23 Dinge, die man uns über den Kapitalismus nicht erzählt - Ha-Joon Chang - E-Book

23 Dinge, die man uns über den Kapitalismus nicht erzählt E-Book

Ha-Joon Chang

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Beschreibung

Was glauben Sie über den Kapitalismus zu wissen? Seit den 1980er-Jahren prägt die Ideologie des freien Marktes die Welt. Doch hat sie ihre Versprechen wirklich eingelöst? Macht die Globalisierung die Welt wirklich reicher? Produzieren hochbezahlte Manager wirklich bessere Ergebnisse? Macht Liberalisierung arme Länder wirklich wohlhabender? Mit fachlicher Präzision und zugleich verständlicher Sprache zerlegt der Wirtschaftswissenschaftler und Berater Ha-Joon Chang die zentralen Mythen des Kapitalismus. In 23 Thesen und Gegenthesen analysiert er die Grundzüge der Marktwirtschaft des 21. Jahrhunderts und legt dabei die Brüche und Limitationen einer rein marktgetriebenen Gesellschaft offen. Klar strukturiert wird dabei aufgeführt, was man uns erzählt, was man uns verschweigt, und warum wir uns nicht mit den vermeintlich einfachen Antworten zufriedengeben dürfen, die uns die Vertreter der freien Marktwirtschaft glauben machen wollen. Chang liefert das nötige Rüstzeug, um die Halbwahrheiten der neoliberalen Ökonomie zu durchschauen. Für alle, die sich nach einer differenzierten Sichtweise sehnen und ihr Unbehagen gegenüber dem Kapitalismus in klare Erkenntnis verwandeln möchten, ist dieses Buch unverzichtbar. Dieses Buch ist eine Neuauflage des 2010 bei C. Bertelsmann erschienenen Ausgabe mit dem Titel 23 Lügen, die sie uns über den Kapitalismus erzählen.

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Seitenzahl: 408

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Ha-Joon Chang

23 Dinge, die man uns über den Kapitalismus nicht erzählt

Ha-Joon Chang

23 Dinge, die man uns über den Kapitalismus nicht erzählt

Aus dem Englischen von Anne Emmert und Henning Dedekind

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie. Detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Für Fragen und Anregungen:

[email protected]

Wichtiger Hinweis

Ausschließlich zum Zweck der besseren Lesbarkeit wurde auf eine genderspezifische Schreibweise sowie eine Mehrfachbezeichnung verzichtet. Alle personenbezogenen Bezeichnungen sind somit geschlechtsneutral zu verstehen.

Originalausgabe

1. Auflage 2024

© 2024 by Finanzbuch Verlag, ein Imprint der Münchner Verlagsgruppe GmbH

Türkenstraße 89

80799 München

Tel.: 089 651285-0

Die englische Originalausgabe erschien 2010 unter dem Titel 23 Things They Don‘t Tell You About Capitalism. © 2010 by Ha-Joon Chang. All rights reserved.

Alle Rechte, insbesondere das Recht der Vervielfältigung und Verbreitung sowie der Übersetzung, vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotokopie, Mikrofilm oder ein anderes Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme gespeichert, verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden. Wir behalten uns die Nutzung unserer Inhalte für Text und Data Mining im Sinne von § 44b UrhG ausdrücklich vor.

Übersetzung: Henning Dedekind, Anne Emmert

Umschlaggestaltung: Pamela Machleidt

Umschlagabbildung: RTRO/Adobe Stock

Satz: ZeroSoft, Timisoara

eBook: ePUBoo.com

ISBN Print 978-3-95972-776-1

ISBN E-Book (PDF) 978-3-98609-514-7

ISBN E-Book (EPUB, Mobi) 978-3-98609-515-4

Weitere Informationen zum Verlag finden Sie unter

www.finanzbuchverlag.de

Beachten Sie auch unsere weiteren Verlage unter www.m-vg.de.

Inhalt

Einführung

Eins: Den »freien Markt« gibt es gar nicht.

Zwei: Ein Unternehmen soll man nicht zum Wohle seiner Besitzer führen.

Drei: In den reichen Ländern verdienen die meisten Menschen mehr, als ihnen zusteht.

Vier: Die Waschmaschine war revolutionärer als das Internet.

Fünf: Wenn man das Schlimmste vom Menschen erwartet, bekommt man es auch.

Sechs: Größere makroökonomische Stabilität hat die Weltwirtschaft nicht stabiler gemacht.

Sieben: Liberalisierung macht ein armes Land selten reich.

Acht: Kapital hat eine Nationalität.

Neun: Wir leben nicht in einem postindustriellen Zeitalter.

Zehn: Die Vereinigten Staaten haben nicht den höchsten Lebensstandard der Welt.

Elf: Afrika ist nicht zur Unterentwicklung prädestiniert.

Zwölf: Regierungen können auf Gewinner setzen.

Dreizehn: Reiche Leute noch reicher zu machen schafft für alle anderen nicht automatisch mehr Wohlstand.

Vierzehn: US-Manager sind überbezahlt.

Fünfzehn: Menschen in armen Ländern besitzen mehr Unternehmergeist als Menschen in reichen Ländern.

Sechzehn: Wir sind nicht schlau genug, um alles dem Markt zu überlassen.

Siebzehn: Mehr Bildung allein macht ein Land nicht reicher.

Achtzehn: Was gut für General Motors ist, muss nicht unbedingt auch für die Vereinigten Staaten gut sein.

Neunzehn: Der Kommunismus ist zwar Geschichte, trotzdem leben wir immer noch in Planwirtschaften.

Zwanzig: Chancengleichheit ist nicht gleich Gerechtigkeit.

Einundzwanzig: Ein starker Staat macht die Menschen flexibler bei Veränderungen.

Zweiundzwanzig: Die Finanzmärkte dürfen nicht noch effizienter werden – im Gegenteil.

Dreiundzwanzig: Für eine gute Wirtschaftspolitik braucht man keine guten Wirtschaftler.

Schlusswort: Wie man die Welt neu ordnen kann

Dank

Anmerkungen

Personenregister

Über den Autor

So können Sie 23 Dinge, die man uns über den Kapitalismus nicht erzählt, lesen:

7 Möglichkeiten

Möglichkeit: Wenn Sie nicht genau wissen, was Kapitalismus eigentlich ist, lesen Sie: 1, 2, 5, 8, 13, 16, 19, 20 und 22.

Möglichkeit: Wenn Sie Politik für reine Zeitverschwendung halten, lesen Sie: 1, 5, 7, 12, 16, 18, 19, 21 und 23.

Möglichkeit: Wenn Sie sich schon lange fragen, warum es Ihnen trotz ständig wachsenden Einkommens und ständiger Fortschritte in der Technik nicht besser geht, lesen Sie: 2, 4, 6, 8, 9, 10, 17, 18 und 22.

Möglichkeit: Wenn Sie glauben, dass manche Leute reicher sind als andere, weil sie mehr können, besser ausgebildet und wagemutiger sind als andere, lesen Sie: 3, 10, 13, 14, 15, 16, 17, 20 und 21.

Möglichkeit: Wenn Sie erfahren möchten, warum arme Länder arm sind und wie sie reicher werden können, lesen Sie: 3, 6, 7, 8, 9, 10, 11, 12, 15, 17 und 23.

Möglichkeit: Wenn Sie glauben, die Welt sei ungerecht, aber daran könne man nicht viel ändern, lesen Sie: 1, 2, 3, 4, 5, 11, 13, 14, 15, 20 und 21.

Möglichkeit: Lesen Sie die Kapitel in der folgenden Anordnung.

Für Hee-Jeong, Yuna und Jin-Gyu

Einführung

Die globale Wirtschaft ist schwer angeschlagen. Zwar haben finanz- und geldwirtschaftliche Maßnahmen nie da gewesenen Ausmaßes im Zuge der Finanzkrise 2008 den völligen Zusammenbruch der globalen Wirtschaft verhindert, doch diese Krise ist nach der Großen Depression die zweitschwerste der Geschichte. Während ich dies schreibe (März 2010), hört man zwar hier und da, die Rezession sei vorüber, doch eine nachhaltige Erholung ist keineswegs sicher. Da Finanzmarktreformen bislang ausblieben, haben sich dank der nachlässigen Geld- und Finanzpolitik neue Spekulationsblasen gebildet, während die Realwirtschaft unter Geldmangel leidet. Wenn diese Blasen platzen, könnte die Weltwirtschaft in die nächste Rezession stürzen (»Double-Dip«). Aber auch wenn die Erholung anhält, werden die Folgen der Krise noch lange zu spüren sein. Es kann Jahre dauern, bis Wirtschaft und private Haushalte ihre Finanzen neu geordnet haben. Die gewaltigen Haushaltsdefizite, die durch die Krise entstanden sind, werden die Staaten dazu zwingen, öffentliche Investitionen und Sozialausgaben umfänglich zu reduzieren. Das wird das Wirtschaftswachstum, den Arbeitsmarkt und die soziale Stabilität – womöglich auf Jahrzehnte – negativ beeinflussen. Viele Menschen, die in der Krise Arbeit und Haus verloren haben, werden vielleicht nie wieder am wirtschaftlichen Leben teilnehmen.

