9,99 €
Schöngeist und Scheusal: Zum 300. Geburtstag Friedrich des Großen Der König, der das Staunen seines Jahrhunderts war, lässt sich nicht auf eine Formel bringen, weder glorifizieren noch verdammen, bis heute nicht: «Für einen Prozess gegen den Preußenkönig», so Jens Bisky, «ist es längst zu spät, über ein Verfahren zu seiner Seligsprechung hätte er nur gespottet. Weil es so viel über ihn zu sagen gibt, weil er immer wieder Kontroversen auslöst, ist er ‹unser König›: der umstrittenste Monarch der deutschen Geschichte, Vorbild und Schreckbild. Keiner der Versuche, ihn ganz zu historisieren, ihn als einen ‹normalen› Herrscher des 18. Jahrhunderts erscheinen zu lassen, hat bisher die Faszination auslöschen können, die von seiner Person und seine Zeit ausgeht.» «Schriftstellerischer Schwung und kompositorisches Geschick ... Bisky verfügt über einen organisierenden Blickpunkt, der sich bewährt.» (Frankfurter Allgemeine Zeitung) «Jens Bisky versteht es, mit wenigen Strichen eine historische Situation zu umreißen.» (Heinz D. Kittsteiner)
Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
Seitenzahl: 525
Jens Bisky
Unser König
Friedrich der Große und seine Zeit - ein Lesebuch
Unser König
JUGEND
Biografie und Einleitung
Johann von Besser vermeldet Geburt und Taufe
Johann Michael von Loen schildert den preußischen Hof im Jahr 1718
Friedrich Wilhelm I. bestimmt das Erziehungsreglement
Der Kronprinz bedichtet das Tabakskollegium
Theodor Fontane über die Katte-Tragödie
Der Kronprinz entwirft sein politisches Programm
Elisabeth Christine schreibt aus Rheinsberg
Johann Jakob Bielfeld erinnert an die glücklichen Rheinsberger Tage
Der erste Brief Friedrichs an Voltaire
Friedrich berichtet Voltaire aus Ostpreußen
Heinrich von Podewils beobachtet die Versöhnung von Vater und Sohn
GLANZ
Biografie und Einleitung
Johann Georg Ritter von Zimmermann über die Stimmung im Jahre 1740
Johann Ulrich König beobachtet den neuen Herrscher
Friedrich begründet seinen Einmarsch in Schlesien
Marschall Belle-Isle besucht das preußische Feldlager
August Wilhelm Schwicheldt charakterisiert den König
Ein Zeitungsartikel über die Vollendung des Opernhauses
Johann Friedrich Borchmann besucht eine Opernaufführung
Friedrich sorgt sich um die Heiratsangelegenheiten seiner Offiziere
Joachim Christian Nettelbeck über die Kartoffeln in Kolberg
Voltaire schreibt aus Potsdam
Voltaire erschrickt
Der Kammerherr von Lehndorff schildert das Hofleben und das Heraufziehen des Krieges
KRIEG
Biografie und Einleitung
Graf Podewils fürchtet die Entschlossenheit des Königs
Ulrich Bräker zieht in den Krieg und desertiert
Der Kammerherr von Lehndorff bleibt in Berlin zurück
Der junge Goethe ist «fritzisch» gesinnt
Ewald von Kleist besingt die preußische Armee
Johann Wilhelm Ludwig Gleim erfindet einen dichtenden Grenadier
Der Thronfolger August Wilhelm macht einen Fehler und wird gedemütigt
Der Kammerherr von Lehndorff flieht mit der Königin aus Berlin
Spottverse nach dem Sieg von Roßbach
Carl von Clausewitz besucht das Schlachtfeld von Roßbach
Friedrich Nicolai über Begebenheiten nach der Schlacht von Leuthen
Gotthold Ephraim Lessing tadelt den hitzigen Patriotismus
Ein Zeitgenosse schildert den Schrecken von Kunersdorf
Der Kammerherr von Lehndorff wartet unruhig auf Nachrichten vom Schlachtfeld
Thomas Abbt preist den Tod fürs Vaterland
Maria Theresia will Preußen niederzwingen
Christian Fürchtegott Gellert wird vom König empfangen
Friedrich Nicolai erzählt von der Heimkehr des Königs nach Berlin
Goethe würdigt die Kriegsliteratur
ALTER
Biografie und Einleitung
Justizrat von Nüßler bittet um königliche Hilfe
Staatsminister von Derschau berichtet von einer allerhöchsten Beratung
Friedrich Nicolai begeistert sich für den wohltätigen König
Johann Friedrich Reichardt über seinen Antrittsbesuch als Hofkapellmeister
Der König füttert seine Hunde
Der König hilft dem Müller Arnold
Eine Revue vorm Alten Fritz
Immanuel Kant proklamiert das Jahrhundert Friedrichs
Friedrich August Ludwig von der Marwitz sieht Friedrich auf einem weißen Pferd
Anton Friedrich Büsching charakterisiert den König und seinen Tagesablauf
Ein Lexikon über den kleinen Gernegroß Friedrich
Otto von Bismarck über das Beifallsbedürfnis der Könige
Theodor Fontane bedichtet das Friedrich-Denkmal
Friedrich und kein Ende
Tafelteil
Karten
Anmerkungen
Textnachweis
Literatur
Bildnachweis
Dank
Fußnoten
Im ersten Sommer der neuen deutschen Einheit sorgte Friedrich der Große wieder für Streit, obwohl er schon mehr als zweihundert Jahre tot war. Sein Sarg hatte bis 1943 in einer Gruft hinter dem Altar der Potsdamer Garnisonkirche neben dem Sarg seines Vaters, Friedrich WilhelmsI., gestanden. Adolf Hitler, der sich zu Propagandazwecken gern im Glanz der preußischen Geschichte sonnte, aber binnen kurzem alles zerstörte, was von Preußen bis dahin lebendig geblieben war, ließ auch den Königen keine Ruhe. 1943 befahl er, die sterblichen Überreste in das Hauptquartier Hermann Görings, des Oberbefehlshabers der Luftwaffe, in Wildpark bei Potsdam zu bringen. Das war nur die erste Station einer Irrfahrt. Zusammen mit anderen Schätzen wurden die Särge in das Kalibergwerk Bernterode bei Heiligenstadt evakuiert, wo die Amerikaner während der Befreiung Thüringens sie fanden und nach Marburg abtransportierten. In der Elisabethkirche setzte man die Königssärge bei. 1952 wurden sie auf die Burg Hohenzollern überführt, von wo sie 1991, da die Nachkriegszeit endgültig vorbei schien, heimkehren sollten. Der historische Sonderzug mit dem 1905 gebauten Kronprinzenwagen brauchte fünfzehn Stunden vom Bahnhof Hechingen, bis er am 17.August in Potsdam eintraf. Dort drohten, wie der «Spiegel» damals schrieb, «Riesenrummel und militärischer Mumpitz»1: Bundeswehroffiziere hielten Totenwache im Ehrenhof des Schlosses Sanssouci, Helmut Kohl nahm an der Beisetzung teil, als Privatperson, nicht als Bundeskanzler. Golo Mann nannte das eine «absolute Geschmacklosigkeit». Die «Aktion Sarg und Asche», wie Witzbolde die Rückkehr der Könige getauft hatten, polarisierte. Wer befürchtet hatte, das neue Deutschland würde preußischer werden als die gute alte Bonner Republik, fand schlimmste Ahnungen bestätigt. Die Mehrzahl im Lande hielt Friedrich für eine bedeutende historische Gestalt, in Umfragen nach den «großen Deutschen» kam er nach Adenauer, Luther und Bismarck auf einen stolzen vierten Platz. Aber die meisten wollten ihn doch lieber im schwäbischen Abseits ruhen lassen oder wünschten, wenn es denn schon sein musste, eine Überführung in aller Stille.
Friedrich hätte gewiss gelacht über den Aufwand, den man mit seinem Sarg trieb in einer Zeit, da es Preußen nicht mehr gab und das von ihm eroberte Schlesien endgültig zu Polen gehörte. Aber niemand hätte sich im Umbruch der frühen neunziger Jahre wundern dürfen, dass über den großen Herrscher und seine Bedeutung wieder einmal gestritten wurde. Das war immer so gewesen: Wenn die Deutschen über ihr Selbstverständnis nachdachten, spielte auch FriedrichII. von Preußen eine Rolle. Kein anderer König ist ihnen als Person so nahe gerückt wie dieser. In den sechsundvierzig Jahren seiner Herrschaft hatte er Wert darauf gelegt, dass seine Untertanen sich direkt an ihn wenden konnten; persönlich entschied er über die Heiratsgesuche seiner Offiziere und begleitete diese gern mit sarkastischen oder frivolen Kommentaren; im Felde ließ er sich von den Soldaten duzen; auf Inspektionsreisen prunkte er mit seinem formidablen Gedächtnis für die Schicksale einfacher Leute und kleinste Einzelheiten. Friedrich war ein Monarch neuen Typs. Die Fortschritte des Verkehrs und der Technik erlaubten späteren Herrschern zweifelsohne häufigere Auftritte und ermöglichten eine weitere Verbreitung der Bilder von ihnen. Aber die mittelalterlich kostümierte, pathetisch schlichte oder neuzeitlich pompöse Inszenierung der Majestät sorgte im Regelfall für Distanz. Friedrich dagegen war in seinen späten Regierungsjahren schon volkstümlich geworden, er wurde zur Legende im 19.Jahrhundert und zum Klischee im frühen 20.; so hatte sich noch keine Generation mit ihm gelangweilt.
