31 Jahre bis Santiago - Rudolf Blatt - E-Book

31 Jahre bis Santiago E-Book

Rudolf Blatt

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Beschreibung

31 Jahre bis Santiago oder wie ein Lebenstraum Wirklichkeit wurde

Das E-Book 31 Jahre bis Santiago wird angeboten von Books on Demand und wurde mit folgenden Begriffen kategorisiert:
Santiago de Compostela, Pilgern nach Santiago de Compostela, Etappenpilgertour nach Santiago de Compostela, Pilgertour nach Santiago de Compostela von Deutschland aus, Pilgern nach Santiago de Compostela in Etappen

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Ein Weg, den zu gehen, lange Jahre nicht möglich schien. Sein Ziel, in weiter Ferne.

Aber dann!

Nach 25 Jahren Hoffen und Warten konnte ich mich endlich auf den Weg machen, um nach sechs weiteren Jahren glücklich in Santiago anzukommen.

Gewidmet meiner Frau Claudia.

Sie brachte über all die Jahre so viel Verständnis für mich und meinen Weg auf. Verzichtete wegen meines Unterfangens auf manchen Urlaub. Sie hat als erste dieses Buch gelesen und mir manch gute Anregung gegeben.

Danke an meinem Sohn Johannes.

Er hat mich auf einer wichtigen Etappe begleitet.

Dank seines Mittuns konnte ich mein Selbstvertrauen und meine Leistungsfähigkeit wieder erlangen.

Danke an meinem Freund Roger.

Dank seiner Unterstützung und Hilfe, konnte ich die letzte Etappe nach Santiago de Compostela so gut bewältigen.

Danke an Nadja, der Lebensgefährtin meines Sohnes.

Mit Ihren Sprachkenntnissen wurden im Rahmen der

Reisevorbereitungen viele Hindernisse aus dem Weg geräumt.

Danke an meine Tochter Kristina.

Ohne Ihre Anregung wäre dieses Buch vielleicht gar nicht entstanden. Sie hat das Lektorat und das Korrektorat durchgeführt und so das Buch besser gemacht.

Danke an meinen Schwiegersohn David

Er hat die Umschlaggestaltung gemacht und damit dem Buch ein unverwechselbares Gesicht gegeben

Inhalt

Wie ein Traum, ein Wunsch entsteht

Wie es weiterging

Endlich ist es soweit

Der Test

Etappe 1 2014

Saarbrücken – Liverdun

Etappe 2 2014

Liverdun – Joinville

Fazit des ersten Pilgerjahres

Das Jahr 2015

Etappe 3 2015

Joinville – Lapalisse

Nach der Tour…eine lange Pause

Etappe 4 2016

Le Mayet de Montagne – Aumont-Aubrac

Etappe 5 2016

Aumont-Aubrac – Cahors

Meine Gesundheit…mein weiteres(er)Leben

Etappe 6 2017

Cahors – Pau

Wieder verschieben – wieder Krankenhaus

Etappe 7 2018

Pau – Logrono

Das letzte halbe Jahr im Büro

Etappe 8 2018

Logrono – León

Die Zeit zu Hause

Etappe 9

Oviedo – Santiago de Compostela

(

Camino Primitivo)

Resümee

Wie ein Traum, ein Wunsch entsteht…

Im Herbst 1981 hatte ich Besuch von einem Versicherungsvertreter, der unserer jungen Familie eine Versicherung verkaufen wollte. Im Laufe des Abends kamen wir dann auf das Reisen zu sprechen und er erzählte mir, wo er schon überall gewesen sei. Meine Schwester war damals von ihrem Orden nach Talavera in Zentralspanien gesandt worden. Der Aufenthalt dort sollte dem Erwerb der spanischen Sprache als Vorbereitung für einen Dienst in Guatemala dienen. Das heißt ihr Aufenthalt war von begrenzter Dauer.

Seit meine Schwester in Spanien war, hatte ich vor ihr dort gemeinsam mit meiner Frau und meiner Mutter einen Besuch abzustatten. Dies wollte ich dann zum Anlass für eine kleine Spanienrundfahrt nehmen. Angeregt durch das Gespräch mit dem Versicherungsvertreter, beschloss ich im Frühjahr 1982 diese Tour in Angriff zu nehmen. Ich rief meine Frau noch am selben Abend an, um mir ihre Zustimmung zu meinem Beschluss zu holen. Sie war mit unseren beiden Kindern, damals 22 Monate und 4 Monate alt, bei Ihrer Schwester zu Besuch, die 200 Kilometer von uns entfernt wohnte. Meine Frau sagte zu meiner Überraschung ohne Bedenken „Ja“ und so fuhr ich Anfang April 1982 mit Frau, mittlerweile 2,5 Jahre alter Tochter und fast 70jähriger Mutter los, um meine Schwester in Spanien zu besuchen. Unseren 10 Monate alten Sohn hatten wir bei den Eltern meiner Frau gelassen.

Für diese Fahrt hatten wir uns von der Sekretärin des Architekturbüros, in dem ich gearbeitet habe, einen 16 Jahre alten 230er Mercedes gekauft, um einigermaßen komfortabel die Reise anzutreten. Damals waren die Autos in einem solchen Alter schon relativ rostig und man musste schon mal mit Pannen rechnen. Aber unser Mercedes hat uns über die 6.000 Kilometer lange Fahrt nicht im Stich gelassen. Einen Abend bevor wir nach dem Besuch bei meiner Schwester von Talavera aus die Heimfahrt antreten wollten, wurde ich krank und wir konnten erst zwei Tage später abfahren. So war dann für die Besichtigungen, die ich unterwegs noch geplant hatte, wenig Zeit und wir mussten uns auf ein Minimum an Besichtigungen beschränken. Als Ersatz dafür las meine Frau, wenn wir an einer interessanten Stadt vorbeikamen, aus unserem Reiseführer das Wissenswerte vor. So kam es, dass wir nach Santo Domingo de Calzada kamen. Meine Frau las über den heiligen Domingo vor, der dort die Straße und ein Hospiz für die Pilger gebaut und beides unterhalten habe. Mit der Legende von dem Hahn machte sie uns auch bekannt.