Das sind erschreckende Aussichten.

Ausgelöst wurde diese Katastrophe in letzter Konsequenz von der Ideologie des freien Marktes, die seit den Achtzigerjahren die Welt regiert. Wir hören, dass die Märkte, wenn man sie nur in Ruhe lässt, die effizientesten und gerechtesten Ergebnisse herbeiführen werden. Effizient, weil wir selbst am besten wissen, wie wir die uns zur Verfügung stehenden Ressourcen nutzen, und gerecht, weil der Wettbewerb an den Märkten sicherstellt, dass jeder Mensch seiner Produktivität entsprechend entlohnt wird. Unternehmen, so heißt es, sollten maximale Freiheit erhalten. Da sie nahe am Schauplatz des Geschehens sind, wissen sie am ehesten, was am besten fürs Geschäft ist. Wenn man sie daher gewähren lässt, wird der Wohlstand aufs Maximum anwachsen und auch dem Rest der Gesellschaft zugutekommen. Staatliche Intervention dagegen würde die Effizienz der Märkte nur bremsen, denn häufig zielten solche Maßnahmen darauf ab, die Maximierung des Wohlstands aus fehlgeleiteten egalitären Gründen zu beschränken. Und auch, wenn das nicht zutreffe, könnten Staaten die Resultate der Märkte nicht verbessern, da sie weder die notwendigen Einblicke noch die Anreize haben, gute Geschäftsentscheidungen zu treffen. Kurz: Man rät uns, den Märkten voll und ganz zu vertrauen und ihnen nicht im Weg zu stehen.

Die meisten Länder sind diesem Ratschlag gefolgt und haben in den vergangenen drei Jahrzehnten eine Politik der Marktliberalisierung betrieben: Privatisierung staatlicher Industrie- und Finanzunternehmen, Deregulierung des Finanzwesens und der Industrie, Liberalisierung des internationalen Handels und Investments, Senkung der Einkommensteuern und Sozialausgaben. Diese Politik, so räumen ihre Verfechter ein, habe zwar vorübergehend auch negative Auswirkungen gehabt, etwa eine wachsende Ungleichheit, doch sie werde am Ende allen nutzen, weil sie eine dynamischere und reichere Gesellschaft hervorbringe. Die anschwellende Flut lässt alle Boote steigen, so das passende Bild.

Das Ergebnis dieser Politik war das genaue Gegenteil dessen, was man uns versprach. Vergessen wir für den Augenblick die Finanzkrise, die der Welt noch Jahrzehnte zu schaffen machen wird. Schon vorher und von den meisten Menschen unbemerkt verlangsamte die Liberalisierungspolitik in den meisten Ländern das Wachstum, erhöhte die Ungleichheit und verringerte die Stabilität. In vielen reichen Ländern wurden diese Probleme durch eine gigantische Ausweitung der Kreditaufnahmen verschleiert. Dass in den USA seit den Siebzigerjahren die Löhne stagnieren und die Arbeitszeit ständig anstieg, wurde durch eine unbesonnene Steigerung des kreditfinanzierten Konsums kaschiert. Waren in den reichen Ländern die Probleme schon schlimm genug, so spitzte sich in den Ländern des globalen Südens die Lage noch mehr zu. Der Lebensstandard in den afrikanischen Staaten südlich der Sahara stagniert seit drei Jahrzehnten, während das Wachstum des Pro-Kopf-Einkommens in Lateinamerika um zwei Drittel sank. Einige Volkswirtschaften, etwa China und Indien, wuchsen in dieser Zeit rasant (allerdings mit einer ebenfalls rasant ansteigenden Ungleichheit). Doch genau diese Länder betrieben zwar eine vorsichtige Liberalisierung, weigerten sich jedoch, konsequent eine Politik des freien Marktes zu verfolgen.

Was uns die Verfechter des freien Marktes – oder, wie man sie oft nennt, die neoliberalen Ökonomen – weismachen wollten, war demnach bestenfalls partiell wahr, schlimmstenfalls grottenfalsch. Wie ich in diesem Buch darlegen werde, basieren die von den Ideologen des freien Marktes kolportierten »Wahrheiten« auf bequemen Annahmen und bornierten Fantasien, wenn sie auch nicht immer dem Eigennutz entspringen. Mein Ziel wird es sein, wesentliche Tatsachen über den Kapitalismus darzulegen, die uns die Verfechter des freien Marktes verschweigen.

Doch dieses Buch ist kein antikapitalistisches Manifest. Wer die Ideologie des freien Marktes offenlegt, muss nicht gegen den Kapitalismus sein. Trotz seiner Probleme und Beschränkungen glaube ich, dass der Kapitalismus noch immer das beste Wirtschaftssystem ist, das der Mensch erfunden hat. Meine Kritik richtet sich gegen eine bestimmte Version des Kapitalismus, die die Welt in den letzten drei Jahrzehnten beherrscht: den Anarchokapitalismus. Das ist jedoch nicht die einzige Spielart, geschweige denn die beste, wie die Bilanz der letzten drei Jahrzehnte beweist. Dieses Buch zeigt auf, wie der Kapitalismus besser organisiert werden kann und sollte.

Obwohl wir seit der Krise 2008 ernsthaft an der Wirkungsweise unserer Volkswirtschaften zweifeln, geht kaum jemand diesen Fragen weiter nach, weil die meisten glauben, dass sich die Fachleute darum kümmern sollten. So ist es auch – in gewisser Hinsicht. Eine genaue Analyse setzt Fachwissen voraus, und die Fragen sind zum Teil so kompliziert, dass sogar die Experten uneinig sind. Daher ist es nur natürlich, dass sich die meisten von uns nicht die Zeit nehmen (und auch nicht über die notwendige Ausbildung verfügen), sich in die fachlichen Details einzuarbeiten, ehe sie sich ein Urteil über Fragestellungen bilden wie die Effektivität des amerikanischen Rettungsfonds für den Finanzsektor TARP (Troubled Asset Relief Program), die Notwendigkeit der G20-Gipfel, den Sinn einer Bankenverstaatlichung oder das angemessene Gehalt eines Spitzenmanagers. Und wenn es um Probleme geht wie die Armut in Afrika, die Mechanismen der Welthandelsorganisation oder die Regelungen zur Eigenkapitalausstattung der Bank für Internationalen Zahlungsausgleich, streichen die meisten von uns die Segel.

Doch um die Vorgänge in der Welt zu verstehen und als, wie ich es nenne, »aktive ökonomische Bürger« von den Entscheidungsträgern die richtigen politischen Maßnahmen einzufordern, müssen wir auch gar nicht alle fachlichen Details kennen. Immerhin bilden wir uns auch über andere Fragen ein Urteil, obwohl uns das Fachwissen fehlt. Wir brauchen keine ausgebildeten Epidemiologen zu sein, um zu wissen, dass in Nahrungsmittelfabriken, Metzgereien und Restaurants ein bestimmtes Maß an Lebensmittelhygiene herrschen sollte. Mit der Wirtschaft ist das nicht anders: Wenn man erst die wichtigsten Prinzipien und die grundlegenden Fakten kennt, kann man sich, auch ohne über sämtliche fachliche Details Bescheid zu wissen, ein robustes Urteil bilden. Man muss nur dazu bereit sein, die rosarote Brille abzusetzen, die uns die neoliberalen Ideologen aufgesetzt haben. Durch diese Brille sieht die Welt einfach und hübsch aus. Aber sobald man sie abnimmt, sticht einem die harte Realität ins Auge.

