2 X 2 = II - Lise Gast - E-Book

2 X 2 = II E-Book

Lise Gast

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Beschreibung

Helga, Josi, Hermann und Ulrich sind schon seit der Kindheit mit einander befreundet. Sie verstehen sich alle prächtig und sind als Freunde unzertrennbar. Da liegt es nahe, dass sie jetzt, wo alle ihr Abitur bestanden haben, in die gleiche Universitätsstadt ziehen, um zu studieren. Fortan wohnen sie alle im gleichen Haus. Hermann und Ulrich im ersten Stock und Helga und Josi im zweiten. Zusammen erleben sie heitere Studentenjahre und in der Fülle der vielen Eindrücke reift ihre Freundschaft. Unlängst haben sie die kameradschaftliche Unbekümmertheit der Kindheits- und Jugendjahre abgelegt, als sie bemerken, dass aus ihrer Freundschaft tiefgründige Bindungen fürs Leben entstanden sind. Josi und Hermann heiraten und etwas später finden auch Helga und Ulrich zueinander. 2 x 2 = II ist ein Roman über die Schwierigkeiten und Freuden des gemeinsamen Lebens. Anhand der beiden unterschiedlichen Ehepaare beschreibt Lise Gast einfühlsam, wie wahre eheliche Kameradschaft gelebt wird.-

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Die Stadt

„Liebe Josi,

eigentlich wollten wir ja telegrafieren, Helga, Hermann und ich, und wir hätten Dir auch das Opfer einer ganzen D-Mark gebracht. Aber auf ‚Abitur‘ fanden wir tatsächlich nur die Reime ‚stur‘ oder ‚nur‘, so in der Eile und ersten Aufregung, und das paßt beides nicht. Deshalb schreibe ich Dir lieber. Wir freuen uns ganz schrecklich, daß Du es geschafft hast, und noch dazu so gut. Alle Achtung! Nun paß auf:

Du kommst doch bestimmt für die ersten Semester hierher. Keine Widerrede, wir haben Dir schon eine Bude gemietet, und Frau Fleischhack, unsere Zugehfrau, die früh Waldläufe im Rosental macht und des Abends Schnäpse braut, will Dich mit unter ihre Fittiche nehmen. Wir wohnen dann alle im selben Haus, Helga und Du im zweiten, Hermann und ich in einem gemeinsamen Zimmer im ersten Stock. Es ist toll gemütlich, in einer Großstadt so nahe beieinander zu hausen, richtig wie ein Stück Heimat. Wir können dann alles gemeinsam unternehmen. Du mußt doch auch Sport belegen, Schwimmen, Leichtathlethik, auch reiten kann man für wenig Geld, und das tun wir natürlich alle drei schon, und Du mußt auch mit ran. Und zum Skilaufen fahren wir immer geschlossen, die ganze Uni, ein Heidenjux. Dazu gibt es hier gutes Theater, wunderbare Musik, kurzum, Du wirst es nicht bereuen. Uns geht’s gut, Helga büffelt etwas zu viel, na ja, Du kennst sie ja. Auch Hermann ist sehr fleißig und wurde neulich von einem der Gewaltigen gefragt, ob er nicht doch zum Tierarzt umschwenken wollte, aber er bleibt bei der Landwirtschaft. Wohingegen ich — ja, höre und staune, Josi, ich habe eventuell die Absicht, umzusatteln. Obwohl ich es nach wie vor ein wunderschönes Ziel finde, Lehrer zu werden, besonders für Deutsch in höheren Klassen; immer schwebt mir das vor. Aber nun — ja, Josi, Dein von jeher so ernster und pflichtbewußter Freund Ulrich hat sich auf Seitenpfade begeben, nicht auf solche der Tugend, das versteht sich am Rande, sondern auf solche der Arbeit. Vierzehn Tage lang vernachlässigte ich in gewissenloser Weise mein Studium und gab dafür dem Drang, zu schreiben nach, der ja von jeher in mir war. Das Ergebnis war eine Novelle, ‚Reiterin in der Heide‘, die mir, jawohl, da staunst Du, die hiesige Monatsschrift sofort für 120 Mark abnahm. Nicht genug damit! Man bat mich, dem Gedanken näher zu treten, einen oder besser den Roman für die Monatshefte zu schreiben, also eine größere Arbeit, die durch drei Fortsetzungen läuft. Was sagst Du dazu? Ulrich Gieseking, viel, besser dauernd verlacht von Euch, Ulrich, der Dichterling, erscheint mit seiner ersten Novelle bereits in den, ich übertreibe nicht, weltberühmten Monatsheften, wird um einen Roman gebeten, der dann eventuell auch im selben Verlag als Buch erscheint — auch das stellen sie mir in Aussicht — wer hat das wohl je für möglich gehalten? Das heißt, ganz unter uns, Josi, Du vielleicht. Du hast mich nie ausgelacht oder verulkt. Und deshalb bist Du auch der allererste Mensch auf der Welt, dem ich das schreibe. Heute habe ich den Bescheid bekommen. Ich gehe noch wie auf Wolken, kannst Du Dir vorstellen.