Das Interesse an FriedrichII. war gewachsen in dem Maße, in dem Preußen die kleindeutsche Einigung vorangetrieben hatte. Nach und nach erschienen die Schriften und Briefe des Königs, Erinnerungen von Zeitgenossen und Biographien. Nachfolger und nachgeborene Generationen setzten sich zu ihm ins Verhältnis; jeder entwarf sein Friedrich-Bild. Friedrichs Leben bot dem Nachdenken abwechslungsreichen Stoff: Da war der hochbegabte Jüngling, der einen grausamen Konflikt mit seinem Vater auszustehen hatte; da war der Kronprinz, der sich – mehr unter Zwang denn aus Leidenschaft – in Verwaltungsfragen einarbeitete und bald darauf in Rheinsberg eine preußische Freundschaftsidylle in Szene setzte; und da war der junge Monarch, der Glanz nach Berlin und Potsdam brachte und die erste günstige Gelegenheit wahrnahm, sein Territorium zu vergrößern. Mit der glücklichen Eroberung Schlesiens war Kriegsruhm verbunden, der vornehmste, den ein Herrscher in Friedrichs Zeit erwerben konnte. Die neue Provinz musste mehrfach verteidigt werden. Im Siebenjährigen Krieg, den Friedrich mit dem ruchlosen Einfall in Sachsen eröffnete, gelangte Preußen, gelangte auch er an das Ende seiner Kräfte. Das Unglücksjahr 1759, gipfelnd in der Niederlage bei Kunersdorf, bezeichnet einen Wendepunkt in seinem Leben.
Ein Wunder schien es ihm wie den Zeitgenossen, dass er einer übermächtigen Koalition aus Feinden sieben Jahre standzuhalten vermochte. Am Ende hatte er nichts gewonnen, lediglich den Status quo ante zementiert. In den siebenundzwanzig letzten Jahren seiner Herrschaft war Friedrich bemüht, Preußens Stellung unter den europäischen Großmächten zu festigen. Dies glückte und ermöglichte ihm in der ersten polnischen Teilung eine weitere Vergrößerung seiner Staaten. Er ging räuberisch vor wie 1740, aber diesmal ohne Blutvergießen und mit der Zustimmung Österreichs und Russlands, die vom Raub profitierten. Schließlich installierte er Preußen mit Hilfe des Fürstenbunds als norddeutsche, protestantische Schutzmacht. Wer immer die Landkarte Europas künftig verändern wollte, musste ein Auge darauf haben, wie man sich in Berlin dazu stellte.
Klammert man Schriften und Aussagen des Königs vorerst aus und blickt allein auf sein Handeln, sind kaum Anzeichen für das vielberedete «Königtum der Widersprüche». (Theodor Schieder) zu entdecken. Sichtbar wird im Rückblick vielmehr ein erstaunlich kohärentes Programm. Friedrich wollte seine Territorien sinnvoll vergrößern, weitgehende Unabhängigkeit vom Reich und dem Hause Habsburg gewinnen, uneingeschränkter Souverän einer starken Macht sein. Das ist ihm gelungen. In diesem Sinne besteht kein Gegensatz zwischen dem Überfall auf Schlesien und der Trockenlegung des Oderbruchs, zwischen Justizreform und der Ausplünderung Sachsens. All das diente der Macht des Hauses Brandenburg und dem souveränen Territorialstaat, zu dem Preußen allmählich wurde.
Um es so zu sehen, muss man sich allerdings von zwei Postulaten ehrwürdiger Tradition verabschieden. Am meisten in die Irre führt die nationale Deutung, führt die Frage, inwiefern und wann und wann nicht und mit welchem Erfolg Friedrich zum Wohl der deutschen Einigung gewirkt habe. Deutschland war für ihn in erster Linie ein geographischer Begriff. Auch hat er sich gelegentlich überlegt, wie die deutsche Sprache und Literatur dem überlegenen Niveau der französischen näher kommen könne. Er war nicht der Einzige seiner Zeit, den die Kulturkonkurrenz umtrieb. Ein Staat aller Deutschen aber, ein Nationalstaat, wie ihn die Franzosen in ihren Revolutionskriegen nach 1789 erkämpften, lag außerhalb seines Horizonts, weil er auch außerhalb des im 18.Jahrhundert politisch Möglichen lag. Friedrich war kein Phantast. Insofern mussten sich selbst die größten borussischen Historiker in die Tasche lügen, wenn sie Friedrich als Vorkämpfer deutscher Einheit feierten. Solche Versuche zogen scharfe Polemiken auf sich. Ob nun Onno Klopp im Namen der Bismarck unterlegenen großdeutschen Partei, Franz Mehring für die Sozialdemokraten des Kaiserreichs, Werner Hegemann aus Zorn über gelehrte wie ungelehrte Kriecherei noch in der Weimarer Republik oder Rudolf Augstein nach der Katastrophe des Zweiten Weltkriegs Friedrich den Prozess machte – sie alle führten schwungvoll vor Augen, dass Friedrich sich für Deutschland und die «deutsche Frage» nicht interessiert hatte. Diese stand zu seinen Lebzeiten nicht auf der Tagesordnung.
Andere überschätzen den Autor Friedrich, den «Philosophen von Sanssouci». Aber nicht seine Briefe, Gedichte und philosophischen Dialoge erklären ihn, so interessant sie sein mögen, sondern seine Taten. Bei jeder Zeile dieses wirkungsbewussten, seine Umwelt genau beobachtenden Menschen ist zu fragen, was er damit erreichen wollte. Er verfolgte einen Zweck, wenn er schrieb. Und sei es nur den, sich zu entspannen, so wie er es im Mai 1742 seinem Freund, dem Sohn eines venezianischen Kaufmanns, Francesco Algarotti, erläuterte: «Von allen Lebensweisen ist die des Studiums, glaube ich, die glücklichste, weil man lernt, sich selbst genug zu sein und Bücher, Dinte und Nachdenken lassen uns, in welchem Verhältnisse wir uns auch befinden, niemals zu Schanden werden. Sobald der Krieg beendiget sein wird, werden Sie mich als Philosoph sehn und dem Studium mehr ergeben, als jemals.»2 Das klingt suggestiv. Der König schreibt aus dem Feldlager des ersten Krieges um Schlesien, wenige Tage zuvor hatten die Österreicher bei Chotusitz eine Niederlage einstecken müssen. Der eroberungslustige Monarch wollte dem Italiener vor allem ein Kompliment dafür machen, dass er sich so intensiv den Wissenschaften widmete, und ihn einladen, um im Feldlager einen Gesprächspartner zu haben.
Das philosophische Gespräch diente dem König zur Erholung, zur Schulung und Selbstverständigung, zum Training der Geisteskräfte, hauptsächlich aber zur Geselligkeit. Die Philosophiegeschichte des 18.Jahrhunderts kann getrost geschrieben werden, ohne seine Meinungen und Abhandlungen zu berücksichtigen. Immerhin – und dies hebt ihn über Dutzende Regenten seiner Zeit – hatte er verstanden, dass man als Monarch im «Siècle des Lumières» gut daran tat, auf die Philosophen zu achten und sich mit ihnen ins Benehmen zu setzen. Sie wurden zunehmend eine Macht. Es konnte sich rächen, sie zu missachten; wie viel besser, wenn man sie auf seine Seite zu ziehen verstand.
In einem Punkt war Friedrich ein Autor von besonderem Gespür und hoher Intelligenz: Er schrieb sich, um es lax zu sagen, seine Stellenbeschreibung selbst, erfand das König-Sein um die Mitte des 18.Jahrhunderts neu. Seine Freundschaft zu Voltaire, dem damals hellsten und erfolgreichsten Kopf Europas, trug dazu bei, aber sie war nicht das Entscheidende – so wenig, wie das Testament seines Vaters oder naturrechtliche Theorien, über die damals viel diskutiert wurde. All das spielte eine Rolle und muss herangezogen werden, um ein adäquates Bild zu gewinnen. Den Ausschlag jedoch gab Friedrichs Wille, Autor, Urheber und Souverän seines Wirkens als Monarch zu werden. Er verfasste gleichsam ein Drehbuch für seine Regentenjahre. Oft fehlten darin Seiten, und er musste improvisieren; oft konnte Geplantes nicht realisiert werden, musste von vorne begonnen, ein liegengebliebener Handlungsfaden an anderer Stelle wiederaufgenommen werden. Mal wechselten die Dekorationen überraschend, mal schienen sie keinen Platz für Neues machen zu wollen. Gunst und Ungunst der Umstände besaßen großen, nur unter Mühen zu parierenden Einfluss. Aber Friedrich überließ sein Glück so wenig dem Zufall wie der Tradition oder der Theorie.
Was ist ein König? Welche Möglichkeiten eröffnen sich einem König heute? Welche Art König will ich sein? Dass er sich diese Fragen vorlegte und auch beantwortete, begründet Größe und Schrecken seiner Herrschaft. Weil er, den Geboten und Angeboten der Aufklärung folgend, sich als König selbst erfand, verwarf er Überkommenes, Althergebrachtes, stellte sich regelmäßig gegen Zeremonielles und Formalitäten, wenn diese – geronnene Überlieferung – seinen Absichten nicht dienlich oder bloß lästig schienen. Das verleiht seinem Handeln auf verschiedensten Gebieten einen gemeinsamen Zug. Parteigänger der Aufklärung haben ihn dafür gepriesen, romantische Verteidiger des Alten hatten immer ihre liebe Not mit ihm. Unmittelbar nach der Französischen Revolution haben sie den Feind der Rituale, Zeremonien und Bräuche verdammt. Bis heute können sich Konservative nur unter Verbiegungen auf Friedrich berufen.
Sein Vater, der Soldatenkönig Friedrich WilhelmI., hatte bereits mit den Konventionen des Hofzeremoniells gebrochen und bei Regierungsantritt verkündet: «Mein Vater fand Freude an prächtigen Gebäuden, großen Mengen Juwelen, Silber, Gold und Möbeln und äußerlicher Magnifizenz – erlauben Sie, daß ich auch mein Vergnügen habe, das hauptsächlich in einer Menge guter Truppen besteht.»3 So konnten, wie der zu Unrecht unterschätzte Aufklärer Christian Garve zusammenfasste, nur noch «drey Arten der Formalitäten» Friedrich belästigen oder «bey seinen Entwürfen einschränken», als er seine Regierung antrat: die am Hofe, die an den Gerichtshöfen, die bei der Führung der öffentlichen Geschäfte und den Unterhandlungen mit anderen Staaten.4 Auf diesen Gebieten hat Friedrich Neues unternommen, ist bei Gewohnheit und Regel nicht stehen geblieben.
