72 Minuten bis zur Vernichtung - Annie Jacobsen - E-Book

72 Minuten bis zur Vernichtung E-Book

Annie Jacobsen

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Beschreibung

Nominiert für den Baillie Gifford Prize 2024

„Der nukleare Krieg beginnt mit einem Punkt auf einem Radarbildschirm.“

Investigativ-Journalistin Annie Jacobsen entwirft ein Szenario von dreimal 24 Minuten: So lange dauert es vom ersten Entdecken eines atomaren Marschflugkörpers mit Ziel USA bis zum dann unausweichlichen und vernichtenden Gegenschlag und zum Ende der Welt wie wir sie kennen. Was passiert als Nächstes? Wieviel Zeit bleibt dem US-amerikanischen Präsidenten für die Entscheidung, wie der Gegenschlag aussieht? Gibt es einen funktionierenden Abwehrschirm? Sind die Kommunikationswege zwischen den Atommächten im Ernstfall sicher? Ist weltweite Eskalation unvermeidbar?

Das Szenario ist fiktiv. Die zugrundeliegenden Parameter, die Befehlsketten, in Kraft gesetzten Regeln und die technischen Möglichkeiten mit ihren grausamen Konsequenzen beruhen auf den Fakten, die die Autorin im Austausch mit Experten und von Insider-Quellen gesammelt hat. Das Ergebnis ist ein atemloses Leseerlebnis voller hochinteressanter Erkenntnisse, erschreckend, faszinierend und informativ.

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Seitenzahl: 457

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Das Buch

»Das in diesem Buch dargestellte Szenario dessen, was sich in den ersten Momenten nach dem Abschuss einer Atomrakete auf die USA abspielen könnte, basiert auf Fakten. Sie stammen aus Exklusivinterviews mit Präsidentenberatern, Kabinettsmitgliedern, Atomwaffenentwicklern, Wissenschaftlern, Soldaten, Luftwaffenpiloten, Angehörigen von Spezialeinheiten, Geheimdienstmitarbeitern, Katastrophenschutzexperten, Geheimdienstanalysten, Staatsbediensteten und anderen, die jahrzehntelang diese grausigen Szenarios entworfen haben. Die Pläne für den atomaren Weltkrieg gehören zu den am strengsten gehüteten Geheimnissen der US-Regierung, deshalb führt dieses Buch und das hier durchgespielte Szenario die Leserinnen und Leser an die Grenzen dessen, was zu wissen erlaubt ist. […] Ein Atomschlag gegen das Pentagon ist nur der Anfang eines Szenarios, das zum Ende der Zivilisation, wie wir sie kennen, führen wird. Das ist die Realität der Welt, in der wir alle leben. Das Atomkriegsszenario, das in diesem Buch durchgespielt wird, könnte morgen eintreten. Oder schon heute.«

Die Autorin

Annie Jacobsen ist eine US-amerikanische Investigativ-Journalistin, spezialisiert auf Krieg, Waffen und Sicherheit. Sie ist Finalistin des Pulitzer-Preises 2016 und Autorin zahlreicher Bücher, die in neun Sprachen übersetzt wurden, darunter der New York Times-Bestseller Area 51. Jacobsen schreibt und produziert auch Fernsehserien, u. a. Tom Clancy’s Jack Ryan. Die Absolventin der Princeton University lebt mit ihrer Familie in Los Angeles.

ANNIE JACOBSEN

72 Minutenbis zurVernichtung

ATOMKRIEG

EIN SZENARIO

Aus dem Englischenvon Oliver Lingnerund Ulrike Strerath-Bolz

Die Originalausgabe erschien 2024 unter dem TitelNuclear War: A Scenario bei Dutton.

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

Der Verlag behält sich die Verwertung der urheberrechtlich geschützten Inhalte dieses Werkes für Zwecke des Text- und Data-Minings nach § 44 b UrhG ausdrücklich vor. Jegliche unbefugte Nutzung ist hiermit ausgeschlossen.

Deutsche Erstausgabe 2024

Copyright © 2024 by Annie Jacobsen

© der deutschsprachigen Ausgabe 2024by Wilhelm Heyne Verlag, München,in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,Neumarkter Straße 28, 81673 München

Redaktion: Fabian Bergmann

Umschlaggestaltung: Martina Eisele,unter Verwendung eines Fotos von: fotograzia/Freepik

Satz: Schaber Datentechnik, Austria

ISBN 978-3-641-31906-9V001

www.heyne.de

Für Kevin

»Die Menschheitsgeschichte ist eine Geschichte des Krieges. Abgesehen von kurzen, instabilen Phasen hat auf der Welt noch nie Frieden geherrscht; schon in vorgeschichtlichen Zeiten waren mörderische Kämpfe allgegenwärtig und endlos.«

– Winston Churchill

Anmerkung der Autorin

Seit Anfang der 1950er-Jahre hat die Regierung der Vereinigten Staaten Billionen von Dollar für die Vorbereitung auf einen Atomkrieg ausgegeben. Zusätzlich wurden Protokolle ausgearbeitet, die die Funktionsfähigkeit der US-Regierung für den Fall aufrechterhalten sollen, dass Hunderte Millionen Amerikaner einer nuklearen Apokalypse zum Opfer gefallen sind.