Das war also das erste Mal, dass ich mit dem Jakobsweg konfrontiert wurde. Nachdem wir dort im Parador übernachtet hatten, schauten wir uns am Morgen in der Kirche noch die Hühner an. In Burgos besichtigten wir die Kathedrale und als wir an Puenta de la Reina vorbeifuhren, las meine Frau aus dem Reiseführer vor, dass sich hier alle französischen Jakobswege träfen und dass ab hier „der Jakobsweg“ losginge. Mit dem Kloster Leyre am Yesa Stausee lernten wir ein Kloster kennen, das im Mittelalter ein wichtiger Aufenthalt mit Hospiz für die Pilger war und auch heute noch ein bedeutendes Kloster ist. Bevor wir über den Somport Pass nach Lourdes fuhren, erfuhren wir von meiner Frau, dass über diesen Pass viele Pilger gezogen seien und dass auch hier ein Hospiz .gestanden hätte.

Von unserer Ankunft zu Hause an sammelte meine Mutter alles, was ihr bezüglich des Jakobsweges unter die Augen kam, um es mir zu geben. Ich nahm die Dinge dankend an, kümmerte mich aber nicht weiter darum.

Ein Jahr später, Ende Mai1983. Wir waren mit der ganzen Familie einschließlich meiner Mutter mit unserem Mercedes auf der Heimfahrt von einem Urlaub auf der Ile d‘Oléron im französischen Atlantik und übernachteten in La Charité. Als ich am Hotel meinen alten Mercedes umparken wollte, ging gar nichts mehr. Ich musste mir eine neue Batterie besorgen. Diese wurde morgens eingebaut und wir fuhren los. Nach einiger Zeit fuhren wir auf einer hoch gelegenen Straße. Vor uns breitete sich lang und weit die Landschaft aus. Am Horizont sah ich eine Erhebung. Darauf stand, den Formen nach zu urteilen, weithin sichtbar eine Kirche unter der sich ein Dorf ausbreitete. Ich forderte meine Frau auf, dieses schöne Bild zu fotografieren. Als ich dann wieder auf meine Anzeigentafel schaute, sah ich, dass das Batterielicht leuchtete. Ich beschloss, nichts mehr zu riskieren und von da an nonstop nach Hause zu fahren. In dem eben fotografierten Dorf angekommen, beschrieb die Straße eine Kurve und ich forderte meine Mutter und meine Frau auf, nach links zu schauen. Dort müssten sie jetzt eine Kirche mit einem schönen Innenraum sehen. Ich wusste gar nicht wo wir waren, behauptete dies aber dennoch. Aber die beiden sahen - nichts.

Die markante Form der Kirche und des Turmes hatten sich mir fest eingeprägt. Als ich also wiederum Jahre später unserem Pfarrhaus einen Besuch abstattete, erkannte ich die Kirche auf einem Poster wieder. Nun konnte ich sie als die Kirche von Vézelay endlich verorten.

Von nun an zog ich Erkundigungen über die Kirche von Vézelay ein, kaufte mir Bücher und Reiseführer, und erfuhr auf diesem Wege, dass Vézelay einer der Ausgangspunkte der französischen Pilgerwege ist, der Via Lemovicensis. Es ließ mich einfach nicht los, dass ich 1983 auf dem Weg durch Vézelay eine Kirche gesehen und beschrieben hatte, die ich vom Auto aus gar nicht sichtbar war. Sie stand viel weiter oben auf der Höhe, und dennoch hatte ich sie gesehen. Also begann ich, mich mit dem Jakobsweg zu befassen. Bei weiteren Fahrten durch Frankreich lernte ich Le Puy-en-Velay kennen, war in Conques, in Rocamadour, fuhr entlang der Via Turonensis, besuchte Limoges und Bourges, das Kloster Saint Martin in den Pyrenäen, mehrfach war ich in Vézelay – das mir immer mehr über alles gefiel – und kam so immer wieder und immer mehr mit dem Jakobsweg in Berührung. Anfang der 90er Jahre wuchs in mir der Beschluss, den Pilgerweg nach Santiago de Compostela zu gehen – aber nicht den Weg ab Saint-Jean-Pied-de-Port, sondern wenn schon, dann von zu Hause aus. Und da ich 1982 mit dem Auto über den Somport-Pass gefahren war, sollte es nun auch dieser Pass sein.

Wie es weiterging…

Mitte der 80er Jahre war ich in dem Architekturbüro zum Partner geworden und war somit selbständiger Architekt. Wir hatten schöne große Projekte in Auftrag, die mich voll beschäftigten. Für Urlaube mit der Familie konnte ich mir dennoch die Zeit nehmen, was mir auch wegen der Kinder sehr wichtig war. Aber – auch wenn mich die Sache nicht mehr losließ – eine Pilgertour über mehrere Monate, wie sollte das gehen? Anfang der 90er Jahre begann ich mit einer Gruppe von Kollegen aus einem Projektteam Bergwanderungen durchzuführen. Diese waren für mich, auch wenn ich es niemanden verraten habe, bereits Trainingseinheiten für den irgendwann geplanten Weg nach Santiago. Ab 1996 war ich Alleininhaber des Architekturbüros, da mein Partner in den Ruhestand wechselte. Nun lag die Verantwortung für die Projekte und meine sechs bis zehn Mitarbeiter alleine bei mir. Wie da nach Santiago kommen?

1998 wurde ich 50 Jahre alt. Statt groß zu feiern beschloss ich, mit meiner Frau nach Bilbao zu fahren und mir dort vor allem das damals neu erbaute Guggenheim Museum anzuschauen. Mein Geburtstag fiel auf den ersten Tag in Bilbao und meine Frau schenkte mir eine handgefertigte Jakobsmuschel aus Weißgold mit einer Halskette. Diese sollte mich immer an meinen Wunsch nach Santiago zu pilgern erinnern. Diese Halskette war und ist mein einziger Schmuck. Ich trage sie von diesem Tag an bis heute. So wurde ich von nun an jeden Tag, wenn ich im Bad in den Spiegel schaute, an meinen Wunsch erinnert. Zwischendurch hatte ich mir einen Stapel Bücher über die Pilgerwege und Santiago de Compostela zugelegt und las immer wieder mal darin. Mittlerweile war um den Jakobsweg der Hype, der immer noch anhält, ausgebrochen. Wo Anfang der 90er Jahre nur wenige Pilger unterwegs waren, zogen jetzt täglich ganze Scharen von Pilgern vorbei. Das Buch „Ich bin dann mal weg“ von Hape Kerkeling löste dann im Jahr 2006 eine wahre Pilgerlawine aus.

Das Architekturbüro führte ich recht erfolgreich. Als es aber um 2005 zu einem Auftragseinbruch kam, war ich erst recht gefragt um das Architekturbüro wieder auf die Spur zu bringen. Dies gelang mir, aber der Jakobsweg war in weite Ferne gerückt und ich war nicht sicher, ob ich ihn jemals gehen würde. Meine Einladungskarte zu meinem 60. Geburtstag 2008 war mit einem Pilgerstab geschmückt. So wollte ich zeigen, dass der Wunsch noch immer in mir schlummerte, dass ich noch nicht aufgegeben hatte.

