Bärlauch - Rita Lell - E-Book

Bärlauch E-Book

Rita Lell

4,6

Beschreibung

Die alte Stadt war jahrzehntelang arm und verschlafen, bis die Ansiedelung einflussreicher Unternehmen die Grundstückspreise in die Höhe treibt. Bauunternehmer kommen auf die Idee, mit Neubauten in besten Wohnlagen sehr viel Geld zu verdienen. Der Trick, die Politik einzubinden, steigert ihre Effektivität ins Gigantische. Es entsteht eine Immobilienmafia, der sich niemand entziehen kann. Iris Moser wohnt in einer beschaulichen, grünen Ecke des Städtchens, eine Tatsache, die Investoren magisch anzieht. Iris ist eine taffe Frau, mit großer Lebenserfahrung. Sie wähnt sich sicher und lenkt ihr Schicksal souverän. Doch schleichend verändert sich ihre Umgebung und zieht sie in einen Abwärtsstrudel hinein, der sie vernichten will.

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Inhaltsverzeichnis

Kapitel Eins

Kapitel Zwei

Kapitel Drei

Kapitel Vier

Kapitel Fünf

Kapitel Sechs

Kapitel Sieben

Kapitel Acht

Kapitel Neun

Kapitel Zehn

Kapitel Elf

Kapitel Dreizehn

Kapitel Vierzehn

Kapitel Fünfzehn

Kapitel Sechzehn

Kapitel Siebzehn

Kapitel Achtzehn

Kapitel Neunzehn

Kapitel Zwanzig

Kapitel Einundzwanzig

Eins

Die Stadt war alt, klein, verwinkelt und die Handwerkskunst alter Meister konnte an vielen Ecken bewundert werden. So schlummerte sie vor sich hin, bis sie von großen Unternehmen entdeckt wurde und Immobilienhaie sich mit der Stadtverwaltung verbündeten um ganz viel Geld zu machen.

Iris Moser wohnte in dieser kleinen Stadt und hatte vier Nachbarn, deren Anwesen an ihr idyllisches Grundstück angrenzten. Alles ältere Menschen, die hier ihr Leben verbrachten und in einfachen Häusern mit großen Gärten lebten. Diese beschauliche Ecke war besonders ruhig, besonders grün, fast ländlich. Untereinander hatten die Bewohner des Viertels nur gelegentlich Kontakt, man kannte sich, hielt ab und an ein Pläuschchen, jeder lebte sein Leben in einer schier nicht endenden Zeitabfolge.

Bis schleichend, schrittchenweise alles anders wurde.

Es begann mit höherer Gewalt, wenn man „Tischerlrücken“ so nennen will.

Helga Scholze war eine lebensfrohe, besonders freundliche und gesellige Nachbarin von Iris und wohnte im westlich angrenzenden Grundstück. Sie hatte viele Freunde, genoss ihr Leben in vollen Zügen, verreiste oft, lud gerne zu Kaffeerunden ein und schätzte Gesellschaften auf ihrer Terrasse am Abend. Helga besuchte regelmäßig einen Damenstammtisch, dort lernte sie Elli Münter kennen. Elli begeisterte sich für Esoterik und war eine versierte Geisterbeschwörerin, sozusagen ein gutes Medium zu den Bewohnern der „anderen Welt“, der sogenannten Zwischenwelt.

Die vornehmlich älteren Stammtischdamen, die ihre Interessen austauschten, waren fasziniert von Elli und ihren Fähigkeiten. Mit sensationslüsternen Gefühlen tastete sich die eine oder andere Stammtischfreundin an Elli heran und nahm dann auch an einer Sitzung teil, die Elli Münter bei sich zuhause abhielt.

Iris Nachbarin Helga wollte zuerst nicht so recht an die Geschichten glauben, sie hielt Abstand zu den Veranstaltungen mit Verstorbenen, konnte ihre Neugierde allerdings kaum zügeln und lauschte den Schilderungen mit gruseligem Erschauern und nahm dann doch an einer Sitzung teil.

Sie berichtete eifrig von der Geisterbeschwörung bei ihrem Stammtisch. Die Zuhörerinnen lauschten gebannt und wurden ausnahmslos blass um die Nasen. Die Münder blieben ihnen offen stehen, als Helga vom Flackern der einzigen Glühbirne berichtete und es als ernsthaft glaubwürdige Tatsache versicherte, dass sich das Tischchen bewegt hätte.