Hat man erst begriffen, dass es so etwas wie einen freien Markt gar nicht gibt, lässt man sich auch nicht mehr von Leuten hinters Licht führen, die jegliche Regulierung ablehnen, weil es den Markt »unfrei« mache (siehe Nr. 1). Wer weiß, dass ein starker und aktiver Staat wirtschaftliche Dynamik nicht bremst, sondern befördert, erkennt auch das verbreitete Misstrauen gegen den Staat als unberechtigt (siehe Nr. 19 und 21). Vor dem Hintergrund der Erkenntnis, dass wir eben nicht in einer postindustriellen Wissenswirtschaft leben, darf bezweifelt werden, dass es sinnvoll ist, den industriellen Niedergang, wie es viele Staaten tun, außer Acht zu lassen oder gar zu begrüßen (siehe Nr. 9 und 17). Ist erst einmal klar, dass der Wohlstand der Reichen nicht nach und nach in die unteren Gesellschaftsschichten hinabsickert (Trickle-down-Theorie), wird auch der Zweck starker Steuersenkungen für die Reichen offenkundig: eine einfache Umverteilung des Einkommens nach oben und nicht etwa Wohlstand für uns alle, wie man uns gern weismachen will (siehe Nr. 13 und 20).

Was der Weltwirtschaft widerfahren ist, war kein Unfall oder das Wirken einer unaufhaltsamen historischen Kraft. Nicht ein eisernes Gesetz des Marktes ist dafür verantwortlich, dass für die meisten Amerikaner die Löhne bei steigender Arbeitszeit seit Längerem stagnieren, während die Spitzenmanager und Topbanker ihre Bezüge kräftig erhöht haben (siehe Nr. 10 und 14). Es ist nicht nur der unaufhaltsame Fortschritt der Kommunikations- und Transporttechnik, der uns der wachsenden Macht des internationalen Wettbewerbs aussetzt und uns um unseren Arbeitsplatz fürchten lässt (siehe Nr. 4 und 6). Es wäre durchaus vermeidbar gewesen, dass sich der Finanzsektor in den letzten drei Jahrzehnten zunehmend von der Realwirtschaft losgelöst und schließlich die wirtschaftliche Katastrophe herbeigeführt hat, die wir heute erleben (siehe Nr. 18 und 22). Es liegt nicht nur an unveränderlichen strukturellen Faktoren – tropisches Klima, Standortnachteile oder ein ungünstiges kulturelles Umfeld –, dass die armen Länder arm sind (siehe Nr. 7 und 11).

Für die Ereignisse sind menschliche Entscheidungen verantwortlich, insbesondere die Entscheidungen derer, in deren Macht es liegt, die Regeln zu ändern. Zwar kann sich ein einzelner Entscheidungsträger nie sicher sein, ob die politischen Maßnahmen die erwünschten Ergebnisse herbeiführen, doch die Entscheidungen, die getroffen wurden, sind durchaus nicht alternativlos. Wir leben nicht in der bestmöglichen Welt. Wenn gewisse Entscheidungen anders gefallen wären, so hätte sich die Welt auch anders entwickelt. Vor diesem Hintergrund müssen wir fragen, ob die Entscheidungen, die die Reichen und Mächtigen treffen, auf vernünftigen Schlussfolgerungen und belastbaren Belegen gründen. Nur dann können wir von Unternehmen, Staaten und internationalen Organisationen »richtiges« Handeln fordern. Treten wir nicht als aktive ökonomische Bürger auf, werden wir immer Opfer derjenigen sein, die über die Macht verfügen, Entscheidungen zu fällen, und die uns weismachen, dass alles genau so sein muss und sich nicht ändern lässt, so unangenehm und ungerecht es uns auch vorkommt.

Dieses Buch soll aufzeigen, wie der Kapitalismus wirklich funktioniert und wie er noch besser funktionieren könnte. Es ist weniger als eine »Volkswirtschaftslehre für Dummies«, denn ich gehe kaum auf Fachwissen ein, das schon das grundlegendste Lehrbuch erklären müsste. Nicht, dass ich bezweifle, dass Sie dem folgen könnten: 95 Prozent der Volkswirtschaftslehre ist gesunder Menschenverstand, der unnötig verkompliziert wurde, und auch die verbleibenden 5 Prozent, also die wesentlichen Schlussfolgerungen, wenn nicht gar alle fachlichen Details, lassen sich mit einfachen Worten erklären. Ökonomische Prinzipien sind meiner Ansicht nach am eingängigsten, wenn man damit Probleme erklärt, die den Leser besonders interessieren. Deshalb führe ich fachspezifische Begriffe nur ein, wenn sie wichtig sind, und nicht etwa systematisch wie ein Lehrbuch.

Obwohl dieses Buch für fachfremde Leserinnen und Leser absolut verständlich ist, ist es dann doch wieder mehr als eine »Volkswirtschaftslehre für Dummies«. Es schürft erheblich tiefer als manch ein Fachbuch, da es viele allgemein akzeptierte Wirtschaftstheorien, die in zahlreichen Monografien als gegeben hingenommen werden, infrage stellt. Leserinnen und Leser, die nicht vom Fach kommen, würden es wohl kaum wagen, Theorien anzuzweifeln, die von »Experten« vertreten werden, und empirische Fakten zu hinterfragen, die von den meisten Fachleuten auf dem Gebiet akzeptiert werden. Doch sie werden feststellen, dass es in Wahrheit viel einfacher ist, als es klingt, wenn man erst einmal aufgehört hat, blind zu glauben, was die meisten Fachleute uns weismachen wollen.

Zu den wenigsten Fragen, die ich in diesem Buch anschneide, gibt es einfache Antworten. Ja, in vielen Fällen will ich darauf hinaus, dass es keine einfache Antwort darauf gibt – anders, als die Vertreter der freien Marktwirtschaft uns glauben machen wollen. Doch wenn wir uns diesen Fragen nicht stellen, werden wir auch nicht erkennen, wie die Welt wirklich funktioniert. Und nur wenn wir das begreifen, können wir als aktive ökonomische Bürger für unsere eigenen Interessen und vielleicht sogar für das Allgemeinwohl eintreten.

Eins: Den »freien Markt« gibt es gar nicht.

Was man uns erzählt

Die Märkte müssen frei sein. Wenn sich der Staat einmischt und diktiert, was die Marktteilnehmer dürfen und was nicht, können die Ressourcen nicht optimal fließen. Dürfen die Leute nicht tun, was für sie am einträglichsten ist, so geht der Anreiz für Investition und Innovation verloren. Wenn also der Staat die Mietpreise deckelt, hat der Vermieter keine Veranlassung mehr, seine Immobilie instand zu halten oder eine neue zu errichten. Oder wenn der Staat vorgibt, welche Finanzprodukte verkauft werden dürfen, können zwei Vertragspartner, die beide von innovativen, ihren Bedürfnissen entsprechenden Transaktionen profitiert hätten, nicht die gleichen Gewinne erzielen wie bei Vertragsfreiheit. Die Leute sollten Wahlfreiheit haben – Free to Choose, wie der Titel einer Fernsehsendung und eines Buches des Marktvisionärs Milton Friedman lautete.

Was man uns verschweigt

Den freien Markt gibt es nicht. Jeder Markt hat Regeln und Grenzen, die die Wahlfreiheit einschränken. Ein Markt scheint nur deshalb frei zu sein, weil wir die Beschränkungen so vorbehaltlos akzeptieren, dass sie uns gar nicht mehr auffallen. Es lässt sich nicht objektiv definieren, wie »frei« ein Markt ist. Das ist vielmehr eine politische Definition. Wenn die Verfechter der freien Marktwirtschaft behaupten, dass sie den Markt vor einer politisch motivierten Beeinflussung durch den Staat verteidigen, dann ist diese Behauptung falsch. Der Staat hat immer seine Finger im Spiel, und die Anhänger des freien Marktes haben politische Motive wie jeder andere auch. Wer sich von dem Mythos, dass es so etwas wie einen objektiv definierbaren »freien Markt« gibt, verabschiedet, ist auf dem besten Weg, den Kapitalismus zu begreifen.

Arbeit sollte frei sein

Im Jahr 1819 wurde im britischen Parlament ein neues Gesetz zur Regulierung der Kinderarbeit eingebracht, der Cotton Factories Regulation Act. Der Gesetzentwurf war nach modernen Maßstäben unglaublich bescheiden. Die Beschäftigung kleiner Kinder unter neun Jahren sollte verboten werden. Ältere Kinder zwischen 10 und 16 sollten weiter arbeiten dürfen, doch die Arbeitszeit wurde auf 12 Stunden am Tag beschränkt (ja, man sorgte sich wirklich um den Nachwuchs). Die neuen Regelungen galten nur für die Arbeit in Textilfabriken, die der Gesundheit der Arbeiter besonders abträglich war.

Der Gesetzentwurf löste eine gewaltige Kontroverse aus. Die Gegner betrachteten ihn als Angriff auf die Vertragsfreiheit und mithin als Zersetzung der Fundamente des freien Marktes. In der Diskussion um das Gesetz machten einige Mitglieder des Oberhauses geltend, dass »die Arbeit frei sein sollte«. Ihre Argumentation ging dahin, dass Kinder arbeiten wollten (und mussten) und die Fabrikbesitzer sie beschäftigen wollten – worin also bestand das Problem?