Da ich mich gedanklich viel mit dem Weg beschäftigte, war mir inzwischen klargeworden, dass ich von zu Hause aus unbedingt zu Fuß nach Vézelay gehen wollte. Von Vézelay aus sollte es nach Le Puy-en-Velay gehen, einem weiteren Ausgangsort eines französischen Pilgerweges. Von dort über die Via Podiensis bis weit in den Süden, um dort auf die Via Tolosana zu wechseln und dann über den Somport-Pass auf den Camino Frances zu gelangen. Auf diese Weise wollte ich, vor allem in Frankreich, alle für mich bedeutenden Orte zu Fuß erreichen, die ich bis dato fast alle schon mal mit dem Auto besucht hatte.

2009 fuhr dann ein guter Freund von mir auf dem Liegerad vom Saarland bis nach Santiago. Dieser Freund hatte 2001 den Befund erhalten, dass sein Herz nur noch 35% seiner Leistungsfähigkeit habe. Er musste seinen geliebten Beruf als Lehrer auf der Stelle aufgeben und sah nur noch eine düstere Zukunft vor sich. Als er aber bemerkte, dass er im Saarland direkt am Jakobsweg wohnte, kam sein Lebenswille zurück. Er trainierte sein Herz, das immer leistungsfähiger wurde, trainierte seinen Körper und machte sich, nachdem er 50% Herzleistung erreicht hatte, auf den Weg – und tatsächlich, er schaffte es. Dies befeuerte den Wunsch in mir noch mehr, doch woher die Zeit nehmen? Schließlich hätte ich gut vier Monate Abwesenheit von meinem Büro einplanen müssen und das war einfach nicht möglich.

Irgendwann sah ich dann einen Fernsehbericht über Pilger auf dem Weg nach Santiago. Dieser zeigte Menschen, die auf verschiedene Art und Weise und aus unterschiedlichen Beweggründen nach Santiago gingen. Dabei waren auch eine Frau und ein Mann, die Probleme in ihrer Ehe hatten und den Weg dazu nutzen wollten, sich wieder näher zu kommen. Dies war nicht relevant für mich, dafür fand ich Folgendes spannend: Die beiden konnten sich ebenfalls nicht mehrere Monate am Stück Urlaub nehmen und gingen deshalb Jahr für Jahr immer nur zwei Wochen. Obwohl ich eine solche Herangehensweise bis dahin immer weit von mir gewiesen hatte, begann ich mich mit dem Gedanken anzufreunden. Aber dennoch verging Jahr um Jahr. Jeden Tag wurde ich durch meine Muschel an der Halskette an meine Pilgertour erinnert und wurde dabei älter und älter.

Endlich ist es soweit…

2013 wurde ich 65 Jahre alt und es wurde Zeit, an den Ruhestand zu denken. Ich wollte nicht so wie manche Architektenkolleg*innen bis zum Lebensende arbeiten und dabei übersehen, dass manche voller Ungeduld auf meinen Abgang warteten. Es war mir auch wichtig noch eine Zeit im Leben zu haben, über die ich selbst verfügen kann und in der mir kein Bauherr oder jemand anderes vorschreibt, was ich zu tun habe. Körperlich und geistig fühlte ich mich indessen für meinen Beruf noch total fit, lediglich mit der fortschreitenden Digitalisierung hatte ich manchmal Probleme. Ich beschloss, mich nach Nachfolger*innen für mein Büro umzusehen, da die Schließung eines Architekturbüros eine lange Zeit beansprucht und man sich nicht sicher sein kann, wie lange in einem solchen Falle Angestellte zu einem halten. Per Zufall lernte ich eine Architektenpartnerschaft kennen, die mir geeignet erschien mein Büro zu übernehmen, nachdem zunächst für eine Übergangszeit von zwei Jahren eine Büropartnerschaft eingegangen werden sollte – danach würde ich mich in den Ruhestand verabschieden. Es war alles beschlossen, der Vertrag fertig ausgehandelt, die neuen Partner*innen hatte ich den Mitarbeiter*innen bereits vorgestellt und die Partnerschaft sollte am 01.01.2014 beginnen. Dann erhielt ich kurz vor Vertragsunterzeichnung Anfang Dezember ein Anruf von einem der neuen Partner. Es wurde deutlich, dass dieser vor dem Schritt ein Architekturbüro meiner Größenordnung zu übernehmen massiv Angst hatte. Das wäre keine gute Basis für eine Zusammenarbeit gewesen. Also kündigte ich die noch nicht endgültig beschlossene Partnerschaft und stand nun ganz schön im Regen und alleine gelassen da. Mein Plan, zum Jahresende 2016 in den Ruhestand zu gehen, war damit hinfällig. Also verkündete ich in meinem Büro für 2014 einen Neuanfang, um meine Mitarbeiter*innen zu halten. Dies bedeutete für mich den Verzicht auf einen baldigen Ruhestand und dafür einige weitere Jahre aktiven Berufslebens.

2014 wurde ich 66 Jahre alt. Santiago ließ mir keine Ruhe. Anfang 2014 stattete ich einer Ausbaufirma einen geschäftlichen Besuch ab. Der Geschäftsführer dieser Firma hatte per Zufall in seinem Büro eine Frankreichkarte mit von ihm bereits zurückgelegten Jakobswegetappen hängen. Er war schon seit Jahren unterwegs. Da er aber den Weg zunächst als Gruppenpilgerreise organisiert hatte und immer nur ganz wenige Tage im Jahr pilgern konnte, war er noch nicht sonderlich weit gekommen. Die Wallfahrt wurde in dem Gespräch dann natürlich zum Hauptthema. Durch dieses Gespräch wurde ich wiederum mit dem Thema Etappenpilgerreise konfrontiert.

In den Wochen danach zog ich irgendwann nüchtern Bilanz und kam zu dem Ergebnis, dass ich wohl nie nach Santiago käme, wenn ich so weitermachte. An einen Ruhestand war selbst bei einer Schließung des Büros nicht vor 2017/ 2018 zu denken, da ja noch alle bereits begonnenen Projekte abgearbeitet werden mussten. Realistisch betrachtet wäre also 2018 das Jahr gewesen, in dem ich mich frühestens für eine viermonatige Pilgerreise von Zuhause verabschieden könnte. In diesem Jahr würde ich 70 Jahre alt werden. Ob das ein gutes Startalter für eine solche Reise wäre, daran hatte ich schon meine Zweifel.

