vollständig gelähmt, er röchelte nur noch. Gegen 5.30 Uhr stellten die Ärzte fest, «daß der Tod eingetreten sei, ohne daß Stresemann das Bewußtsein wiedererlangt hatte».[3]

Die Nachricht löste einen Schock unter politisch Interessierten aus, sie verstärkte die oft diffusen Sorgen um die Stabilität der Weimarer Demokratie, verdüsterte die Aussichten für die kommenden Monate. Stresemanns Tod erlaubte es, das Unbehagen angesichts der politischen Entwicklungen, Unruhe wie Ratlosigkeit, mit einem konkreten Ereignis zu verbinden, das zum symbolisch bedeutsamen Moment wurde. Der vielgereiste Diplomat und Schriftsteller Harry Graf Kessler weilte Anfang Oktober 1929 in Paris und hörte dort beim Friseur, dass Stresemann gestorben sei. Die «Zeitungsfrau, der Mann an der Kasse des Grandhotel, die Kellner im Café de la Paix» sprachen ihm ihre Trauer aus: «‹C’est terrible cette disparition› ist der allgemeine Refrain. Ganz Paris empfindet seinen Tod wie ein fast nationales Unglück.» Es herrschte vor allem «Beunruhigung, was jetzt werden solle». Kessler befürchtete für die nähere Zukunft «sehr ernste innenpolitische Folgen, das Abrücken der Volkspartei nach Rechts, einen Bruch der Koalition, Erleichterung der Diktatur Bestrebungen».[4] Joseph Goebbels, damals NSDAP-Gauleiter Berlin-Brandenburg, schrieb siegesgewiss und unter Angabe einer falschen Todesursache in sein Tagebuch, dass Stresemann durch einen Herzschlag «hingerichtet» worden sei: «Ein Stein auf dem Weg zur deutschen Freiheit weggeräumt. Gut so! Er hat sich dem kommenden Strafgericht entzogen!»[5]

Einige Tage darauf, nach den Nachrufen, verspottete Carl von Ossietzky in der Weltbühne die Einfallslosigkeit der Nekrologschreiber. Was solle, fragte er, «die ermüdende Versicherung der Presse aller Farben, daß ganz Deutschland ‹aufs tiefste erschüttert sei›»? Wer wisse schon, ob die Menschen erschüttert seien: «Aber die Verhältnisse, die unter der fünfjährigen Ministerherrschaft Stresemanns geschaffen worden sind, die sind ohne ihn in der Tat ernsthaft erschüttert.»[6]

Thomas Mann sollte zwölf Monate später unter völlig veränderten Bedingungen den Tod Stresemanns als ein echt deutsches Missgeschick beklagen, «ohne das uns vieles erspart geblieben wäre».[7] 1939 erinnerte sich Sebastian Haffner im englischen Exil an die «Stresemannzeit». Sie sei für jüngere Deutsche «die einzige Zeit» gewesen, «in der die Grundtonart des Lebens einmal nicht Moll, sondern ein, wenn auch etwas zages und verwaschenes, Dur war».[8] Der Tod des Außenministers galt ihm als «der Anfang vom Ende».[9]

Stresemann war wenige Wochen vor dem New Yorker Börsenkrach gestorben, also noch vor dem Zusammenbruch der Weltwirtschaft, der Deutschland besonders hart traf. Verglichen mit dem, was dann kam, klangen die Befürchtungen Harry Graf Kesslers beinahe harmlos: Ein halbes Jahr nach Stresemanns Tod sollte die Regierungskoalition zerbrechen und einem Präsidialkabinett weichen, das am Reichstag vorbeiregierte und das parlamentarische System aushöhlte. Bereits im Herbst 1930 stellte die NSDAP, zu Lebzeiten Stresemanns eine Splitterpartei, die zweitstärkste Fraktion im Reichstag. Eine «ausschlaggebende Bürgerschicht» verließ das «Lager der Verfassung und des Friedens», während die Verteidiger der Republik die strategische Initiative nicht mehr zurückgewannen. Nur selten und punktuell fanden sie eine Antwort auf die Angriffe von rechts. Am 30. Januar 1933 ernannte der Reichspräsident Adolf Hitler zum Reichskanzler. Die «deutsche Revolution» stieß auf überraschend wenig Widerstand.

 

Die Agonie der Republik begann in jenem Herbst 1929. Seit Monaten wuchs die Unruhe im Land, Bauern protestierten, bald waren über drei Millionen Menschen arbeitslos gemeldet, rechte Parteien und nationalistische Verbände attackierten mit neuem Ingrimm die Verfassung, die Auslandsverschuldung war hoch, und ungewiss blieb, wie das Defizit im Reichshaushalt ausgeglichen werden sollte. Nun kulminierten lange schwelende Probleme. Jedes für sich hätte wohl gelöst werden können, ihr Zusammentreffen aber verstärkte bei einer wachsenden Zahl von Menschen den Eindruck, dass es so nicht weitergehen könne, ein Neubeginn notwendig sei. Das parlamentarische System wirkte wie gelähmt. «Die Sehnsucht nach Diktatur in irgendeinem Grade und in irgendeiner Form»[10] war weit verbreitet, wie der Wirtschaftswissenschaftler Alexander Rüstow im Sommer 1929 in einer Diskussion mit dem Staatsrechtler Carl Schmitt und dem liberalen Politiker Theodor Heuss festgestellt hatte. Sie grassierte nicht nur in Deutschland, sondern in vielen Ländern Europas. Ungarn, Italien, Polen, Spanien, Jugoslawien wurden bereits autoritär regiert. Die Weimarer Republik konnte beinahe als Ausnahmefall einer funktionsfähigen parlamentarischen Demokratie gelten. Dass die Regierungen häufig wechselten, änderte an dem Befund wenig. Auch in Großbritannien und Frankreich folgten die Kabinette rasch aufeinander. Dort wie in Deutschland garantierten einzelne Minister, die immer wieder zum Zuge kamen, Kontinuität. Stresemann war das herausragende Beispiel dafür. Mit ihm hatte die deutsche Republik bedrohlichste Krisen, beinahe aussichtslose Situationen überstanden. Gerade seine Erfolge boten Grund genug für vernünftigen Optimismus. Dass einer wie er «Weimars größter Staatsmann» geworden war, sprach für die Lebensfähigkeit und die Integrationskraft der Republik, die sich von ihm mit einem großen Staatsakt verabschiedete.[11]

Stresemann war im August 1923 Reichskanzler geworden. Damals stand die Republik in der Tat am Abgrund.[12] Wegen ausbleibender Reparationszahlungen hatte Frankreich das Ruhrgebiet besetzt, der passive Widerstand dagegen ruinierte die Staatsfinanzen, die Hyperinflation vernichtete Vermögen und Vertrauen von Millionen. Das tägliche Überleben glich einem Hasardspiel, Normalität schien fern, alles in Wirtschaft, Gesellschaft, Politik auf Treibsand gebaut. Separatisten riefen eine rheinische Republik aus, Kommunisten planten einen Aufstand. Im November putschte in München der Weltkriegsgeneral Erich Ludendorff an der Seite des Bierkeller-Demagogen Adolf Hitler, um nach dem Vorbild Mussolinis mit einem Marsch auf Berlin die Regierungsgewalt zu okkupieren. Nur Uninformierte hätten auf den Bestand der Republik gewettet.[13]

Doch sie überlebte. In nur drei Monaten gelang es dem Kanzler Stresemann, den passiven Widerstand zu beenden, sich mit den Alliierten zu verständigen, die Angriffe der Extremisten abzuwehren, die Währung zu stabilisieren. Zwar unterlag er Ende November in einer Vertrauensabstimmung, aber er blieb von nun an Außenminister. Mit einer Reihe von Verträgen führte er die Weimarer Republik aus der außenpolitischen Isolation, erreichte eine Neuordnung der Reparationszahlungen, Frieden am Rhein, garantiert durch den Verzicht Deutschlands und Frankreichs auf die Anwendung von Gewalt, schließlich die Aufnahme des 1918 besiegten, in Versailles gedemütigten Landes in den Völkerbund. Dafür erhielten er und sein französischer Kollege Aristide Briand 1926 den Friedensnobelpreis. Beflügelt von den ersten Schritten deutsch-französischer Versöhnung entstanden konkrete Projekte für eine europäische Union. Im August 1928 unterschrieb die Republik den Briand-Kellogg-Pakt, der den Krieg ächtete und zur friedlichen Beilegung von Konflikten verpflichtete. Damit war eine völkerrechtliche Norm gesetzt, die sich leicht verspotten und abtun ließ, da der Vertrag Kriege und Kriegsverbrechen nicht verhinderte, aber das sprach nicht gegen die Norm. In den Nürnberger Prozessen gegen die deutschen Kriegsverbrecher sollte man sich auch auf diesen Pariser Vertrag berufen. Dass Stresemann auch machtpolitische Gründe hatte, den Pakt zur Ächtung des Krieges zu unterschreiben, mindert dessen Bedeutung nicht.