Heute würden auch die eifrigsten Verfechter des freien Marktes in Großbritannien und anderen reichen Ländern nicht im Traum daran denken, die Kinderarbeit in das Paket der Marktliberalisierung einzubinden, das sie sich so wünschen. Als aber Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts in Europa und Nordamerika die ersten Beschränkungen der Kinderarbeit eingeführt wurden, waren viele durchaus angesehene Menschen der Ansicht, dass die Regulierung der Kinderarbeit gegen die Prinzipien des freien Marktes verstößt.

So betrachtet ist es mit der »Freiheit« eines Marktes wie mit der Schönheit: Sie liegt in den Augen des Betrachters. Wem das Recht von Kindern, nicht arbeiten zu müssen, wichtiger ist als das Recht der Fabrikbesitzer, die in ihren Augen profitabelsten Arbeiter einzustellen, für den wird mit dem Verbot der Kinderarbeit auch die Freiheit des Arbeitsmarktes nicht beschnitten. Wer vom Gegenteil überzeugt ist, sieht einen »unfreien« Markt, geknebelt von staatlicher Regulierungswut.

Man muss aber nicht zwei Jahrhunderte in der Vergangenheit nach gesetzlichen Beschränkungen suchen, die wir für selbstverständlich halten, also innerhalb des freien Marktes als eine Art »Nebengeräusch« empfinden, die jedoch bei ihrer Einführung als gravierende Einschnitte in den freien Markt galten und entsprechend unter Beschuss standen. Als vor wenigen Jahrzehnten Umweltgesetze erlassen wurden (etwa Emissionsbestimmungen für Kraftfahrzeuge und Industrie), lehnten sich viele dagegen auf, weil sie angeblich unsere Wahlfreiheit einschränkten. Wenn jemand eine Dreckschleuder fahren will oder ein Unternehmer umweltbelastende Produktionsmethoden profitabler findet, warum sollte sich der Staat in diese Entscheidung einmischen?, wollten die Gegner wissen. Heute akzeptieren die meisten Menschen diese Gesetze als selbstverständlich. Es herrscht Einigkeit darüber, dass alles, was anderen schadet (etwa die Umweltverschmutzung), beschränkt werden sollte. Außerdem erscheint es sinnvoll, sorgsamer mit unseren Energieressourcen umzugehen, die überwiegend nicht erneuerbar sind, und den negativen Einfluss der Menschen auf das Klima zu minimieren. Wenn die Freiheit ein und desselben Marktes von verschiedenen Menschen unterschiedlich wahrgenommen wird, dann gibt es in Wahrheit gar keine objektive Definition dafür, wie frei dieser Markt ist. Anders ausgedrückt: Der freie Markt ist eine Illusion. Wenn manche Märkte scheinbar frei sind, so deshalb, weil wir die bestehenden Beschränkungen so weit akzeptieren, dass wir sie gar nicht mehr wahrnehmen.

Kung-Fu-Meister an Klaviersaiten

Wie viele meiner Altersgenossen war ich als Kind fasziniert von den Kung-Fu-Meistern in den Spielfilmen aus Hongkong, die sich so hartnäckig der Schwerkraft zu widersetzen schienen. Und wie viele andere Kinder auch war ich bitter enttäuscht, als ich erfuhr, dass meine Helden in Wahrheit an Klaviersaiten in der Luft gehangen hatten.

Mit dem freien Markt ist es nicht viel anders. Bestimmte Marktregulierungen empfinden wir als so legitim, dass sie uns gar nicht mehr auffallen. Wenn man genauer hinsieht, stützen sich die Märkte sogar auf Regeln – und zwar auf ziemlich viele.

Zunächst einmal unterliegt es mannigfachen Beschränkungen, mit welchen Waren gehandelt werden darf. Verbote betreffen nicht nur »offensichtliche« Dinge wie Rauschmittel oder menschliche Organe. Auch Wählerstimmen, Regierungsposten und Gesetze sind in modernen Gesellschaften nicht käuflich – zumindest nicht offen –, obwohl es in den meisten Ländern früher anders war. Auch Studienplätze werden meist nicht verkauft, sind aber in einigen Ländern gegen Geld zu haben, sei es, indem man die entsprechenden Stellen (gesetzeswidrig) schmiert oder indem man der Universität (gesetzeskonform) eine Spende zukommen lässt. In vielen Ländern ist der Handel mit Waffen oder Alkohol verboten. Medikamente müssen meist staatlich zugelassen und auf ihre Sicherheit geprüft sein, ehe sie in den Handel gelangen. All diese Regelungen sind potenziell strittig, ebenso wie es der Verkauf von Menschen (Sklavenhandel) vor 150 Jahren war.

Beschränkungen gibt es auch beim Zugang zu den Märkten. Für Berufe, die großen Einfluss auf das Leben anderer haben, sind Zulassungen erforderlich, etwa für Ärzte oder Rechtsanwälte; manchmal werden diese Zulassungen nicht vom Staat vergeben, sondern von Standesorganisationen. In vielen Ländern dürfen nur Unternehmen, die über ein bestimmtes Mindestkapital verfügen, eine Bank gründen. Nicht einmal auf dem Aktienmarkt, dessen Unterregulierung 2008 die globale Rezession auslöste, darf jeder einfach mitmachen. Man kann nicht mit einer Tasche voller Aktien in der New York Stock Exchange auftauchen und sie verkaufen. Unternehmen müssen für die Börsenzulassung bestimmte Kriterien erfüllen und mehrere Jahre lange strenge Betriebsprüfungen über sich ergehen lassen, ehe sie eigene Aktien ausgeben dürfen. Und der Aktienhandel wird nur von zugelassenen Börsenmaklern und Händlern betrieben.

Auch die Handelsbedingungen sind reglementiert. Als ich Mitte der Achtzigerjahre nach Großbritannien zog, war ich überrascht, dass man für Artikel, die einem nicht gefielen, ein volles Rückgaberecht hatte, auch wenn sie völlig in Ordnung waren. Damals wurde dieser Service in Korea nur von den teuersten Kaufhäusern angeboten. In Großbritannien dagegen galt das Recht der Kunden, es sich anders zu überlegen, mehr als das Recht des Verkäufers, Kosten, die mit der Rückgabe unerwünschter (aber intakter) Produkte an den Hersteller einhergingen, zu meiden. Rund um den Austausch von Waren gilt noch eine Reihe weiterer Regeln: zur Produkthaftung, zum Lieferverzug, zum Kreditausfall und so weiter. In vielen Ländern braucht man eine Genehmigung für die Verkaufsstelle; so unterliegt der Straßenverkauf Beschränkungen, oder Baugesetze untersagen Handelsaktivitäten in Wohngebieten.

Dazu kommen Preisregulierungen. Damit meine ich nicht sichtbare Phänomene wie eine Mietpreisbegrenzung oder Mindestlöhne, die Marktliberale so empört ablehnen.

In den reichen Ländern werden die Löhne, einschließlich etwaiger Mindestlöhne, besonders stark durch die Einwanderungskontrolle beeinflusst. Wie wird die Zuwanderungshöchstquote festgelegt? Nicht etwa durch einen »freien« Arbeitsmarkt, der, ohne Eingriffe, 80 bis 90 Prozent der einheimischen Arbeitskräfte durch billigere und nicht selten produktivere Immigranten ersetzen würde. Vielmehr wird die Einwanderung überwiegend von der Politik geregelt. Wer also noch einen Rest Zweifel an der zentralen Rolle des Staates im freien Markt hat, sollte einmal darüber nachdenken, inwieweit unsere Löhne und Gehälter im Grunde politisch festgelegt werden (siehe Nr. 3).

Für alle, die einen Kredit ergattern konnten oder einen variablen Zinssatz hatten, wurden Kredite nach der Finanzkrise 2008 in vielen Ländern dank der drastisch sinkenden Zinssätze zunehmend billiger.

Lag das vielleicht daran, dass die Leute plötzlich keine Kredite mehr brauchten und die Banken die Preise senken mussten, um Kunden zu gewinnen? Nein, es war eine Folge der politischen Entscheidung, die Nachfrage durch eine Zinssenkung zu steigern. Auch unter normalen Umständen werden die Zinsen in den meisten Ländern von der Zentralbank festgesetzt, das heißt, dass politische Entscheidungen mit einfließen. Wenn Löhne und Zinsen (in erheblichem Ausmaß) politisch determiniert sind, dann gilt das auch für andere Preise, auf die sie sich auswirken.