So beschloss ich auf meiner Prioritätenliste Santiago ganz nach oben zu stellen und ab 2014 jedes Jahr zwei Etappen zu je zwei Wochen zu pilgern. Der übrige private Urlaub musste damit auf ein Minimum begrenzt werden. Vom Geschäftsführer der oben genannten Ausbaufirma, bekam ich Kartenmaterial zur Verfügung gestellt, das für die ersten 300 Kilometer, also bis in die Champagne, reichte. Diese Unterlagen studierte ich und konzipierte den ersten Teil meines Weges. Durch meine Bergtouren war ich für Wanderungen gut ausgerüstet. Ich brauchte lediglich einen neuen etwas kleineren Rucksack und ein Paar neue Schuhe. Diese Dinge wurden besorgt und ich war gerüstet. Ich hätte im Juni 2014 mit der ersten zweiwöchigen Tour anfangen können. Aber kaum war ich soweit, hatten wir im Büro eine so gute Auftragslage, dass daran wieder nicht zu denken war.

Der Test…

Aber ich wollte nun endlich auf Tour – irgendwie musste es klappen! So sagte ich eines Samstagabends, es war der 17. Mai 2014, beim Fernsehen zu meiner Frau, dass Sie sich keine Sorgen machen soll, wenn ich morgen früh nicht mehr zu Hause sei. Ich wäre dann auf dem ersten Stück meines Jakobsweges.

Von meinem Wohnort bis nach Saarbrücken, das am Jakobsweg nach Metz liegt, sind es ungefähr 16 km. Diese Strecke wollte ich nun wirklich zur Probe gehen, um zu testen, ob ich sowas überhaupt aushalte. Ich packte also morgens in der Frühe meinen Rucksack mit alten Kleidern, legte noch dicke Bücher obenauf um Gewicht zu erzeugen, und zog mit den neuen Schuhen an den Füßen los. Nach etwa einer Stunde merkte ich, dass mit meinen Schuhen etwas nicht stimmte. Ich zog die Schuhe aus, zog die Strümpfe glatt damit nichts reiben konnte, zog die Schuhe wieder an und es ging weiter. Als ich nach 2,5 Stunden in einem Vorort von Saarbrücken ankam, tat mir die rechte Ferse richtig weh. Aber sonst ging es mir bestens. Nach etwa 3,5 Stunden kam ich in Saarbrücken am Bahnhof an und fuhr von dort mit dem Zug nach Hause. Das erste Stück war geschafft.

Ich war nun überzeugt, dass ich den Weg nach Santiago bewältigen könne. In 3,5 Stunden mit Rucksack 16 km, das war nicht schlecht. Mir ging es sehr gut, ich war nicht kaputt und ich hätte noch locker zwei Stunden oder mehr gehen können, wenn nicht die Ferse so wehgetan hätte. Ich war also für das große Abenteuer gerüstet. Zu Hause musste ich dann feststellen, dass ich an der rechten Ferse eine große Blase hatte, die bereits aufgegangen war. Also Blasenpflaster drauf und heilen lassen. In der Woche darauf war am 29. Mai Christi Himmelfahrt und der Freitag bot sich als Brückentag an. Für den Montag oder Dienstag sollte es auch noch reichen. So machte ich mich dann an Christi Himmelfahrt auf, den Jakobsweg zu beginnen. Es war endlich soweit. Wie viele Jahre hatte ich auf darauf gewartet losziehen zu können. Nun begann es. Ich hatte aber keinem Menschen davon erzählt, da ich, wenn es doch nicht klappen würde, nicht als Versager oder Verlierer dastehen wollte.

Etappe 1 – 2014…

Saarbrücken - Liverdun,

ca. 150 Kilometer, vom 29.05. – 02.06.2014

Ich fuhr mit dem Auto nach Saarbrücken, stellte es auf meinem gemieteten Stellplatz am Büro ab und ging los. Nach wenigen Metern kam ich am Ludwigsplatz mit der Ludwigskirche, einem bedeutenden Barockensemble, vorbei. Die Eingangstür der Kirche stand offen. Mein ganzes Leben lang war ich noch nicht in dieser Kirche gewesen. Als Pilger wollte ich aber schon die am Weg liegenden Kirchen besuchen. Ich machte also den Abstecher zur Kirche, schaute mir diese an und nutzte die Gelegenheit, Gott um seinen Segen für meine erste Pilgertour zu bitten. Am Rande eines Saarbrücker Wohngebietes, bereits in der Nähe der französischen Grenze, sah ich dann mein erstes Jakobswegschild mit gelber Muschel auf blauem Grund. Dies war schon ein besonderes Gefühl. So kurz erst auf dem Weg und schon der Hinweis auf ein weit entferntes Ziel. Dieses Symbol sollte mich nun über weite Strecken begleiten, bis ich dann eines Tages in Santiago ankommen würde. Das war für mich schon berührend. Nachdem ich die bereits in Frankreich liegenden Spicherer Höhen erklommen hatte, wo im Jahre 1870 eine entscheidende und blutige Schlacht des Krieges 1870/71 stattgefunden hatte, antwortete ich natürlich mit Ja, als mich ein Spaziergänger fragte, ob ich auf dem Jakobsweg sei. Ich musste lachen, als er mich fragte wie lange ich schon unterwegs sei und ich sagte: „Seit heute!“

Auch an diesem historischen Ort, an dem sich Denkmale von drei Kriegen mit unnützem Gemetzel und Blutvergießen befinden, war ich noch nie gewesen. Sie spiegelten wider, wer jeweils den Krieg gewonnen und das Denkmal aufgestellt hatte – die Taten des Siegers wurden verherrlicht. Nur die neuesten Denkmale sind dann tatsächlich eher Mahnmale. Von den Spicherer Höhen aus konnte ich noch einen letzten Blick zurück nach Deutschland bis in meine Heimat werfen. Nachdem ich mich im Wald hinter Spichern etwas verlaufen hatte, kam ich in Forbach an die Kreuzkapelle. Diese ist eine gotische Kapelle aus dem Mittelalter mit einem sehr schönen Innenraum und einer wohltuenden Atmosphäre. Sowas hätte ich in Forbach nicht vermutet. Ebenso überraschte mich später der schöne Park um die Schlossruine, wo ich meine erste Pause machte. Die Gegend um Forbach ist geprägt von Industrie und dem ausgelaufenen Kohlebergbau. Einigen Ortschaften durch die man kommt, sieht man dies stark an. Sie sind noch schmutzig und heruntergekommen. Der Strukturwandel hat auch dort viele Probleme gebracht und geht mit sozialen Erschütterungen einher. Erst in den letzten Jahren ist viel Geld investiert worden um die Folgen des Strukturwandels abzufedern.