Zahlreiche Beispiele belegen seine Missachtung des Herkommens wie der Formalitäten, das Unkonventionelle seiner Regierungsart: So wie er dem zeremoniellen Hofleben abgeneigt war und einige Meisterschaft darin erwarb, Erwartungen zu enttäuschen, so legte er auch wenig Wert auf den komplizierten Mechanismus des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation. Seine deutsche Rechtschreibung war nicht nur äußerst fehlerhaft, sie interessierte ihn nicht, er schrieb die Wörter deshalb auf verschiedene Weise falsch. Nur im Französischen ließ er sich helfen. Berühmt ist seine Vernachlässigung der eigenen Kleidung, auf deren Reinlichkeit er nicht achtete. Er musste es auch nicht, dafür hatte er Personal. Wenn seine Uniformjacke dennoch von Tabakresten und anderem verdreckt war, konnte dies nur als Zeichen der Gleichgültigkeit gegenüber den Formen des gesellschaftlichen Umgangs und des Urteils der Welt verstanden werden. Er war so frei. Er nahm sich ab und an sogar die Freiheit, sich an Formen zu halten, Erwartungen zu erfüllen, die ihm vom Zeremoniell zugedachte Rolle zu spielen. Der große Schriftsteller und Lebenskünstler Giacomo Casanova hat ihn dabei im Juli 1764 beobachtet: «Zu jener Zeit machte Friedrichs Schwester, die Herzogin von Braunschweig, dem König einen Besuch; sie wurde von ihrer Tochter begleitet, die im folgenden Jahre den Kronprinzen heiratete. Aus diesem Anlaß kam der König nach Berlin und ließ auf seiner kleinen Bühne in Charlottenburg eine italienische Oper aufführen. Ich sah an diesem Tage den König von Preußen höfisch gekleidet in einem Rock von Glanzseide, der an allen Nähten mit Goldborten besetzt war, und in schwarz-seidenen Strümpfen. Seine Erscheinung war geradezu komisch. Den Hut unterm Arm betrat er den Saal, seine Schwester an der Hand führend. Alle Zuschauer betrachteten ihn mit dem größten Erstaunen; denn nur alte Leute konnten sich erinnern, ihn ohne seinen Uniformrock und seine Stiefel gesehen zu haben.»5
Wieder hatte es der König geschafft, von sich reden zu machen: Erst teilte jeder mit, dass er tatsächlich nur im abgenutzten Uniformrock herumlaufe, nun konnte die Ausnahme berichtet werden. Der Anlass rechtfertigte die Förmlichkeit – schließlich ging es um Familienbande und nebenher auch um das künftige Schicksal der Dynastie. Dafür konnte man schon einmal schwarzseidene Strümpfe anziehen. Wie wichtig es ihm mit der Zukunft des Hauses Brandenburg tatsächlich war, offenbart sein Wunsch, in aller Stille und abgeschieden begraben zu werden – als sei die Beerdigung des Herrschers nicht einer der großen, zeremoniell und zur Legitimation wesentlichen Augenblicke beim ohnehin oft prekären Übergang zum neuen König. Daher hat sich sein Nachfolger auch mit guten Gründen nicht an die ungehörige Verfügung gehalten. Wusste Friedrich, der eine Geschichte des Hauses Brandenburg geschrieben hat, wirklich nicht um die Unmöglichkeit seiner Bestattung als Philosoph?
Wer es leid ist, den König, der das Staunen seines Jahrhunderts war, auf eine Formel zu bringen, ist eingeladen, in der folgenden Textauswahl Dokumente und Geschichten von und über Friedrich nachzulesen. Diese Auswahl soll weder der Glorifizierung noch der Verdammung dienen. Sie soll historische Neugier mal wecken, mal stillen. Sie verfolgt nicht die Absicht, Legenden zu dekonstruieren, wohl aber, sie ins rechte Licht zu stellen. Für einen Prozess gegen den Preußenkönig ist es längst zu spät, über ein Verfahren zu seiner Seligsprechung hätte er nur gespottet. Die Zahl der Texte hätte sich leicht verzehnfachen lassen, die Literatur zu Friedrich ist von beängstigendem Umfang; man kann ein Leben mit ihrem Studium verbringen. Die Auswahl lässt charakteristische Stimmen zu Wort kommen, rühmende, kritische und abwägende. Weil es so viel über ihn zu sagen gibt, weil er immer wieder Kontroversen auslöst, ist er «unser König»: der umstrittenste Monarch der deutschen Geschichte, Vorbild und Schreckbild. Keiner der Versuche, ihn ganz zu historisieren, ihn als einen «normalen» Herrscher des 18.Jahrhunderts erscheinen zu lassen, hat bisher die Faszination auslöschen können, die von seiner Person, seiner Zeit und den Legenden über ihn ausgeht.
1712
Am 24.Januar wird Friedrich im Berliner Schloss geboren. Er ist das vierte Kind des Kronprinzenpaares Friedrich Wilhelm (1688–1740) und Sophie Dorothea (1687–1757).
1713
Friedrich WilhelmI. folgt am 25.Februar seinem Vater auf dem Thron und wird der zweite König in Preußen.
1716
Der König bestimmt den hugenottischen Réfugié Jacques Égide Duhan de Jandun (1685–1746) zum Erzieher Friedrichs. In den ersten Lebensjahren steht der Kronprinz unter der Obhut der Gouvernante Madame de Rocoulle.
1718
Von nun an führt Albrecht Konrad Graf Finck von Finckenstein (1660–1735) gemeinsam mit Christoph Wilhelm von Kalckstein die Aufsicht über die Erziehung des Thronfolgers.
1728
Friedrich reist nach Dresden und lernt dort an der Seite des preußischen Königs den Hof Augusts des Starken kennen, ein Gegenbild zum kargen preußischen Hofleben. In den kommenden Monaten wachsen die Spannungen zwischen dem auf Gehorsam drängenden Vater und dem schöngeistig interessierten, eigensinnigen Sohn.
1730
Am 4.August versucht Friedrich in Steinsfurt bei Heilbronn, dem Vater zu entfliehen. Er wird arretiert, verhört und eilig über Wesel nach Küstrin verbracht. Sein Freund und Fluchthelfer, Leutnant Hans Hermann von Katte (1704–1730), wird am 6.November vor seinen Augen hingerichtet. Der König hatte das Urteil des Kriegsgerichts verschärft.
Von November 1730 bis April 1732 lernt Friedrich in der Kriegs- und Domänenkammer in Küstrin die Verwaltungsarbeit en détail kennen.
1731
In einem Brief an seinen Kammerjunker Karl Dubislav von Natzmer, mit dem er abends gern politisierte, entwirft der Kronprinz ein Programm zur Vergrößerung Preußens.
1732
Friedrich wird Kommandeur des Infanterieregiments von der Goltz (Nauen und Neuruppin).
1733
Auf Wunsch des Vaters und gegen seinen Willen heiratet Friedrich Elisabeth Christine von Braunschweig-Bevern (1715–1797).
1734
Friedrich reist zu den Truppen am Oberrhein und trifft dort einen der größten Feldherren der Zeit: Prinz Eugen von Savoyen (1663–1736).
Schloss Rheinsberg wird durch Johann Gottfried Kemmeter und Georg Wenzeslaus von Knobelsdorff (1699–1753) umgebaut, hier entwickelt der Kronprinz ein Hofleben nach seinem Geschmack.
1735
Ende September bricht Friedrich zu einer mehrwöchigen Reise nach Ostpreußen auf.
Carl Heinrich Graun (1704–1759) wird Kapellmeister der Hofkapelle in Rheinsberg.
1736
Beginn der Korrespondenz mit Voltaire (1694–1778), die trotz aller Zerwürfnisse bis zu dessen Tode fortgesetzt wird.
1738
Entwurf der Flugschrift «Betrachtungen über den gegenwärtigen Zustand von Europa».
1739
Niederschrift des «Antimachiavell».
1740
Am 31.Mai stirbt Friedrich WilhelmI. im Potsdamer Stadtschloss.
Als Friedrich geboren wurde, saßen auf den Thronen Europas einige außergewöhnliche Herrscher. In Frankreich regierte seit Jahrzehnten der «Sonnenkönig» LudwigXIV., dem es gelang, den widerspenstigen Adel zu bändigen und in ein Hofleben einzubinden, das ganz auf die Person des Monarchen ausgerichtet war. Versailles wurde zum Vorbild für begabte wie beschränkte Regenten in Dutzenden Territorien, französische Sprache und französische Kultur beherrschten die Lebenswelt der europäischen Aristokratie. In Russland setzte PeterI. als Alleinherrscher energisch und skrupellos Reformen durch, die das Land dem Westen annähern sollten. Der schwedische König, KarlXII., führte einen Krieg nach dem anderen und verspielte dabei die im 17.Jahrhundert noch gefürchtete Macht Schwedens. In Sachsen glänzte August der Starke, der Dresden zur prächtigen Residenz ausbauen ließ und obendrein die polnische Königskrone für sich errungen hatte. KarlVI. war 1711 zum Kaiser des Heiligen Römischen Reiches gewählt worden und brauchte fortan einen Großteil seiner Kräfte, um die «Pragmatische Sanktion» durchzusetzen, die eine weibliche Erbfolge im Hause Habsburg ermöglichte.
Und in Preußen? 1701 hatte Kurfürst FriedrichIII. sich in Königsberg die Krone eines Königs in Preußen aufs Haupt gesetzt und seitdem als FriedrichI. viel unternommen, um diesen Anspruch durch kostspielige Repräsentation zu unterstreichen. Es scheint, als habe er die Rangerhöhung unbedingt anstreben müssen, wollte er nicht gegenüber den Nachbarn zurückbleiben, nachdem die Wettiner die polnische Krone gewonnen und die Welfen die englische in Aussicht hatten. Sein Enkel, Friedrich der Große, fand selten freundliche Worte für ihn. In den «Denkwürdigkeiten zur Geschichte des Hauses Brandenburg» schrieb er: «FriedrichIII. fühlte sich in seinem Ehrgeiz beengt, ihm genügte weder sein Stand noch sein Besitz. Seine Schwäche erlaubte ihm nicht, sich auf Kosten der Nachbarn auszudehnen, die ebenso stark und mächtig waren wie er. Daher blieb ihm nur der Ausweg zum Schwulst der Titel, um damit zu ersetzen, was ihm an Macht fehlte.»6 Der Vorwurf, FriedrichIII./I. habe den Schein und den «blendenden Glanz»7 mehr geschätzt als die Macht und das Nützliche, verkennt die Bedeutung, die Zeremonien und Rangordnungen um 1700 besaßen, trifft aber doch ein Problem: Die Kosten der Pracht überstiegen die Möglichkeiten der preußischen, im Dreißigjährigen Krieg arg verwüsteten Staaten, während die Abhängigkeit von der Diplomatie und dem Wohlwollen fremder Höfe trotz all der Anstrengungen kaum geringer wurde.