Ist der freie Handel fair?

Eine Regulierung sticht uns dann ins Auge, wenn wir die moralischen Werte, die dahinterstehen, nicht gutheißen können. Die Beschränkung durch hohe Zölle, die die US-Regierung im 19. Jahrhundert dem freien Handel auferlegte, erboste die Sklavenbesitzer, die gleichzeitig nichts Schlimmes daran fanden, Menschen auf dem freien Markt zu handeln. Wer Menschen als Besitz betrachtete, fand das Verbot des Sklavenhandels ebenso unzulässig wie die Beschränkung des Handels mit Industriegütern. Koreanische Ladenbesitzer hätten in den Achtzigerjahren wahrscheinlich das uneingeschränkte Rückgaberecht als einen unfairen und lästigen staatlichen Eingriff in die Marktfreiheit betrachtet.

Diese Wertekollision liegt auch der heutigen Debatte über den freien beziehungsweise fairen Handel zugrunde. Viele Amerikaner sind der Meinung, dass China einen internationalen Handel betreibt, der zwar frei, aber unfair ist. Ihrer Ansicht nach ist der Wettbewerb unfair, weil China seine Arbeiter unannehmbar schlecht bezahlt und unter unmenschlichen Bedingungen arbeiten lässt. Die Chinesen können damit kontern, es sei unannehmbar, dass die reichen Länder den freien Handel zwar predigen, für Chinas Exporte jedoch künstliche Schranken errichten, indem sie die Einfuhr von Erzeugnissen aus »Ausbeuterbetrieben« beschränken. Es sei ungerecht, dass man China daran hindern wolle, die einzige Ressource auszuschöpfen, die dem Land reichlich zur Verfügung steht: billige Arbeit.

Die Schwierigkeit liegt natürlich darin, dass es unmöglich ist, »unannehmbar niedrige Löhne« oder »unmenschliche Arbeitsbedingungen« objektiv zu definieren. Angesichts der riesigen internationalen Unterschiede in der wirtschaftlichen Entwicklung und den Lebensbedingungen ist es nur natürlich, dass ein Hungerlohn in den USA in China eine stattliche Entlohnung wäre, denn der Durchschnittslohn beträgt 10 Prozent dessen, was in den USA üblich ist. In Indien wäre er gar ein Vermögen, da der Durchschnittslohn bei 2 Prozent des US-Durchschnitts liegt. Die meisten Amerikaner, die sich heute für fairen Handel einsetzen, hätten wahrscheinlich auch die Waren, die ihre eigenen Großväter in extrem langer Arbeitszeit und unter unmenschlichen Bedingungen hergestellt haben, nicht gekauft. Bis zu Beginn des 20. Jahrhunderts arbeitete der durchschnittliche Amerikaner 60 Stunden pro Woche. Im Jahr 1905 erklärte der Oberste Gerichtshof ein Gesetz des Staates New York, das die Arbeitszeit von Bäckern auf zehn Stunden am Tag beschränkte, für verfassungsfeindlich, weil es »den Bäcker der Freiheit beraubt, so lange zu arbeiten, wie er es wünscht«.

So betrachtet dreht sich die Debatte über den freien Handel im Wesentlichen um moralische Werte und politische Entscheidungen, nicht etwa um Wirtschaft im eigentlichen Sinn. Es ist zwar ein wirtschaftliches Thema, doch die Ökonomen sind mit ihrem fachlichen Handwerkszeug nicht besonders gut gerüstet, Regelungen zu treffen.

Deshalb müssen wir uns natürlich noch lange nicht auf eine relativistische Position zurückziehen und mit Kritik hinterm Berg halten, weil alles möglich ist. Wir können durchaus, und ich tue das auch, unsere Meinung zur Annehmbarkeit der Arbeitsbedingungen in China (oder jedem anderen Land) vertreten und versuchen, etwas zu ändern, ohne allerdings davon auszugehen, dass jemand, der anderer Ansicht ist, absolut betrachtet im Unrecht ist. China kann sich zwar amerikanische Löhne oder schwedische Arbeitsbedingungen nicht leisten, doch es kann die Löhne und Arbeitsbedingungen seiner Arbeiter durchaus verbessern. Schon heute akzeptieren viele Chinesen die herrschenden Bedingungen nicht und fordern strengere Regeln. Doch die Wirtschaftstheorie (zumindest die der freien Marktwirtschaft) kann uns keine Auskunft über die »richtigen« Löhne und Arbeitsbedingungen in China geben.

Nein, wir sind nicht mehr in Frankreich

Im Juli 2008, als das Finanzsystem der USA zusammenbrach, pumpte der Staat 200 Milliarden Dollar in die Hypothekenbanken Fannie Mae und Freddie Mac und verstaatlichte sie. Der republikanische Senator Jim Bunning aus Kentucky geißelte das als einen Akt, der nur in einem »sozialistischen« Land wie Frankreich möglich sei.

Als wären die französischen Verhältnisse nicht schon schlimm genug, verwandelte Senator Bunnings eigener Parteichef das geliebte Heimatland am 19. September 2008 vollends in ein Reich des Bösen. Der an diesem Tag von Präsident George W. Bush angekündigte Plan, der später den Namen TARP erhielt (Troubled Asset Relief Program), sah vor, dass der Staat mindestens 700 Milliarden Dollar Steuergelder in den Ankauf von toxic assets stecken sollte, also faulen Wertpapieren. Bush sah seine Entscheidung allerdings in einem völlig anderen Licht. Der Plan habe durchaus nichts Sowjetisches an sich, sondern sei schlicht die Fortführung des amerikanischen Systems der freien Marktwirtschaft, die »auf der Überzeugung beruht, dass die Bundesregierung, wenn nötig, in den Markt eingreifen soll«. In Bushs Augen war es in diesem Falle nötig, einen großen Brocken des Finanzsektors zu verstaatlichen. Mr. Bushs Ankündigung war natürlich ein Paradebeispiel für politische Augenwischerei, verbrämte er doch einen der größten staatlichen Eingriffe in der Geschichte der Menschheit als alltäglichen Marktvorgang. Doch immerhin hat Mr. Bush mit seinen Worten entlarvt, auf welch schwachem Fundament der Mythos »Freier Markt« ruht. Es ist demnach reine Ansichtssache, welche staatlichen Interventionen notwendig und mit dem Kapitalismus des freien Marktes vereinbar sind. Der freie Markt hat keine wissenschaftlich definierte Grenze.

Wenn es aber keine unantastbaren Grenzen gibt, dann ist jeder Versuch, sie zu verschieben, so legitim wie der Versuch, sie zu verteidigen. Die Geschichte des Kapitalismus war deshalb auch ein ständiger Kampf um die Grenzen des Marktes.

Ein Großteil dessen, was heute außerhalb des Marktes angesiedelt ist, wurde infolge politischer Entscheidungen herausgenommen, nicht etwa durch Vorgänge am Markt selbst: Menschen, Regierungsposten, Wählerstimmen, Gesetze, Studienplätze oder nicht zugelassene Medikamente. Noch immer wird versucht, zumindest einige dieser Dinge illegal (etwa durch die Bestechung von Regierungsmitgliedern, Richtern oder Wählern) oder legal zu erwerben (indem man eine große Parteispende tätigt oder sich einen teuren Anwalt nimmt, um einen Prozess zu gewinnen). Doch obwohl es Bewegungen in beide Richtungen gegeben hat, geht die Entwicklung insgesamt weg vom Markt.

Für die Waren, die noch gehandelt werden, wurden im Laufe der Zeit immer mehr Regeln eingeführt. Blickt man ein paar Jahrzehnte zurück, so haben wir heute vergleichsweise strengere Regeln darüber, wer was produzieren darf (etwa in Form von Zertifikaten für Bio- oder Fair-Trade-Produzenten), wie etwas produziert wird (etwa durch Umweltschutzauflagen oder Grenzen für CO2-Emissionen) und wie es verkauft werden darf (zum Beispiel durch Regeln zur Etikettierung und zur Rücknahme).

Entsprechend ihrer politischen Natur begleiten gewalttätige Konflikte die Neuziehung von Grenzen. Die Amerikaner fochten über den freien Sklavenhandel einen Bürgerkrieg aus, in dem allerdings auch der freie Handel von Waren und die Zollfrage eine Rolle spielten.1 Die britische Regierung begann den Opiumkrieg gegen China, um den freien Handel mit Opium durchzusetzen. Regulierungen des freien Marktes in Hinblick auf die Kinderarbeit wurden, wie schon erwähnt, nur durchgesetzt, weil sich Sozialreformer dafür starkmachten. Das Verbot freier Märkte für Regierungsposten oder Wählerstimmen stieß auf erbitterten Widerstand vonseiten der politischen Parteien, die Wählerstimmen kauften und Regierungsposten an loyale Anhänger verteilten. Solchen Praktiken konnte nur durch ein Zusammenspiel aus politischem Aktivismus, Wahlrechtsreformen und einer Neuordnung der Vergabe von Regierungsposten ein Riegel vorgeschoben werden.

