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Inge lebt entspannt und zufrieden, in einer Endlosschleife von Lebensfreude. Das denkt sie jedenfalls, bis sich ihr Umfeld und ihr Körper nachteilig verändern. Freunde verlieren ihre Unternehmungslust, sprechen von Krankheiten und beschäftigen sich mit Vorbereitungen auf eine Hilflosigkeit, die vielleicht eintreten könnte. Immer öfter besucht sie Trauerfeierlichkeiten, ihr Umfeld lichtet sich. Inge findet sich alleine auf Veranstaltungen, Reisen, Vernissagen wieder. Ihre Blutwerte, ihre Knie, ihre Augen geben Anlass zum Handeln. Die Entwicklung lässt sich nicht übersehen, sie befindet sich im Sog des Alterns. Das lässt sich wohl nicht aufhalten? Warum nicht akzeptieren und das Beste daraus machen. Inge ist auf der Suche nach guten Gründen, warum alt werden interessant ist, sie geht einfach vorwärts. Eine positive Einstellung zahlt sich für sie aus. Kreativität ist ein Schlüssel zur Entwicklung ihrer Persönlichkeit und Lebensfreude, sie fühlt sich jünger als sie ist.
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Seitenzahl: 147
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Mitten im Leben
Klar im Vorteil
Limes
Zuversicht
Die Busreise
Der Tanzkurs
Der Erfolg
Freunde
London
Das Atelier
Michael
Die Ausstellung
Alles anders
Wieder daheim
Neue Stationen
Bosheit und Berechnung ziehen immer den Kürzeren, irgendwann. Diese Erkenntnis hat sich bestätigt.
Inge Liebhard richtet sich danach, sie ist bemüht um Gradlinigkeit im Umgang mit anderen Menschen und wählt ihre Freunde mit Bedacht. Sie kann ihre Menschenkenntnis einsetzen, die sich reichlich mit den Lebensjahren angesammelt hat.
Inge fühlt sich bestens aufgehoben in ihrer Situation. Sie hat alles im Griff, denkt sie jedenfalls. Gute Freunde um sie herum schaffen eine Wohlfühlatmosphäre, sie hat sich ein behagliches Nest geschaffen und bleibt immer am Ball, zumindest, was ihre Interessen anbelangt. Kulturelle Highlights, schöne Reisen, gesellige Runden und erholsame Spaziergänge mit ihrem Hund bilden eine runde Sache, die Inge zufrieden macht.
So soll es sein, so soll es immer bleiben! Diesem Wunsch steht eigentlich nichts im Weg.
Inges Realität gestaltet sich satt und zufrieden in einer behaglichen Endlosschleife. Die Zeit schreitet träge, unbemerkt langsam vor sich hin, was keine Rolle zu spielen scheint. Inge wähnt sich auf der sicheren Seite, bei den Gesunden, Selbstbewussten, Zufriedenen.
In ihrem Bewusstsein befindet sie sich bei den leistungsfähigen Menschen im mittleren Alter, die das Leben in seiner Fülle vor sich haben.
Eigentlich fühlte sie sich bisher immer bei den Jungen, es bereitet ihr jedoch keinen Stress, nun in die Gruppe der „Reiferen“ gerückt zu sein. Das ist aber eine billige Illusion, ab 70 ist man allmählich bei den Alten. Ihr Empfinden und die Realität driften auseinander, zwar unmerklich langsam, aber immer deutlicher. Zumindest an der Jahreszahl lässt sich nicht rütteln.
Sie ist eine tatkräftige Frau mit kurzen braunen Haaren. Einzelne silberne Härchen blitzen gelegentlich auf, stören aber den Eindruck der Dunkelhaarigkeit noch nicht. Das höchste Gut in Inges Bewusstsein ist die Freiheit im Handeln.
Eigentlich hat sie ein beschauliches Dasein, sie lebt alleine, allerdings mit Hund. Der Collie Mischling bleibt immer an ihrer Seite, es ist eine Hündin, die von Natur aus treu und dankbar ist. „Ein sehr guter Hund“, erklärt Inge gerne.