Friedrich WilhelmI., der 1713 den Thron bestieg, konzentrierte sich daher auf die Finanzen und das Militär – und entwickelte einen ganz eigenen Regierungs- und Lebensstil, den zu verspotten nie schwerfiel. Voltaire etwa ließ seinen Roman «Candide oder der Optimismus» in Westfalen beginnen, auf dem Schloß des Barons Thunder-ten-tronckh. Dessen Besitz erinnerte in manchem an die derbe Kargheit unter dem «Soldatenkönig», dem Vater Friedrichs des Großen. Die Beschreibung spiegelt satirisch, was man sich über das merkwürdig glanzlose, schlichte Leben auf Königs-Wusterhausen erzählte, wo der Kronprinz Friedrich Wilhelm im Kleinen erprobt hatte, was er als König im Großen unternehmen wollte. Königs-Wusterhausen war, so der Historiker Carl Hinrichs, die «Keimzelle der künftigen Regierung»8. Verglichen mit Versailles oder Dresden, den Residenzen in Fulda, Würzburg oder Bamberg wirkte es grotesk, lächerlich. Wer von Verwaltung, Haushaltsführung und der neuen militärischen Kultur unter Friedrich Wilhelm nicht reden wollte, wer sich dort wie Kronprinz Friedrich als bedrohter Außenseiter empfand, der mochte es schildern, wie es im ersten Kapitel des «Candide» geschieht: «Der Baron war einer der mächtigsten Herren in Westfalen, denn sein Schloß besaß eine Tür und Fenster. Den großen Saal schmückte sogar eine Tapisserie. Die Hunde auf dem Hühnerhof stellten im Notfall eine Jagdmeute dar; die Stallknechte waren die Piköre; der Dorfgeistliche gab den Schloßkaplan ab. Alles nannte ihn ‹Euer Gnaden› und lachte über die Geschichten, die er zum besten gab. Die Baronin, die etwa dreihundertfünfzig Pfund wog, stand dadurch in hohem Ansehen und machte die Honneurs des Hauses mit einer Würde, die ihr noch größeren Respekt einbrachte.»9
Die Mutter Friedrichs, Sophie Dorothea von Braunschweig-Hannover-Lüneburg, neigte zur Fettleibigkeit. Man ließ deswegen in späteren Jahren eigens breitere Stühle für sie anfertigen. Aufgrund ihrer «stattlichen Gestalt» nannten die Gesandten fremder Höfe sie «Olympia». Bei ihr, im Schloss Monbijou, wuchs Friedrich auf. Zwei Söhne waren ihr bereits verstorben. Der Großvater, FriedrichI., hatte aus Sorge um die Nachfolge ein drittes Mal geheiratet, um den Fortbestand der Dynastie zu sichern. Umso erleichterter war man nun, dass der am 24.Januar 1712Geborene kräftig genug war und überlebte.
Sophie Dorothea stammte – wie die Gemahlin des ersten Königs in Preußen – aus dem ehrwürdigen, anspruchsvollen Haus Hannover, das damals auch auf dem englischen Thron saß. Ihr Ehrgeiz fand in Berlin kaum Befriedigung. Sie war an barocke Hofhaltung gewöhnt und litt unter der Sparsamkeit ihres Mannes. Der König, dem sie im Lauf der Jahre dreizehn Kinder gebar, hielt ihr nicht nur die eheliche Treue, sondern gestand ihr eine eigenständige Position am Hofe zu, sosehr er auch sonst auf sein Selbstherrschertum pochte – «ist mein Will, ohne zu resonnieren»10.
Um die Königin sammelte sich eine eigene Partei, und erst dadurch gewann der Vater-Sohn-Konflikt jene Unversöhnlichkeit und Sprengkraft, die 1730 zur Katastrophe führen sollten, als der Kronprinz versuchte, ins Ausland zu fliehen, und dann vor ein Kriegsgericht gestellt wurde. Die späteren Ereignisse verstellen den Blick auf Friedrichs Jugend. Es fällt schwer, die Zeit seines Heranwachsens nicht von diesem gewiss doch vermeidbaren Ende her zu betrachten.
Die Mutter wünschte, ihn zum Instrument ihrer Ambitionen zu machen, der Vater tat alles, ihn nach seinem Bild zu modeln. Es spricht für die Charakterstärke und Intelligenz des Kronprinzen, dass er schon früh auf Distanz zur Umwelt ging, seinen Weg einschlug. Er zahlte dafür einen hohen Preis.
Erzogen wurde er zunächst nach den Instruktionen, nach denen man sich auch in der Jugend seines Vaters gerichtet hatte. Über den kleinen Prinzen wachte Frau von Rocoulle, die zwei Jahrzehnte zuvor über Friedrich Wilhelm gewacht hatte. Zum Erzieher wurde der hugenottische Kavalier Jacques Égide Duhan de Jandun bestimmt. Der Unterricht galt vor allem dem Praktischen und Nützlichen. Aber wie der Vater in seiner Jugend las auch Kronprinz Friedrich den populären Fürstenspiegel «Die Abenteuer des Telemach, Sohn des Odysseus», und er las ihn in der Kultursprache der Zeit, auf Französisch: «Les aventures de Télémaque, fils d’Ulysse» lautete der Titel des Buches, das der Erzbischof von Cambrai, François de Salignac de la Mothe-Fénelon, für den Enkel und Thronerben LudwigsXIV., den Herzog von Bourbon, verfasste. Begleitet von Mentor, dessen Gestalt die Göttin Minerva angenommen hat, macht sich Telemach auf die Suche nach seinem Vater Odysseus, der noch nicht aus dem Trojanischen Krieg heimgekehrt ist. Er lernt dabei gute wie despotische Regenten kennen, bestechliche wie weise Minister. Fénelon verband Kritik an den Zuständen unter dem Sonnenkönig wirkungsvoll mit der Beschwörung eines goldenen Zeitalters. Der unumschränkte Alleinherrscher, der keinem anderen Gesetz gehorche als sich selbst, der den Staat als seinen alleinigen Besitz betrachte und nur egoistische Interessen verfolge, untergrabe die Grundlagen seiner eigenen Herrschaft. Eine Despotie, die alle Bürger zu Sklaven mache, sei nicht lebensfähig; sie werde ebenso enden wie die verheerten Länder, die der Despot im Streben nach Ruhm und raschen Siegen überfallen hat. Auch der Luxus wird verworfen, da er Neid und Eifersucht nähre und das Gemeinwesen im Ganzen korrumpiere. Einen Gegenentwurf bietet der Roman am Beispiel von Salent: Der Staat und sein weit entwickelter Beamtenapparat kümmern sich um nahezu alles, aber es handelt sich nicht um eine Despotie, da der Herrscher sich freiwillig den Gesetzen der Natur unterwerfe und – im wohlverstandenen Eigeninteresse – als erster Diener des Gemeinwesens agiere. Er sorgt für sein Volk wie ein Hirt für seine Herde oder ein Vater für seine Familie.
Friedrich hat «Die Abenteuer des Telemach» zum ersten Mal 1721 gelesen, noch als Kind also. In seiner berühmtesten Schrift über Probleme des Regierens, dem «Antimachiavell», stellt er dem «niederträchtigen Politiker aus Florenz» den «ehrwürdigen Erzbischof von Cambrai» gegenüber.11 Er besaß verschiedene Ausgaben des «Telemach»; als 1782 in Maastricht eine neue erschien, ließ er auch diese für seine Bibliothek in Sanssouci beschaffen. Ein Lebensbuch also. Was mag er gedacht und gefühlt haben, wenn er im Schloss Monbijou darin las, wissend, dass er bald wieder aufbrechen musste nach Königs-Wusterhausen zur ungeliebten Parforcejagd? Wie erschien das Königreich, wie erschien Brandenburg unter Friedrich WilhelmI., wenn man gerade Fénelons Kritik am Despotismus studiert hatte?
Es ist ein aussichtsloses Unterfangen, ins Innere des jungen Friedrich blicken zu wollen. Das misslang schon dem Vater, dessen Zorn darüber, dass sich ausgerechnet der Kronprinz seiner Kontrolle entzog, stetig wuchs. Einen guten Christen, tapferen Soldaten und sorgsam Wirtschaftenden wünschte Friedrich WilhelmI. zu formen; Friedrich machte Schulden, las und musizierte, schien sich hinter Masken zu verbergen, Komödie zu spielen, gab sich gern spöttisch. Der König spürte Widerstand, Andersartigkeit, unterwarf nun seinen Sohn einem strengen Reglement, schlug ihn, fuhr ihn immer wieder scharf an – umsonst, es gelang ihm nicht, den «effeminierten Kerl» zu unterwerfen. So konnte er ihn nur immer aufs Neue kränken, zurechtweisen, ermahnen. Der König besaß ohnehin ein aufbrausendes Temperament, war jähzornig und verlor schnell die Beherrschung, seine Launen wechselten rascher als das Wetter – zumal dann, wenn ihn Gichtschmerzen plagten.
Wie reagiert ein Heranwachsender darauf, in einer Zeit ohne Therapeuten und ohne entlastende Konzepte wie das der «Pubertät»? Wilhelmine von Bayreuth, Friedrichs Lieblingsschwester, hat in ihren späteren, nicht sehr zuverlässigen Memoiren über Zorn und Entgleisungen am Hohenzollernhof berichtet. Sie schildert Furcht, kleine Listen und eine Art Alltagsstoizismus. Für Friedrich dürfte der Konflikt mit dem König eine Schule der Verstellung gewesen sein, ein Ansporn, genau zu beobachten, auf kleinste Signale zu achten, situative Intelligenz zu entwickeln. Er legte sich verschiedene Gesichter zu: eines für die Welt des Vaters, ein anderes für die Welt der Mutter.