Die Einsicht, dass die Grenzen des Marktes verschwommen sind und sich nicht objektiv bestimmen lassen, führt uns zu der Erkenntnis, dass Ökonomie keine exakte Wissenschaft ist wie Physik oder Chemie, sondern eine politische Aufgabe. Vertreter der freien Marktwirtschaft möchten uns glauben machen, dass sich die Grenzen des Marktes wissenschaftlich genau festlegen lassen, doch das stimmt nicht. Wenn sich die Grenzen dessen, was man wissenschaftlich untersucht, aber nicht exakt festlegen lassen, so handelt es sich eben nicht um eine exakte Wissenschaft.

So betrachtet fordert jemand, der sich gegen eine neue Regulierung wendet, die Beibehaltung des Status quo, so ungerecht er aus Sicht mancher Leute auch sein mag. Wer sich dafür einsetzt, eine bestehende Regulierung abzuschaffen, fordert, dass der Zuständigkeitsbereich des Marktes ausgeweitet wird, sodass diejenigen, die Geld haben, auf diesem Gebiet mehr Macht erhalten, denn der Markt folgt dem Prinzip: »Ein Dollar, eine Stimme.«

Wenn also Verfechter der freien Marktwirtschaft die Einführung einer bestimmten Regulierung ablehnen, weil sie die »Freiheit« eines Marktes beschränke, dann bringen sie damit lediglich ihre politische Meinung zum Ausdruck – dass sie nämlich die Rechte derer, die von dem eingebrachten Gesetz geschützt werden sollen, nicht anerkennen. Sie kleiden diese Zurückweisung in ein ideologisches Deckmäntelchen, indem sie vorgeben, dass es bei ihrer Politik gar nicht um Politik geht, sondern um eine objektive ökonomische Wahrheit, während anderer Leute Politik eben doch nur Politik ist. Dabei sind ihre Motive nicht weniger politisch als die ihrer Gegner.

Wer sich von der Illusion der Marktobjektivität löst, hat den ersten Schritt getan, den Kapitalismus zu verstehen.

Zwei: Ein Unternehmen soll man nicht zum Wohle seiner Besitzer führen.

Was man uns erzählt

Unternehmen gehören Aktionären. Deshalb sollte ein Unternehmen zu deren Wohl geführt werden. Das ist nicht nur ein moralisches Argument. Die Aktionäre haben keine garantierten Einnahmen, anders als die Beschäftigten, die feste Löhne und Gehälter haben, die Lieferanten, mit denen bestimmte Preise vereinbart sind, die Kreditanstalten, die festgelegte Zinsen erhalten, oder andere Geschäftspartner mehr. Das Einkommen der Aktionäre steigt und fällt mit der Unternehmensleistung, sodass sie den größten Anreiz haben, dem Unternehmen zu einer guten Leistung zu verhelfen. Wenn die Firma bankrottgeht, verlieren die Aktionäre alles, wohingegen andere »Interessengruppen« zumindest einen Teil dessen bekommen, was ihnen zusteht. Daher tragen die Aktionäre ein Risiko, das andere Beteiligte nicht haben, was sie wiederum dazu animiert, die Unternehmensleistung zu maximieren. Wird ein Unternehmen für die Aktionäre geführt, so wird der Gewinn, also das, was nach Begleichung aller festgelegten Ausgaben bleibt, maximiert und damit auch der soziale Beitrag des Unternehmens.

Was man uns verschweigt

Unternehmen gehören zwar Aktionären. Doch weil sie von allen Beteiligten am mobilsten sind, kümmern sich diese am wenigsten um die langfristige Zukunft des Unternehmens, es sei denn, sie halten so viele Anteile, dass sie mit dem Verkauf ihrer Aktien den Konzern ernsthaft gefährden würden. Deshalb bevorzugen Aktionäre – insbesondere, aber nicht nur die Kleinaktionäre – eine Unternehmensstrategie, die den kurzfristigen Gewinn maximiert (was meist auf Kosten langfristiger Investitionen geht) und die Dividenden aus diesem Gewinn optimiert, was die langfristigen Perspektiven des Unternehmens weiter schwächt, denn dadurch sinkt der Betrag, der wieder für Investitionen aufgewendet werden kann, weiter ab. Wenn man ein Unternehmen für die Aktionäre führt, so verkleinert man damit das langfristige Wachstumspotenzial.

Karl Marx als Verfechter des Kapitalismus

Sie wissen vielleicht, dass viele Unternehmensnamen in der englischsprachigen Welt den Buchstaben L enthalten: PLC, LLC, Ltd. usw. Der Buchstabe L steht in diesen Abkürzungen für limited, kurz für »limited liability«, »mit beschränkter Haftung« – public limited company (PLC, »Aktiengesellschaft«), limited liability company oder einfach limited company (Ltd., »Gesellschaft mit beschränkter Haftung«). Haftungsbeschränkung bedeutet, dass Investoren bei einem Bankrott nur das verlieren, was sie investiert haben (ihre »Aktien«).

Was Sie vielleicht nicht wissen: Die Aktiengesellschaft hat den modernen Kapitalismus erst möglich gemacht. Heute ist diese Rechtsform selbstverständlich, doch so war es nicht immer.

Vor der Erfindung der Gesellschaft mit beschränkter Haftung im Europa des 16. Jahrhunderts – oder der »joint-stock company«, wie sie damals genannt wurde – musste ein Geschäftsmann das volle Risiko auf sich nehmen, wenn er ein Unternehmen gründete. Und damit meine ich wirklich das volle Risiko: Er setzte nicht nur sein Privatvermögen aufs Spiel, denn im Fall eines Bankrotts musste er sein persönliches Hab und Gut verkaufen, um seine Schulden zu begleichen, sondern auch seine persönliche Freiheit, denn falls er nicht alle Schulden bezahlen konnte, landete er im Schuldgefängnis. Vor diesem Hintergrund ist es fast ein Wunder, dass überhaupt jemand bereit war, ein Geschäft aufzumachen.

Auch nach der Erfindung der Haftungsbeschränkung gestaltete sich ihre Umsetzung bis Mitte des 19. Jahrhunderts äußerst schwierig, denn für die Gründung einer Firma mit beschränkter Haftung brauchte man eine königliche Urkunde (oder in einer Republik eine staatliche Genehmigung). Jemand, der ein Unternehmen mit beschränkter Haftung leitete, ohne es zu 100 Prozent zu besitzen, würde, so hieß es oft, zu hohe Risiken eingehen, weil ein Teil des Geldes ja nicht ihm gehörte. Die nicht am Betrieb beteiligten Investoren eines solchen Unternehmens überwachten womöglich den Geschäftsführer nicht genügend, weil ihr Risiko ja gedeckelt war: nämlich auf die jeweilige Investitionssumme. Adam Smith, Vater der Ökonomie und Schutzheiliger der freien Marktwirtschaft, war aus diesen Gründen ein erklärter Gegner der Haftungsbeschränkung. Berühmt sind seine Worte: »Von den Direktoren einer solchen [Aktien-] Gesellschaft, die ja bei weitem eher das Geld anderer Leute als ihr eigenes verwalten, kann man daher nicht gut erwarten, dass sie es mit der gleichen Sorgfalt einsetzen und überwachen würden, wie es die Partner in einer privaten Handelsgesellschaft [die unbeschränkt haften] mit dem eigenen tun würden.«1

Die Haftungsbeschränkung wurde daher nur Firmengründungen zuerkannt, die ungewöhnlich groß und riskant waren und im nationalen Interesse standen, so 1602 der Niederländischen Ostindien-Kompanie, ihrer Erzrivalin, der Britischen Ostindien-Kompanie sowie der berühmt-berüchtigten Südseekompanie – der Börsenschwindel rund um die »Südseeblase« 1720 hing den Aktiengesellschaften noch lange negativ nach.