„Es fängt ganz harmlos an, alles muss sorgfältig vorbereitet sein. Wenn in der Glühbirne das Licht flackert und das Tischchen anfängt zu rücken, dann steigt die Aufregung ins Unerträgliche“ erzählte Helga den Freundinnen. „Mein verstorbener Mann Willi war im Raum anwesend, das konnte ich genau spüren. Das Tischchen hat die Buchstaben seines Vornamens umkreist und das Sterbedatum.“

Der Raum wurde von brennenden Kerzen stimmungsvoll schaurig erleuchtet, nur eine einzige schwache Glühbirne war eingeschaltet.

Elli Münter war ein Profi und hielt die Geisterbefragungen in ihrem Gartenhäuschen ab, das sollte seinen guten Grund haben. Wer wollte durfte das Bild eines Verstorbenen mitbringen, das auf dem umlaufenden Regal über dem großen Tisch aufgestellt wurde. Ellis verblichener Mann thronte immer über dem Tisch und blickte intensiv auf die illustre Runde herab. Elli hatte ein Bild ausgewählt, auf dem ihr Ehemann jeden Betrachter intensiv anzuschauen schien.

Damit sich die befragten Geister mitteilen konnten, wurde ein Papier auf dem Tisch ausgebreitet. Elli schnitt es von einer großen Rolle ab und beschriftete es an den Rändern mit Zahlen und Buchstaben. Darauf stellte man das Rücketischchen, ein kleines, dreibeiniges, leichtes Tischchen aus Buchenholz, das an einem der Tischbeine einen Bleistift eingearbeitet hatte.

Die Spannung stieg, als alle Teilnehmer zwei Finger auf das kleine Tischchen legen mussten, und das Herbeirufen eines Geistes begann.

Der begehrte Gruselschauer lief den Damen den Rücken hinunter, eine pikante Mischung aus Sensationsgier und Angst bemächtigte sich ihrer.

Von diesen Erzählungen konnten die Damen nicht genug bekommen und beklagten ihre schlaflosen Nächte nach dem Genuss der Geschichten und interessierten sich mehr und mehr für das „Tischerlrücken“.

Helga Scholze war derart fasziniert und wollte viel mehr davon. Darum blieb es nicht aus, sie organisierte eine Beschwörungsrunde bei sich zuhause.

Sie hatte einen geeigneten Tisch, auf den das Rücketischchen mit dem Bleistiftfuß, gestellt werden konnte. Sechs Personen durften teilnehmen. Es bildete sich ein illustrer Kreis um den Esstisch von Helga. Jeder musste zwei Finger auf das Tischchen legen, damit der Spuk beginnen konnte.

Man ging absolut sorgfältig vor, machte alles genau nach Anweisung und konnte die seltsamsten Geschichten darüber weitererzählen. So hatten die Damen lange etwas davon, die Schilderungen stießen auf wachsendes Interesse. Die Begeisterung steigerte sich zu einer Gruselserie, die den Damenstammtisch aufwühlte.

Iris verlor die Szene aus den Augen, einige der Frauen erschienen ihr doch sehr hysterisch. Sie hatte zuviel Respekt vor den überirdischen Erscheinungen. Man kann auch behaupten, sie fürchtete sich vor derartigen Begegnungen.

Es war ein sonniger Herbsttag, sozusagen ein Bilderbuchtag im goldenen Oktober, Iris schwenkte Zwetschgenknödel in brauner Butter, um sie auf der Terrasse zu verspeisen. Auf dem Grundstück ihrer Nachbarin Helga fuhr ein Möbelwagen vor und Container wurden aufgestellt. Iris sprang neugierig auf und schaute über den Zaun. Ein leiser Schrecken durchfuhr sie, als sie die gardinenlosen Fenster sah. Durch die weit geöffnete Haustüre wurden Helgas Möbel von starken Männer herausgetragen.

Es musste etwas Schreckliches geschehen sein. Iris dachte an einen Todesfall, dabei hatte sie ihre Nachbarin vor kurzem noch in einem erfreulichen Gesundheitszustand gesehen. Ein plötzlicher Schicksalsschlag, eine schlimme Katastrophe, was immer dahinter steckte, Iris wollte sich sofort Klarheit verschaffen.