Der Mann mit dem kurzgeschorenen, fast kahlen Kugelkopf und den kleinen Augen erinnerte ausländische Beobachter an die Karikatur eines Deutschen: «Er war lebhaft und leicht geärgert. Sein Lachen lärmend. Und dann war er ein erstaunlicher Esser und Trinker, ein Glas Bier nach dem anderen verschwand in seiner Kehle während einer Mahlzeit.»[14] Politisch hatte er seit seinen Anfängen im Nationalsozialen Verein für ein starkes, mächtiges Deutschland gearbeitet und während des Krieges durchweg aggressiv nationalistische Positionen vertreten. Er hatte 1916 den uneingeschränkten U-Boot-Krieg befürwortet, den von der dritten Obersten Heeresleitung geforderten Sturz des angeblich zu schwachen Kanzlers Bethmann Hollweg begrüßt, damit die faktische Diktatur des Generals Ludendorff befördert und bis zur Niederlage für einen «Siegfrieden» mit gewaltigen Annexionen im Osten wie im Westen und in den Kolonien geworben.[15] Der größte Staatsmann der Republik hatte mit seiner DVP in der Nationalversammlung gegen die Verfassung von Weimar gestimmt, war während des Kapp-Putsches für Verhandlungen mit den Putschisten eingetreten und hatte schließlich dem Kronprinzen aus dem Hause Hohenzollern den Weg zurück nach Deutschland geebnet.[16]

Er wollte, wie er immer wieder betonte, «die Brücke sein zwischen dem alten und dem neuen Deutschland».[17] Berliner Witz verglich ihn «mit dem Schutzmann, der hoch auf dem Verkehrsturm am Potsdamer Platz steht: er schaue einmal links, einmal rechts, und zeige alle zwei Minuten eine andere Farbe».[18] Doch gab es durchaus Überzeugungen, denen er treu blieb, Ziele, die er unbeirrt weiter verfolgte, indem er die Mittel, sie zu erreichen, neuen Realitäten anpasste. Da die Republik nach der Niederlage und angesichts der Beschränkungen durch den Versailler Vertrag nicht auf militärische Stärke setzen konnte, sollte kluge Wirtschaftspolitik Deutschlands Macht mehren.

Eines hatte ihn früh schon vom Gros der Nationalisten unterschieden: Stresemann setzte auf Demokratisierung im Inneren und sprach sich, obwohl er seine Laufbahn als Wirtschaftslobbyist begonnen hatte, für eine aktive Sozialpolitik aus. Damit stand er, so der erste Geschichtsschreiber der Weimarer Republik, der abtrünnige Kommunist Arthur Rosenberg, jenseits der Schlagworte und Üblichkeiten. Wer Ludendorff und Annexionspläne unterstützte, verteidigte innenpolitisch meist «konservative Autorität». Wer gegen das preußische Dreiklassenwahlrecht und für Parlamentarisierung eintrat, wünschte im Regelfall einen Verständigungsfrieden.[19] Stresemann stand quer zu diesen Fronten.

Bei der Reichstagswahl im Mai 1928 hatten etwa 2,7 Millionen Menschen ihre Stimme seiner Partei gegeben, das waren etwas weniger als 1924. Es entsprach Stresemanns Pragmatismus und seinem Nationalliberalismus, dass er die Deutsche Volkspartei mit aller ihm gegebenen Autorität in eine Große Koalition unter dem Sozialdemokraten Hermann Müller zwang. Dieser erklärte im Juli 1928: «Die Fundamente des neuen Staates, der deutschen Republik, stehen sicher und unerschütterlich.»[20] Das war auch eine beschwörende Formel, gesprochen im Bewusstsein der Gefahren; glaubwürdig wurde sie, weil nach Krieg, Revolution, Inflation und Putschversuchen politisch und wirtschaftlich eine gewisse Beruhigung eingetreten war, die gesellschaftliche Stimmung sich entspannt hatte. Dass vieles im Argen lag, geschworene Feinde der Republik weiter gegen sie wühlten und sich reichlich Zündstoff angesammelt hatte,[21] musste nicht zwangsläufig die Fundamente erschüttern.

 

Der Abschied von Stresemann wurde, wie sich Thomas Mann später erinnerte, «eine Welttrauerkundgebung von kaum je erhörter Einmütigkeit und überzeugender Gefühlswärme».[22] Für Goebbels bewiesen die vielen Würdigungen in den Zeitungen, «wessen Beschützer und Freund» Stresemann gewesen sei, es trauerten um den Toten «die Juden und die Franzosen».[23] Doch die Wirklichkeit widersprach der denunziatorischen Floskel. Zum Gedenken verstummte in den Schaubuden und Bierzelten des Münchner Oktoberfests für eine Viertelstunde die Musik. In einem niederbayerischen Dorf hielten Bauern am Abend eine «Rosenkranzandacht für den deutschen Außenminister».[24]

Am Sonntag, den 6. Oktober 1929, wurde Gustav Stresemann beigesetzt. Es war ein «strahlend schöner, warmer Tag».[25] Die Trauerfeierlichkeiten begannen im Reichstag. Der Leichnam war am Abend zuvor von Schutzpolizei in den Plenarsaal gebracht worden, den der Reichskunstwart Edwin Redslob in einen Andachtsraum verwandelt hatte. Die Wand hinter dem Tisch des Reichstagspräsidenten war fast bis zur Decke schwarz ausgeschlagen, davor stand der Sarg «unter einer goldenen, mit dem Schwarzen Reichsadler geschmückten Decke aufgebahrt»[26]. Ringsum prächtige Kränze, Männer des Auswärtigen Amtes hielten Ehrenwache. Die Kronleuchter hatte man schwarz verhüllt.

Es war das dritte Staatsbegräbnis der Republik, nach dem für den ermordeten Außenminister Walther Rathenau und dem des verstorbenen Reichspräsidenten Friedrich Ebert. In seiner Trauerrede sagte Reichskanzler Hermann Müller, es habe keinen treueren Deutschen als diesen gegeben. Vaterlandsliebe habe Stresemann dazu getrieben, für die Republik zu arbeiten, «um auf der neuen staatlichen Grundlage in einer trüben Gegenwart unserem Volke eine bessere Zukunft vorzubereiten».[27] Harry Graf Kessler, der aus Paris herbeigeeilt war, notierte skeptisch, die Rede sei «gut» gewesen, «aber schwunglos».[28] Ihm fiel auch auf, dass die Farben der Republik, Schwarz-Rot-Gold, nur «verschämt» präsentiert wurden und manche Kränze schwarz-weiß-rote Schleifen trugen, also jene Farben, die zu einem Zeichen vieler Gegner des neuen Staates geworden waren.

Unter großem Gedränge verließen die Trauernden den Reichstag, eine weitere Rede wurde gehalten, die freilich schwer zu verstehen war, kreisten doch Flugzeuge mit Trauerwimpeln an den Flügeln über dem Platz. Das Ehrengeleit der Lufthansa war am Flughafen Tempelhof gestartet. Über den Trauerzug vom Reichstag bis zur Wilhelmstraße berichtete Alfred Braun für den Rundfunk, auf einem Balkon in der Wilhelmstraße stand er mit Mikrophon, seine Reportage ist erhalten.[29] An der Spitze des Zuges ritten Schutzpolizisten, gefolgt von einer Kapelle und dem Sarg, hinter diesem der Reichspräsident Paul von Hindenburg. Neben anderen standen Männer des Reichsbanners, des Bundes republikanischer Kriegsteilnehmer, Spalier. Keine andere Massenorganisation der Republik zählte so viele Mitglieder wie diese. Vor dem Außenministerium in der Wilhelmstraße hielten die Trauernden kurz inne. Ein Trauerchoral erklang. Die schwarz drapierten Fenster von Stresemanns Arbeitszimmer waren geöffnet, auf der Brüstung stand ein Korb mit weißen Lilien. Dann setzte sich der Zug wieder in Bewegung, Tschakos und Zylinder prägten das Bild der Prozession, am Rande Stehende entblößten ihr Haupt, wenn der Sarg an ihnen vorbeikam. Auf dem Luisenstädtischen Friedhof wurde Stresemann beigesetzt. Hunderttausende sollen ihm die letzte Ehre erwiesen, Tausende in den kommenden Tagen sein Grab besucht haben. Nicht ein Staats-, ein «Volksbegräbnis» sei es gewesen, schrieb eine Zeitung.[30]

 

Die überwältigende Anteilnahme täuschte aufmerksame Beobachter nicht darüber hinweg, dass es an vielen Stellen im Land rumorte, die Zahl der Konflikte wuchs, ohne dass abzusehen war, wie sie sich befrieden ließen. Hatte also das Schicksal der Republik, wie das Tagebuch suggerierte, tatsächlich an diesem einen Mann gehangen, der nicht zu ersetzen schien? Ja und nein, müsste die Antwort lauten. Ja, weil es Stresemann dank seiner politischen Intelligenz und unter vollem Einsatz des Ansehens, das er sich erworben hatte, gelungen war, auseinanderstrebende Kräfte beisammenzuhalten. Ja auch, weil den Entscheidungen Einzelner in den letzten Weimarer Jahren große Bedeutung zukam. Je mehr das politische System erodierte, Parteien ihre Anhänger enttäuschten und an Bindekraft verloren, Parlamente blockiert waren, desto mehr kam es auf einige wenige in herausgehobener Position an. Die Geschichte der Republik wäre anders verlaufen, wenn 1925 nicht Paul von Hindenburg die Reichspräsidentenwahl gewonnen hätte. Oder man stelle sich vor, das Redeverbot für Adolf Hitler, dem es nach seiner Haftentlassung in Bayern, Baden, Preußen, Hamburg, Anhalt, Sachsen, Oldenburg, Lippe, Lübeck eine Zeitlang untersagt war, in öffentlichen Versammlungen zu sprechen, hätte noch 1929 und 1930 gegolten.[31]

Berlin, Platz der Republik, Blick auf die Siegessäule: Hunderttausende strömten am 6. Oktober 1929 zum Reichstag, um Gustav Stresemann die letzte Ehre zu erweisen. Mit dem Tod des Außenministers, der in ganz Europa betrauert wurde, endete eine Ära. Niemand schien den Verständigungspolitiker ersetzen zu können.