Mitte des 19. Jahrhunderts jedoch wurde mit dem Aufkommen neuer Branchen wie Eisenbahn, Stahl und Chemie der Ruf nach einer Haftungsbeschränkung lauter. Kaum jemand hatte ein so großes Vermögen, dass er ein Stahlwerk oder eine Eisenbahngesellschaft im Alleingang hätte gründen können. Nachdem Schweden 1844 den Anfang gemacht hatte, gefolgt von Großbritannien 1856, führten zwischen 1860 und 1880 auch die meisten Staaten Westeuropas und Nordamerikas die Haftungsbeschränkung zur allgemeinen Verfügung ein. Doch das Misstrauen hielt sich hartnäckig. Noch Ende des 19. Jahrhunderts, Jahrzehnte nach der Einführung der allgemeinen Haftungsbeschränkung, waren in Großbritannien einer Geschichte des westeuropäischen Unternehmertums zufolge Kleinunternehmer verpönt, »die neben dem Besitzer aktiv für eine Firma verantwortlich sind und durch die Eintragung als Aktiengesellschaft [mit beschränkter Haftung] die Verantwortung für ihre Schulden zu begrenzen suchten«.2

Einer der Ersten, der die Bedeutung der Haftungsbeschränkung für die Entwicklung des Kapitalismus erkannte, war interessanterweise Karl Marx, der angebliche Erzfeind des Kapitalismus. Anders als viele Befürworter des freien Marktes damals (und Adam Smith vor ihnen), die eine Haftungsbeschränkung ablehnten, ermöglichte sie in Marx’ Augen die Mobilisierung großer Kapitalmengen für die neu entstehende Schwerindustrie und die chemische Industrie, indem sie das Risiko für die einzelnen Investoren senkte. Im Jahr 1865, als der Aktienmarkt noch ein Nebenschauplatz des kapitalistischen Dramas war, bezeichnete Marx die Aktiengesellschaft voller Weitblick als »Resultat der höchsten Entwicklung der kapitalistischen Produktion«. Wie seine Kontrahenten, die Verfechter des freien Marktes, sah und kritisierte Marx durchaus, dass die Haftungsbeschränkung Manager zu exzessiven Risiken verleiten konnte. Doch für ihn war das lediglich eine Nebenwirkung des gewaltigen materiellen Fortschritts, den diese institutionelle Innovation mit sich brachte. Marx hatte natürlich einen guten Grund, den »neuen« Kapitalismus gegen die Kritik der Marktliberalen zu verteidigen: Die Aktiengesellschaft war in seinen Augen ein »Durchgangspunkt« zum Sozialismus, da sie das Eigentum vom Betrieb abtrennte und es somit erlaubte, die Kapitalisten (die das Unternehmen nicht leiteten) loszuwerden, ohne den materiellen Fortschritt, den der Kapitalismus erbracht hatte, zu gefährden.3

Der Tod der kapitalistischen Klasse

Marx’ Prognose, dass der neue, auf Aktiengesellschaften fußende Kapitalismus dem Sozialismus den Weg bereiten würde, traf nie ein. Doch seine Prophezeiung, dass die neue Institution der Haftungsbeschränkung die produktiven Kräfte des Kapitalismus erst richtig entfesseln würde, erwies sich als unglaublich weitsichtig.

Im 19. und 20. Jahrhundert beschleunigte die Haftungsbeschränkung die Kapitalakkumulation und den technischen Fortschritt. Der Kapitalismus entwickelte sich von den Stecknadelfabriken eines Adam Smith, von inhabergeführten Metzger- und Bäckereibetrieben mit selten mehr als zehn Beschäftigten zu einem System aus Großunternehmen mit komplexen Organisationsstrukturen, die neben der Führungsriege Hunderte, ja Tausende von Mitarbeitern beschäftigten.

Anfangs schien sich die lang gehegte Befürchtung, die Manager von Aktiengesellschaften könnten, da sie mit dem Geld anderer Leute wirtschafteten, überhöhte Risiken eingehen, nicht zu bewahrheiten. In den frühen Tagen der Haftungsbeschränkung standen viele Großunternehmen unter der Führung charismatischer Persönlichkeiten – Henry Ford, Thomas Edison, Andrew Carnegie und anderer –, die selbst große Anteilspakete an der Firma hielten. Diese Mitinhaber und Manager konnten zwar ihre Position missbrauchen und zu viel aufs Spiel setzen, was sie hin und wieder auch taten, aber ihre Risikobereitschaft hatte durchaus Grenzen. Da ihnen ein großer Brocken am Unternehmen gehörte, hätten sie sich mit allzu riskanten Entscheidungen selbst geschadet. Darüber hinaus waren viele dieser Manager außergewöhnlich tüchtig und vorausschauend, sodass sie sogar aus einem negativen Anreiz heraus oft bessere Entscheidungen trafen als Firmenchefs, die auch Inhaber ihres Unternehmens waren.

Mit der Zeit jedoch trat eine neue Klasse professioneller Manager an die Stelle dieser charismatischen Unternehmerpersönlichkeiten. Mit zunehmender Konzerngröße wurde es auch schwieriger, einen größeren Anteil zu halten. Nur in einigen europäischen Ländern wie Schweden blieben die Gründerfamilien (oder Stiftungen, die ihnen gehörten) Mehrheitsaktionäre. Das war einer gesetzlichen Regelung zu verdanken, nach der neue Aktien mit kleineren Stimmrechten versehen waren, meist 10 Prozent, manchmal sogar nur 0,1 Prozent. Dennoch: Professionelle Manager beherrschten fortan die Szene, und die Aktionäre verhielten sich in Managementfragen zunehmend passiver.

Seit den Dreißigerjahren sprach man vom Managerkapitalismus, in dem die Kapitalisten im traditionellen Sinn – »Industriekapitäne«, wie die Viktorianer sie nannten – durch Karrierebürokraten ersetzt wurden, Bürokraten des Privatsektors, aber nichtsdestotrotz Bürokraten. Zunehmend stand die Befürchtung im Raum, dass diese angestellten Manager die Unternehmen in ihrem eigenen Interesse führten statt im Interesse der gesetzmäßigen Eigentümer, also der Aktionäre. Statt den Gewinn zu maximieren, so hieß es, maximierten sie den Umsatz und damit die Größe des Unternehmens, ihr eigenes Ansehen und ihre Zulagen, oder, schlimmer noch, sie stürzten sich in Prestigeprojekte, mit denen sie ihr Ego aufbügelten, die aber zum Gewinn des Unternehmens und somit seinem Wert, gemessen an der Aktienmarktkapitalisierung, wenig beitrugen.

Manche akzeptierten den Aufstieg professioneller Manager als unausweichliches, ja hoch willkommenes Phänomen. Der in Österreich geborene amerikanische Ökonom Joseph Schumpeter, der sich mit seiner Theorie des Unternehmertums einen Namen machte (siehe Nr. 15), argumentierte in den Vierzigerjahren, mit der wachsenden Zahl an Unternehmen und der Einführung wissenschaftlicher Prinzipien in Forschung und Entwicklung würden die heroischen Führungspersönlichkeiten des Frühkapitalismus durch bürokratische Profimanager ersetzt werden. Schumpeter glaubte, dies werde die Dynamik des Kapitalismus bremsen, sei aber unausweichlich. Auch John Kenneth Galbraith, der kanadischstämmige amerikanische Ökonom, erklärte in den Fünfzigerjahren, da der Aufstieg großer, von professionellen Managern geleiteter Konzerne unvermeidbar sei, müssten durch verstärkte staatliche Regulierung und gewerkschaftliche Macht »Gegenkräfte« zu diesen Konzernen geschaffen werden.

Doch seither halten die Verfechter des Privateigentums daran fest, dass die Manager Anreize für eine Gewinnmaximierung erhalten müssen. Viele schlaue Köpfe haben am »Design« für diese Anreize gearbeitet, doch der »Heilige Gral« war nur schwer zu fassen. Managern ist es stets gelungen, ihren Arbeitsvertrag buchstabengetreu zu erfüllen, ohne deswegen unbedingt seiner Intention zu entsprechen. Besonders schwer tun sich Aktionäre bei der Frage, ob ein magerer Gewinn darauf zurückzuführen ist, dass die Konzernführung die Gewinnzahlen nicht ausreichend im Blick hatte, oder ob Kräfte im Spiel waren, die sich dem Einfluss der Manager entziehen.

Der Heilige Gral oder eine unheilige Allianz?

Dann, in den Achtzigerjahren, wurde der Heilige Gral gefunden: die Maximierung des Shareholder-Value. Professionelle Manager, so hieß es, sollten danach entlohnt werden, wie viel sie an die Aktionäre weitergeben können. Dafür müsse zunächst der Gewinn maximiert werden, indem schonungslos die Kosten gesenkt würden: Löhne und Gehälter, Investitionen, Lagerbestand, mittleres Management und so weiter. Zweitens müsse der höchstmögliche Anteil dieses Gewinns durch Dividenden und Aktienrückkäufe an die Aktionäre ausgeschüttet werden. Damit sich die Manager entsprechend verhielten und stärker mit den Interessen der Aktionäre identifizierten, müsse der Anteil der Aktienoptionen an ihrer Vergütung steigen. Dieses Prinzip wurde nicht nur von Aktionären propagiert, sondern auch von vielen professionellen Managern, darunter Jack Welch, der langjährige Chairman von General Electric (GE), der den Begriff Shareholder-Value in einer Rede im Jahr 1981 geprägt haben soll.