Sie ist relativ sportlich, zumindest was ihre Spaziergänge anbelangt. Ihre Kniegelenke werden immer empfindlicher und die Ausflüge in den Wald immer kürzer. Es gibt sehr gute Tage, doch etwas seltener auch schlechte, an denen Inges Knie schneller schmerzen. Sie führt es auf das Wetter zurück, womit sie vielleicht recht hat. Sie bleibt einfach in Bewegung und neugierig.
Schon nach dem Aufstehen führt sie der erste Weg in ihren Garten hinaus in die kühle Morgenluft. Einige Arbeiten lassen sich dann gut erledigen, die verblühten Rosen abschneiden, die Malven an Stützstäbe binden, oder einige Blüten für den Tisch abschneiden. Zufrieden genießt sie dann ihr Frühstück, ihre liebste Mahlzeit.
Sie möchte es nicht leugnen, zu ihrem ungetrübten Glück fehlt ihr nur ein liebevoller Partner. Aber, es geht auch ohne, das ist ihr bewusst. Sie tröstet sich auch mit der Erkenntnis, dass Einsamkeit einem unpassenden Gefährten vorzuziehen ist.
Sie möchte es systematisch angehen und plant eine Bekanntschaftsanzeige in der regionalen Zeitung. Eine sorgfältige Formulierung des Textes sollte zum Erfolg führen und die passende Auswahl von Bewerbern hervorbringen.
Der Entschluss für das Inserat fällt ihr schwer, Wochen vergehen, bevor sie sich einen Ruck gibt. „Wer nicht wagt, der nicht gewinnt“, sagt sie zu sich selbst und bemüht sich nach Kräften, einen guten Text in das vorgefertigte Formular der Zeitung zu tippen.
Tage der Vorfreude beginnen. Wird ein netter Freund in ihr Leben treten? Das Inserat erscheint planmäßig. Inge kontrolliert, ob es auch fehlerfrei abgedruckt ist. Jetzt muss nur noch die Post abgewartet werden, sie hat die Bekanntschaftsanzeige per Chiffre aufgegeben.
Diese Anzeigen erscheinen immer in der Wochenendausgabe, Zuschriften würden die Zeitung frühestens am Montag erreichen. Erst dann werden sie den Inserenten zugestellt und sind ab Dienstag zu erwarten.
Beschwingt und zufrieden geht Inge ihrem Alltag nach, mit der Gewissheit, einen Versuch gestartet zu haben, um das Leben noch runder zu machen.
Es fühlt sich an wie ein Roulette, man setzt auf eine Zahl und wartet auf die Chance. Es könnte der große Gewinn sein, diese Hoffnung macht den Reiz aus. Insgeheim ist sie sich vollkommen klar, es wird lediglich ein Schlag ins Wasser, die Wellen glätten sich wieder, alles ist wie zuvor.
Doch der Spieler hofft auf eine neue Chance, auf ein neues Glück.
Für Inge soll es eine einmalige Sache sein, sie will den Markt der zeitungslesenden Singles abklopfen, ob da nicht ein Mann ist, der genauso fühlt wie sie und sich dann sogar meldet. Leider kommen nur Personen in Frage, die diese Zeitung abonnieren und dann auch noch die Anzeige lesen.
„Ja, ein Versuch ist es wert.“ Wenn sie sich auch insgeheim peinlich vorkommt, hier nach Männern zu suchen.
Es ist wie es ist, der Dienstag ist da, der Postbote wirft einen Brief von der Zeitung in den Kasten.
Der Umschlag birgt vier Zuschriften in sich. Inge lässt die Roulettekugel im Kopf tanzen, vielleicht ist ein Treffer dabei?
Solche Zuschriften outen sich oft schon mit Äußerlichkeiten. Die Wahl des Briefumschlags und vor allem die Schrift lässt auf den Inhalt schließen.
Sie hat die Wahl zwischen einem Brief mit kritzeliger Schrift auf einem kleinen Kuvert, einem hochwertigen Umschlag mit Maschinenschrift, einem brauenen Kuvert mit schwungvoller Handschrift und einem langen Umschlag mit altdeutscher Schrift.