Ein Anruf bei Elli könnte Aufklärung bringen, was sich auch bestätigte. „Hast du das nicht mitbekommen?“ erzählte Elli aufgeregt. „Helga hat wieder eine Geisterbefragung in ihrem Wohnzimmer abgehalten und neugierige Freundinnen eingeladen die freche Fragen an den anwesenden Geist stellten und sich über die Sache lustig machten. Die Situation ist aus dem Ruder gelaufen und hat Helga aus ihrem Haus vertrieben.“

Es verhält sich nämlich so, dass bei einer Geisterbeschwörung strenge Disziplin herrschen sollte. Alle Teilnehmer müssen dem Ernst der Situation gerecht werden, demütig und konzentriert sein, sich keinesfalls lustig über das Geschehene machen und das Geistwesen nicht bedrängen. Ihm zu persönliche Fragen nach einem Sterbedatum, über kommende Krankheiten anwesender oder abwesender Personen zu stellen, ist zu vermeiden. Alle Teilnehmer müssen sich mit einfacher Konversation zufrieden geben, wie etwa der Frage nach der Identität des Geistes, seinem Befinden in der anderen Welt und unaufdringlich versuchen, etwas Verwertbares zu erfahren.

Ein Geist kann gerufen werden, wenn sich alle Teilnehmer unvoreingenommen darauf einlassen, zwei Finger auf das Tischchen legen, ruhig abwarten, ob sich etwas ereignet, wie zum Beispiel das Flackern der Glühbirne. Der Geist darf nur vorsichtig kontaktiert werden, er gibt seine Antwort durch das Rücken des Tischchens, das Buchstaben oder Zahlen umkreist und mit dem angebrachten Bleistift markiert. Alle lesen dann angespannt die Wörter, die sich aus den umrandeten Buchstaben zusammen setzen. Vielleicht ergibt sich daraus der Name des anwesenden Überirdischen oder zufriedenstellende Antworten auf gestellte Fragen. Jeder Teilnehmer hofft natürlich inständig, einen lieben Verstorbenen zu treffen, wenn auch nur als anwesender Geist.

Schilderungen über Sitzungen mit Tischchenrücken berichten immer wieder von einem Entgleiten der Situation, dass man an einen bösen Geist kommen kann, der einem dann aufsitzt und nicht mehr zu entfernen ist.

So eine Entgleisung ist der Nachbarin Helga wohl in einem so krassen Fall passiert, dass sie nicht mehr in ihrem Haus wohnen wollte, sofort zu ihrer Tochter gezogen ist und das Haus verkauft hat.

Die Sitzung vor gut einem Monat war zum Albtraum geworden. Eine Teilnehmerin machte sich über die Situation lustig, andere wollten einen Schwindel erkennen und aufklären. Der herbei gerufene Geist ließ das Tischen kreisen. Die Frage nach seinem Namen führte zu dem Wort „diabolos“, was, wie sich später herausstellte, „Teufel“ bedeutete. Die Frauen fügten die Buchstaben zusammen und formulierten DIABOLOS. Einige der Damen kicherten und wiederholten das Wort. Daraufhin fing das Tischchen an, immer schneller zu kreisen, der Bleistift schwang Linie um Linie, das Papier zerriss.

Die Frauen zogen eine nach der anderen ihre Finger zurück. Helga zelebrierte die üblichen Beendigungsrituale, aber das Tischchen kreiste immer wilder. Die Frauen sprangen auf und verließen den Raum. Das Tischchen wütete weiter und konnte durch nichts gestoppt werden.

Helgas Freundin Ingrid hatte vorsorglich immer ein Fläschchen Weihwasser dabei, das sie aus Lourdes mitgebracht hatte und beschüttete das Tischchen damit. Es half nichts. Erst als das Papier fast schwarz und durchlöchert war, platzte die Glühbirne und der Spuk hörte auf.

Der Schreck war bei Helga so groß, dass sie sofort das Haus verließ und erst am nächsten Tag mit ihrer Tochter samt Schwiegersohn zurückkam.

Ein merkwürdiger brenzlicher Geruch schwebte im Raum. Die Tischplatte war ruiniert, die Fassung der Glühbirne verschmort. Ein schreckliches Gefühl machte sich breit, die Folgen der entgleisten Tischerlrück-Aktion waren nicht zu übersehen. Das zermalte Papier, das verschüttete Weihwasser, Tochter und Schwiegersohn standen fassungslos da. Helga packe ihre wichtigsten Sachen zusammen und wollte keine Nacht mehr in diesem Haus verbringen.

Ein Käufer fand sich schnell.