Kurz nach Welchs Rede beherrschte die Maximierung des Shareholder-Value den Zeitgeist der amerikanischen Unternehmenswelt. Anfangs schien das Prinzip für Manager und Aktionäre auch wirklich gut aufzugehen. Der Anteil der Gewinne am Volkseinkommen, der seit den Sechzigerjahren tendenziell gesunken war, stieg Mitte der Achtzigerjahre steil an und befindet sich seither stetig im Aufwärtstrend.4 Die Aktionäre erhielten einen höheren Anteil dieses Gewinns in Form von Dividenden, während der Kurs ihrer Aktien ständig stieg. Der Anteil der ausgeschütteten Gewinne am gesamten US-Unternehmensgewinn betrug von 1950 bis 1980 35 bis 45 Prozent. Seither ist er stetig gestiegen und liegt heute bei etwa 60 Prozent.5 Die Managergehälter schnellten in die Höhe (siehe Nr. 14), doch die Aktionäre hinterfragten ihre Vergütung nicht mehr, da sie mit den stetig ansteigenden Aktienkursen und Dividenden zufrieden waren. Bald griff diese Praxis auf andere Länder über, besonders leicht in Staaten wie Großbritannien, in denen die Machtstrukturen in den Unternehmen und die Managerkultur ähnlich waren wie in den USA, in anderen Ländern dagegen weniger leicht, wie wir gleich sehen werden.

Diese unheilige Allianz zwischen Profimanagern und Aktionären wurde finanziert, indem man die anderen Interessengruppen auspresste. Das war auch der Grund, warum sich das System in reichen Ländern, in denen diese Interessengruppen relativ stark sind, langsamer ausgebreitet hat. Skrupellos wurden Jobs gestrichen, Beschäftigte entlassen und mit niedrigerem Lohn, geringeren Sozialleistungen und ohne gewerkschaftlichen Schutz wieder eingestellt. Lohnerhöhungen wurden verhindert, nicht selten, indem man die Firma in Niedriglohnländer wie China und Indien umsiedelte, die Produktion dorthin auslagerte oder nur damit drohte. Die Lieferanten und deren Beschäftigte wurden schikaniert, indem man die Preise drückte. Der Staat wurde gedrängt, die Unternehmenssteuern zu senken und/oder die Subventionen zu erhöhen, wiederum flankiert durch die Drohung, in Länder mit niedrigeren Unternehmenssteuern und/oder höheren Wirtschaftssubventionen umzusiedeln. Dadurch geriet die Einkommensverteilung ins Ungleichgewicht (siehe Nr. 13), und an dem (scheinbaren) Wohlstand des vermeintlich nicht enden wollenden Aufschwungs (der 2007 endete) konnte die große Mehrheit der amerikanischen und britischen Bevölkerung nur teilhaben, indem sie zu nie da gewesenen Niedrigzinssätzen Kredite aufnahm.

Zu dieser direkten Umverteilung von Einkommen in Gewinn kam, dass sich der ständig anwachsende Anteil des Gewinns am Volkseinkommen seit den Achtzigerjahren nicht in höheren Investitionen niederschlug (siehe Nr. 13). In den USA ist der Anteil der Investitionen an der Produktionsleistung nicht etwa gestiegen, sondern von 10,5 Prozent in den Achtzigerjahren auf 18,7 Prozent gesunken (1990 bis 2009). Das wäre wohl noch akzeptabel, wenn diese niedrigere Investitionsrate durch einen effizienteren Einsatz von Kapital ausgeglichen worden und ein höheres Wachstum entstanden wäre. Doch die Wachstumsrate des Pro-Kopf-Einkommens in den USA fiel von jährlich rund 2,6 Prozent in den Sechziger- und Siebzigerjahren auf 1,6 Prozent zwischen 1990 und 2009, in der Blüte des Shareholder-Kapitalismus. In Großbritannien, wo sich die Unternehmen ähnlich verhielten, wuchs das Pro-Kopf-Einkommen statt um 1,4 Prozent in den Sechzigern und Siebzigern, als das Land angeblich unter der »Britischen Krankheit« litt [Wirtschaftskrise, hohe Arbeitslosigkeit, zahlreiche Streiks, A. d. Ü], von 1990 bis 2009 nur noch um 1,7 Prozent. Wenn Unternehmen zum Wohle der Aktionäre geführt werden, nutzt das also nicht einmal der Wirtschaft im Ganzen – sofern man die Umverteilung des Einkommens nach oben ignoriert.

Das ist aber noch nicht alles. Das Schlimmste an der Maximierung des Shareholder-Value ist, dass sie nicht einmal dem Unternehmen selbst guttut. Am einfachsten maximiert ein Unternehmen den Gewinn, indem es Ausgaben kürzt, denn eine Steigerung der Einnahmen gestaltet sich schwieriger. Man kürzt also die Personalausgaben, indem man Stellen streicht, oder senkt die Kapitalausgaben, indem man Investitionen herunterfährt. Höhere Gewinne stehen jedoch nur am Anfang der Shareholder-Value-Maximierung. Der Großteil des so erzeugten Gewinns muss in Form höherer Dividenden an die Aktionäre weitergegeben werden. Oder das Unternehmen kauft mit einem Teil der Gewinne seine eigenen Aktien zurück, hält damit den Aktienkurs hoch und verteilt indirekt auch hier Gewinnanteile an die Aktionäre, die, falls sie einige ihrer Aktien verkaufen wollen, höhere Kapitalgewinne erzielen. Der Aktienrückkauf betrug in den USA bis Anfang der Achtzigerjahre jahrzehntelang weniger als 5 Prozent der Unternehmensgewinne, ist seither jedoch ständig gestiegen. Im Jahr 2007 erreichte er den unglaublichen Anteil von 90 Prozent und 2008 absurde 280 Prozent.6 Hätte General Motors 1986 bis 2002 nicht für 20,4 Milliarden Dollar Aktien zurückgekauft, sondern das Geld mit einem jährlichen Gewinn nach Steuern von 2,5 Prozent auf die Bank gelegt, so hätte der Konzern nach einer Schätzung des amerikanischen Ökonomen William Lazonick die 35 Milliarden Dollar, die er im Jahr 2009 zur Abwendung des Bankrotts brauchte, ohne Schwierigkeiten selbst aufbringen können.7 Von all diesen opulenten Gewinnen profitieren auch die Profimanager gewaltig, weil sie über Aktienbezugsrechte selbst reichlich Firmenanteile besitzen.

Dieses Verhalten schadet auf lange Sicht der Firma. Stellenstreichungen mögen kurzfristig die Produktivität steigern, können sich aber langfristig sehr negativ auswirken. Wenn weniger Arbeiter da sind, steigt die Arbeitsintensität, die Beschäftigten werden müde und machen eher Fehler. Das mindert die Qualität des Produkts und schadet dem Ruf der Firma. Vor allem aber hemmt die größere Unsicherheit, die sich aus der ständigen Gefahr von Stellenstreichungen ergibt, die für das Unternehmen wichtige Weiterbildung der Arbeiter, sodass das produktive Potenzial der Firma ausgehöhlt wird. Höhere Dividenden und verstärkte Aktienrückkäufe senken den einbehaltenen Gewinn, der in den USA und anderen reichen kapitalistischen Ländern die Hauptquelle für Unternehmensinvestitionen ist, sodass das Investitionsvolumen sinkt. Die Folgen sind kurzfristig vielleicht nicht spürbar, doch langfristig wird aufgrund geringerer Investitionen die Technik des Unternehmens rückständig, und das Überleben der Firma ist in Gefahr.

Aber macht das den Aktionären denn gar nichts aus? Haben sie als Eigentümer des Unternehmens nicht am meisten zu verlieren, wenn die Firma langfristig verkümmert? Wenn jemand etwas besitzt – sei es ein Haus, ein Stück Land oder ein Unternehmen –, ist es dann nicht der Witz daran, dass sie oder er sich um die langfristige Produktivität kümmert? Wenn Eigentümer so etwas zulassen, so würden Verfechter des Status quo argumentieren, dann deshalb, weil sie es wollen, so verrückt es für Außenstehende auch aussehen mag.