„Nur keine Vorurteile“, sie fängt mit dem kleinen Brief an. Eine nette Zuschrift eines älteren Herrn, der sich gemeinsame Unternehmungen wünscht. Spaziergänge, Kaffee trinken, Gespräche und Fernsehabende sind seine Intuition. Offen beschreibt er seine Verhältnisse und gibt den Namen und seine Adresse an. Richard heißt er und entspricht so gar nicht den Vorstellungen von Inge.
Sie fragt sich ernsthaft: „Hat er meinen Text denn gar nicht gelesen oder verstanden?“ Egal, sie wägt ab, ob sie freundlich antwortet oder sich einfach nicht meldet. Es hängt von den weiteren Zuschriften ab, wie sie mit den Bewerbern verbleibt.
Sie schraubt ihre Erwartungen herunter, als sie den nächsten Brief öffnet. Es ist der maschinengeschriebene. Sauber verfasst beschreibt der Absender sein Anliegen, gibt allerdings nur seinen Vornamen preis.
Ein höherer Beamter sei er und lebe in guten Verhältnissen. Seine Ehefrau wäre verstorben, daher ist er auf der Suche. Es lässt sich zwischen den Zeilen lesen, er will eine Frau für die Nachfolge seiner gewohnten Gattin, für ein gepflegtes Leben in seinem Haus, als seine Rundumwohlfühlversorgung. Dieses Leben sollte auch für eine neue Frau erstrebenswert sein. Mit dem Schlusswort: „Wenn Sie meine Zeilen ansprechen, dürfen Sie sich melden.“
Das war viel zu viel für Inge, sie liest mit Abneigung und lässt das Schreiben angewidert in den Papierkorb gleiten.
Wie kommt der Mann dazu, auf ihre Anzeige zu schreiben?
Ihr Text in der Zeitung lässt keinerlei Schlüsse auf derartige Antworten zu. Diesen ersten Zuschriften kann ein fehlendes Interesse an ihrer Person attestiert werden. Die Entscheidung ist gefallen, sie wird nicht antworten.
Inge kontrolliert ihren Text, den sie für die Zeitung entworfen hat. Es steht klar und deutlich:
„Lebensfrohe, dynamische Frau, 70 Jahre, unabhängig, reiselustig, sucht einen Gefährten mit weltoffenem Lebensstil und Interesse an Kunst und Kultur, einen Begleiter für Konzerte, Austellungen und Individualreisen.
Warum reagieren Personen, die Inge in keinster Weise ansprechen wollte? Es wird daran liegen, dass sie auf jedes Inserat antworten, in der Hoffnung, einen Treffer zu landen.
Nach diesen beiden ersten Lektüren braucht Inge eine Pause und freut sich auf einen Spaziergang mit ihrem Hund. Sie fühlt sich schlecht, der Kontakt mit Männern aus ganz anderen Welten schlägt ihr aufs Gemüt.
Sie kennt doch diese Milieus bestens aus ihren Lebenserfahrungen.
Dieser kleinkarierte, brave Mann, dessen Welt aus Spaziergängen und der Bewältigung des Alltags besteht, ist mit seinem Leben zufrieden und meint es von Herzen gut, wenn er ihr einen Brief schreibt.
Ihre Verwandten mütterlicherseits waren so gestrickt wie dieser Richard.
Inge betrachtet diese braven Verwandten wie ein Naturereignis und kennt sich bestens aus mit derartigen Lebensumständen.
Die bloße Vorstellung, in so eine Welt eintauchen zu müssen, sei es nur, um ein nettes Gespräch mit Richard zu führen, drücken auf ihre Stimmung.
Dann noch als Nachschlag der Brief des Paschas in Form eines höheren Beamten, der eine Bedienstete sucht. Die Berührungspunkte mit diesen Personen sind ihr unangenehm.
Sie fühlt sich nicht gut, es war keine so brilliante Idee, ein Inserat aufzugeben.
Vor Monaten hat sie es schon einmal probiert, sie müsste jetzt wissen, was da abgeht, mit dem Klientel der Zuschriftswilligen.