So, das sind die neuesten Nachrichten, gib sie nur gleich ins Forsthaus an Mutter weiter, deren drittes Kind Du ja eigentlich bist. Ich habe jedenfalls oft gehört, daß Mutter, gefragt, wieviel Kinder sie habe, antwortete: ‚Drei. Zwei Jungen und ein Mädel.‘ Das Mädel bist Du, bist Du immer gewesen, obwohl Du ja zu Hause auch einen Stall voll Geschwister hast. Neulich erst sagte Helga, wie gut wir es doch hätten, wir zwei Brüder miteinander, und Du als die älteste von Sechsen. Ob wir das denn überhaupt wüßten! Sie sagt, nicht mal ein eigenes Pferd entschädigt einen für Geschwister. Und wir fanden doch eigentlich immer, daß Helga Martens vom Gut es doch viel besser und leichter hätte als wir Försterjungen und Du aus dem Inspektorhaus. Dafür gehört sie aber doch zu uns, das habe ich ihr auch gesagt. Und jetzt fällt mir der Vers ein, den wir hätten telegrafieren müssen. Du bekommst ihn also handschriftlich, und das ist, im Hinblick auf meine Zukunft als berühmter Dichter, vielleicht für Dich noch kostbarer. Hebe also das Dokument gut auf!

Wir gratulieren.

Bald sind wir wieder zu vieren.

In diesem Sinne grüßt Dich herzlichst Dein sehr glücklicher

Beinahbruder Ulrich.“

„Ist’s die Möglichkeit, unsere kleine, stubsnasige Josi hat das Abitur gebaut und kommt her, um Gewerbelehrerin zu werden! Aus Kindern werden wahrhaftig Leute! Vielleicht bist Du nun auch noch etwas gewachsen und gehst mir schon bis an die Schulter, nicht mehr nur bis zum Gürtel! Auf jeden Fall: Laß Dir stürmisch gratulieren und auf recht baldiges Wiedersehen hier!

Dein Hermann.“

„Auch von mir herzliche Glückwünsche. Es wäre nett, wenn Du wirklich hier ein oder mehrere Semester studieren würdest.

Recht herzliche Grüße

Deine Helga Martens.“

Dieser Brief war der Anstoß gewesen, besser: der letzte Anstoß. Denn Josi hatte natürlich längst vorgehabt, den anderen nachzufolgen. Jetzt gab es kein Halten mehr. Sie wusch und bügelte, flickte und packte und fiel zwischendurch immer wieder der Mutter um den Hals. Jetzt ging das Leben, das richtige, wirkliche Leben an. Und wie schön, daß es nun wieder heißen würde wie früher in Schule und Ferien, auf Fahrt und daheim: wir viere!

Das also war die Stadt. Lichtreklamen und Benzingeruch, Vorlesungen und Sport, spärlichste Mahlzeiten und dafür abends „Ausgehen“, Konzert oder Kino oder Theater. Niemand konnte dies alles so genießen wie Josi, der doch alles neu war, herrlich und berückend. Die drei anderen, die ja auch auf dem Land aufgewachsen waren, staunten. Waren sie denn schon blasiert? Gegen Josi kamen sie sich fast so vor.