Der Familienkonflikt hätte sich möglicherweise irgendwann beruhigt, wären nicht politische Gegensätze dazugekommen. Sophie Dorothea strebte eine Doppelhochzeit mit dem Hause England-Hannover an. Friedrich sollte die englische Prinzessin Amalie, Wilhelmine den Herzog von Gloucester heiraten. Das hätte Preußen dem Heiligen Römischen Reich und den Habsburgern entfremdet, zu denen Friedrich WilhelmI. damals treu stand, auch wenn er dabei nie viel gewann. Er hoffte, der Hof in Wien würde ihm helfen, seine Ansprüche auf das Herzogtum Berg durchzusetzen. Der österreichische Gesandte in Berlin, Graf Seckendorff, nährte im Interesse des Hauses Habsburg Illusionen auf allen Seiten, bot Bestechungsgelder gegen eine Verbindung mit England auf.
Sophie Dorothea, welfisch gesinnt, nach Glanz für ihre Kinder und damit auch für sich dürstend, ließ nicht ab von ihren Plänen, auch nachdem diese eigentlich abgetan waren. Indessen spitzte sich das Verhältnis zwischen Vater und Sohn unerträglich zu. Friedrich beschloss, auf einer Reise die Flucht zu wagen. Die Vorbereitungen wirken im Rückblick einigermaßen dilettantisch. Weder dem Kronprinzen noch seinen Mitwissern, dem Leutnant Peter von Keith und dem Premierleutnant Hans Hermann von Katte, kann man den Vorwurf des Leichtsinns ersparen, zumindest dann nicht, wenn man das ganze Bündel an Konflikten in Rechnung stellt12: Da haderten miteinander der zweiundvierzigjährige Vater und sein achtzehnjähriger Sohn, aber auch der König und die Königin, in deren jahrelangem Ringen es um die Ausrichtung der preußischen Außenpolitik ging, wobei die «habsburgische» und die «englische» Partei in Berlin involviert waren. Die Konkurrenz zwischen Hohenzollern, Welfen und Wettinern spielte ebenso hinein wie der Souveränitätsanspruch des Königs, der den Adel seiner Staaten in den Dienst zwingen wollte und mithin in besonderem Maße auf den Gehorsam in seinen Regimentern und die Festigung der noch jungen Regimentskultur achten musste.
In der Nacht vom 4. auf den 5.August 1730 misslang der Fluchtversuch in Steinsfurt, in der Nähe von Heilbronn. Trotzig bekannte sich Friedrich zum Vorsatz der Flucht, «weil er als ein Prinz von achtzehn Jahren es nicht mehr ausstehen könne, vom Könige, wie noch jüngst im sächsischen Lager, mit Schlägen gemißhanddelt zu werden»13. Nach erster Untersuchung ließ der König Arrest über den Kronprinzen verfügen, Keith entkam über Holland nach England. Er wurde später in effigie und in aller Form gehängt. Am 16.August verhaftete man Hans Hermann von Katte in Berlin. Es folgten zahlreiche Verhöre und das Kriegsgericht im Wappensaal des Schlosses Köpenick. Ein Urteil über den Kronprinzen lehnte das Gericht ab, das sei eine Staats- und Familiensache, über die zu befinden es sich nicht erkühnen wolle. Katte wurde von drei Richtern zum Tode verurteilt, zwei erkannten auf Festungshaft, weil es beim bösen Vorsatz geblieben sei. Das Votum des Vorsitzenden gab den Ausschlag, auch er fällte ein milderes Urteil, da es zu einer wirklichen Desertion nicht gekommen sei.
Dem König erschien die Milde der Richter ein Unrecht, als seien sie mit dem Federwisch über die Sache hinweggegangen. Am 11.November beklagte er sich an öffentlicher Tafel, «daß er zwar geglaubt, er hätte ehrliche und solche Leute erwählet, so ihre Pflicht nicht vergäßen, die aufgehende Sonne nicht anbeteten und bei dem Kriegsrecht allein ihr Gewissen und des Königs Ehre beobachten würden. Allein nun lerne er sie besser kennen, indem sie den Fuchsschwanz strichen und dem meineidigen Katte das Leben nicht absprechen wollten, welcher doch als ein Verbrecher der verletzten Majestät den Tod hundertmal verdient gehabt. Die Ursache von der dadurch gegen ihn bewiesenen Untreue könnte keine andere sein, als daß sie schon auf die künftigen Zeiten sähen und also das vorgehabte Vorhaben von seinem Kronprinzen und dessen Anhängern vor lauter Kinderspiel in den Augen der ganzen Welt wollten passiren machen, welches keine so harte Strafe verdiente.»14
Katte habe, so hatte der König am 1.November in einer Kabinettsordre beschieden, den Fahneneid gebrochen, «mit der künftigen Sonne tramiret zur Desertion»15. Er verschärfte die Strafe, was er zwei Tage später mit höchster Notwendigkeit rechtfertigte: «Ich bin also diesesmahl nicht im Stande, zu pardonniren, weil die Wohlfahrt des gantzen Landes, und meiner selbst, wie auch meiner Familie, wegen derer kunfftigen Zeiten es nothwendig erfodert.»16
Ganz ähnlich wird zu Beginn des 19.Jahrhunderts Michael Kohlhaas in Heinrich von Kleists gleichnamiger Erzählung eine mögliche Vergebung verwerfen und glauben, dass sonst der Bestand der Rechtsordnung überhaupt gefährdet sei. Theodor Fontane hat die Entscheidung des Königs für das Recht gutgeheißen. Sie habe Preußen ebenso begründet wie der Sieg des Großen Kurfürsten bei Fehrbellin im Jahr 1675.Der 6.November 1730, an dem Katte in Küstrin vor den Augen des rechtzeitig in Ohnmacht fallenden Kronprinzen enthauptet wurde, veranschauliche «in erschütternder Weise jene moralische Kraft», aus der Preußen erwachsen sei.17 Friedrich WilhelmI. befand sich durch die Milde des Kriegsgerichts in der Tat in einer Zwangslage. Hätte dieses, wie das Gesetz es vorsah, einhellig über Katte die Todesstrafe verhängt, wäre dem Recht Genüge geschehen – und der Monarch hätte, ohne sich etwas zu vergeben, Gnade walten lassen können.
Das «Patriotische Archiv für Deutschland», eine Zeitschrift der Aufklärung, die Friedrich Karl von Moser ab 1784 herausgab, irrte gewiss, als es dem Soldatenkönig im Jahr 1785 einen «Königlichen Kabinets-Justiz-Mord» vorwarf und in der Hinrichtung Kattes ein Beispiel für verderbliche Justizwillkür eines Despoten erblicken wollte. Bis heute aber verstört der pädagogische Überschuss bei der Vollstreckung des Urteils. Friedrich sollte seine Schuld erkennen und einsehen, dass er nur gnadenhalber dem Schicksal Kattes entgangen war. Nun dienten Strafen damals viel unvermittelter der Abschreckung, hier jedoch zugleich der Niederwerfung möglicher Opponenten. Wo verlief die Grenze zwischen einem abschreckenden Beispiel und der Verbreitung allgemeiner Furcht? In einem Marginaldekret auf einer Kabinettsordre an den preußischen Geschäftsträger in London ließ Friedrich WilhelmI. seinem Zorn freien Lauf: «Soll antworten, das wan(n) noch 100000 solche Katten wehren, ich sie alle miteinander lasse redern, da es genug wehre, das er ein meineidger Schelm wehre gewesen. (…) So lange Gott mir das Lehben gehbe, ich mir als Herr dispoticke suteniren werde, wan(n) ich auch noch sollte 1000 der Vornehmste die Köppe fürder abschlagen lassen, denn die Engelle(nder) solten wissen, daß ich keine Nebenregenten nit würde bey meiner Seite zulassen.»18
Der Despot aber, der sich an kein Gesetz über ihm gebunden fühlt, untergräbt, wie nicht nur Fénelon wusste, die Grundlagen seiner Herrschaft. Das «Patriotische Archiv» warnte – noch zu Lebzeiten Friedrichs, kurz vor der Französischen Revolution – am Beispiel der Hinrichtung Kattes vor den verheerenden Folgen willkürlicher Justiz, die schlechterdings nicht anders als «mit innerer Zerrüttung der politischen Verfassung und öffentlichem Aufruhr endigen kan»19 oder zumindest den Ruhm des Herrschers beflecke, ihn seinen Untertanen verhasst mache.
Das Verhältnis von Recht und Macht war ein Hauptthema im 18.Jahrhundert – mindestens so bedeutsam wie der gern beschworene Aufstieg des meist ominösen «Bürgertums». Friedrich hatte darüber nicht nur gelesen, er hatte einen Konflikt mit Justiz und Staatsmacht durchlebt. Das Thema sollte ihn zeitlebens begleiten – vom Einfall in Schlesien bis zu den Prozessen des Müllers Arnold in seinen letzten Lebensjahren. Im Urteil über Katte und ihn waren Justiz und Staatsräson aufs engste verknüpft. Das Haus Brandenburg, so die Überzeugung des Vaters, konnte sich nur behaupten, wenn Justiz und Gerechtigkeit triumphierten, koste es, was es wolle. Friedrich musste gezwungen werden, die Staatsräson zu verstehen, lernen, worin sie bestand, welchen Regeln sie folgte.
Der Angehörige einer therapeutischen Kultur kann nur staunen, wie rasch Friedrich das Trauma der Hinrichtung des Jugendfreundes und der Haft überwand, in der er lange mit sich hatte allein bleiben müssen. Er zeigte Reue, über deren Aufrichtigkeit zu spekulieren müßig ist, und durfte sich in der Neumärkischen Kriegs- und Domänenkammer bewähren. Der Kronprinz sei bald schon wieder «lustig wie ein Buchfink» gewesen, schrieb der Kammerdirektor Hille, der den Begnadigten in der Kameralistik unterwies. Friedrich hatte seinem Vater Wohlverhalten geloben müssen und nahm auf sich, was geeignet schien, weitgehende Eigenständigkeit zu erlangen. Er passte sich an, aber er unterwarf sich nicht. Seit 1732 kommandierte er ein Infanterieregiment in Ruppin, lernte den Militäralltag aus Exerzieren, Exerzieren, Rekruten anwerben und Exerzieren kennen. Eben damals wurde in Preußen das Kantonssystem endgültig installiert, das ein zahlreiches Heer mit vielen Inländern ermöglichte, ohne die einheimische Wirtschaft über Gebühr zu belasten. Die drei entscheidenden Verordnungen vom Mai und September 1733 legten Aushebungsbezirke, Kantone, für jedes Regiment fest, womit die berüchtigten «wilden Werbungen» eingeschränkt wurden, die immer wieder zu diplomatischen Konflikten geführt hatten. Junge Männer wurden nun in Regimentslisten eingeschrieben, enrolliert. Die notwendige Exerzierzeit einschließlich Revuen und Manövern dauerte zwei, drei Monate. Waren diese überstanden, wurden die Soldaten im Regelfall beurlaubt und arbeiteten in der Landwirtschaft oder im städtischen Kleingewerbe. Das Kantonssystem entlastete die einzelnen Soldaten und ihre Familien und sorgte zugleich für eine enge Verklammerung von Sozial-, Wirtschafts- und Militärleben. Friedrich änderte später als König nur Kleinigkeiten daran, im Wesentlichen behielt er das während seiner Ruppiner Kommandeurszeit eingeführte System bei.