Dennoch, und das begründet das Nein, hätte auch Stresemann kaum länger wichtige Kreise des Bürgertums im Lager der Republik halten können. Zuletzt war ihm das mit Rücktrittsdrohungen geglückt. Dieses Mittel nutzte sich im Gebrauch ab. Stresemann stand für eine Generation, die um 1930 in die Defensive geriet, und für ein Milieu, das dem Ansturm der Radikalen rascher als andere erlag. Er zählte zur Gründerzeitgeneration, der, so der Historiker Detlev Peukert, die «prägenden Persönlichkeiten der Weimarer Republik» angehörten.[32] Ihr voraus ging die wilhelminische Generation, ihr folgte die Frontgeneration derer, die, wie etwa Thälmann und Hitler, in den späten 1880er- und 1890er-Jahren geboren waren. Um die nach 1900 Geborenen, die «überflüssige Generation», entwickelte sich ein eigener Kult der Jugend und des grundsätzlichen Neubeginns.[33] Stresemann war der herausragende Vertreter des protestantisch-bürgerlichen Milieus, dessen politische Organisationen in den Notlagen um 1930 zerfielen, rascher als die der konservativen, sozialistischen oder katholischen sozialmoralischen Milieus.[34] Ein Politiker vom Format Stresemanns hätte gewiss einige übereilte Aktionen und Dummheiten vermeiden, aber den Zusammenbruch des Parteiensystems nicht aufhalten können. Wenige Monate nach seinem Tod stand das Land mit seinen etwa dreiundsechzig Millionen Menschen vor der Alternative: demokratische Republik oder faschistischer Staat.

Dieses Buch vergegenwärtigt Schlüsselmomente jener letzten Weimarer Jahre. Ausführlich kommen die Handelnden mit ihren Illusionen, ihrer Ratlosigkeit, ihrer Verzweiflung wie ihrem Aufbruchspathos zu Wort. Im Zentrum steht die Frage, wie sie die Situation wahrnahmen und welche Möglichkeiten sie hatten. Die Nationalsozialisten eroberten die Macht nicht mit einem Marsch auf Berlin, sondern in einer faschistischen Koalition aus alten Eliten und jungen Kämpfern, unterstützt von Militaristen, Unternehmern, Großagrariern, nationalistisch entflammten Pfarrern, getragen von Millionen Wählern. Dem 30. Januar 1933 gingen viele kleine und größere Siege der NSDAP voraus, an Universitäten, in Vereinen, Kommunen, auf der Straße und in den Zeitungen. Sie war in der Lage, die Missvergnügten und die Staatsgegner hinter sich zu sammeln, weil sie eine Organisation aufgebaut hatte, deren Schlagkraft Konkurrenten auf der Rechten wie linke Gegner in Erstaunen versetzte. Zwar blieb die Wirklichkeit hinter den propagandistischen Inszenierungen von Geschlossenheit und Effizienz weit zurück, doch verfügte die Hitlerbewegung überall im Reich über Ortsvereine und SA-Trupps, die das «System» mit Agitation und Gewalt unentwegt attackierten. An Warnungen vor der faschistischen Gefahr fehlte es nicht. Zum Dritten Reich führten viele kleine und große Entscheidungen – und nicht zuletzt die zeittypische Erwartung, die eine, alles umwälzende Entscheidung stünde unmittelbar bevor.

Die letzten Jahre der Weimarer Republik gehören zu den am besten dokumentierten Perioden der deutschen Geschichte. In letzter Zeit ist wieder viel über sie geredet worden. Nicht wenige glauben, die Unordnung der Gegenwart im Spiegel der damaligen Kämpfe und Katastrophen besser zu verstehen. Wer in den Zeitungen von damals blättert, die Millionen Deutsche mit Nachrichten und Meinungen versorgten, das Weltbild mehr prägten als andere Medien, trifft auf vertraute Argumente, Formulierungen, Aufrufe und lernt zugleich Umstände kennen, die sich grundsätzlich von den heutigen unterscheiden. Das beliebte Schlagwort von den «Weimarer Verhältnissen» verdeckt mehr, als es erhellt, waren doch die Verhältnisse im Herbst 1929 andere als im Sommer 1931 oder am Silvesterabend 1932. Auch auf diese Unterschiede kommt es im folgenden Panorama des Untergangs an.

Der Sozialdemokrat Wilhelm Hoegner fasste seine Erfahrungen der letzten Weimarer Jahre in ein eindrucksvolles Bild: «Wir schwammen wie auf einer Scholle mitten im Eismeer, täglich bröckelten Stücke ab, wir sahen den Tod vor uns, aber wir hofften, bevor er uns umkrallte, das feste Land zu gewinnen.»[35] Die Entwicklung hatte vor Stresemanns Tod begonnen, war nun aber für alle sichtbar, die sehen wollten. Und was einem Eismeer glich, der Kältestrom gegen die parlamentarische Republik und den Rechtsstaat, war vorbereitet, wurde organisiert.

1. Bauern, Bomben, Desperados: Die Landvolkbewegung und der neue Nationalismus

«Aber dann zeigte es sich bei jeder Diskussion, dass einer dabei war, ein stummer Gast, der meist gar nicht sichtbar war und der doch die Diskussion beherrschte, weil er die Themen stellte, die Methodik vorschrieb und die Richtung bestimmte. Und dieser stumme Gast hieß Adolf Hitler.»

Ernst von Salomon

«Ein zentrales Aufruhrsignal»? Anschlag auf den Reichstag

Am Sonntag, den 1. September 1929, kurz nach 4 Uhr, explodierte eine «Höllenmaschine» im Reichstag. Sie war an der Nordseite, neben Portal V, in den Lichtschacht hinabgelassen worden. Die Detonation zerstörte einige Fenster. Bruchstücke der Taschenlampenbatterien und des Weckers, die zum Bombenbau benutzt worden waren, flogen bis auf die Straße. An einem Straßenbahnmast in der Nähe fand die Polizei eine Klebemarke mit Hakenkreuz und der Aufschrift «Großdeutschland erwache!».[36] Niemand war zu Schaden gekommen, die zerborstenen Fensterscheiben ließen sich rasch ersetzen, Maurer würden die Wände im Lichtschacht ausbessern. Es blieb der «Akt des Hasses gegen das Parlament».[37]

Die Umstände, die Sprengstoffladung, die Konstruktion der Bombe ließen sofort einen Zusammenhang mit jüngsten Anschlägen in Schleswig-Holstein, Lüneburg und Oldenburg vermuten, wo Bauern in Wut über ihre miserable wirtschaftliche Lage und die viel zu hohen Steuern Landrats- und Finanzämter, auch Wohnhäuser von Beamten und anderer, die sie für Feinde hielten, attackiert hatten: mit Handgranaten, mit selbstgebastelten Zeitbomben. Die Vossische Zeitung sah im Berliner Anschlag vor allem ein Zeichen der Vergeblichkeit, sei doch die «parlamentarische Idee» im deutschen Volke «so groß und so mächtig geworden, daß sie auch mit den Giftbomben einer verlogenen Agitation nicht wird erschüttert oder gar gefährdet werden können».[38]

Carl von Ossietzky war skeptischer angesichts der inzwischen elf Sprengstoffattentate seit dem November des Vorjahres: «Mögen mir die sozialdemokratischen Konsistorialräte die Kühnheit verzeihen: – die Bomben werden von großen Teilen der Bevölkerung nicht ohne heitere Zustimmung aufgenommen. Es sind gut agrarische Bomben mit deutschem Erdgeruch, auf deutschem Kartoffelacker gewachsen, mit deutschem Idealismus gedüngt, mehr laut als furchtbar, mehr treuherzig als tückisch.»[39] Er übertrieb sicher, wenn er die Bombe am Reichstag «ein zentrales Aufruhrsignal»[40] nannte. An wen denn? Die Berliner Bombenangelegenheit glich eher einem theatralischen Symbol; zufällig Vorübergehende waren mit Krach und Rauch erschreckt worden, als hätte sich einer über die Hilflosigkeit der Regierenden angesichts der seit Monaten andauernden Bauernrebellion in Schleswig-Holstein lustig machen wollen.

25000 Mark setzte der Berliner Polizeipräsident zur Belohnung aus, 10000 Mark für die Aufklärung des Anschlags in der Hauptstadt, 15000 für die Erhellung des Zusammenhangs mit anderen Terrorattacken. Bald sah es so aus, als hätte die Polizei Erfolg. In der Überzeugung, es handele sich um «eine einheitliche politische Bewegung rechtsradikaler aktivistischer Kreise», ließ man im Norden Landvolkmänner sowie deren Unterstützer und in Berlin nationalistisch gesinnte Aktivisten festnehmen, nach Waffenfunden ermittelte man weiter in Winsen und Harburg.[41] In Untersuchungshaft kamen etwa der Schriftsteller Ernst von Salomon und Hartmut Plaas, beide Mitglieder der Organisation Consul, beide beteiligt an der Ermordung Walther Rathenaus. Plaas, seit 1921 auch NSDAP-Parteigenosse, war wegen Mitwisserschaft zu zwei Jahren, Ernst von Salomon, der das Auto besorgt hatte, wegen Beihilfe zu fünf Jahren Zuchthaus verurteilt worden. Die Verhaftungen trafen Republikgegner, doch ein großes Komplott konnte ihnen nicht nachgewiesen werden. Sie hatten keines geschmiedet.

Ernst Jünger, einer «der besten Kenner der modernen Materialschlacht»[42] und damals die Leitfigur junger Nationalisten, mokierte sich in der Deutschen Zeitung über eine «Art des Presseterrors», «weit verächtlicher … als jeder Bombenterror». Der «Berliner Kreis», gegen den sich die Ermittlungen richteten, sei ein Phantasiegebilde aus Zeitungsberichten. «Die einzige Gemeinsamkeit, die die in Berlin verhafteten oder im Zusammenhang mit den Anschlägen genannten Persönlichkeiten besitzen, ist die, daß sie sich zum Nationalismus bekennen. Das Ziel des Nationalismus ist der nationale, soziale, wehrhafte und autoritativ gegliederte Staat aller Deutschen.»[43] Die Polizei und die demokratische Presse, so Jünger weiter, würden «die Gewalttaten einer anonymen Erbitterung als billigen Vorwand nutzen, um den nationalen Willen zu knebeln».[44]

Die Proteste, Boykotte, Bombenattentate der Landvolkbewegung und ihr Bündnis mit dem jungen Nationalismus erhöhten die 1929 ohnehin wachsende Unruhe im Land. Im Rückblick lässt sich an ihnen geradezu idealtypisch studieren, wie bestimmte Schichten, Regionen und auch Einzelne sich allmählich vom politischen System abkoppelten, freie Radikale wurden, die einzubinden nicht mehr gelang. Das Terrain besetzten die Nationalsozialisten, die Erbitterung und nationale Gesinnung adressierten. Anders als das Landvolk und die Desperados des Berliner Kreises waren sie straff organisiert.