Dieses Glück, als Ulrich eines Tages mit einem ganzen Stapel Theaterkarten ankam, für sie alle vier, und für vier Abende hintereinander!

„Wir müssen schon gehen, es ist ein ganz berühmter Gast aus Berlin. Sowas bietet sich uns nicht gleich wieder. Natürlich Olymp, klar. Aber ihr werdet es nicht bereuen!“

Sie bereuten es nicht. Josi hing die ganze Zeit mit halbem Leibe über die Brüstung der Galerie, sie reckte sich, so weit sie konnte. Manchmal griffen Hermann oder Ulrich zu, wenn es bedenklich aussah, damit sie nicht über Bord ging, aber Josi merkte nichts, sie wollte nur sehen, sehen und nichts versäumen.

Vorbeugen mußte man sich schon auf diesen billigen Plätzen. Wenn man, wie es eigentlich gedacht war, sittsam und gerade hinter der Brüstung stand, sah man nämlich die Bühne gar nicht. Da gab es nur zwei Möglichkeiten: die eine, sich vorzubeugen, wie sie es tat, und die andere, sich bei verdunkeltem Hause über die Brüstung zu schwingen und so lange auf leeren, aber unbezahlten Plätzen zu sitzen, bis es wieder hell wurde. Dann mußte man sich schnellstens wieder hinaufverfügen, ehe der Logenschließer es merkte. Das mußte natürlich kurz vor Aktschluß geschehen, und es gehörte allerlei Geschicklichkeit und Courage dazu, zwei Eigenschaften, die Josi zwar in vollstem Umfange besaß, aber, wenn Helga mit war, nicht anwenden durfte. Denn man munkelte, der Logenschließer backpfeifte, wenn er einen erwischte. So ließ sich Helga vor jedem Theaterabend mindestens das mittlere Ehrenwort geben, nicht hinunterzuspringen.

„Ob ich das auch könnte, Ulrich, Männe, was meint Ihr?“ fragte Josi glühend vor Eifer, als sie in der Pause einen Augenblick auf die Straße traten. Die Jungen wollten rasch ein paar Züge rauchen. „Die Franziska, nein, ist die nett! Die Minna möcht ich nicht spielen, die ist mir zu alt, aber die Franziska! Könnte ich das nicht auch?“

Hermann wollte sich totlachen. „Die Franziska? Nein, Josi, wirklich nicht. Das, mir vorzustellen, streikt meine üppigste Phantasie.“

„Warum denn?“ staunte Josi. „Sag, ist das so schwer?“

„Tja, schwer“, sagte Ulrich, „du paßt nicht zu der Rolle. Absolut nicht, Josi, im Ernst. Du müßtest den Puck aus dem Sommernachtstraum spielen, das wäre was für dich.“ Gerade schrillte die Klingel: Pause vorbei. Eilig drängelten sie wieder hinein. Aber auf dem Heimweg durch die dunklen, winterlichen Straßen, sagte Ulrich:

„Kinder, ich bin so aufgekratzt, am liebsten ginge ich jetzt gleich nochmal an meinen Roman. Wie ist das, Josi, kannst du noch? Ich würde dir gern noch ein Stück diktieren. Du mußt es mir aber ehrlich sagen!“

Josi war schrecklich müde und durchgedreht. Gestern der Faust, heute die Minna, und alles so intensiv genossen, — tagsüber Kolleg und Sport, frühzeitig raus — aber sie ließ sich nichts merken, Ehrensache!

„Klar, natürlich“, sagte sie, „eisern. Vielleicht könnten wir noch etwas heizen, oder habt ihr nichts mehr?“ Sie kauften die Kohlen selbst, zentnerweise, um ja recht sparsam zu wirtschaften.

„Doch, Kohlen sind noch da. Ich mache schnell Feuer, vielleicht kochen wir uns noch einen Tee?“

„Ach ja, das müßte herrlich wohl tun.“

Das Zimmer der beiden Jungen war groß und wurde nicht allzuschnell warm, aber man konnte ja erstmal die Mäntel anbehalten. Josi stellte die Schreibmaschine auf den Tisch und zog die Lampe herüber, um gutes Licht zu haben, während sich Ulrich am Ofen bemühte, bis ihn Hermann gähnend, aber gutmütig von dort vertrieb.