Mein erster Abend auf dem Weg…

Mein Hotel lag ca. zwei Kilometer abseits des Jakobsweges in Freyming-Merlebach. Der Weg dorthin führte an halbwegs begrünten Industriebrachen vorbei und im wirklich nicht schönen Freyming-Merlebach bin ich dann noch herumgeirrt, bevor ich mein Hotel fand. Abends war ich im Restaurant „Paradiso“ essen. Wegen des Kontrasts zwischen dem Namen und der unschönen Umgebung war ich gespannt, wie „paradiesisch“ mein erstes Pilgerabendessen wohl sein würde. Ich nehme es vorweg, das Essen war tatsächlich gut und auch das Bier hat geschmeckt. Aber was sehr interessant war: Das Lokal war riesengroß und fast komplett ausgebucht. Wie gut, dass ich sehr früh zum Essen gegangen war und deswegen noch problemlos einen guten Platz bekam, von dem aus ich die Eintretenden gut beobachten konnte. Fast alle waren dem Anschein nach Stammgäste und nach der herzlichen Begrüßung durch die Wirtin, ging es dann fast von Tisch zu Tisch und jeder und jede wurde begrüßt, geküsst und umarmt. So dauerte der Weg bis zum Tisch sehr lange und das Restaurant wurde voll und voller und die Begrüßungen lang und länger. So etwas habe ich außer am Tag danach auf meiner ganzen Pilgerreise nicht mehr gesehen.

Erste Umwege…

Am nächsten Tag habe ich dann mein erstes Training im Umweg gehen absolviert. Bei großer Hitze bin ich 2 Stunden in St. Avold im Kreis gelaufen, bis ich dann doch den Weg zu meinem nächsten Zielort Longeville de St. Avold einschlagen konnte. In Longeville wurde ich von einer Einheimischen angesprochen, ob ich auf dem Jakobsweg sei. Sie selbst sei schon von Speyer aus auf dem Pfälzischen Jakobsweg unterwegs gewesen. Das fand ich toll: Nach so kurzer Zeit schon von Leuten auf den Jakobsweg angesprochen zu werden und eine „Gute Reise“ gewünscht zu bekommen.

Mein nächstes Etappenziel war Metz. Dort hatte ich am westlichen Stadtrand ein Hotel gebucht, weil für kürzere Etappen keine Übernachtungsmöglichkeiten zur Verfügung standen. Bis nach Metz waren es weit über 40 Kilometer. Da dies für einen Fußmarsch zu weit war, wollte ich einen Teil der Strecke mit dem Bus fahren. Frühmorgens um kurz nach sechs bin ich los. Schon vor meinem ersten Ziel Bambiderstroff habe ich einen Umweg gemacht, weil ich nicht genau genug in die Karte geschaut hatte. In Bambiderstroff an der Kapelle am Ortseingang ist ein altes Steinkreuz mit einem im Sockel des Kreuzes eingemeißelten Jakobspilger zu sehen. Ein Hinweis auf den früher hier verlaufenden Jakobsweg. Durch Bambiderstroff bin ich dann „Im Frühtau zu Berge“ summend weitergegangen und dabei habe ich den Wegabzweig nicht beachtet und bin so auf den zweiten Umweg gekommen. So dauerte meine Gehzeit länger und erst nach über fünf Stunden fand ich in Raville vor dem Friedhof die erste Bank. Von dort sollte es nach einer Karte mit der ich meine Route geplant hatte, eine Abkürzung nach Courcelles-Chaussy geben, die es aber als Weg nicht gab. So musste ich mich durch ein beackertes Feld quälen und es war sehr heiß. Bei einem Heuschober, in dem auch noch eine Menge stinkender Mist gelagert war, konnte ich dann im Schatten eine Pause einlegen. Die Landschaft in Lothringen ist sehr schön, hat aber nur wenige Bäume. So musste ich bei dieser Pause an einen alten Pilgerbericht denken. In diesem steht sinngemäß, dass wer die Weite Lothringens gesund übersteht mit der Messeta in Spanien keine Probleme haben wird. Wie ich später feststellen konnte, ist dem tatsächlich so.

Da ich schon vor 14:00 Uhr in Courcelles-Chaussy ankam, hätte ich den Bus um 14:09 Uhr nach Metz nehmen können. Aber in meiner Unerfahrenheit wollte ich versuchen über eine Abkürzung doch noch bis nach Metz zu gehen. Bald schon danach tat mir alles weh. Die Füße vom Gehen, die Schulter vom Gewicht des Rucksacks und der Körper von der Hitze. In Pange habe ich mir bei einer Frau Wasser erbeten. Sie befüllte meine Wasserflasche mit eiskaltem Wasser. Woher sie dieses wirklich eiskalte Wasser hatte ist mir ein Rätsel, aber es tat mir sehr gut. Wegen meiner Müdigkeit nicht mehr so ganz konzentriert habe ich noch einen Falschweg von einem Kilometer gemacht bevor ich dann den Weg über die Landstraße in Richtung Metz ging. Nach neun Stunden Fußmarsch kam ich in Colligny an, von wo aus ich noch weitere zwei Stunden bis zum Hotel gebraucht hätte. Mir tat nun neben meinen ganzen Körper auch noch das Herz weh. Da ich nichts riskieren wollte, habe ich dann von dort ein Taxi gerufen und bin mit diesem nach Metz gefahren.

Zum ersten Male – eine gelbe Muschel

Ludwigskirche in Saarbrücken

Bildnis eines Pilgers an der Kirche in Bambiderstroff

Die Weiten Lothringens

Ein Hotelwechsel…

Das Hotel stand in einem Gewerbegebiet am östlichen Stadtrand von Metz. Das Umfeld war hässlich, Metz war weit weg und zum Abendessen war kein vernünftiges Restaurant zu sehen. So habe ich mir von der Freundin meines Sohnes, die perfekt Französisch spricht, von zu Hause aus ein Hotel in Metz buchen lassen und bin dann mit dem Taxi nach Metz hineingefahren. So konnte ich mir abends noch die schöne Altstadt von Metz anschauen, dort gut essen und mir am anderen Morgen zwei Stunden Fußweg durch die Vorstädte von Metz ersparen. Danach suchte ich mir meine Hotels sorgsamer aus und es passierte mir nicht noch einmal, dass ich für eine Nacht zwei Übernachtungen zahlen musste. Dennoch hatte es sich wirklich gelohnt, mich spontan anders zu entscheiden. Ich wollte mir nach meiner ersten wirklich großen Tagesetappe von etwa 40 Kilometern einfach etwas Gutes tun.