Der Vater hatte für ihn nach gewohntem Muster eine detaillierte Instruktion aufgesetzt. Erwünscht waren Regelmäßigkeit, Fleiß, Keuschheit; im Gespräch sollte ein anständiger Ton herrschen; größten Wert legte der König des «Plus Machens» auf sparsames Wirtschaften und ein gottgefälliges Leben, wie er es verstand. Sehr streng dürfte die Etikette unter den Offizieren um den jungen Friedrich allerdings nicht gewesen sein. Ein scherzhafter Ton wurde allmählich zur Pflicht, man spielte Karten, musizierte, las, wartete fröhlich auf die aus Hamburg eintreffenden Delikatessen: Kapaunen, Steinbutte, Austern. Von Liebeshändeln ist die Rede. Letzte Klarheit, wie viel davon erdichtet war, lässt sich nicht mehr gewinnen. Friedrich erfüllte jedenfalls seine Kommandeursaufgaben, gab sich Mühe und kaum Widerworte – und so stand einem entspannteren Verhältnis zum Vater wenig im Wege. Alles ließ sich gut an.
Umso empfindlicher traf den Kronprinzen die Forderung, eine ihm von Friedrich Wilhelm zugedachte Prinzessin zu ehelichen. Außenpolitische Interessen hatten den Ausschlag gegeben: Elisabeth Christine von Braunschweig-Bevern war eine Nichte der Kaiserin. Graf Friedrich Heinrich von Seckendorff, der die habsburgischen Interessen in Berlin zu wahren verstand, sorgte dafür, dass der auch in dieser Angelegenheit hilfreiche preußische Minister von Grumbkow eine kaiserliche «Begnadigung» von vierzigtausend Gulden erhielt. Friedrich widersetzte sich vergebens. Am 12.Juni 1733 schloss er in Salzdahlum im Braunschweigischen die Ehe mit der unbeholfenen, schüchternen Elisabeth Christine, die so gar nicht seinem Wunschbild einer geistreichen, weltgewandten Frau entsprach.
Der Kronprinz gewann durch die Hochzeit, seine Position festigte sich. Auch erhielt er die Herrschaft Rheinsberg unweit von Neuruppin zum Geschenk. Hier legte er die Grundlagen für seine Neuerfindung der Königsrolle. Er hatte zunächst konventionelle Stationen der Vorbereitung durchlaufen: Domänenkammer, Kommandeursposten. 1734 begleitete er preußische Hilfstruppen an den Neckar, wo das Reich und Frankreich einander gegenüberstanden. Der Streit um die polnische Thronfolge hatte die beiden Länder entzweit. Unter feindlichem Beschuss demonstrierte Friedrich damals schon Unerschrockenheit, das Ereignis dieses Sommers aber war seine Begegnung mit dem größten Feldherrn jener Jahre. Er traf den kaiserlichen Generalleutnant und Reichsfeldmarschall Eugen, Prinz von Savoyen, der in den Schlachten von Turin, Höchstädt und Malplaquet gesiegt hatte, taktisches Geschick mit persönlicher Tapferkeit und Edelmut verband. Eugen war allerdings in die Jahre gekommen – er starb 1736.Friedrich traf einen an mancherlei Gebrechen leidenden Greis und eine nachlässig geführte Truppe. Er begegnete einem Schattenriss früherer Größe und beobachtete viel Verwirrung unter den Soldaten. Es war ein Rendezvous mit verblassendem Ruhm.
1735 und 1736 bereiste der Kronprinz, den der Vater nicht mehr ins Feld ließ, das Herzogtum Preußen, um die Fortschritte des «Retablissements» – der Wiederbesiedlung und Wiederbelebung der durch die Pest verödeten Provinz – an Ort und Stelle zu besichtigen.
Das Entscheidende aber geschah am Grienericksee, in und um Schloss Rheinsberg, wo Friedrich eine für Preußen neue Art der Hofhaltung erprobte, seinen königlichen Stil entwickelte. Was dem Vater Wusterhausen gewesen war, wurde ihm der «Remusberg», wie er das Schloss in Anspielung auf die lokale Sage vom angeblichen Remus-Grab gern nannte.
Friedrich Wilhelm hatte in Wusterhausen die fürsorgliche, auf genauer Detailkenntnis beruhende Verwaltung vorgebildet, der er nach seinem Regierungsantritt das gesamte Land unterwerfen sollte. Nicht Repräsentationsabsichten, sondern Gesichtspunkte der Wirtschaftlichkeit waren ausschlaggebend. Die Erträge des Amtes wurden zu großen Teilen für Anwerbung und Unterhalt von Soldaten verwendet, Militärbedürfnisse, Wirtschaft und Sozialleben wurden in ungewöhnlicher Konsequenz aufeinander abgestimmt. In den Wusterhausener Anordnungen Friedrich Wilhelms fehlte die feierliche Weitschweifigkeit der zeittypischen Kabinettsschreiben. Er schrieb seine Verfügungen «auf einem Quartblatt, dem üblichen Format für Privatbriefe»20, während die Regenten zu Beginn des 18.Jahrhunderts ihren Willen üblicherweise in Folio und unter verschnörkeltem Kopf mit allen Titulaturen verlautbarten. Bereits in Wusterhausen traten an diese Stelle «die Kabinettsordre und die Marginalresolution», mittels derer auch FriedrichII. regieren würde. Aber er tat dies vor einem anderen kulturellen Hintergrund, setzte an die Stelle des Zeremoniells und der hochbarocken Steifigkeit nicht die Starre des Reglements, sondern den zwanglosen Zwang verfeinerter Geselligkeit. Der prägte die Formen in Rheinsberg, am so oft zum Idyll verklärten Hof des Kronprinzen.
Das Zeremoniell hatte jedem seinen Platz zugewiesen, in der Kommandowirtschaft Friedrich WilhelmsI. erhielt jeder seine Aufgabe qua Verordnung. In der neuen Rheinsberger Lässigkeit gab es Regelmäßigkeiten, Ordnung, Routinen, aber kein Reglement. Die Stellung der Höflinge und Freunde bemaß sich nach ihrer Bereitschaft und Fähigkeit, das Dasein in ein galantes Fest zu verwandeln. Das wirkte ungezwungener, weil die Anforderungen dem Einzelnen nicht als etwas völlig Fremdes von außen starr entgegentraten. Indem er die Erwartungen erfüllte, erhöhte und kultivierte er seine Person, und er leistete das Erhoffte, weil er es wünschte. Formalitäten und Äußerlichkeiten konnten – gemessen etwa am spanischen Hofzeremoniell – leichter genommen und manchmal auch vernachlässigt werden, da im Inneren jeder ähnlichen Zielen nach ähnlichem Gesetz nachstrebte.
Dem Großvater, FriedrichI., war die Architektur die wichtigste der Künste gewesen, sie verband Ordnung, Pracht und Dauer. Das passte zum Herrschaftsstil. Auch Friedrich interessierte sich für die Baukunst, die Leidenschaft des Enkels aber galt nicht umsonst der Musik, für die er ein beachtliches Talent besaß. Im gemeinsamen Musizieren wurden jene Tugenden geübt, die auch an seinem Hof, in seiner unmittelbaren Umgebung gelten sollten: Virtuose Variationen über konventionelle Themen, Präzision mit Anmut verbindend, Wettstreit gehörte dazu, aber er gefährdete nicht den Wohlklang insgesamt.
Der neue, leichtere Stil wie der programmatisch heitere Ton kamen – wenig überraschend – aus Frankreich. Freilich war es nicht mehr die Hofhaltung des Sonnenkönigs, dessen Vorbild die Lebenshaltungskosten europäischer Regenten ins Unbezahlbare getrieben hatte. Anregung kam von den Kritikern der absolutistischen Prachtentfaltung, zu denen ja auch Fénelon gehört hatte. Nach den durch devote Frömmelei bedrückenden letzten Regierungsjahren LudwigsXIV. genossen unter der Regentschaft Philipps von Orléans Libertinismus und Hedonismus höchste Wertschätzung. Die Beschränkung durch Formalität und Zwang wich dem kultivierten Dasein im Kreis der Freunde. Das Hofzeremoniell, das noch vor kurzem das Staunen der Welt gewesen war, langweilte nun. LudwigXV. bevorzugte Geselligkeiten kleineren Formats, unter LudwigXVI. ähnelten die Zusammenkünfte bei Hofe an den meisten Tagen bereits Privatgesellschaften. Der Ton war intimer, witziger. Autoritäten, welche auch immer, mussten sich Spott gefallen lassen. In der Malerei wurden neben und statt der Herrscherporträts und Historienbilder nun die fêtes galantes geschätzt: sorgloses Dasein mit Musik, Tanz, Gesang. In dieser Tradition steht der Hof Friedrichs in Rheinsberg, steht dann auch die Tafelrunde in Sanssouci: aristokratisch, elegant, spielerisch, nicht ohne zarte, innige Momente. Von der späteren, im emphatischen Sinne bürgerlichen Kunst unterscheidet sich diese durch die Freude an der Oberfläche, an gekonnten Verfeinerungen, kleinen Nuancen. Das Interesse am Innenleben und der Zergliederung der Seele bleibt dagegen gering. Es ist eine Kunst für sehr wenige.