Das in diesem Buch dargestellte Szenario dessen, was sich in den ersten Momenten nach dem Abschuss einer Atomrakete auf die USA abspielen könnte, basiert auf Fakten. Sie stammen aus Exklusivinterviews mit Präsidentenberatern, Kabinettsmitgliedern, Atomwaffenentwicklern, Wissenschaftlern, Soldaten, Luftwaffenpiloten, Angehörigen von Spezialeinheiten, Geheimdienstmitarbeitern, Katastrophenschutzexperten, Geheimdienstanalysten, Staatsbediensteten und anderen, die jahrzehntelang diese grausigen Szenarios entworfen haben. Die Pläne für den atomaren Weltkrieg gehören zu den am strengsten gehüteten Geheimnissen der US-Regierung, deshalb führt dieses Buch und das hier durchgespielte Szenario die Leserinnen und Leser an die Grenzen dessen, was zu wissen erlaubt ist. Nach Jahrzehnten der Geheimhaltung freigegebene Dokumente ergänzen die Details mit erschreckender Klarheit.[1]

Das Pentagon ist ein Hauptziel für einen Angriff durch Amerikas atomar bewaffnete Feinde. Daher wird Washington, D.C. im folgenden Szenario zuerst getroffen – von einer thermonuklearen Bombe mit einer Megatonne Sprengkraft. »Ein unerwarteter Angriff auf D.C., wie ein Blitz aus heiterem Himmel, ist das, was alle in D.C. am meisten fürchten«, sagt Andrew Weber, ehemaliger Staatssekretär im Verteidigungsministerium für Programme zur Abwehr nuklearer, chemischer und biologischer Bedrohungen.[2] »Blitz aus heiterem Himmel« ist die Bezeichnung des U.S. Nuclear Command and Control für einen »[nuklearen] Großangriff ohne Vorwarnung«.[3]

Dieser Angriff auf Washington, D.C. wird mit ziemlicher Sicherheit ein weltweites nukleares Armageddon auslösen. »Einen begrenzten Atomkrieg gibt es nicht«, ist ein viel zitierter Spruch in Washington.

Ein Atomschlag gegen das Pentagon ist nur der Anfang eines Szenarios, das zum Ende der Zivilisation, wie wir sie kennen, führen wird. Das ist die Realität in der Welt, in der wir alle leben. Das Atomkriegsszenario, das in diesem Buch durchgespielt wird, könnte morgen eintreten. Oder schon heute.

»Die Welt könnte innerhalb der nächsten Stunden untergehen«, warnt General Robert Kehler, der ehemalige Commander des United States Strategic Command.[4]

Interviews

(Die Posten im U.S. Nuclear Command and Control wurden von den Interviewten ehemals besetzt.)

Dr. Richard L. Garwin: Atomwaffenentwickler, Thermonuklearbombe Ivy Mike

Dr. William J. Perry:US-Verteidigungsminister

Leon E. Panetta:US-Verteidigungsminister; CIA-Direktor; Stabschef des Weißen Hauses

General C. Robert Kehler: Commander des United States Strategic Command

Vizeadmiral Michael J. Connor: Commander der [nuklearen] U-Boot-Flotte der USA

Brigadegeneral Gregory J. Touhill: First U.S. Federal Chief Information Security Officer (CISO); Direktor der Command, Control, Communications and Cyber (C4) Systems, U.S. Transportation Command

William Craig Fugate: Leiter der Federal Emergency Management Agency (FEMA)

Honorable Andrew C. Weber: Staatssekretär im Verteidigungsministerium für Programme zur Abwehr nuklearer, chemischer und biologischer Bedrohungen

Jon B. Wolfsthal: Special Assistant des Präsidenten für nationale Sicherheit im Nationalen Sicherheitsrat

Dr. Peter Vincent Pry:CIA-Nachrichtenoffizier, Massenvernichtungswaffen und Russland; verantwortlicher Direktor der Task Force zum Elektromagnetischen Impuls für nationale und innere Sicherheit

Judge Robert C. Bonner: Kommissar des Zoll- und Grenzschutzes, Department of Homeland Security

Lewis C. Merletti: Direktor des United States Secret Service

Oberst Julian Chesnutt, PhD.: Defense Clandestine Service, Defense Intelligence Agency; U.S. Defense Attaché; U.S. Air Attaché; F-16-Geschwaderkommandant

Dr. Charles F. McMillan: Direktor des Los Alamos National Laboratory

Dr. Glen McDuff: Atomwaffenentwickler am Los Alamos National Laboratory; Laborhistoriker