Erschütterte Welt und rücksichtslose Entschlossenheit: Die Bauernproteste

Die Landvolkbewegung begann mit der Empörung verzweifelter Schuldner. Dass die Höfe und Landwirtschaftsbetriebe immer weniger abwarfen, immer seltener rentabel waren, dass die Kosten in bedrohlichem Maße wuchsen, während die Einnahmen schrumpften, hatte mehrere Ursachen. Ungünstiges Wetter – im Sommer 1927 regnete es besonders viel – und Missernten gehörten ebenso dazu wie Konkurrenz aus anderen Ländern, mit denen die Republik Handelsverträge abschloss, und geringere Nachfrage im Inneren aufgrund hoher Arbeitslosigkeit. Verglichen mit der Vorkriegszeit, musste für Löhne viel mehr gezahlt werden. Nach Hyperinflation und Stabilisierung fehlte es vor allem an Kapital, ohne das sich nicht wirtschaften ließ. Kredite waren teuer, wer etwa Geld aus der ersten Amerika-Anleihe borgte, musste als Kreditnehmer mit bis zu vierzehn Prozent Gesamtkosten rechnen.[45]

Die gesamte Schuldenlast der deutschen Landwirte hatte sich in der kurzen Zeit zwischen 1924 und 1928 mehr als verdreifacht, war von zwei Milliarden Mark auf 6,8 Milliarden gestiegen.[46] Wenn dann die Erträge sanken, blieb von der Arbeit eines Jahres wenig bei den Bauern. 1927/28 erwirtschafteten bäuerliche Betriebe in den westlichen Kreisen Schleswig-Holsteins und in Süd-Holstein ein versteuerbares Einkommen im Minusbereich, selbst wenn man den Lohnanspruch der «mitarbeitenden Unternehmerfamilie» nicht berücksichtigte, also davon ausging, dass der Bauer, seine Frau und seine Kinder unbezahlt arbeiteten.[47] Die Steuerlast für sie, die bäuerlichen Besitzer, war in der Republik vier- bis fünfmal so hoch wie unter dem Kaiser, und sie wurde nach einem Einheitswert berechnet.[48] Geringe Erträge, hohe Verschuldung und hohe Steuerschulden führten zu immer mehr Zwangsversteigerungen. In allen Landkreisen Schleswig-Holsteins wurde zwangsversteigert, 1925: 210 Hektar, 1926: 919 Hektar, 1927: 1086 Hektar, 1928: 850 Hektar, 1929: 2913 Hektar.[49] Wer auf dem Land kein Auskommen fand, hatte es keineswegs leicht, in der Stadt Lohn und Brot zu finden. In Kiel waren 1928 bereits 36 Prozent der gewerkschaftlich Organisierten arbeitslos, in Lübeck 40 Prozent, in Hamburg 28 Prozent, in Altona 29 Prozent.[50]

Die Zahlen beschreiben die Wirklichkeit vor dem Schwarzen Freitag und verraten nichts darüber, wie die in ihrer Existenz Bedrohten sie wahrnahmen, ihre erschütterte Welt deuteten. Das Rendsburger Tageblatt druckte im April 1928 einen Leserbrief des Bauern Paustian aus Kaköhl: «Viereinhalb Jahre hat der deutsche Bauer seine Scholle gegen äußere, sichtbare Feinde verteidigt, und als er zurückkehrte, setzte er die friedliche Arbeit in seinem Königreich wieder fort. Doch dieses friedliche stille Schaffen war ihm nicht lange vergönnt; denn bald merkte er, daß ihm nicht nur das ersparte Barvermögen mit Hilfe der Inflation geraubt wurde, sondern daß die dunkle Macht auch ihre Hände ausstreckte nach der Substanz, nach der ihm liebgewordenen Scholle.»[51]

Die Lage war überall miserabel, wenn auch mit Abstufungen. In Schleswig-Holstein litten zuerst die Bauern der Marsch, die als wohlhabend und eine Art Bauernaristokratie galten, stolze, freie Großbauern, wie es sie sonst höchstens in Friesland und Teilen Westfalens gab.[52] Am 28. Januar 1928 protestierten hundertvierzigtausend schleswig-holsteinische Bauern, Arbeiter und Handwerker in den Landstädten Husum, Niebüll, Rendsburg, Schleswig, Flensburg, Eckernförde, Neumünster, Plön und anderswo. In Heide, dem Hauptort Dithmarschens, forderte der Hofbesitzer Otto Johannsen in ihrem Namen eine Änderung der Handelspolitik («Nahrungsmittelfreiheit vom Auslande»), die Übernahme der Rentenbankgrundschuldzinsen durch das Reich und eine scharfe Kontrolle der Kreditanstalten. Unterbunden werden sollte die angeblich hemmungslose Ausgabenwirtschaft «in Reich, Staat und Kommunen».

Vor etwa zwanzigtausend Menschen sprach Johannsen. Sie hörten, wie er Forderungen zur Behebung der wirtschaftlichen Not mit weit ausgreifenden politischen Wünschen, das Verlangen nach Steuerreformen mit Deutschtumsgerede verband. Von der Presse verlangte er die «Vermeidung jeglicher unserem Deutschtum abträglichen Fremdtümelei» und «Stärkung des Deutschgefühls»;[53] außerdem sollten die Zeitungen nur sachlich über die Wirtschaft berichten und dieser Raum für Veröffentlichungen zur Verfügung stellen. Vor allem aber forderte Johannsen den Zusammenschluss der landwirtschaftlichen, freiberuflichen Organisationen, der bäuerlichen Interessenverbände, um einen «Machtfaktor» zu bilden, der die Notlage wenden könne.[54]

Der Anspruch war der durchaus demokratische, gehört zu werden, vertreten zu sein, die eigenen Interessen repräsentiert zu sehen. Seit die große Industrie und die großen Städte wuchsen, fühlten die Bauern sich vielfach ins Abseits gedrängt. Das gleiche Stimmrecht für alle erforderte besondere Schlagkraft. Ganz Schleswig-Holstein zählte 1930 etwas über 1,5 Millionen Einwohner, während Hamburg, ohne Altona, gut 1,1 Millionen Einwohner hatte, Berlin mehr als 4 Millionen. Zwar arbeiteten 1925 30,5 Prozent aller Beschäftigten in der Land- und Forstwirtschaft und 35,5 Prozent lebten in kleinen Gemeinden mit weniger als zweitausend Einwohnern,[55] aber das Gefühl, eine Minderheit zu sein, die im Zuge weiterer Industrialisierung und Urbanisierung vergessen zu werden drohte,[56] blieb stark. In den großen Städten bauten sie Sportanlagen, sensationelle Ausstellungshallen, U-, Hoch- und Autobahnen. Auf den Dörfern erschien der Staat in Gestalt des Polizisten und des Finanzbeamten.

Nach den Demonstrationen im Januar 1928 empfingen der Reichspräsident und einige Reichsminister Vertreter der protestierenden Bauern, alle zeigten Verständnis, ein Notprogramm unterstützte die Umschuldung der Betriebe, einige Maßnahmen zur Marktregulierung und Preisstabilisierung wurden getroffen.[57] Dem Reichslandbund, der großen landwirtschaftlichen Interessenvertretung, reichte das nicht. Seine Vertreter erklärten, nicht länger Steuern zahlen zu wollen, weitere Zwangsmaßnahmen nicht zu dulden.[58] Die Regierung war alarmiert, doch es standen Reichstagswahlen an, ein Steueraufschub endete im Herbst 1928, in Schleswig-Holstein begannen die Pfändungen wieder.

Im November traf es zwei Bauern aus Beidenfleth, die ihre Grundvermögenssteuer nicht zahlen konnten, einige hundert Mark. Der Gemeindevorsteher brachte Kuckucksmarken am Stall zweier Ochsen an, um sie bald auf dem Hamburger Viehmarkt zu versteigern. Am Vormittag des 19. November kam der Gemeindediener, dem man zwei Arbeitslose zur Unterstützung zugeteilt hatte, die gepfändeten Ochsen abzuholen. Auf der Chaussee stellten sich ihnen Bauern entgegen, zwischen hundertfünzig und zweihundert waren aus dem Dorf und der Umgebung zusammengelaufen, sie hatten Forken und Stöcke bei sich, bedrängten die Vollstrecker und die Ochsen, zündeten Stroh an, bliesen in Feuerhörner. Der Rechtsanwalt Walter Luetgebrune, damals Mitglied der Deutschnationalen Volkspartei, bald Verteidiger der Bombenwerfer und Berater der Bauern, schrieb in seiner parteiischen Schilderung der Beidenflether Vorgänge: «Es wurde von der Menge gerufen, die Ochsen sollten zurückgebracht werden und nicht in die Hände der Juden kommen.»[59] Angesichts der Menge gab der Gemeindediener auf, die Ochsen trotteten in ihren Stall zurück, die Versteigerung war verhindert worden. Ein Gericht beschied später, dass die Pfändung nicht ordnungsgemäß vorgenommen worden sei. Die Ochsen von Beidenfleth beschäftigten das preußische Innenministerium, den Landtag, die Presse und Literaten.