„Hol schon dein Zeug, ich werde anzünden. Damit du und Josi gleich anfangen könnt.“

Ulrich ließ sich das nicht zweimal sagen. Er blieb, das Manuskript in der Hand, hinter Josi stehen und sah über ihre Schulter weg auf den Bogen, den sie eben einspannte.

„Warte, das letzte müssen wir ändern. Das geht nicht“, sagte er, „fang am besten nochmal an, ja? Hier bei dem Abschnitt.“ Er begann zu diktieren und sah zwischendurch immer wieder das Getippte an.

Helga hatte sich auf die Ecke des Diwans gehockt, der das zweite Bett ersetzte und auf dem die Jungens immer abwechselnd schliefen. Sie wartete. Immer wartete sie, daß man sich um sie bemühte, es ihr behaglich machte und nach ihren Wünschen fragte. Aber das tat niemand. Ulrich war vollkommen von seiner Arbeit in Anspruch genommen, und Hermann fluchte und knurrte am Ofen, ging dann nach Wasser für den Tee und achtete auch nicht auf sie.

„Ich habe recht“, dachte Helga bedrückt und vorwurfsvoll, „ich stehe außerhalb. Keiner denkt an mich, — wenn ich nicht da wäre, würde mich keiner vermissen.“

Daß sie schließlich den Tee sehr gut hätte aufgießen und sonst mit Handanlegen hätte können, darauf kam sie nicht. Es war kein böser Wille, es lag ihr nur so unendlich fern. In jeder Frau sieht man bis zu einem gewissen Grad ihre Mutter, und Helgas Mutter war zwar nach ihrer aller Meinung ganz famos, aber am Herd stand sie nie, um für Mann und Tochter zu sorgen. Sie war eben die Herrin, aber keine Hausfrau in diesem Sinne, sie war —

„Weißt du, wie ich mir die Frau Irmelin immer vorstelle?“ fragte Josi in diesem Augenblick, während sie einen falsch getippten Buchstaben ausradierte, sorgfältig ein Stück Pappe zwischen Blaupapier und Durchschlag schiebend, „wie Helgas Mutter. Auch im Äußeren, groß und schlank und vornehm. Und daß sie auch reitet und all dies —“

„Ja?“ fragte Ulrich und stand hinter ihrem Stuhl still. „Ja, Josi? Ist sie so geworden?“ Seine Stimme klang anders als sonst, gepreßt und so, als genierte er sich ein bißchen, aber es war auch ein Frohlocken darin, ein verhaltener Jubel.

„Ja“, sagte Josi unbefangen, „sowas könnte sie auch glatt gesagt haben.“ Sie las einen Satz halblaut vor. „Findest du nicht auch?“ Ulrich sah ein bißchen unsicher zu Helga hinüber, die außerhalb des Lichtkreises der Lampe saß, noch in der Jacke. Die Mütze hatte sie abgenommen und hielt sie auf den Knien. Ihr Haar schimmerte matt, er konnte ihren Gesichtsausdruck nicht ganz deuten.

„Und ich? Komme ich auch in eurem Roman vor?“ fragte Hermann jetzt in die Stille hinein. Es war irgendwie erlösend oder doch erleichternd, daß er sprach. Ulrich sah ihn fast dankbar an.

„Du möchtest wohl gern?“ fragte er und lachte.

„Ja, wenn ich nicht eine Rüpel- oder Eselsrolle übernehmen muß. Übrigens, der Tee ist fertig, Ulrich, du mußt das Zahnputzglas nehmen, nein, laß den Löffel drin, sonst springt es, der Tee ist heiß. Die Tasse muß ja Helga haben.“

„Ach, ich — ich brauch doch keinen —“ sagte Helga und stand auf, „ich wollte sowieso —“

„Nanu — was denn?“ fragte Ulrich so erstaunt, daß sie sich schämte. „Ich meine, ich arbeite doch nicht. Ihr wollt euch doch munter halten durch den Tee“, sagte sie leise und rasch.