In Rheinsberg fand Friedrich ein feineren Ansprüchen nicht genügendes Renaissanceschloss vor, er ließ es umbauen von Johann Gottfried Kemmeter und Georg Wenzeslaus von Knobelsdorff, der sich dabei als Architekt übte. Dank zweitem Turm und zweitem Geschoss gewann es Symmetrie, sah es von außen auf schlichte Art feierlich aus, im Inneren wurde es mit den neuen, spielerischen Formen des Rokoko verziert.
Das Schloss ist heute wieder zugänglich, nachdem es jahrzehntelang als Diabetiker-Klinik zweckentfremdet worden war. Man erlebt überwiegend den Zustand, den es unter dem späteren Besitzer, Friedrichs begabtem Bruder Heinrich, erhielt. Spürbar geblieben ist die Künstlichkeit der Anlage. Preußen wurde oft als ein «künstlicher Staat» bezeichnet, als ob es einen naturwüchsigen geben könne. Friedrich aber hat das Artifizielle auf die Spitze getrieben, indem er auch im Brandenburgischen nur die höchsten Vorbilder gelten ließ. Keine Verbeugung vor den lokalen Schwächen und Stärken, keine Anknüpfung an regionales Brauchtum, vielmehr lächelnde Anstrengung, es den Besten gleichzutun.
Deswegen hatte der Kronprinz an seinem preußisch-europäischen Kreis aus Offizieren, Edelleuten und Musikern nie genug. Er schätzte die Kenntnisse des weitgereisten, geistvollen Hugenotten Charles Étienne Jordan, er erfreute sich an den mit ihm nach Kenntnissen und Ruhm strebenden Mitgliedern des eigens gegründeten Bayard-Ordens, an Dietrich Freiherr von Keyserlingk oder an Heinrich August Baron de la Motte Fouqué, an dem ritterlichen, um kein Wort verlegenen Vicomte Chasôt wie dem gebildeten venezianischen Kaufmannssohn Francesco Graf von Algarotti. Aber er wollte mehr und schrieb an den berühmtesten und geschäftstüchtigsten unter den «hommes de lettres» seiner Zeit. Berlin, 8.August 1736, ist der erste Brief an Voltaire datiert. Er begründet eine Korrespondenz, die vier Jahrzehnte andauerte. In diesem Briefwechsel kann man die Kunst des Komplimentemachens studieren, und sollte sie je ganz vergessen werden, wäre sie hier wiederzuentdecken. Die Dichtungen Voltaires, schmeichelt der Kronprinz, seien eine «moralische Lektion», man lerne Handeln und Denken aus ihnen. «Tugend ist hier in den schönsten Farben gemalt. Die Idee von wahrem Ruhm ist fest umrissen; und Sie verführen mit solcher Feinheit und solchem Raffinement zum Genuß an den Wissenschaften, daß ein jeder, der Ihre Werke gelesen hat, voller Ehrgeiz Ihren Spuren folgen möchte. Wie oft habe ich nach diesem trügerischen Köder geschnappt, und wie oft habe ich mir dann gesagt: Unseliger! Laß die Last, deren Gewicht deine Kräfte übersteigt; Voltaire läßt sich nicht imitieren, es sei denn, man wäre Voltaire. In solchen Augenblicken fühlte ich, daß die Vorzüge von Geburt und der Dunst von Größe, in dem die Eitelkeit uns wiegt, zu wenig nütze sind, oder besser ausgedrückt: zu nichts. Es bleiben Auszeichnungen, die von uns getrennt sind und die nur die Erscheinung schmücken. Wie sehr sind ihnen die Gaben des Geistes vorzuziehen, und was verdanken wir nicht jenen Männern, welche die Natur durch das glückhafte Ingenium ausgezeichnet hat, das sie ihnen bei der Geburt mitgab! Sie gefällt sich darin, Wesen auszuformen, die sie mit der ganzen nötigen Begabung versieht, welche den Fortschritt in den Künsten und Wissenschaften bewirkt; und es obliegt den Fürsten, die Nächte des Schaffens zu entlohnen. Ah! möge der Ruhm sich meiner bedienen, um Ihre Erfolge zu krönen! Ich fürchte nichts weiter, als daß dieses Land, das dem Lorbeer nicht günstig ist, nicht soviel davon sprießen läßt, wie Ihre Werke verdienten, und man aus Mangel zur Petersilie greifen müßte.»21
Der Brief ist ein kleines Meisterstück. In unaufdringlich eindrücklichen Formulierungen enthält er Rollenangebote für beide Partner: Der eine, hervorragend von Geburt, und der andere, Erster im Reich des Geistes, könnten einander ergänzen, anspornen und helfen im Zeichen von Edelmut und Wissenschaft. Das war ein Angebot, das man nicht ablehnen konnte. «Betrachten Sie meine Taten künftig als die Frucht Ihrer Lektionen»22, heißt es im November. Damit schien Voltaire ein doppeltes Interesse am Ruhm Friedrichs nahegelegt: Ihm winkte Belohnung, Auszeichnung, wenigstens in Gestalt eines Petersilien-Kranzes, und ihm war tatsächlicher Einfluss zugesichert.
Friedrich studierte in dieser Zeit die eigens für ihn, der zeitlebens unsicher im Deutschen war, ins Französische übersetzten Schriften Christian Wolffs, der seine Zeitgenossen in geordnetem, Sprünge, Widersprüche und Fehlschlüsse vermeidendem Denken unterrichtete. Wolffs Schriften, die meist als «Vernünfftige Gedanken von…» erschienen, lassen heute die gewaltige Wirkung des Mannes kaum noch erraten. Er hatte in Halle gelehrt, bis ihn Pietisten beim Soldatenkönig verschrien, der ein offenes Ohr für die eifernden Stillen im Lande hatte. Wolff sei, hieß es, Atheist, er lehre, dass ein Deserteur nicht bestraft werden könne, da ihm die Willensfreiheit abginge – und dergleichen mehr. Wolff wurde ohne Umschweife aus Halle verwiesen, in Preußen durfte er sich nicht mehr sehen lassen. Nun las ihn der Kronprinz, dessen philosophische Bibliothek in Rheinsberg alles bot, was man brauchte, um als Ebenbürtiger am Gespräch der Weltweisen teilzunehmen. Bald wurde John Locke empfohlen und dann studiert. Friedrich konnte in philosophischen Diskussionen mithalten, ohne dass es gebildeten Partnern hätte peinlich werden müssen. Das blieb so bis zur kritischen Wendung Immanuel Kants.
Im Briefverkehr mit Voltaire, aus dem Austausch der Ideen und Papiere, entstanden kleine Schriften, wie die noch zur Kronprinzenzeit verfasste «Dissertation sur l’innocence des erreurs de l’esprit», eine «Abhandlung über die Unschädlichkeit der Irrtümer des Geistes». Es handelt sich um einen fingierten Brief an einen Freund, in dem über ein Gespräch berichtet wird, das den Verfasser und seinen Begleiter Philante beim Spaziergang auf Fragen wie diese führte: ob es ewige Wahrheiten gebe, und was die Menschen daran hindere, diese zu erkennen. «Irrtum», heißt es da, sei «das Erbteil der Menschheit». Verantwortlich dafür werden unter anderem die «Schwäche und Unzulänglichkeit unseres Geistes und die Vorurteile der Erziehung» gemacht.23 Aber, so die Schlussfolgerung, das sei so schlimm nicht. Mancher Irrtum sei beglückend, wie der eines Wahnsinnigen in einem Pariser Irrenhaus: «Er dachte über alles vernünftig, nur nicht über seine Glückseligkeit, und so glaubte er sich in Gesellschaft von Cherubim, Seraphim und Erzengel; er sang den ganzen Tag im Konzert dieser unsterblichen Geister und wurde mit beseligenden Visionen beehrt. Das Paradies war sein Aufenthalt, die Engel seine Gefährten, das himmlische Manna seine Speise.»24 Dieses vollkommene Glück fand ein Ende, als ein Arzt ihm auf Wunsch der Familie den Wahnsinn nahm und – man weiß nicht wie – den gesunden Menschenverstand wiedergab.
Friedrich nutzt in der bis heute amüsant zu lesenden «Dissertation» Argumente antiker und aufgeklärter Philosophen, er spielt mit ihnen, ohne sich auf eine Seite zu schlagen. Sehr stark scheint in diesem Text die Position des Skeptizismus, des Pyrrhonismus, in Friedrichs Schriften wimmelt es darüber hinaus von Anklängen an Epikur, Lukrez einerseits und die Stoa seit Zenon andererseits. Er sei, so eine Lehrmeinung, in der Jugend und im Glück Epikureer, im Krieg und im Alter Stoiker gewesen. Das ist nicht ganz falsch, zielt aber daneben. Friedrich philosophierte nicht, um ein Bekenntnis abzulegen oder eine Partei zu ergreifen. Die kleine, erst postum veröffentlichte «Abhandlung über die Unschädlichkeit der Irrtümer des Geistes» zeigt aufs schönste, dass es ihm, neben dem Training der Geisteskräfte und der Ablehnung von Vorurteilen, vor allem um das gesellige Vergnügen des Philosophierens selbst ging, um die Praxis, nicht um das Dogma: «Verfallen wir niemals in den lächerlichen Dünkel jener unfehlbaren Gelehrten, deren Worte als Orakelsprüche zu gelten haben. Seien wir nachsichtig gegen die handgreiflichsten Irrtümer und rücksichtsvoll gegen die Ansichten derer, mit denen wir in Gesellschaft leben. Warum sollten wir die zarten Bande, die uns vereinen, einer Meinung zuliebe zerreißen, von der wir selbst nicht ganz überzeugt sind.»25
Diese Art geselligen, schöner Ordnung folgenden Gesprächs über Fragen der Weisheit und Lebensführung ist nicht vereinbar mit Fachdisziplin oder gar akademischer Philosophie. Sie ist an die Kultur einer Elite gebunden, die philosophiert, um das Leben zu verfeinern, es besser zu genießen, um Tücken und Fallen auszuweichen. Friedrich beargwöhnt die Ablösung der Philosophie vom kultivierten Leben der Oberschicht ebenso wie die Abstraktion vom Konkreten, Sinnlichen, Fassbaren. Ein allmählicher Fortschritt der Kenntnisse wird erhofft, aber den späteren Radikalismus einer auf praktische Veränderung drängenden Aufklärung wird er verabscheuen wie den Fanatismus des Aberglaubens, die Unduldsamkeit der Religionen. Seine Wahrheitsansprüche weichen, wenn nötig, den Forderungen des menschlichen Miteinanders, des gesellschaftlichen Verkehrs; nach seinem Tod wird dies anders, und Philosophie, die weder Partei ergreift noch Schule macht und Widersacher vernichtet, wird dann als seicht gelten.