Vergleichbare, kurzfristig verabredete Aufmärsche gegen Pfändungen und Zwangsversteigerungen gab es bald häufiger. Zu den Protesten und Versammlungen kamen Verwandte, Nachbarn, deren Freunde und Bekannte. Die Viehhöfe wurden unter Druck gesetzt, man würde sie boykottieren, sollten sie beschlagnahmte Tiere versteigern. Ende 1928 erklärten die Viehkommissionäre von Hamburg und Altona, wegen Steuerrückständen beschlagnahmte Tiere künftig zurückzuweisen.

Symbolfiguren, als Männer an der Spitze allseits akzeptiert, wurden die Bauern Wilhelm Hamkens aus Tetenbüll auf Eiderstedt und Claus Heim aus Sankt Annen-Österfeld in Norderdithmarschen. Claus Heim hatte mehr von der Welt gesehen als die meisten Großstädter seiner Zeit. 1884 geboren, wanderte er mit Mitte zwanzig nach Südamerika aus und züchtete Rinder in Paraguay. Im Krieg diente er als Offizier, ging dann wieder nach Paraguay, bevor er den Hof seiner Eltern übernahm. Wilhelm Hamkens hatte sich 1914 freiwillig gemeldet und den Krieg als einfacher Soldat begonnen. Er kehrte im Rang eines Leutnants zurück, absolvierte eine beachtliche militärische Karriere und schloss sich extrem rechten, republikfeindlichen Organisationen an, etwa der Organisation Escherich, zu deren Gründern auch der Hauptmann und spätere SA-Führer Ernst Röhm gehörte, oder dem Stahlhelm Westküste, einem besonders radikalen Verband im konterrevolutionären Bund der Frontsoldaten. Hamkens und Heim riefen in Zeitungen zum Steuerboykott auf und koordinierten die Aktionen der Landvolkbewegung, die keine eigene Organisation gründete, keinem Stab und keinem Zentralkomitee folgte.

Männer des Aufruhrs: Am 19. November 1928 verhinderten Bauern im holsteinischen Beidenfleth die Pfändung zweier Ochsen, deren Besitzer Steuerschulden hatten. Die Ochsen von Beidenfleth wurden berühmt, der Vorgang beschäftigte Parlamente, Gerichte und die Presse.

Schilderungen der Bauernproteste erwecken oft den Eindruck, dass diese von Spontaneität und nachbarschaftlicher Nothilfe geprägt waren. «De Bur steiht up!», hieß es, die Verzweiflung der Bauern, die fürchteten, ihren Hof zu verlieren, und ihr Zorn waren groß. Ausdruck fand die Wut von Anbeginn in republikfeindlichen und antisemitischen Parolen, organisiert wurde sie von Männern der Rechten. Sich auf Deutschland zu berufen, schien eine allen politischen Entscheidungen vorangehende Selbstverständlichkeit; rechtfertigen musste sich, wer es nicht tat. Zum Bild der deutschen Nation, die sich gegen Feinde und «dunkle Mächte» verteidigen müsse, gehörte die Vorstellung einer Einheit jenseits allen Parteienstreits. Dem standen Beschwörungen des friedlichen Schaffens, der Verbundenheit mit dem Nahraum, mit Acker und Scholle gegenüber.

 

Bauernproteste waren nichts Neues in der Geschichte der Republik. 1926 stürmten Winzer das Finanzamt in Bernkastel, im selben Jahr riefen Interessenverbände zu Demonstrationen in der Provinz Brandenburg auf.[60] In Schleswig-Holstein jedoch entstand 1928/29 binnen weniger Monate ein Netz von informellen Gruppen, die neben den bestehenden Organisationen – und zunehmend gegen diese – die Radikalisierung der rebellischen Bewegung vorantrieben. Es war kein Zufall, dass in wichtigen Prozessen der Staranwalt der Rechtsextremen, Walter Luetgebrune, die Landvolkmänner verteidigte – so wie er die Mörder Rathenaus oder, nach dem Hitlerputsch, Erich Ludendorff vertreten hatte. Für leidenschaftliche Agitatoren gegen Parlamentarismus und Verständigungspolitik waren die Stresemann-Jahre eine Zeit der Dürre gewesen, mit der Landvolkbewegung schöpften sie Hoffnung.

Unzufrieden mit der Presseberichterstattung sorgten Wilhelm Hamkens und Claus Heim dafür, dass ab Januar 1929 eine eigene Zeitung erschien: Das Landvolk. Sie wurde in Itzehoe gedruckt, ihr Motto lautete «Lewwer duad üs Slaaw!». Damit war gesagt, dass nicht weniger auf dem Spiel stand als die Freiheit, dass es um den Kampf gegen schlimmste Unterdrückung ging, auch gegen den drohenden Verlust der persönlichen Ehre. Das Blatt, durch Spenden und Kleinaktien finanziert, erschien zunächst einmal in der Woche, bald täglich. Häufige Verbote bestätigten, dass man auf dem richtigen Weg war, den Oberen lästig fiel. Die Auflage wuchs vor allem, als Bruno von Salomon die Redaktionsleitung übernahm.[61] Der Weltkriegsoffizier hatte nach der Niederlage im Baltikum gekämpft, sich am Kapp-Putsch beteiligt, obwohl er von Kapp nicht viel hielt, also klassische Stationen in der Karriere eines rechten Republikfeindes absolviert. Seine Artikel im unbedeutenden «Wochenblatt zur Befreiung der deutschen Arbeit», das er in Hamburg unter dem Titel Deutsche Front herausgab, waren Claus Heim aufgefallen.

Die Landvolkzeitung und ihr Redakteur zogen weitere politische Abenteurer mit nationalrevolutionären Impulsen an. Bald schrieb für sie auch Ernst von Salomon, der jüngere Bruder, der den Rathenau-Attentätern geholfen hatte und in einem Fememord-Prozess wegen Körperverletzung verurteilt worden war. Auf Bewährung entlassen, fand er in Berlin Anschluss an nationalistische Kreise um Ernst Jünger und andere. Im Juni 1929 teilte er den protestierenden Bauern mit, es sei «der Wille des Westens», dass die deutsche Wirtschaft ihre Eigengesetzlichkeit aufgebe, dass deutsches Kapital in die Hände des Westens übergehe, womit die «deutsche Wirtschaft keine deutsche mehr» sei.[62]

Seine Erfahrung in Berlin wie mit den Bauern schilderte Ernst von Salomon in seinem 1932 veröffentlichten Roman «Die Stadt». Dessen Held, der Freikorpskämpfer, Journalist und politische Romantiker Ive Iversen, erinnert in manchem an den Autor und in vielem an dessen Bruder Bruno. Für Iversen, heißt es im Roman, bestand Deutschland «aus sechzig Millionen Menschen, die das Gefühl hatten, am falschen Platz zu stehen, und einem Rest, der nicht am richtigen Platze stand».[63] Es schien ihm also das Ganze das Unwahre. Die Suche nach seinem, dem für ihn und Deutschland richtigen Platz führt Ive zur Landvolkbewegung, in intellektuelle Zirkel der Hauptstadt, zu Nazis, Katholiken, Kommunisten, ohne an ein Ziel zu gelangen. Im Buch wird er schlussendlich von einem Polizisten erschossen.

Man kann gar nicht überschätzen, wie existentiell und grundsätzlich die wirtschaftlichen Bedrängnisse infolge der Agrarkrise von den Zeitgenossen gedeutet wurden. Der Bauernführer Wilhelm Hamkens sagte nach dem Zweiten Weltkrieg: «Die materielle und seelische Not kamen zusammen. Die Menschen fühlten sich betrogen, verlassen und leer.»[64] Dem war mit keinem noch so großzügigen Not- und Hilfsprogramm beizukommen.

Ebenfalls in Itzehoe arbeitete der junge Nationalsozialist Bodo Uhse, der sich den Brüdern Otto und Gregor Strasser verbunden fühlte. Er leitete die Schleswig-Holsteinische Tageszeitung, das erste regionale Blatt der NSDAP. Rasch freundete er sich mit Bruno von Salomon an, wie dieser wechselte er später zu den Kommunisten. Was die völkischen Bohemiens, die nationalistischen Desperados und radikalen Parteimänner an der Landvolkbewegung faszinierte, hat er 1935 im Exil treffend beschrieben: «Hier war wirklich Bewegung.» Die Gesichter der Bauern zeigten «rücksichtslose Entschlossenheit». «Es gab kein spießbürgerliches Für und Wider, keine biedere Vereinsmeierei, keine Satzungen und Statuten, Abzeichen und Fahnen, wie sie sonst bei allem, was in Deutschland geschah, das Wichtigste und Vordringlichste schienen.»[65]

Die rechten Aktivisten hofften, mit den Bauernprotesten beginne ein neues Kapitel des revolutionären Kampfes gegen die Republik. Deshalb schärften sie ihren Lesern ein, dass hinter jedem Gerichtsvollzieher und Finanzbeamten das System stehe, die falsche Ordnung. In Versammlungen warfen die Bauern ihre Steuerzettel in Säcke und stellten diese, prall gefüllt, vors Finanzamt. Nachdem Einzelgänger Handgranaten auf Häuser von Amts- und Gemeindevorstehern und auf Behördengebäude geworfen hatten und diese Aktionen mehr öffentliche Aufmerksamkeit erhielten als die Not der Bauern, plante Claus Heim, der das Gros der Jungbauern auf seiner Seite hatte, «Stadtjungens» zwecks Bombenwerfen anzuwerben.[66] Dynamit wurde aus einem Steinbruch im Ruhrgebiet beschafft. Nun folgte Attentat auf Attentat. Menschen kamen nicht zu Schaden, aber die Nervosität wuchs, so wie die Bombenleger es beabsichtigten.[67]

Wilhelm Hamkens sprach sich gegen die Anschläge aus, was ihm die Zuschreibung «der Gandhi des Landvolks»[68] eintrug. Doch hing diese Position eher mit taktischen Überlegungen zusammen als mit einer prinzipiellen Ablehnung von Gewalt. Claus Heim rechtfertigte die unblutigen Aktionen: «Wir haben beabsichtigt, die Behörden zu warnen, ihnen vor dem beginnenden, erwachenden Zorn des Bauern Respekt und Angst einzuflößen, gleichzeitig den Berufsgenossen dadurch Mut machend, den noch Schlummernden die Augen öffnend.»[69] Friedrich Georg Jünger, noch ein jüngerer Bruder, meinte, man müsse «der Erbitterung ein Mundstück schaffen». Für August Georg Kenstler, Herausgeber der Monatsschrift Blut und Boden – «für wurzelstarkes Bauerntum, für deutsche Wesensart und nationale Freiheit» –, zeigten die Bomben, wie tief und unüberwindbar die Kluft geworden sei «zwischen den bodenständigen Menschen unseres Volkes und den entwurzelten Kräften des Systems».[70]

Unzufriedene Bauern warfen immer wieder Bomben auf Behördengebäude und Wohnhäuser von Beamten. In der Nacht zum 23. Mai 1929 traf es das Landratsamt Itzehoe, vor dem sie im März bereits Steuerbescheide verbrannt hatten. Die Landvolkbewegung forderte die Autorität des Staates heraus.