„Ach, deshalb. Ich tue doch auch nichts“, meinte Hermann gemütlich und goß sich ein. „Hier ist Zucker. Nein, Josi, du hast schon welchen, ich hab dir gleich welchen hineingetan. Du bekommst sofort meinen Löffel. So, und nun wird es auch allmählich warm. Gib die Jacke her, Helga, ich hänge sie auf.“

Helga hatte sich, noch immer halb widerstrebend, wieder gesetzt. Hermann ließ sich mit einem Plums neben sie fallen, daß sie, die Teetasse in der Hand, auf dem schlechtgefederten Diwan zur Seite sank.

„Hoppla, entschuldige — hast du geschwappt? Ja, die sogenannte Gute-Stuben-Knautsch. Vor dreißig Jahren war sie ein Bett, dann ein Diwan, auch Liegelang genannt, und nun wird sie ein Menschenalter lang den Ehrennamen Couch tragen. Was den Federn nicht viel ausmacht. Denen kann nichts mehr schaden.“

„Du bist wohl wieder dran?“ fragte Josi lachend zwischen dem Tippen, „weil du so schmähst.“

„Ich bin meistens dran. Jedenfalls jetzt, wo ihr immerfort schreibt. Da schlafe ich zuguterletzt hier ein, und wenn ich irgendwann aufwache, liegt Ulrich im Bett und schnarcht.“

„Ja, ich kriege dich einfach nicht munter. Du kannst ja ebensogut gleich —“

„Ins Bett gehen? Erbarm dich. Bei Damenbesuch! Übrigens, weil du vorhin sagtest, ich schmähte. Ich schmähe gar nicht. Das wäre auch noch schöner. So ein friedvolles Zimmer finden wir nicht wieder, wo niemand meckert, wenn wir noch so lange beisammensitzen.“

„Tun das andere Wirtinnen?“ fragte Josi interessiert.

„Du ahnungsvoller Engel du —“ zitierte Hermann, aber Ulrich fiel ihm gereizt ins Wort.

„Ihr sollt nicht immer Zitate in solchen Zusammenhängen sagen. Ich finde das scheußlich“, sagte er aufgebracht, „nein, ich meine das im Ernst. Sie werden dadurch so lächerlich gemacht! Das ist, als ob man ein schönes Bild verhöhnt oder eine Fuge als Gassenhauer singt. Kunst ist etwas Ernstes.“

Hermann war ganz erschrocken.

„Ich meinte doch nur —“

„Ja, ich weiß, du meinst es nicht böse“, fuhr Ulrich etwas versöhnlicher fort, „aber viel sagt man gedankenlos und zieht es dadurch in den Dreck. Zum Beispiel: ‚Dem Manne kann geholfen werden‘.“ Alles lacht. „Wo kommt denn das vor?“ fragte Helga, mehr um auch etwas zu sagen.

„Räuber, der Schluß“, kam es prompt von Josi. „Aber jetzt weiter, Ulrich, los! Und ihr, Herrschaften —“

„Jaja, wir sind schon still“, beruhigte Hermann sie und lehnte sich zurück. „Aber ich muß doch Helga unterhalten, das gehört sich so.“ „Bitte bemüh dich nicht —“

„Aber Helga, was ist denn heute los mit dir. Klar können wir schwatzen, das stört die beiden bestimmt nicht. Ulrich dichtet ja auch im Kolleg, während der Professor redet. Ich hab es neulich gemerkt. Sollen wir dasitzen wie die Ölgötzen?“

Ulrich lachte und diktierte weiter. Seine anfängliche Scheu, den Roman vor den andern laut zu lesen, begann sich zu legen. Josis unbefangene Teilnahme tat ihm wohl. Er fragte sie auch hier und da um Rat. Sie bezwang tapfer ihre Müdigkeit. Es war doch etwas Großartiges, fand sie, hier mitzuschaffen an einem Werk, das Ulrich vielleicht einmal berühmt machen würde. Und sie war in dem Alter, wo man eine Nacht durchschuften kann, sich dann die Augen wäscht und in den neuen Tag startet als hätte man acht Stunden geschlafen. Außerdem hält es wach, wenn man tätig ist. Helga dagegen fielen die Augen tatsächlich allmählich zu. Sie merkte es und ärgerte sich darüber. Irgend etwas in ihr trieb sie, auszuhalten, wenigstens solange Josi aushielt.