Zwei

Dumm gelaufen, dachte sich Iris und meinte, dass eine gewisse Hysterie der beteiligten Frauen zu der Eskalation geführt hatte. Etwas Genaues wusste man nicht. Insgeheim glaubte sie schon an die Möglichkeit, mit Verstorbenen in Kontakt zu treten. Iris war jedenfalls heilfroh, dass sie sich nicht von der Faszination dieser Sitzungen zur Teilnahme verleiten ließ. Sie lebte im Hier und Jetzt, war nicht geplagt von Ängsten über die Zukunft. Sie hatte in ihrem Leben schon manches Hindernis überwunden, war daran sogar gewachsen, wie ihr im Nachhinein klar wurde. Aus Erfahrung sah sie ihrer Zukunft optimistisch entgegen, stand „überirdischen Mächten“ gelassen gegenüber, fühlte sich sogar im Einklang mit ihnen und wollte daran nicht rühren.

Ihre Zwetschgenknödel wären kalt geworden, aber ihr Hund hatte allen Mut zusammen genommen, war auf den Gartentisch gesprungen und hat alles aufgefressen. Der Teller war sauberst ausgeschleckt. Iris ärgerte sich nicht darüber, denn sie war gerecht und fand den Fehler bei sich. Um den Pudel zu scheren, breitete sie immer ein Wachstuch auf dem Gartentisch aus und ließ den Hund auf den Tisch springen, damit sie sich mit der Schur leichter tat, das Tier sozusagen auf Augenhöhe hatte. Das schonte den Rücken und gefiel auch dem Hund. Weil er überschwänglich gelobt wurde, wenn er zum Scheren auf den Tisch sprang, machte es Amigo immer gerne und sprang auf den Tisch um gelobt zu werden. Ein klassischer Erziehungsfehler, gestand sich Iris ein. Sie weiß, die süßen Knödel auch noch längere Zeit alleine zu lassen, war zuviel für den Pudel. Sie hätte den Teller in Sicherheit bringen müssen.

Was solls, sie machte sich einen Kaffee und aß ein Stück Kuchen vom Vortag. Sie war bescheiden und vor allem zufrieden. Sie schaffte sich eine Umgebung, in der alles stimmig war. Ihre Freunde, ihr Garten, ihr Haus, ihre Hunde, alles passte in ihr Leben. Probleme, Stress und Ungereimtheiten wurden vermieden oder beseitigt, ihr Leben war eine Quelle der Freude. Man kann auch sagen, sie liebt alles, wie es war, was nicht passen wollte, wurde möglichst geändert.

Unter diese Logik fiel auch ihre Ehe, die hatte sie hinter sich gelassen als sie einsehen musste, dass eine Harmonie wohl nie wieder zu erreichen war. Manches kann man ändern oder anpassen, aber was nicht geht, kann nicht erzwungen werden. Der Preis für ihre Zufriedenheit war vielleicht hoch, Iris schien das nicht so zu empfinden, denn das Resultat gab ihr Recht. Ein anderer Weg zur inneren Ausgeglichenheit wäre nicht möglich gewesen, zumindest nicht mit einem Mann an ihrer Seite, der ihr das Leben schwer machen wollte und ihr immerzu seine Überlegenheit beweisen musste.

Eine gute Freundin, eine Psychologin attestierte ihm eine „Narzisstische Persönlichkeitsstörung“. Ein Charakter, der nach der Midlife Crisis nicht mehr zu ertragen war, wie sie schmerzlich feststellen musste. Nicht, dass sie nicht alles versucht hätte, wieder eine Harmonie herzustellen zwischen sich und ihrem Ehemann. Er ging auch leidenschaftlich gerne darauf ein und machte ihr Hoffnung, dass er an gemeinsamen Zukunftsplänen interessiert sei, auf ihrer Seite stünde und sie immer gerne unterstützte. Wunderbar, sie fasste immer wieder Mut, und mit ihrer Tatkraft brachte sie gemeinsame Projekte voran, organisierte Urlaubsfahrten, schmiss große Einladungen und Familienfeste. Er überließ das Planen, Aufbauen, Kinder erziehen und Organisieren ihr ganz alleine, pflegte derweilen seine Leidenschaften, wie das Golfspielen und häufige Ausflüge in Spielcasinos und versäumte es nicht, ihr ab und an kräftig in den Rücken zu fallen. An einem Reiseziel angekommen, wollte er eigentlich woanders hin, setzte es auch durch, um festzustellen, dass auch dieses Ziel nicht seinen Vorstellungen entsprach.