Das Pathos passte schlecht zum guerillaartigen Unernst Ernst von Salomons und anderer politischer Abenteurer.[71] Sie brachten es, mit einer Formulierung Bodo Uhses, zur Meisterschaft darin, aus ihrer Wegelosigkeit eine Weltanschauung zu machen.[72] So deutlich ihnen der Gegner, die Republik, vor Augen stand, so vage und unbestimmt blieben die Vorstellungen für ein Danach. Wenn von der Zukunft die Rede war, dominierten leere Begriffe, Beschwörungen, nihilistische Phantasien.

Die Behörden verteidigten sich, wenig überraschend, auf dem Amtswege und vor Gericht. Der Regierungspräsident Abegg klagte in einem Bericht an den preußischen Innenminister, dass den Aktivitäten der Rechtsradikalen keine «nennenswerte Tätigkeit staatserhaltender Verbände oder Parteien entspreche».[73] Es fehle an Rückhalt in der Öffentlichkeit. Eine wirksame politische Antwort auf die Proteste von Seiten der Republikfreunde blieb aus. Zudem häuften sich Kompetenzwirrwarr, Fehler, Ungeschicklichkeiten. Noch im November 1929 – die Bombenattentate wurden weit und breit diskutiert, Prozesse fanden statt – erhielt die Landvolkzeitung einen Druckauftrag des Finanzamts Kiel über dreißigtausend Steuerveranlagungszettel. Abegg notierte: «Ebenso bedauerlich vom Landesfinanzamt, wie unmoralisch von der Zeitung. Der reine Hohn!»[74]

 

Am 1. August 1929 demonstrierten etwa dreitausend Bauern in Neumünster, diesmal doch mit Fahne: weißer Pflug und rotes Schwert auf schwarzem Grund, also Schwarz-Weiß-Rot im Gegensatz zu Schwarz-Rot-Gold. Sie wollten vor dem Gefängnis ihren Anführer Hamkens begrüßen, der nach kurzer Haftstrafe freigelassen werden sollte. Allerdings hatte man ihn vorsorglich in ein anderes Gefängnis verlegt. Die Fahne trug auf dem Marktplatz der kleinen Stadt Walther Muthmann, ein studierter Landwirt mit rechtsradikaler Vergangenheit. Er gehörte zur Schwarzen Reichswehr, hatte mit dieser 1923 gegen die Republik geputscht. Er habe wohl selten einen Pflug geführt, schrieb Hans Fallada über ihn, sei «ein kleiner Abenteurer, ein politischer Fanatiker, besessen von einer Idee, ein Kerlchen mit einem Tick».[75] Ein eifriger Polizist versuchte, die Fahne zu beschlagnahmen, es gab Gedrängel, er zog den Säbel, der ihm im Handgemenge entrissen wurde. Seine Kollegen, sechzehn waren zur Stelle, eilten ihm zu Hilfe, stürzten mit blanken Säbeln den Bauern entgegen. «Und nach wenigen Minuten war alles vorbei. Der Fahnenträger lag verstümmelt am Boden, die Fahne wurde zur Wache gebracht, und unfaßlich schnell setzte der Zug, schimpfend wohl, aber in bester Ordnung seinen Weg fort. Viele hatten überhaupt nicht begriffen, was los war.»[76] Zwei Polizisten und zwei Bauern waren schwer verletzt, einige Bauern festgenommen worden.[77] Eine erregte Versammlung in der Auktionshalle beschloss, Neumünster zu boykottieren, und feierte dann den spät noch eintreffenden Hamkens.

Der Prozess wegen «Landfriedensbruch, Aufruhr, Widerstand, Körperverletzung, Beleidigung» dauerte zwölf Tage, das Gericht vernahm mehr als hundertzwanzig Zeugen.[78] Die wenigen Strafen fielen gering aus, ein Monat Gefängnis für den Fahnenträger war die höchste. Aber die republikanischen Behörden wurden dem Spott preisgegeben. Der Bürgermeister, ein zweiunddreißigjähriger Sozialdemokrat, hatte sich geweigert, der Aufforderung der Regierung in Schleswig nachzukommen und die Demonstration des Landvolks zu verbieten. Weil das Landvolk gefährlich sei, «gefährlicher als die Kommunisten»,[79] wurde in einem Nachbarort ein Kommando Schutzpolizei einquartiert. Der Geheimbefehl, den es erhalten haben soll, spielte im Prozess eine wichtige Rolle. Ein befragter Schupo-Offizier wollte erst nicht aussagen und behauptete dann, im Befehl habe «nichts Besonderes» gestanden. Einem Sachverständigen für Polizeitaktik erlaubte der Regierungspräsident Abegg die Aussage vor Gericht nicht. Ob er glaube, «mit Leisetreterei, Verantwortungssachen und dann einem plötzlichen Eingriff in die Gerichtssouveränität» ließe sich das bittere Problem der Landvolkbewegung lösen, fragte in der Rolle des Gerichtskorrespondenten Hans Fallada.[80]

Er hat das Geschehen in einem seiner besten Romane, «Bauern, Bonzen und Bomben» (1931), dargestellt, Neumünster als die Kleinstadt Altholm porträtiert. Die Proteste der Bauern werden mit so viel Sympathie betrachtet, dass die Volksbühne und der kommunistische Theatermann Erwin Piscator die geplante Inszenierung eines Dramas nach Falladas Roman schließlich ablehnten, da sie ihnen politisch nicht passte.[81] Über seinen Verleger lernte Fallada auch Ernst von Salomon kennen, der in der Romanfigur des Landvolk-Redakteurs Padberg seinen Bruder Bruno wiedererkennen wollte. Bald befreundeten sich die beiden Rowohlt-Autoren. Der Nationalrevolutionär schien Fallada «ein grundsätzlicher Gegner alles Bestehenden, was es auch gerade sei. Sein politisches Schwätzchen erledigt mich immer vollkommen.»[82] Möglicherweise haben sie auch über die Arbeit im Verlag, über ihre Jahre im Gefängnis, über literarische Erfolge miteinander gesprochen.

Weder «Bauern, Bonzen und Bomben» noch Ernst von Salomons «Die Stadt» (1932) wurde ein Publikumserfolg. «Söldner und Soldat» (1935) von Bodo Uhse erreichte zunächst nur Leser im Exil. Alle drei Romane wären missverstanden, wollte man in ihnen vor allem eine Schilderung der Landvolkbewegung sehen. Diese kam vor, aber für Salomon und Uhse war die Beteiligung an ihr eine Station auf dem Weg eines nationalistischen Intellektuellen. Für Fallada stand die Kleinstadt im Mittelpunkt, eine durch allzu große Nähe und Vertrautheit vergiftete Welt, in der keiner dem anderen etwas gönnen mochte, jeder schaute, wie er in wirtschaftlich schwierigen Zeiten über die Runden kam.[83] Am Ende von «Bauern, Bonzen und Bomben» gibt Altholm den Bauern so weit nach, dass der gegen die Stadt verhängte Boykott wohl bald aufgehoben wird. Der tüchtige Bürgermeister Gareis reist ab, um an einem anderen Ort neu anzufangen. Eine weitere Demonstration der Bauern hat die Regierung verboten. Aus dem Zugfenster klagt Gareis zum Abschied, es sei «richtig, dass die Bauern hier nicht gerade heute demonstrieren». Aber die Entscheidung sei wieder aus falschen Gründen gefallen. Alle würden, was sie tun, «mit den falschen Gründen» machen: «Nichts um der Sache willen. Immer aus irgendwelchen mickrigen Interessen.»[84]

 

Die Bauern hatten Gründe, sich als Minderheit zu sehen, deren Interessen bedroht waren, seit die Industrialisierung voranschritt. Sie wollten ihre Höfe behalten, ein ausreichendes Einkommen erwirtschaften, politisch angemessen vertreten sein und gehört werden. Deswegen hatten die Schleswig-Holsteiner im Kaiserreich überwiegend oppositionell gewählt, Sozialdemokraten und Freisinnige. In den fünf letzten Wahlen vor dem Großen Krieg hatten im Durchschnitt an die 40 Prozent für die Sozialdemokraten gestimmt.[85] Als im Januar 1919 über die Abgeordneten für die Nationalversammlung entschieden wurde, votierten 45,5 Prozent für SPD und USPD und immerhin 18,5 Prozent für die Deutsche Demokratische Partei, eine Neugründung, die an die liberalen Traditionen anknüpfte.[86] Nur wenige Wahlkreise im Reich wiesen eine stärkere Linksmehrheit auf.[87] Seit 1921 erreichten auch Stresemanns DVP und die republikfeindliche DNVP beachtliche Erfolge, doch wandelte sich in den Jahren der Republik das politische Klima mehr und mehr. Davon profitierten ab 1930 in erster Linie die Nationalsozialisten.