Ja so war das. Generell muss ich sagen, dass ich mir nach dem Buch und dem Film „Ich bin dann mal weg“ von Hape Kerkeling vorgenommen habe, nicht in Pilgerherbergen zu übernachten. Bestärkt wurde diese Absicht auch durch Schilderungen von Pilgern, mit denen ich in Kontakt gekommen war, und die von den Pilgerherbergen nicht allzu viel Gutes berichteten. Diese Plätze wollte ich außerdem gerne jüngeren Menschen überlassen, die darauf angewiesen waren. Ich war nicht so arm, dass ich mir die zumeist sehr einfachen und preiswerten Hotels nicht hätte leisten können. In meinem Alter wollte ich einfach meine Ruhe und Platz haben und anderen Menschen nicht mit meinen Schlafproblemen auf die Nerven gehen. Ich konnte zu Bett gehen wann ich wollte und bekam morgens mein Frühstück serviert.

An der Mosel entlang…

Am nächsten Morgen bin ich dann in Metz am „Canal de Moselle“ entlanggegangen. Dieser offenbar kaum noch befahrene Kanal ist so klar, dass man bis auf den Grund sehen kann. Die Wasserpflanzen wachsen wie Unterwasserwälder und um die Pflanzen schwimmen die Fische. Ein so tiefes und klares Gewässer hatte ich bis dahin noch niemals gesehen. Ebenso fiel mir auf, dass mich alle Leute sehr freundlich grüßten, die mir begegneten – gleich ob Jogger, Spaziergänger oder Hundeausführer. Dieses Stück Weg wird mir deshalb in guter Erinnerung bleiben. Bei Ars-sur-Moselle bin ich dann auf die andere Flussseite gewechselt. Der Weg führt dort durch ein weniger schönes Gebiet an der Bahnlinie entlang, aber auch an einem Schrottplatz vorbei, auf dem zum Teil wirklich alte Autos stehen. Es kommt einem fast so vor als würden diese dort für Filme vorgehalten.

Eine Stunde später, kurz vor Novéant sur Moselle, kam ich an einem Picknickplatz vorbei, an dem zwei Frauen eine Pause machten. Sie sprachen mich auf Französisch an. Nachdem sie bemerkten, dass ich sie nicht verstand, sprachen sie mich auf Deutsch an und fragten mich, ob ich ein Pilger sei. Meine für sie verblüffende Antwort war: „Ich weiß es nicht.“ Bisher hatte ich mir keine Gedanken darüber gemacht, als was ich denn nun durch die Welt zog. Als Pilger oder als Wanderer, der halt mal nach Santiago wandert? Was ist der Unterschied, was macht den Pilger aus und was den Wanderer? Ich beschloss, dies für mich in der nächsten Zeit zu klären.

Abends im Hotel in Vandiéres traf ich die beiden wieder. Beide waren schon den Camino Frances und andere Jakobswege gegangen, außerdem waren sie auch schon mehrfach in Santiago de Compostela gewesen. Die eine wohnte in Köln und war von dort losgegangen, und die andere kam aus Hannover und war in Trier gestartet. Irgendwo vor Metz hatten sie sich getroffen und gingen nun ein Stück des Weges gemeinsam. Sie hatten jedoch keine Eile und gingen in kurzen Tagesetappen. Für mich hingegen war der nächste Tag der letzte Tag meiner ersten Etappe. Es sollte bis Liverdun gehen. Ein ziemlich weiter Weg, doch wie weit tatsächlich, das wusste ich noch nicht.

Aus Vandiéres heraus führt der Weg steil nach oben und man hat einen weiten Blick ins Moseltal. Bei Vandiéres führt die TGV-Strecke von Frankfurt nach Paris über die Mosel. Als ich fast oben auf dem Berg war, fuhr unten der 8:00 Uhr TGV ab Saarbrücken über die Brücke. Zu diesem Zeitpunkt wusste ich noch nicht, wie oft ich in den nächsten Jahren mit diesem Zug von und nach Paris fahren würde, um von dort an meine Start- und Zielpunkte in Frankreich und Spanien zu gelangen. Mein heutiger Weg jedoch zog sich hin und war zu meinem Leidwesen über weite Strecken ohne Schatten. Er führte an Pont-à-Mousson vorbei, einer ebenfalls im Strukturwandel begriffenen Stadt mit ehemals viel Eisenindustrie.

Bei uns im Saarland war „Pondamussong“ ein Ort am Ende der Welt. Wenn wir als Kinder einen weiten Weg oder ein weite Entfernung beschreiben sollten, so hieß das: „Do muschte gehn bis Pondamussong!“ Wenn jemand beschreiben wollte, dass er an diesem Tage zum Beispiel beim Einkaufen viel gelaufen war, sagte er: „Ich bin heit gelaaf bis Pondamussong.“

Was auf den Jakobswegen in Frankreich ein wirkliches Problem ist: Es gibt keine vernünftigen Rastplätze, keine Bänke auf die man sich setzen kann, und wenn man in Gegenden ohne Wald unterwegs ist, gibt es auch keine Baumstämme oder Baumstümpfe die als Sitz dienen können. So war es mir auch an diesem Tag ergangen. Auf einer Gartenmauer sowie bei einem Waldarbeiterhäuschen auf einer ungemütlich hohen Bank mit kurzer Sitzfläche hatte ich Pause gemacht.

Das Frankreich seiner in den beiden Weltkriegen gefallenen Soldaten in jedem kleinen Ort mit einem Heldendenkmal gedenkt, weiß jeder, der sich in Frankreich ein wenig umgesehen hat. Hinter Pont-à-Mousson kam ich um Punkt 12 Uhr in dem Dörfchen Dieulouard an einer Kirche vorbei, deren Türen weit offenstanden, was in Frankreich eine Seltenheit ist. Ich ging also hinein, um Kerzen anzuzünden und kurz zu beten. Aber was sah ich da, an den beiden ersten Pfeilern im Kirchenschiff hingen Bomben, richtige Bomben. Was sollte das? Was sollten Bomben in einem Kirchenraum? Eine hing mit der Spitze nach oben, die andere nach unten. Nicht zu fassen. Ich konnte mir keinen Reim darauf machen. Als ich aber näher trat sah ich unter einer Bombe einen kleinen Wandzettel auf den erklärt wurde, dass diese Bomben im ersten Weltkrieg in die Kirche gefallen waren, aber nicht explodiert sind. Das ergab dann einen Sinn. In Saint-Georges, kurz vor Saizerais, kam ein Mann, der im Garten arbeitete, auf mich zu. Er fragte ob ich ein Pilger sei und wohin ich gehen wolle. Mit meinen gegen Null gehenden Französischkenntnissen, erklärte ich ihm, dass ich ein Pilger auf dem Weg nach Santiago sei, aber in Etappen. Er konnte es kaum glauben und er brachte mir richtige Hochachtung entgegen. Sowas motiviert!