Er traf Fehlentscheidungen, auch auf seine Kosten, im wahrsten Sinne des Wortes. Es kostete seinen Urlaub, sein Geld und seine Lebensqualität, Hauptsache, er konnte seine Frau verunsichern, ausbremsen, ihr das Gefühl geben, sie habe alles falsch gemacht, er wäre unzufrieden. Er sprach wochenlang nichts mehr, ging noch öfters in seine Spielhallen, versuchte am Golfplatz als Platzhirsch aufzutreten, was ihm auch bestens gelang. Sie blieb stark, ließ sich nicht unterkriegen, stemmte sich immer wieder aus dem Sumpf, schlug neue Ziele vor. Er sprang ihr hilfreich bei, unterstützte sie, bis er dann wieder zuschlug.

Seine Seitenhiebe kamen ganz zufällig und unauffällig, aber heftig. Iris wusste bis heute nicht, ob er das mit Absicht plante, oder ob sein Wahn, sich über sie zu erheben, ihn einfach automatisch antrieb. Wie es auch sei, der Effekt war derselbe, sie lernte daraus und besann sich auf ihre eigenen Kräfte, die sie auch zu ihrem Nutzen einsetzen konnte.

Je mehr sie ihre Erkenntnis umsetzte, umso schlimmer waren seine destruktiven Neigungen. Bis sie ihn einfach gewähren ließ.

Sie unterließ alle Versuche, ihn einzubeziehen, gemeinsame Pläne zu realisieren, sich über sein Benehmen zu ärgern. Das brachte ihn aus dem Takt. Er konnte sich nicht mehr einbringen und nannte sie ein autistisches Kind, denn er verstand nicht, warum seine Spielchen plötzlich keine Wirkung mehr entfalteten konnten und er bei nichts mehr einbezogen wurde. Er durfte kommen und gehen, wie er wollte. Es wurde nicht mehr bemerkt.

Je mehr sich Iris über die Situation im Klaren war, umso besser ging sie damit um, umso schlechter war sein Part. Er griff dann zu rabiateren Mitteln und sperrte ihr alle Konten, um sie mit dem fehlenden Geld für den Haushalt und für die Kinder aus der Reserve zu locken. Iris musste anwaltliche Hilfe in Anspruch nehmen. Dieses Verhalten brachte ihm die Bekanntschaft mit dem Recht ein und machte ihn hilflos und bodenlos böse. Die Scheidung nahm ihren Lauf.

Als Iris den Entschluss zur amtlichen Trennung gefasst hatte, wurden ihre Kräfte frei, die sie zur Rettung ihrer Ehe eingesetzt hatte und sie konnte sich auf ihre Zukunft konzentrieren.

Eine Reise in Norwegens grenzenlose Natur mit seinen Bewohnern, die fast alle am Meer im eigenen Häuschen wohnten, tat ihrer Seele gut, wenn sie sich auch wieder auf das bunte Leben in ihrer Heimat freute und mit frischer Tatkraft zurück kam.

Ihre Lebensfreude machte ihren Noch-Ehemann noch destruktiver. Mit seinem Auszug aus dem gemeinsamen Haus wollte er sie bestrafen. Seine Wutattacken waren damit weit weg von Iris. Den dreijährigen Scheidungsmarathon empfand sie wie die schlechte Inszenierung einer Komödie. Sie kannte die zerstörerischen Auftritte ihres „Noch-Ehemannes“, die ein Ende der Streitigkeiten unmöglich machten, er wolle sogar die Scheidung zerstören. Wieder war es ihre Freundin, die ihr dringend anriet, das Spielchen zu beenden, denn dieser Mann würde sie bis an ihr Lebensende verfolgen. Mit der List, auf ihr zustehende Vorteile zu verzichten, gelang es ihr schließlich, das Schauspiel überraschend zu beenden. Schnell war das Scheidungsurteil verlesen, die Sitzung beendet, als der nun Geschiedene zu weiteren Tiefschlägen ausholen wollte, nun aber sogar von seinem eigenen Anwalt besänftigt wurde.

Es war vorbei, er sprach kein einziges Wort mehr mit ihr, was allerdings keine Veränderung bedeutete, denn er hatte Jahre zuvor auch kein einziges Wort mit ihr gesprochen.

Eine neue Weite, eine neue Unabhängigkeit ließen sie auf einer Wolke schweben. Sie hatte alle Grantlerei hinter sich gelassen und empfand ein Glücksgefühl der inneren Ruhe. So sollte es immer bleiben, welchen Weg sie auch einschlagen möge, egal welche Entscheidungen sie träfe.

Allerdings hat der Mensch sein Schicksal nicht so ganz in der Hand. Die Umwelt kann nur bedingt beeinflusst werden. Bei Iris begann sich einiges zu verändern.