In Rheinsberg beginnt Friedrich auch seine Laufbahn als Autor; «Frédéric le Philosophe» hatte er sich zwar schon mit sechzehn Jahren genannt, aber nun erst geschieht dies zu Recht. Philosophisches und Poetisches, bei Friedrich wie bei Voltaire nicht zu trennen, werden am Ende nur einen kleinen Teil der postum dreißig Bände seiner Schriften und Briefe bilden. Lesenswert bis heute ist der Historiker, der die Geschichte des Hauses Brandenburg und seiner eigenen Zeit, der von ihm geführten Kriege und Verhandlungen verfasste. Der Geschichtsschreiber Friedrich, auch auf diesem Feld ein Schüler Voltaires, versteht sich auf die Kunst der eleganten Darstellung, er behelligt die Leser nicht mit allzu viel Verwicklungen und Komplexität. Er streut großzügig Aphorismen und süffisante Formulierungen über den Text. Es gibt wenig Historiker seiner Zeit, die heute noch so unmittelbar und ohne Beistand eines gelehrten Kommentars verständlich sind.
Geschrieben haben viele Regenten, aber kaum einer so regelmäßig, vielgestaltig und dauerhaft wie Friedrich. Er versuchte auf diese Weise, den eigenen Nachruhm, die Wahrnehmung seiner Person und seiner Handlungen zu steuern. Seine Werke entstanden meist aus einem konkreten Anlass, die Gelegenheitsschriften des Königs – es ist noch längst nicht alles ordentlich ediert – dienten dem freundschaftlichen oder offiziellen Kontakt. Sie erfüllten die Aufgaben von Propaganda und Public Relations. Sie trösteten, wiesen an und zurück, baten, schmeichelten, drohten. Nur eines tun diese Schriften nie: Sie offenbaren nie den wirklichen, wahren Friedrich. An keiner Stelle schrieb er, um sein Inneres darzustellen, sich auszusprechen. Wer nach Authentizität sucht, muss woanders suchen. Auch als Autor agiert Friedrich mit hohem Bewusstsein für seine Rolle, für sein Gegenüber und für die Erfordernisse und Möglichkeiten der Situation. Die Irrtümer des Geistes mochten unschädlich sein, sich gehenzulassen war es gewiss nicht.
Indem er schrieb, band Friedrich sich auf nicht zeremoniöse Weise. Voltaire und eine der allmählichen Verbesserung des Status quo verpflichtete Philosophie, das Verfassen philosophischer, historischer und poetischer Schriften, das Musizieren mit der Hofkapelle, das feinsinnige Spiel mit literarischen Rollen bildeten nur den Hintergrund seines Wirkens. Im Vordergrund ging es um die Dynastie, Preußen und das Reich. Und das, obwohl der Kronprinz nach der letzten schmerzlichen Unterwerfung, der Eheschließung, den erwünschten Eifer bei der Thronfolgerzeugung vermissen ließ. Ob er nicht wollte oder nicht konnte, ist ausgiebig diskutiert worden, mehr als Vermutungen sind nicht herausgekommen. Dem Minister von Grumbkow, der geholfen hatte, das Verhältnis zum Vater zu verbessern, und der die österreichische Partei in Berlin stützte, weil es sich auszahlte, beschied der zu vermehrter Fortpflanzungsanstrengung ermahnte Kronprinz, dass die Königreiche immer einen Nachfolger fänden und ein Thron nie leer geblieben sei.
Später, während des Feldzugs im Jahre 1758, hat Friedrich seinem Vorleser Henri de Catt erzählt, er habe sich in Rheinsberg für die Beschränkungen in seiner Jugend schadlos gehalten und «ungeheuer viel gelesen, und ich hätte es im Übermaß getan, wenn ich nicht streng darauf geachtet hätte, mir aus meiner Lektüre Auszüge anzufertigen. Jede Woche las ich diese wieder durch.»26 Die Rokokodekorationen im Schloss, das in der märkischen Landschaft steht, als habe es eine Fee dort abgesetzt, die Berichte über gemeinsames Tafeln, Musizieren und Scherzen verführen dazu, sich die Jahre in Rheinsberg als Idylle fernab des höfischen Treibens und politischer Kabale vorzustellen. Aber solch harmloses Traumbild trügt. Der Kronprinz erfüllte weiterhin seine Pflichten als Kommandeur, und er unternahm viel, um sich bestmöglich auf die Thronbesteigung vorzubereiten. Der König ließ ihn seit 1734 über die politischen Vorgänge unterrichten, erteilte ihm eine Unterschriftenvollmacht. Und der widerspenstige Sohn nahm die Sache sehr ernst, wann und wo es geboten war. Er habe, erzählte er von Catt, frühzeitig gefühlt, «daß ich ohne die beständige Übung meiner Fähigkeiten die Rolle eines Königs nur recht traurig spielen würde. Sie können sich nicht vorstellen, was ich in Rheinsberg alles getrieben habe! Ich studierte Tag und Nacht.»27 Auch habe er mancherlei geübt, um dem Körper «Kraft, Geschicklichkeit und Anmut»28 zu verleihen. Tanzen könne er gut.
Der viel redende König Friedrich kam gern auf seine Behauptung zurück, «ein unwissender Prinz» sei «in der Welt und in seinem Staate eine sehr traurige Figur»29. Dichtkunst, schöne Künste und Philosophie erlaubten es ihm, sich für alle nützlichen Wissenschaften zu bilden, die Eignung auch fürs Praktische, Spezielle zu erwerben. Das stand, seit er begnadigt worden war, immer vornean. Ein frühes Dokument der durchdachten Vorbereitung auf die Königsrolle ist der Brief, den Friedrich im Februar 1731 noch aus Küstrin an den Kammerjunker von Natzmer schrieb. Er setzt einen mündlichen Disput über die Existenzbedingungen Preußens fort. Friedrich leitet aus ihnen ein politisches Programm ab. Das Europa quer durchschneidende Land sei dem Anschein nach darauf angewiesen, mit den Nachbarn auf gutem Fuß zu stehen, wolle es nicht von mehreren Seiten zugleich angegriffen werden. Aber dies ist nur die halbe Wahrheit. Nüchtern notiert Friedrich ein Gesetz der großen Politik seiner Zeit: Wer nicht vorwärtskommt, der geht zurück. Es müsse also geachtet werden auf die «fortschreitende Vergrößerung des Staates». Bei allen Plänen komme es darauf an, «einen engeren Zusammenhang zwischen den Landesteilen herzustellen oder die losgerissenen Stücke, die eigentlich zum preußischen Besitz gehören, ihm wiederanzugliedern»30. Friedrich denkt an Polnisch-Preußen, Schwedisch-Pommern sowie Jülich und Berg im Westen, vielleicht auch Mecklenburg.
Emphatisch beschwört er historische Größe: «Ich schreite von Land zu Land, von Eroberung zu Eroberung und nehme mir wie Alexander stets neue Welten zu erobern vor.»31 Rechtsgründe sind der Staatsräson, der Notwendigkeit, Preußen zu vergrößern, nachgeordnet. Das müsse man dann im Detail erörtern.
Von Schlesien ist in diesem Brief noch nicht die Rede, aber das Programm gewaltsamer, nichts als den Zorn des Himmels fürchtender Eroberungen steht doch erstaunlich früh schon fest. Die Aggressivität wird gezügelt durch genaue Beobachtung politischer Gefahren, etwa eines drohenden Krieges an mehreren Fronten, und durch die Bereitschaft, im Gleichgewicht der Mächte den Frieden zu wahren, bis die Gelegenheit zum Zuschlagen kommt. Dieser doppelgleisigen Politik ist Friedrich als Monarch gefolgt. Es passt zu seinem hochentwickelten situativen Gespür, dass er auch politisch und militärisch dem Gesetz der Stunde folgen wollte, dass er versuchte, den Kairos nicht zu verpassen.
Damit Preußen groß und geachtet werden könne, müsse es den protestantischen Glauben stärken und «die Zuflucht der Bedrängten, der Hort der Witwen und Waisen, die Stütze der Armen und der Schrecken der Ungerechten» werden. Diese Andeutung innenpolitischer Absichten ist charakteristisch für Friedrichs Politikstil: Das innere Vorwärtskommen Preußens ist, ganz im Gegensatz zur Regierung Friedrich WilhelmsI., nachrangig gegenüber den außenpolitischen Entwürfen. Mehr noch, «Gottesfurcht und Rechtssinn» sollen den Eroberungsplänen dienen. Da all das zweitrangig ist, bescheidet sich der Kronprinz mit wohlklingenden Floskeln, aus denen konkret nichts folgt. «Phrasen», hätte man später dazu gesagt. Aber geschickt gewählte. Bekundungen wie diese mussten dem Ohr der Zeitgenossen schmeicheln, die gerade die Tugend des Mitleids entdeckten.
Auch in Rheinsberg hat Friedrich nie die Hauptrolle von Militär und Diplomatie vergessen. Im Januar 1738 verfasste er eine Flugschrift, die für die anonyme Verbreitung gedacht war. «Die Betrachtungen über den gegenwärtigen politischen Zustand Europas» sollten als das angebliche Werk eines Engländers gedruckt werden. Es drohte ein Übereinkommen zwischen Wien und Versailles und die Missachtung preußischer Ansprüche auf Jülich und Berg. Dagegen schrieb Friedrich. Der Anfang der Flugschrift betont wieder den Augenblick: «Nie haben die öffentlichen Angelegenheiten die Aufmerksamkeit Europas mehr verdient als gegenwärtig. Nach großen Kriegen ändert sich die Lage der Staaten, und mit ihr wechseln die politischen Gesichtspunkte.»32 Europa sei an einem «sehr kritischen Punkt»33