Es wurde später und später. Hermann war längst sanft eingeschlafen, er lag halb sitzend quer über der Couch und schnarchte vernehmlich. Endlich legte Ulrich die handgeschriebenen Blätter weg.

„Ich glaube, wir machen Schluß. Wann hast du denn morgen Kolleg?“ „Ab acht, aber nur bis elf. Wenn du willst, können wir in der Mittagsstunde weitermachen“, sagte Josi.

„Wirklich? Ach fein, du, da kommen wir vorwärts. Wenn wir erst über die eine Stelle weg sein werden, an der ich noch einiges verbessern muß, hier —“ er las murmelnd ein paar Sätze, griff nach dem Bleistift und strich durch, schrieb darüber, strich wieder aus. Josi stützte den Kopf in beide Hände und starrte auf die Buchstaben der Tastatur. Sie schlief sofort ein, wie sie so saß, todmüde und erschöpft. Er merkte es nicht. Als sie hochfuhr, hatte sie noch die Erinnerung an einen langen und bunten Traum.

„Ach, entschuldige. Habe ich geschlafen? Nein, jetzt gehn wir aber — Helga, kommst du mit? Zu blöde, einfach einzuschlafen.“

Sie ließ die Maschine stehen, wo sie stand und schob den Stuhl zurück. „Nein, rauch jetzt keine mehr. Geh ins Bett, das ist gesünder.“ Sie lachte Ulrich zu, noch immer taumelig vor Müdigkeit.

„Na gut, meinetwegen.“ Er steckte das Etui wieder ein. „Und schönen Dank auch.“

„Gefällt dir der Roman? Ich finde ihn fabelhaft“, sagte Josi, als sie oben vor ihren Zimmertüren standen.

„Sicher. Ich würde ihn gern mal ganz lesen“, meinte Helga.

„Ja, das tu nur. Die Hälfte haben wir wohl jetzt.“

Josi gähnte endlos. Sie wäre am liebsten in den Kleidern ins Bett gekrochen. Helga schloß die Tür ihres Zimmers und stand einen Augenblick im Dunkeln still. „Wir“, hatte Josi wieder gesagt. Es war vielleicht Zufall — nein, das war es nicht. Helga stand und fühlte Tränen in den Augen. Immer, immer „Wir“. Und ich? Ich?

Helga setzte sich an das Fenster des kleinen Cafés, das der Reithalle gegenüberlag. Sie wollte hier auf die anderen warten. Draußen nieselte es, und sie fror. Trotzdem hatte sie ein schlechtes Gewissen. Ins Café gehen war bei ihnen nicht mehr standesgemäß, seit Josi da war.

Sie ärgerte sich, daß Josi so den Ton angab, kaum daß sie da war. Sie hatte sich auf sie gefreut, wirklich, wollte ihr auch gern behilflich sein hier in der neuen Umgebung. Aber Josi wollte keine Hilfe, und, wenn man es recht betrachtete, sie brauchte auch keine.

Da kam sie eben. Auf dem Rad, in der kurzen Skijacke und mit nassem Gesicht, aber so vergnügt — eigentlich beneidenswert. Hopp, sprang sie ab, verschwand im Tattersaal. Warum mochte sie so zeitig kommen? Helga wunderte sich. Die Stunde fing noch nicht an.

Sicher würden nun auch Ulrich und Hermann gleich aufkreuzen. Sie waren ganz anders geworden, wacher gleichsam und lebendiger. Von Josi ging etwas aus wie ein frischer Wind von draußen, von jenseits der Großstadt. Obwohl sie nichts dergleichen sagte und sich kindergierig auf alles, was die Stadt bot, stürzte, es sich zu eigen machte. Auch die Jungen, gerade die Jungen. Sie tat, als gehörten sie ihr, und das, fand Helga, war ein bißchen übertrieben. Bisher hatten sie ihr gehört, diese vier Semester lang, und sie hatte nicht die Absicht, sie ohne weiteres herzugeben, auch wenn es tatsächlich nur Freundschaft war, was sie verband.