Ein Pilz befiel ihren Lieblingsbaum, das Nachbargrundstück von Helga wurde verkauft. Der neue Besitzer war ein Bauträger, was zu schlimmsten Befürchtungen Anlass gab.

Iris ließ sich nicht von ihrem Freiheitstraum abbringen, sie pflanzte neue Bäume, legte Rosenbeete an, lud sich gute Freunde ein. Auf eine harmonische Umgebung mitten in der Stadt legte sie größten Wert, ihr Garten glich einem Urwald, er war ein Paradies für Vögel, für sie und ihre Hunde.

Drei

Helga Scholze, die weggezogene Nachbarin von Iris, hatte sich in einer Seniorenresidenz eingekauft. Sie wollte Sicherheit und Versorgung im Alter, obwohl sie keinesfalls hilflos war. Sie hatte ihr schönes Haus in ein Alten-Apartment eingetauscht.

Nicht so ihr Nachbar im Osten, ein frühpensionierter Mann, der sich mit 89 Jahren noch bester Gesundheit erfreute, aber leider seine Ehefrau begraben musste. Alleine wollte er nicht bleiben, darum war in seinem Garten bald eine Frau mittleren Alters zu sehen, die Gemüse anbaute und die Gartenarbeit erledigte. Iris dachte sich, er wird sich eine Pflegekraft ins Haus geholt haben, vielleicht eine Rumänin oder Ungarin.

Im Viertel erzählte man sich allerdings, der Eichenseer Paul hätte schon wieder eine „Neue“. Iris konnte es zuerst nicht glauben, aber als sie das Paar händchenhaltend spazieren sah, wurde ihr klar, dass das Gerede wohl stimmen musste. Die verstorbene Frau von Paul hieß Anna und war eine liebe Nachbarin, die gerne zu einem Plausch an den Zaun kam. Iris erinnerte sich an ihr letztes Gespräch, als ihr Anna mitgeteilt hatte, dass sie bald an ihrer unheilbaren Krankheit sterben müsse. Das gesamte Erbe solle an ihren Mann gehen, das hatte sie noch so verfügt. Ihre eigenen Geschwister und Verwandten sollten leer ausgehen, Kinder gab es keine. Die Verwandtschaft ihres Mannes kümmerte sich dann auch fürsorglich um den Hinterbliebenen, den sie ja reich beerben würden. Bis die fremde Frau auftauchte.

Anfangs arbeitete die „Fremde“ mit tief ins Gesicht hereingezogenem Hut im Garten, mähte den Rasen, pflanzte Tomaten. Dabei machte sie den Eindruck, sich im wahrsten Sinne des Wortes bedeckt halten zu wollen. Mit der Zeit war sie immer öfter zu sehen und immer normaler gekleidet. Die „Fremde“ hatte das Haar zu einer Hochfrisur gesteckt und erweckte den Anschein einer durchaus adretten Frau. Es drängte sich die Frage auf, was macht diese Frau bei dem inzwischen 91-jährigen Mann nebst zweistöckigem Eigenheim und großem Garten.

Was solls, dachte sich Iris, soll er seine Freude haben, jeder wie er will. Als Paul eine Leiter an seinen großen Nussbaum stellte, trank sie gerade Tee mit einem Freund, der sie oft besuchte, denn sie hatte ein offenes Haus. Iris wollte ihrem Nachbarn nicht nachspionieren, aber ein 91-Jähriger auf einer Leiter zog eine gewisse Aufmerksamkeit, die eigentlich in Fürsorge begründet war, auf sich. Noch eigenartiger war es, dass Paul mit einer Bohrmaschine den Baum bearbeitete. Als der Baum daraufhin seine Äste immer mehr hängen ließ, bis sie fast den Boden erreichten, kam Iris der Verdacht, Paul könnte Löcher in den Baum gebohrt haben um Pflanzengift hineinzuschütten.

Warum sollte Paul so etwas tun. Wollte er den großen Baum los werden, er wusste doch, dass es die Baumschutzverordnung der Stadt nicht erlaubte, den Baum zu fällen. Starb der Baum ab, dürfte er entfernt werden. Zu derartigen Befürchtungen passte auch seine Frage, ob Iris Nussbaum im letzten Jahr auch so wenige und so kleine Nüsse getragen habe. Er dachte sogar laut darüber nach, ob er den Baum lieber fällen werde, denn er hatte schlechte Nüsse und produziere zuviel Laub, mit dem er gar nicht mehr fertig werde. Der große Nussbaum von Paul machte jedenfalls einen traurigen Eindruck.