Zwar hatte der Zeitungsredakteur Bodo Uhse, NSDAP-Mitglied seit 1927, in Itzehoe seine Sympathien mit der Landvolkbewegung nicht verhehlt, die von München aus geführte Partei jedoch ging auf Distanz zu den Bauern. Am 3. August 1929 veröffentlichte die Schleswig-Holsteinische Tageszeitung einen Brief Adolf Hitlers, dem zufolge jede Zusammenarbeit von Nationalsozialisten mit dem Landvolk zu unterbleiben habe.[88] Für Hinweise zur Aufklärung der Bombenanschläge setzte Hitler eine Belohnung von zehntausend Reichsmark aus. Die protestierenden Bauern so vor den Kopf zu stoßen, war Teil der politischen Strategie. Strikt legal sollte die NSDAP bei der Eroberung der Macht verfahren; sich mit politischen Abenteurern und Bombenbastlern einzulassen, hätte diese Legalitätsstrategie gefährdet. Dass die NSDAP damit auch die nationalrevolutionären Desperados enttäuschte, die großen Anteil an der Bauernbewegung nahmen und in Schleswig-Holstein Morgenluft witterten, hat den Erfolg der Nationalsozialisten nicht gefährdet.

Zwei Umstände begünstigten sie in dieser Provinz: Im Dithmarscher Dorf Wöhrden hatten sich am 7. März 1929 nach einer SA-Versammlung Kommunisten und SA-Männer geprügelt, zwei Nationalsozialisten und ein Kommunist waren dabei ums Leben gekommen. Zur Beerdigung sprach Hitler, die Propaganda prägte die Formel «Blutnacht von Wöhrden». Der Kult um die Märtyrer sicherte Aufmerksamkeit weit über die Region hinaus.

In Lockstedt, kaum zehn Kilometer von Itzehoe entfernt, versammelten sich auf einem Truppenübungsplatz seit 1920 Freikorpsmänner, vor allem aus der Brigade Ehrhardt, die in jenem Jahr mit Kapp gegen die Republik geputscht hatte; es trafen sich Angehörige der verschiedensten rechtsradikalen Verbände vom Bund Wiking bis zur Freischar Schill, Menschen, die aus den abgetretenen Ostgebieten hierhergekommen waren. Die Reichswehr unterstützte eine 1929 dort eingerichtete Volkssportschule, die der Wehrertüchtigung der Jugend dienen sollte. Das Lockstedter Lager wurde zu einem frühen und wichtigen Stützpunkt der SA in der Region.

Von der Unzufriedenheit der Bauern, der keiner der Interessenverbände und niemand in der Regierung abhelfen konnte, als die wirtschaftlichen Nöte nach 1929 noch größer wurden, von der Unruhe, die das Landvolk verbreitet hatte, profitierten die Nationalsozialisten, weil sie ihre Deutung der Krise, ihre radikale Definition der Situation unablässig wiederholten, weil sie den Kampf gegen die Republik strategisch organisierten, statt sich mit Abenteurertum zufriedenzugeben, und weil sie Erfolge aufzuweisen hatten, viele kleine Siege in Wahlen, Prozessen, Propagandakampagnen. Davon wird später noch mehrfach zu reden sein.

Ernst Jünger freut sich auf eine Revolution

Unter den vielen Texten über die Landvolkbewegung erregte ein Zeitschriftenartikel Ernst Jüngers besonderes Aufsehen. Das Tagebuch hatte den Träger des Ordens Pour le Mérite, den Verfasser der Bücher «In Stahlgewittern» (1920), «Der Kampf als inneres Erlebnis» (1922) und «Das abenteuerliche Herz» (1929) gefragt, was es mit dem «jungen Nationalismus» auf sich habe. Seit den Ermittlungen gegen die Bombenleger waren die Zeitungen voll von Berichten über diese Richtung. Jünger antwortete mit dem hochfahrenden, programmatischen Artikel «‹Nationalismus› und Nationalismus». Was er ausführte, so schrieb die Redaktion zwecks Ankündigung des Textes, «zeugt wiederum für die ungewöhnliche literarische Begabung dieses Autors. Aber je glanzvoller es geschrieben ist, um so erschütternder wirkt das Jüngersche Programm politisch.»[89]

Die formale Herausforderung, in einem Organ der bürgerlichen Öffentlichkeit gegen die gesamte bürgerliche Welt mit ihren Diskussionen, Parlamenten, Abwägungen zu schreiben, hat Jünger virtuos bewältigt. Er deklariert und definiert, ohne zu begründen und zu argumentieren. Das verleiht dem Artikel den Glanz des Deklamatorischen, man kann ihm widersprechen, aber nicht mit ihm diskutieren, ihn nicht debattierend kleinarbeiten. Sein Programm hatte Jünger zuvor in vielen Artikeln für eine Zeitschrift des Bundes der Frontsoldaten, Die Standarte, und für rechte Blätter wie Arminius entwickelt.[90]

Raum für eine politische Diskussion eröffnet am ehesten die Feststellung, «der Nationalismus, soweit er eine politische Erscheinung ist, strebt den nationalen, sozialen, wehrhaften und autoritativ gegliederten Staat aller Deutschen an».[91] Damit steht der Nationalismus ohne Anführungsstriche gegen die Republik. Diese Feindschaft wird von Jünger zur grundsätzlichen und unwiderruflichen Absage an das Bürgertum und dessen Liberalismus überhöht. Er bindet den Nationalismus zum einen an die Jugend, an die «Söhne von Kriegen und Bürgerkriegen»,[92] und zum anderen an das Kriegserlebnis. Der Krieg habe, so ließe sich zusammenfassen, alle Verhältnisse so tief erschüttert und verwandelt, dass die Welt der Väter und Großväter nicht mehr zeitgemäß, sondern zum Untergang verurteilt sei. Da sie noch nicht untergegangen sei, müsse sie zerstört werden. Das ist eine geschichtsphilosophische Aussage, eine über die Richtung der menschlichen Entwicklung, und es ist vor allem ein Versuch, dem verlorenen Krieg, den Anstrengungen und Opfern Sinn abzupressen.

Jünger erinnert an den Augenblick, in dem in Deutschland und Österreich «alle Regierungen und Parlamente am Boden lagen».[93] Man habe 1918/19 nur einen «Zusammenbruch und keine Revolution» erlebt. Der Beweis dafür sei, «daß das Ende vom Liede die parlamentarische Demokratie gewesen ist». Die «angesäuerten Ideale» der Großväter wurden verwirklicht, aber die «48er Konfektion» sei wenig dauerhaft: «Es besteht in der Jugend die Auffassung, daß die Revolution nachgeholt werden muß.»[94] Demzufolge müssten «alle revolutionären Kräfte innerhalb eines Staates trotz der größten Gegensätze unsichtbare Verbündete sein».[95] Der gemeinsame Feind sei die Ordnung. Die Feindschaft zwischen Nationalsozialisten und Kommunisten sei daher «schon aus taktischen Gründen unverständlich». Jünger erkennt darin den «Beweis, daß in diesen beiden Bewegungen noch viel mehr bürgerliche, am System interessierte Elemente sich verbergen, als sie selbst wahrhaben möchten».[96] Das ist weniger ein politisches als ein geschichtsphilosophisch-ästhetisierendes Urteil. Gegenüber dem «augenblicklichen Zustande» scheint dem recht verstandenen Nationalismus Zerstörung als das angemessene Mittel.[97]

Die Ansicht, dass es eine Revolution geben könne, die «zugleich die Ordnung unterstützt», überlässt der Autor den «Biedermännern». Die enge Verbindung zwischen Ästhetizismus und Anarchismus belegen aufs Schönste diese Sätze: «Wir werden nirgends stehen, wo nicht die Stichflamme uns Bahn geschlagen, wo nicht der Flammenwerfer die große Säuberung durch das Nichts vollzogen hat (…) Weil wir die echten, wahren und unerbittlichen Feinde des Bürgers sind, macht uns seine Verwesung Spaß.»[98]

Jünger verwirft den wilhelminischen Nationalismus, den Streit um Schwarz-Weiß-Rot oder Schwarz-Rot-Gold ebenso wie die Organisationsversessenheit der Nationalsozialisten und Kommunisten. Auch sei es «nicht etwa ein Hauptkennzeichen des Nationalisten, daß er schon zum Frühstück drei Juden verspeist – der Antisemitismus ist für ihn keine Fragestellung wesentlicher Art».[99] Ernst von Salomon hatte in «Die Stadt» geschrieben: «Natürlich war Ive Antisemit, aber er war es, weil es zu umständlich war, es nicht zu sein.»[100] Der Antisemitismus gehörte im Milieu der jungen Nationalisten selbstverständlich dazu. Indem Jünger ihn zur Nebensache erklärte, sagte er auch, dass der Antisemitismus eines Streicher, Hitler, Goebbels einem Zusammengehen mit den Nationalsozialisten nicht im Wege stehen würde. Gewiss finden sich in seinem Artikel über den wahren Nationalismus Elemente einer Kritik an den Nazis, einer Kritik von rechts. Aber diese stehen der faschistischen Koalition nicht im Wege. Gemeinsamkeiten – Feindschaft gegen die Republik, gegen die wilhelminisch gesinnten Reaktionäre, gegen alles aus der liberalen, bürgerlichen Epoche, die Lust am Zerstören, der Kult ums Heroische, die Absolutsetzung des Kriegserlebnisses – gab es genug.