Bei Ulrich war es mehr, das wußte sie. Aber auch Hermann wäre für sie durchs Feuer gegangen. Und nun sollte sie sich diese beiden dekorativen Knappen fortschnappen lassen, oder doch mit Josi teilen. Das gefiel ihr ganz und gar nicht.

Natürlich waren sie von Kindheit her befreundet, alle vier. Und nun wollten sie alle vier etwas werden, studieren —; sie Medizin, das Physikum hatte sie schon hinter sich. Nun kam das Klinische. Mutter, die selbst Medizin studiert hatte, müßte eigentlich zufrieden sein.

Mutter — immer war Mutter ihr, Helgas, Maßstab. Die anderen wollten selbst studieren, bei ihr wollte Mutter es für sie. Trennte sie das, — oder Vaters Geld? Die anderen hatten es viel schwerer als sie. Irgend etwas trennte sie, das fühlte sie genau. Jedenfalls, seit Josi da war.

Ungeduldig stand sie auf, zahlte und ging hinüber. Als sie in den Stall trat, um sich den „Lord“ zu sichern, hörte sie Josis eifrige, selbstvergessene Stimme aus einer der Boxen klingen. Sie guckte über die Holzplanke: wahrhaftig, da stand Josi und striegelte die „Gräfin“. Deshalb also war sie so zeitig gekommen! Helga stand einen Augenblick still, sagte dann aber nichts und ging hinauf, sich umzuziehen. Ihre Stimmung war nicht besser geworden. Draußen trampelte es.

„Helga! Helga! Bist du noch nicht fertig?“ Das war Hermanns Fanfare. „Komm, Josi steht unten und mistet aus. Willst du auch?“

„Ist ja nicht wahr.“ Helga, soeben fertig gestiefelt, stieß die Tür auf. Hermann hakte sie unter und rannte mit ihr los. An der Treppe wäre sie fast gefallen. Wider Willen mußte sie lachen.

„Du Aufschneider. Putzen tut sie. Weiß ich übrigens schon.“

„Famos, ja? Tun wir jetzt auch immer. Und selbst satteln! Man ist ja sonst doch nur ein Sonntagsreiter von Stallburschens Gnaden.“ Helga kam zu keiner Erwiderung. Der Reitlehrer verteilte eben die Pferde. Bei Josi machte er ein zweifelndes Gesicht.

„Wir wollen’s mal versuchen, kleines Fräulein. Nehmen Sie den ‚Loki‘. Schneid haben Sie ja, vielleicht geht’s. Hinter den ‚Lord‘. So, und nun anreiten. Freien Schritt, auf die Spiegel achten.“

Helga fand es schade, daß sie Josi nun nicht beobachten konnte. Natürlich ritt sie selbst ungleich besser, aber es wurmte sie, daß Josi nun schon in diesem Kurs mittun durfte, Anfängerin, die sie war. Sie mußte zwar manchen Rüffel einstecken, Reitlehrer sind nie sehr höflich. Einmal benahm sich ihr „Loki“ sogar ausgesprochen störrisch und wollte nicht mehr in den Hufschlag, als er hinausgekommen war, da ritt Helga schweigend aus der Abteilung und setzte sich vor ihn, „nahm ihn mit“, bis er wieder drin war. Josi rief ihr ein halblautes „Dankeschön, Helga!“ zu, das sehr erleichtert klang. Aber was war das schon groß! Als sie absaßen, sah sie, daß Josi kaum mehr laufen konnte. Es war wohl erst ihre dritte oder vierte Stunde, und anfangs hat man ja einen wahnwitzigen Muskelkater vom Reiten. Aber sie lachte nur und grub Zucker aus der Hosentasche, und das Haar hing ihr verwüstet in das erschöpfte und erhitzte Gesicht. Sie sattelte natürlich auch selbst ab und kam erst zum Umziehen, als Helga schon fertig war.

„Du, das war prima von dir, sonst wäre ich rausgeflogen“, sprudelte sie, „und dabei möchte ich doch —“ und nun ergoß sie ihre ganze Pferde- und Reitbegeisterung über Helga. Die Jungen donnerten schon ungeduldig an die Tür, da stand sie noch im Hemdhöschen und wollte unbedingt wissen, wie man Pferde zum Antraben oder in Galopp bringt und warum — und wieso — und ...