Aber Inge wollte das Roulette noch einmal drehen.
Unterwegs mit ihrem Hund begegnet sie netten Menschen. Die kurzen Plaudereien bringen sie wieder ins Gleichgewicht.
Daheim wird sie ihre Zuschriften weiterlesen, vielleicht passiert doch noch eine positive Überraschung.
In den nächsten Tagen trudeln noch 15 Antworten auf ihr Inserat ein.
Lediglich einem Mann will sie antworten. Es ist Ottmar, er gibt sich aufgeschlossen und kultiviert. Seine Schrift ist schwungvoll, das könnte ein interessanter Mensch sein.
Sie will es wagen und ein Treffen vereinbaren. Das passiert dann an einem Dienstag im Park, in einem sehr schönen Café.
Der aufgeschlossene, unkonventionelle Ottmar erscheint in Sandalen und kurzen Hosen. Obenrum hat er ein T-Shirt gewählt, die Aufschrift „Hogwarts“ prangt über einem floralen Muster.
Inge ist verunsichert, gibt sich aber freundlich und strebt einem freien Tisch zu. Ottmar folgt und wird bestaunt. Ein aufgeweckter Bub stellt sich ihm bewundernd in den Weg. „Mama schau, der alte Mann hat ein Harry Potter T-Shirt, genau das wollte ich immer haben.“
Die verstörte Mutter zieht ihr Kind zur Seite und Ottmar strahlt über das ganze Gesicht. Anscheinend freut er sich, dass sein Shirt gleich Aufmerksamkeit erzielt.
Inge hofft, sie übersteht das Kaffeetrinken mit Ottmar und bemüht sich um Konversation.
So ein Treffen kostet unnötige Kraft, von der Zeit ganz zu schweigen.
Deprimiert tritt sie nach einer Stunde den Rückzug an.
„Warum tu ich mir das an?“, denkt sie bei der Heimfahrt im Auto.
Die Idee mit dem Inserat war ein voller Schlag ins Wasser.
Es verhält sich genauso wie beim Roulette, die Bank gewinnt immer.
In ihrem Fall ist es die Zeitung. Der Einsatz war gering, darum kann sie das Erlebnis abhaken, die Wunden heilen mit der Zeit von selbst.
Alle Zuschriften entsorgt sie im Kachelofen, damit keinerlei Zeugnis von ihren Eskapaden übrig bleibt. Es fühlt sich für sie an, wie Staub abklopfen. Inge atmet erleichtert durch, sie ist heilfroh, mit diesen Männern nichts zu tun haben zu müssen.
Wieder was dazugelernt, Zufriedenheit scheint das Zauberwort zu sein.
So einfach ist es dann doch nicht, mit dem inneren Gleichgewicht. Ein fader Beigeschmack bleibt zurück.
Egal, Inge hat einen Termin beim Augenarzt und muss lange im Wartezimmer sitzen. Ihrer Freundin Monika wurde der Graue Star diagnostiziert, hoffentlich bleibt sie davon verschont. Doch ihre Sicht in der Nacht wird immer schlechter, das könnte ein Hinweis sein.
Ihr gegenüber sitzt ein recht sympathischer Mann, man kommt ins Gespräch.
„Das wäre jetzt ein Glücksfall, wenn sich daraus eine Beziehung entwickeln könnte,“ denkt Inge insgeheim. Sie gibt sich von ihrer besten Seite, ist gut gelaunt und aufgeschlossen. An ihrer Bereitschaft sollte es nicht liegen. Man muss reif sein für eine Bekanntschaft, soviel steht fest. Inge ist überreif, bemerkt sie gerade. Das lebhafte Gespräch begeistert auch ihr Gegenüber. Immer mehr Patienten werden aus dem Wartebereich gerufen. Sie bleiben zu zweit zurück. Wenn das kein Zeichen ist!
Die Zeit drängt, bald wird die Gelegenheit zu Ende sein.