Pauls Verwandtschaft ließ sich auch nicht mehr sehen, hatte sich etwas in der Erbfolge geändert? Auch wer nichts Böses denkt, kann sich des Eindrucks nicht erwehren, dass die „neue Frau“ eventuell nicht nur an Paul Eichenseer interessiert war. Die Entfernung des riesigen Nussbaums könnte ihr gelegen kommen, denn es entstand viel Platz für einen möglichen Neubau. Auch ist in Betracht zu ziehen, dass Paul bald auch nicht mehr im Wege stehen würde.

So schlecht konnte die Welt doch nicht sein. Iris bilde sich die Vorgänge nur ein, weil sie eine zu rege Phantasie habe, bedachte ihr teetrinkender Freund und erzählte weiter von den Beobachtungen in seinem Bekanntenkreis. Vom besten Freund, der zum 70. Geburtstag seiner Ehefrau eine Reise nach Marokko plante, aber für sich alleine. Weiterhin von seinen Nachbarn, deren hyperaktiver Sohn das Haus angezündet hatte. Schließlich von einem reichen Freund, der eigentlich ein Hochstapler war, sich eine große Gruft in Traunstein gekauft und inzwischen bezogen hatte.

Eine perverse Welt, fand Iris, brühte einen frischen Tee auf und fühlt sich wohl in ihrem Paradies, das geprägt war von Harmonie, Ruhe und Zufriedenheit. Sie organisierte häufig Einladungen, auch für „Freunde“, die nie einluden. Sie genoss die Offenheit und Großzügigkeit, die sie mit ihrem Lebensstil gewonnen hatte. Es gab nicht nur weibliche Besuche, auch männliche waren immer willkommen, wenn sie auch andere Absichten verfolgten. Iris machte ihnen schnell klar, dass sie Gefallen an Geselligkeit hatte, aber keine Beziehung eingehen wollte. Ihre Unabhängigkeit und Freiheit musste respektiert werden. Selbstbewusste Frauen, die souverän alleine leben, sind in dieser Stadt immer noch ungewöhnlich. So Manchem musste diese Möglichkeit erst einmal bewusst werden.

Eine Beziehung zu finden, die eine Ergänzung und Bereicherung bringt, hielt sie für extrem schwierig, eigentlich unmöglich. Es müsste ein großer Zufall sein, einen Mann zu finden, der zu ihr passte, sie nicht einengte und verbog, denn daran hätte sie auf keinen Fall Gefallen finden können. Freundinnen, die Iris seit der Schulzeit kannten, lachten über ihre Schilderung, wie sie sich einen Partner vorstellen würde. „Ja, ja, wir stricken dir Einen“, spotteten sie, was Iris nicht aus der Fassung brachte, denn es musste ja wirklich nicht sein, noch einen passenden Mann in ihrem Alter zu finden. Iris hatte sich längst damit abgefunden.

Doch es gab Ludwig, einen evangelischen Pfarrer, den sie lange kannte und still verehrte. Er war verheiratet, sensibel, weltoffen, ein echter Frauenversteher. Ihre Beziehung war freundschaftlich und beruhte auf gegenseitiger Sympathie, nichts weiter. Sie trafen sich immer gerne, wenn Ludwig eine Veranstaltung ausrichtete und davon gab es viele, kulturelle Abende der Gemeinde, Konzerte, Ausstellungen, Reiseberichte und Diskussionen. Es war gut so wie es war.

Ihr väterlicher Freund Hermann besuchte sie fast jeden zweiten Tag und versorgte sie mit Neuigkeiten aus wichtigen Kreisen der Gesellschaft und war immer zur Stelle wenn Iris etwas brauchte womit er weiter helfen konnte. Das waren Kontakte zu Behörden und Verbänden, seltene und wichtige Bücher, die Iris nicht kaufen musste, denn Hermann Wagner besaß alle und brachte das Gewünschte sofort vorbei, wenn sie Bedarf anmeldete. Gute Freunde zu haben, tat gut und war wichtig.

Ihre Freizeit verbrachte Iris vor allem mit Freundinnen, alten Freundinnen aus der Schulzeit, neuen Freundinnen aus Stammtischen und zufälligen Bekanntschaften. Es fand sich immer eine Begleitung, um ins Kino zu gehen oder für ein gemütliches Frühstück im Cafe. Andere Freundinnen boten sich für einen Stadtbummel an oder für lustige Abende in Kneipen.