Die Nationalsozialisten hatten sich mehrfach um Ernst Jünger bemüht, aber ein Treffen mit Goebbels verlief für beide Seiten enttäuschend, eines mit Hitler kam trotz mehrfacher Versuche nicht zustande. Jünger wurde zum Reichsparteitag im August 1929 nach Nürnberg geladen, fuhr aber nicht hin. Nationalsozialistische Zeitungen empörten sich nach Kräften über den Artikel im Tagebuch.[101]

Die «nächtliche Feuerwerkerei vor fiskalischen Gebäuden» hielt Jünger – «Kenner der modernen Materialschlacht» – für abgeschmackt.[102] Doch könne Nationalismus «in der gegenwärtigen Phase nur das unsichtbare Nervensystem sein, das die verschiedenartigsten Körperschaften, hier und dort, und zwar ohne Kommando, enerviert».[103] Am Schluss beschwor er «eine stolze, kühnere und noblere Jugend», «eine Aristokratie von morgen und übermorgen, der allein Blut und Geist verbunden sind».[104] Das waren nun auch Hoffnungen aus der wilhelminischen Zeit, im Kreis um den Dichter Stefan George sind sie vielfach formuliert worden.

In der folgenden Ausgabe der Zeitschrift antwortete der Herausgeber Leopold Schwarzschild auf Jünger, dem er «Heroismus aus Langeweile» bescheinigte.[105] Er fragte, was nach der Zerstörung des verwesenden Staates kommen solle, beklagte die «Flucht ins Irrationale»,[106] verteidigte das Bürgerliche als «ewig unveränderliche Folge des Fluchs», dass man das Brot im Schweiße seines Angesichts essen müsse.[107] Es fällt auf, wie unpolitisch, wie ethisch grundsätzlich Schwarzschild, einer der klügsten Gegenwartsbeobachter in diesen Jahren, die Erwiderung formuliert hat. Gegen die schwefligen Reize des neuen Nationalismus, gegen das Größen-Ich dessen, der die zeitgenössische Welt insgesamt verwirft und auf übergroße Einzelne setzt, konnte die Alltagsvernunft des bürgerlichen Erwerbs kaum verfangen.

Ernst von Salomon kultivierte indessen ein halb konsumistisches, halb spielerisches Verhältnis zu den Bünden, Verbänden, Parteien und Ideologien der Zeit. Der ebenfalls nationalrevolutionäre Publizist Friedrich Hielscher erzählte nach 1945, Salomon habe «unter dem Aufschlag seiner Jacke die Abzeichen des Stahlhelms, der Brigade, des Jungdeutschen Ordens, des Reichsbanners, des Rotfrontkämpferbundes, dazu Hakenkreuz und Sowjetstern» getragen. Fragte ihn einer nach seiner Einstellung, klappte er «ruhig und höflich» den Aufschlag hoch und antwortete: «‹Zur gefälligen Auswahl, wenn ich bitten darf!›»[108]

In Schleswig-Holstein stieg unterdessen die Zahl der Zwangsversteigerungen, nach den 2913 Hektar im Jahr 1929 kamen 1930 3364 Hektar unter den Hammer, 1932 gar 4145.[109] Im Juli dieses Jahres wählten 51 Prozent der Menschen dort die NSDAP.

2. Am Rande des Aufruhrs: Republik des Übergangs

«Wir sind die Kinder der ‹Eisernen Zeit›, / Gefüttert mit Kohlrübensuppen. / Wir haben genug von Krieg und von Streit / Und den feldgrauen Aufstehpuppen! (…) Wir lernten Geschichte und Revolution am eigenen Leibe erfahren. / Wir schwitzten für Gelder der Inflation, / Die später Klosettpapier waren.»

Mascha Kaléko, 1933

Jennys «Hoppla!» oder Der revolutionäre Zustand der Welt

Die Ordnung galt Ernst Jünger im Herbst 1929 als der gemeinsame Feind «aller revolutionären Kräfte»; gegenüber «dem augenblicklichen Zustande» war Zerstörung für ihn und die Seinen das Mittel der Wahl. Die leere Revolutionsrhetorik konnte mit Resonanz weit über den Kreis der jungen Nationalisten hinaus rechnen. Antibürgerliche Überzeugungen, die Erwartung eines Umsturzes und selbst die Verschwisterung von Zerstörung und Befreiung spielten in der Weimarer Kultur eine zentrale Rolle, sie prägten die Mentalität nicht nur, aber vor allem der bürgerlichen Schichten. Revolutionäre und Verbrecher erfreuten sich besonderer Beliebtheit. Siegfried Kracauer vermutete 1931 in einer Filmbesprechung, dass «die Snobs aus dem Berliner Westen», die gern Feste der kriminellen Ringvereine besuchten, dort ein «ähnliches Gruseln» erlebten «wie früher bei den Piscatorpremieren»: «Waren sie dort mitten in der Scheinrevolution, so sind sie hier im ‹Milieu›, das noch dazu echt ist. Die Bürger werden heute von allen Mächten angezogen, die jenseits der bürgerlichen Grenze stehen.»[110]

Der Kult des Unbürgerlichen hatte stolze Traditionen und war, ob in der Jugendbewegung oder der Boheme, ob bei Charles Baudelaire oder Stefan George, immer ein überwiegend bürgerlicher Lebensstil gewesen. Die antibürgerlichen Avantgarden schockten gern mit Amoralität und Grausamkeit. Hannah Arendt, deren philosophische Dissertation 1929 erschien, warf ihnen später vor, mit «großer Anstrengung offene Türen» eingerannt zu haben. Ihr schlagendes Beispiel war das erfolgreichste Theaterstück der Zwanzigerjahre, die «Dreigroschenoper», geschrieben von Bertolt Brecht und Elisabeth Hauptmann, mit Musik von Kurt Weill. Hier traten «die wohlbestallten Hüter der bürgerlichen Ordnung als Verbrecher» auf, «Unterweltcharaktere hingegen als Geschäftsleute»: «Die Ironie des Stückes ging ein bißchen verloren, wenn achtbare Geschäftsleute in der Zuhörerschaft das ‹Erst kommt das Fressen und dann kommt die Moral› als tiefe Einsicht in den Lauf der Welt beklatschten, während der Mob in der ganzen Sache nur eine erfreuliche Sanktionierung des Gangstertums begrüßte.»[111] Seit der Uraufführung Ende August 1928 wurde das Stück landauf, landab gespielt und half mancher Theaterdirektion über die mageren Zeiten hinweg. In Berlin grassierte das «‹Dreigroschenoper›-Fieber», die Songs kannte fast jeder. Lotte Lenya, die im Theater am Schiffbauerdamm die Spelunken-Jenny spielte, erzählte, dass ihr im Tiergarten ein Bettler hinterhergerufen habe: «Fräulein Lenya, Sie haben wohl bloß auf der Bühne etwas für blinde Bettler übrig?»[112]

In der eigens eröffneten Dreigroschen-Bar, die nur Musik aus dem Zugstück spielte, dürfte wieder und wieder auch das Lied der Seeräuber-Jenny erklungen sein. Polly Peachum singt es auf ihrer Hochzeit mit Mackie Messer. Die Verse handeln von der Erhebung aus erniedrigenden Verhältnissen. Besungen wird die Emanzipation eines Abwaschmädchens dank Bandengewalt. Wenn das Schiff mit acht Segeln und fünfzig Kanonen kommt, wird die Stadt dem Erdboden gleichgemacht; nur das lumpige Hotel, in dem Jenny abwäscht und Betten macht, bleibt verschont: «Und es werden kommen hundert gen Mittag an Land / Und werden in den Schatten treten, / Und fangen einen jeglichen aus jeglicher Tür / Und legen ihn in Ketten und bringen vor mir, / Und mich fragen: Welchen sollen wir töten? / Und an diesem Mittag wird es still sein am Hafen, / Wenn man fragt, wer wohl sterben muß. / Und dann werden sie mich sagen hören: Alle! / Und wenn dann der Kopf fällt, sag’ ich: Hoppla! / Und das Schiff mit acht Segeln / Und mit fünfzig Kanonen / Wird entschwinden mit mir …»[113]

Das Lied, ursprünglich für Brechts «Hauspostille» vorgesehen, greift ein Märchenmotiv auf, versetzt in die Welt der Abenteurer, bei denen andere Gesetze gelten als in den Wirtshäusern von Soho oder in Berliner Bars. Im richtigen Augenblick wird Aschenputtels wahre Bestimmung enthüllt, es wird die Braut des Königssohns. Die Letzte wird die Erste sein, die sie demütigten, verfallen der Strafe. Aber der Dienstmädchentraum ist pervertiert in eine Rache- und Allmachtsphantasie, die Erhöhung der einen dem Mord an den vielen verschwistert. So träumt das Ressentiment, so hofft die Kränkung. Und doch lebt das Lied der Seeräuber-Jenny, die nichts zu verlieren hat als ihre Lumpen, von einem revolutionären Impuls, wie verdreht auch immer.

Ernst Bloch, der damals für die liberale Frankfurter Zeitung und die radikaldemokratische Weltbühne schrieb, darauf spezialisiert, Motive der Hoffnung, des Utopischen in Philosophie, Kunst, Kitsch aufzuspüren und selbst dort, wo man sie nicht vermuten würde, widmete dem Lied – für ihn eine «starke Dynamitstelle» – einen Aufsatz.[114] Die Melodie Weills, schrieb er, gehe «ins Blut und dürfte sich bei frohen Anlässen als Nationalhymne empfehlen».[115] Bestimmt assoziierend, spürte er den vielfältigen Ähnlichkeiten der Seeräuberbraut Jenny mit anderen rebellischen Frauen nach, die ihre Welt verwarfen, um in eine andere aufzubrechen. Nicht weit sei es von Jenny zu den Hexen, zu Flintenweibern, die zu vielen Zeiten die Revolution begleitet hätten. Über das böse Lächeln im Lied bemerkte Bloch: «Dies Lächeln war schon oft mit dem roten Terror verbunden.»