Unerwartete Bekanntschaften sollen die besten sein, man trifft zufällig jemanden und es passt. Ein Idealfall, mit etwas Glück kann es schnell gehen, oder nie passieren.
Der sympathische Kandidat schlägt ein Treffen vor, Inge zeigt sich sehr interessiert.
Er heißt Thomas und beginnt, von sich zu erzählen. Es ist heute sein zweiter Arztbesuch, er war schon beim Kardiologen, sein Herz hat ernste Schwächen und braucht neue Medikamente.
Morgen muss er zum Orthopäden, Hüfte und Knie bereiten Schmerzen.
Seine Augen haben den Grünen Star, der soll jetzt behandelt werden, sein Gesichtsfeld ist bereits eingeschränkt.
Zum Glück wird Inge aufgerufen, sie winkt Thomas freundlich zu und hofft, ihm in der Praxis nicht mehr zu begegnen.
„Man glaubt es nicht, der liebe Mann will eine Krankenschwester für seine Altersbeschwerden.“ Sie schlägt sich ihre Bekanntschaftswünsche aus dem Kopf, optimale Zufälle treten nicht ein.
Vielleicht findet dieser Thomas Gefallen daran, sich gegenseitig mit den Krankheiten zu unterstützen, vielleicht stellt er sich so seinen Lebensabend vor?
Es gelingt ihr, die Praxis ohne weiteren Kontakt zu verlassen. Schnell strebt sie ihrem Auto zu und fährt heim, den Grauen Star hat sie dabei.
Es sollen neue Linsen eingesetzt werden.
Inge will sich erkundigen, ob diese Operationen am Auge hilfreich sind.
Bisher hat sie nur Gutes gehört.
Dennoch, es ist eine Alterserscheinung, die Linsen sind eingetrübt und lassen nicht mehr genug Licht durch, das Sehen wird schlechter. Das macht sich beim Autofahren in der Nacht bemerkbar und schränkt deutlich ein.
Eben war sie doch kerngesund und belastbar, sie fühlt sich jung, muss sich dennoch mehr und mehr damit abfinden, zu den Alten zu gehören.
Die vergangene Zeit verflog wie ein Wimpernschlag, das soll es jetzt gewesen sein? Wird sie die nächsten Jahre damit verbringen, einigermaßen fit zu bleiben?
Bevor sie ins Grübeln kommt, besinnt sie sich auf ihre doch recht komfortable Situation. Auf ihre Freiheiten.
Warum soll sie sich verunsichern lassen? Sie ist gesund, zumindest weitgehend, sie ist unabhängig und selbständig. Warum nicht die Vorteile ihres Alters genießen? Es gibt genug davon.
Sie kann Inserate schalten, wie sie will. Sie kann Bekanntschaften machen, soviel sie will. Sie kann ausschlafen, oder früh zu arbeiten beginnen. Alles wie es passt, ihren Mittagsschlaf positioniert sie nach Belieben.
Sie bekocht sich selbst und wählt gesunde Zutaten nach ihrem Geschmack aus. Das ist bekömmlich und sehr vorteilhaft.
Es ist Sonntag und Inge hat Gäste zu sich gebeten. Zu spät und mit Schrecken fällt ihr ein, die eingeladenen Leute trinken keinen Alkohol, sie kann doch nicht nur Leitungswasser anbieten.
Aus gesundheitlichen Gründen gibt es bei ihr keine Limonaden oder Säfte und die Geschäfte haben geschlossen.
Da bleibt nur die Norma im Bahnhof, dort war sie schon lange nicht mehr. In der Hoffnung, dieses Geschäft gibt es noch, macht sie sich auf den Weg. Die Norma heißt jetzt Edeka, Autos stauen sich an der Ecke des Bahnhofs, in dem der Laden untergebracht ist. Daran erkennt sie sofort, es ist geöffnet. Sie überwindet den Stau und bekommt schnell einen Parkplatz. Diese Parkplatzregelung funktioniert perfekt, 30 Minuten kosten 1,20 Euro, auch am Sonntag. Wer keinen gültigen Parkschein in der Windschutzscheibe liegen hat, bekommt sofort einen Strafzettel in schwindelerregender Höhe. Die Parkwächter müssen pausenlos vor Ort sein, niemand entgeht ihnen.