In Liverdun angekommen, ging ich noch in die Kirche, um mich für die erste gelungene Etappe zu bedanken, und ging dann zum Bahnhof in der Unterstadt. Dort stand gerade wie bestellt ein Zug nach Nancy, so dass ich schon um 16 Uhr in Nancy ankam. Ich beschloss, Übernachtung und Stadtbesichtigung in Nancy entfallen zu lassen, und direkt nach Hause zu fahren. Dank günstiger Zugverbindungen war ich dann schon um 20 Uhr wieder zu Hause angekommen. Im Zug hatte ich den Tag nochmals rekapituliert und festgestellt, dass ich in 6,5 Stunden inklusive Pausen 28 Kilometer gelaufen war. Das war nicht schlecht und so schaute ich meiner zweiten Etappe, hoffentlich noch im selben Jahr, erwartungsfroh entgegen.

Der Schrottplatz mit den uralten Autos

Eine weniger gemütliche Rast auf einer Mauer – wie später so oft

Bomben in einer Kirche?

Das alte Stadttor von Liverdun

Etappe 2 – 2014

Liverdun - Joinville

ca. 95 km, vom 28.08. – 31.08. 2014

Kaum zu Hause angekommen, ging ich an die Planung dieser Etappe. Für die Etappenplanung ließ ich mir immer sehr viel Zeit, da ich mich ja in einen Zeitrahmen einordnen musste. Dafür war es wichtig, Start- und Zielorte zu finden, die mit Bus und oder Bahn gut zu erreichen waren. Zudem habe ich immer alle Hotels und Unterkünfte Monate im Voraus gebucht, damit mir am gewünschten Etappenziel auch immer ein Zimmer zur Verfügung stand. Das hatte den Nachteil, dass ich von meiner Route nicht abweichen konnte, aber den nicht zu unterschätzenden Vorteil mit Sicherheit einen Schlafplatz zu haben. Gleichzeitig war ich auch immer gezwungen, die geplanten Strecken zurückzulegen, wodurch ich immer in dem von mir geplanten Ablauf blieb.

So fuhr ich am 28.08.2015, morgens um 5:30 Uhr mit dem Zug von zu Hause ab, um schon um 9:15 Uhr meine erste Etappe von Liverdun aus zu starten. Die Fahrt ging teilweise direkt am Weg meiner ersten Etappe entlang, so dass ich diesen nochmals gut nachverfolgen konnte. In Liverdun ging ich in die Kirche, um den Segen für diesen Teil meiner Pilgertour zu erbitten, und habe mich dann durch das alte Stadttor an der Mosel entlang über die lothringischen Höhen nach Toul aufgemacht. Unterwegs kam ich durch ein sehr sauberes Dorf, Villey-Saint-Étienne, das man früher so in Lothringen nicht vorgefunden hätte, und an einem Fort der Maginot-Linie als Zeuge von zwei unseligen Kriegen vorbei. Diese Bunker, die immer noch bedrohlich wirken, können einem auch heute noch Angst einjagen. Was müssen Soldaten, die jung waren und das Leben noch vor sich hatten, beim Anblick solcher Dinger wirklich gefühlt haben? Mit diesen Gedanken kam ich dann schnell voran, wobei der Weg direkt vor Toul sich gut eine Stunde lang, sehr langweilig dahinzieht.

Eine Stadt mit gotischer Kathedrale…

In Toul gibt es nicht viel zu sehen. Außer der Kathedrale, die wie damals üblich von Kirche und Adel gebaut worden war, ist noch die Kirche Saint-Gengoult von Interesse, da diese als Gegenstück zur Kathedrale von einer damals sehr selbstbewussten Bürgerschaft errichtet wurde.

Die Kathedrale ist vom frühgotischen Innenraum her, bis auf eine zusätzlich eingebaute Renaissancekapelle, nicht besonders beeindruckend. Aber die Westfassade hat es in sich. In einem Cafe gegenüber der Kathedrale habe ich eine Stunde lang gesessen und mir nur die Fassade angeschaut. So hat diese mich beeindruckt. Im Gegensatz dazu ist der Innenraum von Saint Gengoult etwas behaglicher, weil nicht so groß wie derjenige der Kathedrale; aber der Kreuzgang mit seinen spätgotischen Gewölben und sehr feingliedrigen Maßwerken ist schon sehr beeindruckend. Die Maßwerkfenster des Kreuzganges haben mich an die Elfenwelt in dem Film „Herr der Ringe“ erinnert Eine bleibende Erinnerung an Toul wird sein, dass mir die Kassiererin im Lidl, obwohl ich nur in Wanderkleidung, also ohne Rucksack und ohne Stöcke, dort eingekauft hatte, „Bon Voyage“, gewünscht hat.

Was mir bei meiner Pilgertour immer wieder aufgefallen ist und auch jetzt wieder, wo ich das alles aufschreibe: Es ist das Gefühl, dass ich sehr schnell Abstand von zu Hause gewonnen habe. Wie an diesem Tag in Toul. Morgens bin ich von zu Hause weggefahren und am Nachmittag in Toul war es mir, als sei ich schon tagelang unterwegs. Es mag sein, dass dies damit zusammenhängt, dass ich kurz nach der Abfahrt zu Hause in einem anderen Land war. Dass dort eine andere Sprache gesprochen wurde, die Dörfer und Städte anders aussahen als zu Hause, und dadurch ein großer Abstand entstand. Schon früher, wenn wir mit der Familie nach Frankreich in Urlaub fuhren, begann für uns der Urlaub nach einer halbenStunde Fahrzeit schon direkt hinter der Grenze. Warum auch immer, jedenfalls war es tatsächlich so.

Kathedrale in Toul - die Westfassade

St. Gengoult – Maßwerkfenster des Kreuzganges

Vaucouleurs – Chapelle Jeanne d`Arc

ich fühlte mich am ersten Tag genau so alleine oder auch nicht, wie am fünften Tag, auch wenn ich mich erst am Morgen von meiner Frau verabschiedet hatte.