Zwei Wochen vor Weihnachten beobachtete Iris ihren Nachbarn Paul, wie er mit einer Kettensäge, die sich im Geäst des Nussbaums festgefressen hatte, auf der obersten Stufe einer Haushaltsleiter stand. Er hielt die verhakte Säge mit laufendem Motor genau über seinem Kopf und balancierte auf der Leiter. Iris lief in den Garten hinaus, um Hilfe zu holen.

Bis sie bei Paul angekommen war, hatte er die Säge wieder frei bekommen und berichtete ganz selbstverständlich, dass er die Äste kürzen müsse, damit sich seine Frau nicht den Kopf daran stößt. Iris gab zu bedenken, dass er für derartige Aktivitäten viel zu alt sei.

Paul meinte, „ja, die Frau darf das nicht sehen, ich höre schon damit auf“. Die Frau war aber keineswegs besorgt, sie stand mit versteinerter Miene vor dem Haus und hatte die Situation beobachtet.

„Jetzt hat er sie auch noch geheiratet“, dachte Iris und ging verunsichert in ihr Haus zurück. „Wenn das mal kein böses Ende nimmt, aber mit 91 ist es ohnehin zu erwarten, das Ende. Hoffentlich dauert es der „neuen Frau“ nicht zu lange.“

Wenige Tage später, kurz vor Weihnachten blickte Iris auf das Wohnzimmerfenster von Paul, das sie von ihrem Schreibtisch aus einsehen konnte. Die Vorhänge waren entfernt worden, auf dem Fensterbrett standen Farbkübel, aber nichts rührte sich. Am Abend brannte kein Licht, auch im ersten Stock war es dunkel, die Rollläden wurden nicht, wie sonst, herunter gezogen.

Eine ungewöhnliche, gespenstische Szenerie, dachte Iris. Sie sollte Recht haben, Paul wurde daraufhin nie mehr gesehen. Der Herztod hatte ihn dahin gerafft.

Es ist müßig, darüber nachzudenken, ob es ein natürlicher Tod war. Mit 91 Jahren und jahrzehntelangen Herzproblemen würde kein Arzt am natürlichen Herzversagen zweifeln und eine Obduktion in die Wege leiten, die den Verdacht auf eine Fremdeinwirkung auslösen könnte. Die Pietät verbot es, eine trauernde Witwe mit unnötigen Formalitäten zu belästigen. So ist es üblich, wer Böses dabei dachte, war missgünstig und neugierig.

Man ging auf die Beerdigung und legte Blumen nieder. Pauls neue Frau folgte in Schwarz gekleidet dem Sarg. Seine Verwandten, die ihm jahrelang den Garten gepflegt hatten und eigentlich erben sollten, waren nicht da.

Den Winter über war es still im Nachbargarten. Bald würde sich der Schnee auf den Nussbaum legen, der traurig die Äste hängen ließ.

Es gingen Gerüchte um, dass das Haus zum Verkauf stand.

Vier

Die Stadt war in dichten Nebel gehüllt, die Lichter kämpften sich durch die milchige Suppe. Es war viel zu warm für Weihnachten. Iris legte sich eine Reggae-CD ein und genoss den Abend, checkte ihre Emails, surfte im Internet, fütterte ihre Hunde mit frisch gekochtem Gemüse und feinem Rindfleisch, das sie extra bei einem Metzger für Hundefutter holte. Wie geruhsam, wie beschaulich, dachte sich Iris, frei nach Janosch, dem Bilderbuchautor. Sie liebte gemütliche Abende in ihrem Haus, von ihren Hunden und schönen Dingen umgeben die ihr lieb waren und mit Musik, die ihre Laune unterstrich. Zuhause war sie bei sich selbst und zufrieden.

Eine philosophische Gesprächsrunde in der Gemeinde von Ludwig befasste sich mit dem Zeitgeist, von Ängsten und der Unzufriedenheit in der Gesellschaft. Iris war an den Themen sehr interessiert und bereitete sich darauf vor. Die Gier nach Geld und Macht erfasste viele Menschen, die Geschäftsleute, die Konzerne, die Regierung und zog sich durch bis zu den einfachsten Bürgern und Harz-IV-Empfängern. Es traf keineswegs zu, dass die Reichsten die Glücklichsten waren.

Ludwig, ein sehr einfühlsamer Mensch, gestaltete die Veranstaltungen im Sinn von Bewusstwerdung des Einfachen und Wertvollen im Dasein und im Jetzt. Ludwig stellte die Zufriedenheit mit dem eigenen Leben in den Mittelpunkt und stärkte den Teilnehmern den Rücken, was dazu beitrug, dass sie die Zusammenkünfte lebensfroh verließen und sich gut fühlten.