Auch Inge hat schon einen 60 Euro Strafzettel bezahlen müssen und hütet sich, den Laden zu betreten, ohne vorher einen Parkschein zu lösen.
Alles gut, die Hürde ist genommen. Sie folgt den Wegweisern in das Geschäft und wundert sich, im Ausgangsbereich stauen sich die Menschen. Sie will ja nur Limonade und Spezi kaufen und sucht die Regale ab. Erst ganz hinten im Laden gibt es einen Durchgang zu einer Getränkeabteilung. Dort sind Unmengen Trinkbares aufgereiht, zwischen bunten Lichtern, in endlosen Variationen.
Dieser Laden ist offensichtlich auf junges Publikum ausgelegt. Noch nie hat sie derartig viele Softdrinks in ungeahnten Sorten gesehen.
Fruchtsäfte werden vorgetäuscht mit Getränken aller Farbvarianten, vor allem orange, gelb, grün und rot. Die Hälfte der Regale hat Inge schon abgesucht und nichts Brauchbares gefunden.
Junges Partypublikum scheint sich hier einzudecken, am Bahnhof, dem Supermarkt mit den durchgehenden Öffnungszeiten.
Wo sie auch hinschaut, es steht Zero drauf. Beim Durchlesen der Inhaltsstoffe ist es eindeutig, alles mit Süßstoff, für Inge ein Unding.
Regalweise gibt es Spezi und Cola, alles Zero.
„Was die Menschen so alles trinken, man glaubt es nicht.“
Neben ihr steht ein junger Mann, den fragt sie ungeniert, sie will Spezi mit Zucker. Er versteht sofort, geht etwas in die Knie und gibt ihr das ganz normale Spezi. So einfach war das, Inge sieht sich überfordert.
Das Klientel im Bahnhofs-Edeka unterscheidet sich deutlich von den Kunden anderer Geschäfte. Was hier an Getränken gewünscht wird, ist sehenswert.
Wieder was dazugelernt, jetzt muss sie nur noch die Kasse finden. Sie kommt zum Ausgang, an dem sich die Menschen stauen. Ein rundlicher Herr mit Mundschutz fordert sie freundlich auf: „Madam, bitte an die Kasse drei.“ Mit einer netten Geste weist er ihr den Weg, vorbei an Kasse eins und zwei zu ihrem Platz an der drei. Diese Kassen sind an einer Theke aneinandergereiht wie Bankschalter, es gibt sechs Stück.
Alles geht reibungslos schnell. Ein ausgeklügeltes Bezahlsystem in einem langen schmalen Raum funktioniert wie am Schnürchen.
Inge findet dieses Einkaufserlebnis amüsant, der Bahnhofsladen ist eine eigene Welt. Fast wie ein Sonntagsabenteuer.
Gut gelaunt steigt sie wieder in ihr Auto und macht für die Nächsten den Parkplatz frei. Es funktioniert einwandfrei, man sollte sich nur auskennen.
Der Parkplatzbetreiber macht ein tolles Geschäft, sie bezahlt 1,20 Euro für 10 Minuten. Wenn es gut läuft, löhnen noch zwei oder drei Parker diesen Preis in einer halben Stunde, an ein und demselben Parkplatz.
Trotzdem kommt sie gerne hier her, wenn sie am Sonntag wirklich etwas braucht. Inge macht dann einfach diesen Ausflug in die „Bahnhofswelt“ mit dem unkonventionellen Klientel.
Es ist ein Stück Unabhängigkeit, nicht in Bedrängnis zu kommen, wenn einmal etwas vergessen wurde.
Die Freiheit ist es, was Inge an ihrer Situation so gut gefällt. Tun und lassen zu können was ihr beliebt, ist ein erhebendes Gefühl. Sie will etwas daraus machen. Die Möglichkeiten sind gigantisch, sie liegen brach links und rechts am Weg herum. Sie zu sehen macht Mut, sie zu verwirklichen bringt Zufriedenheit.