Auf den Spuren von Jeanne d`Arc…

Am nächsten Mittag hatte ich Vaucouleurs im Tal der Maas erreicht. Unterwegs hatte ich an der Kirche von Rigny-Saint-Martin, welche gleichzeitig auch Friedhofskapelle war, eine „schöne“ Pause gemacht.

„Schöne“ oder „gute“ Pausen, waren für mich die Pausen, in denen ich gemütlich essen und trinken konnte, und mich danach noch für 15 – 20 Minuten auf einer passenden Gelegenheit hinlegen konnte. Ich versuchte immer, alle zwei bis drei Stunden eine Pause einzulegen, dies gelang nur selten, weil es oft keine Pausengelegenheit gab. Wenn ich mich auf die Erde niederließ, musste ich entsprechend müde sein und mir sehr gewiss sein, keine Bank zu finden.

Aufmerksame Pilger hatten hier darauf hingewiesen, dass man das Gießwasser für die Blumen vorbehaltlos genießen könne, da es Trinkwasser sei. Dies war ein guter Tipp, von dem ich auch Gebrauch gemacht habe. Vorher kam ich an blühenden Sonnenblumenfeldern vorbei, die sehr schön anzusehen waren. Auf der Brücke über die Autobahn, hätte ich nach einer kurzen Pause fast meine Wanderstöcke stehen lassen, wenn sich meine Hände nach zwanzig Metern nicht so leer angefühlt hätten. Am Wege standen hier und dort Mirabellenbäume. Leider waren aber die Mirabellen, für deren Schnaps Lothringen so bekannt ist, bereits abgeerntet, so dass ich mich nicht mit Mirabellen stärken konnte. Vaucouleurs ist der Ort, von dem Jeanne d‘Arc zu ihrer großen Mission Frankreich von den Engländern zu befreien, aufgebrochen war. An dem Platz, auf dem früher die Burg stand, steht nun die Chapelle Sainte-Jeanne-d‘Arc. An deren Kirchenfenstern und besonders in einer Ausstellung, die in der Kapelle zu sehen war, konnte man gut sehen, wie diese junge Frau für die Kriege Frankreichs instrumentalisiert wurde – und das nicht nur damals, sondern bis in die Neuzeit hinein.

In einer Pizzeria mit dem Charme einer belgischen Frittenbude, wo mich zu meiner Überraschung die Tochter aus dem Hotel bedient hat, habe ich zu Abend gegessen. Anschließend bin ich noch etwas herumgelaufen und wollte früh gegen 20:30 Uhr auf mein Zimmer gehen. Doch mit dem Schlüssel konnte ich das Türschloss nicht öffnen. Das junge Paar, das sich um das Hotel kümmerte, habe ich offenbar bei einem Tête-à-Tête gestört und um Hilfe gebeten. Doch die beiden konnten auch nichts ausrichten. Sie haben dann die Eltern der jungen Frau, zu Hilfe gerufen – die Eltern waren die Hotelbesitzer. Erst nach 22:00 Uhr war die Tür dann endlich aufgegangen und ich konnte be“unruhigt“ schlafen gehen.

Am anderen Morgen gab es im Hotel kein Frühstück und so bin ich mit einem Pfirsich als Morgenspeise losgegangen. Oberhalb der Porte de France, durch die Jeanne d‘Arc Vaucouleurs verlassen hatte, wurde ich von einem Mann angesprochen, der im VW-Bus vorbeifuhr. Er war von Beruf Elektroingenieur und hatte mal eine kurze Zeit im Schwarzwald gearbeitet, wodurch er ein paar Brocken Deutsch konnte. Jetzt war er Hobbyhistoriker und bereitete gerade ein Fest anlässlich der Befreiung von den Deutschen im Jahre 1944 vor. Wir brachten unsere gegenseitige Freude über die Deutsch-Französische Freundschaft zum Ausdruck. Raul, so war sein Name, hat mich dann als Beispiel für einen Pilger für die Lokalzeitung fotografiert und mir mit tiefer Frömmigkeit den Pilgersegen gegeben. Das hat mich tief beeindruckt.

Im Wald hinter Montigny-les-Vaucouleurs war der Weg schlecht ausgeschildert. Bereits zu Hause hatte ich mir über dieses Wegstück viele Gedanken gemacht und bin dann doch, entgegen meiner ursprünglichen Absicht, den Pilgerweg gegangen. So war der Weg durch den Wald einfacher, auch wenn ich wegen der ungenauen Beschreibung des Weges in meinem Pilgerführer etwas vom Pilgerweg abgekommen war. Aber auch dieser Pilgertag war wieder ein Tag, an dem ich keine Pause machen konnte, weil nirgendwo eine geeignete Pausenmöglichkeit vorhanden war – auch nicht in den beiden Ortschaften, durch die ich kam. So war ich dann schon nach fünf Stunden Fußmarsch an meiner nächsten Station angekommen, in Gondrecourt-le-Château. Unterwegs hatte ich in dem kleinen Dorf Abainville in der Église Saint-Martin, die zu meiner Überraschung geöffnet hatte, Kerzen für die gesamte Familie angezündet.

Ein kleines Venedig…

Gondrecourt-le-Château liegt am Ornain, einem kleinen Fluss in einem heute noch sehr versumpften Tal. Es ist ein Ort, der sich mit dem Wasser arrangiert hat, der in und am Wasser gebaut ist und Wasser als gestaltendes Element in seinem Ortsbild nutzt. Gondrecourt-le-Château hat mich, zwar stark verkleinert, aber doch etwas an Venedig erinnert. Beim Erstellen meiner ersten Reiseskizze bin ich von einer Radfahrergruppe, bestehend aus zwei älteren Paaren, auf das Woher und Wohin angesprochen worden. Zwei von ihnen hatten auch schon eine Pilgerreise von ihrem Heimatort aus nach Santiago de Compostella unternommen. Sie waren zwei Monate unterwegs gewesen. Solche Begegnungen haben mir dann immer wieder zusätzlichen Auftrieb gegeben und die Pilgerreise wurde dadurch etwas einfacher. Was aber nicht einfacher wurde, waren meine Sprachprobleme. Abends im Hotel hätte ich ohne die Hilfe einer jungen Frau, die etwas Deutsch sprach, kaum mein Essen richtig bestellen können. Ich musste etwas tun. So beschloss ich die Winterpause zu nutzen, um Französisch zu lernen.

Die Angst vor der ersten großen Tagesetappe…