Dr. Theodore Postol: Assistent des Oberbefehlshabers der Seestreitkräfte; emeritierter Professor am Massachusetts Institute of Technology (MIT)

Dr. J Douglas Beason: Leitender Wissenschaftler am United States Air Force Space Command

Dr. Frank N. von Hippel: Physiker und emeritierter Professor an der Princeton University (Mitgründer des Program on Science and Global Security)

Dr. Brian Toon: Professor, Theorie des nuklearen Winters (Co-Autor von Carl Sagan)

Dr. Alan Robock: Distinguished Professor; Klimatologe, nuklearer Winter

Hans M. Kristensen: Direktor des Nuclear Information Project der Federation of American Scientists

Michael Madden: Direktor der North Korea Leadership Watch am Stimson Center

Don D. Mann: Teamleiter beim SEAL Team Six, Nuclear, Biological, and Chemical Program

Jeffrey R. Yago: Ingenieur; Berater der Task Force zum Elektromagnetischen Impuls für nationale und innere Sicherheit

H. I. Sutton: Analyst und Autor, U.S. Naval Institute

Reid Kirby: Militärhistoriker zu chemischer, biologischer, radiologischer und nuklearer Verteidigung

David Cenciotti: Luftfahrtjournalist; 2o tenente (a. D.) der italienischen Luftwaffe (Aeronautica Militare)

Dr. Michael Morsch: Archäologe an der Universität Heidelberg, Spezialgebiet Neolithikum; Mitentdecker von Göbekli Tepe

Dr. Albert D. Wheelon:CIA-Direktor, Directorate of Science and Technology

Dr. Charles H. Townes: Erfinder des Lasers; Nobelpreisträger für Physik im Jahr 1964

Dr. Marvin L. Goldberger: ehemaliger Physiker des Manhattan-Projekts; Gründer und Vorsitzender der JASON Beratungsgruppe, wissenschaftlicher Berater von US-Präsident Lyndon B. Johnson

Paul S. Kozemchak: Special Assistant des DARPA-Direktors (und dienstältestes Mitglied)

Dr. Jay W. Forrester: Computerpionier; Entwickler der Systemdynamik

General Paul F. Gorman: ehemaliger Oberbefehlshaber des U. S. Southern Command (U. S. SOUTHCOM); Special Assistant des Vereinigten Generalstabs

Alfred O’Donnell: Mitglied des Manhattan-Projekts; EG&G-Atomwaffeningenieur in der Atomenergiekommission

Ralph James Freedman:EG&G-Atomwaffeningenieur in der Atomenergiekommission

Edward Lovick Jr.: Physiker; ehemaliger Mitarbeiter bei Lockheed Skunk Works für Tarnkappentechnik

Dr. Walter Munk: Meereskundler; ehemaliges Mitglied der JASON Beratungsgruppe

Oberst Hervey S. Stockman: flog als erster Pilot in einem U-2-Aufklärungsflugzeug über die Sowjetunion, Pilot bei der Sammlung nuklearer Daten

Richard »Rip« Jacobs: Ingenieur des VO-67 Navy Squadron in Vietnam

Dr. Pavel Podvig: Research Fellow am UN-Institut für Abrüstungsforschung; wissenschaftlicher Mitarbeiter am Moscow Institute of Physics and Technology

Dr. Lynn Eden: emeritierte Senior Research Scholar für die Außen-, Militär- und Nuklearpolitik der USA und für Großbrände an der Stanford University

Dr. Thomas Withington: Forscher zu elektronischer Kriegsführung, Radar und militärischer Kommunikation am Royal United Services Institute, London

Joseph S. Bermudez, Jr.: Nordkorea-Analyst für Verteidigung, Aufklärung und Entwicklung ballistischer Raketen am Center for Strategic and International Studies

Dr. Patrick Biltgen: Luftfahrtingenieur, ehemals beim BAE Systems Intelligence Integration Directorate

Dr. Alex Wellerstein: Professor; Autor; Wissenschaftshistoriker, Spezialgebiet Kerntechnik

Fred Kaplan: Journalist; Autor; Atomwaffenhistoriker

Prolog

Die Hölle auf Erden

Washington, D.C., möglicherweise irgendwann in naher Zukunft

Die Detonation einer Thermonuklearwaffe mit einer Megatonne Sprengkraft beginnt mit einem Lichtblitz und einer ungeheuren, für den menschlichen Geist unbegreiflichen Hitze:[5] 100 Millionen Grad Celsius – vier- bis fünfmal heißer als der Kern der Sonne.[6]

Im Bruchteil einer Millisekunde, nachdem diese Thermonuklearbombe das Pentagon außerhalb von Washington, D.C. getroffen hat, entsteht Licht. Weiches Röntgenlicht mit einer sehr kurzen Wellenlänge.[7] Das Licht heizt die umgebende Luft auf viele Millionen Grad auf, wodurch ein gigantischer Feuerball entsteht, der sich mit einer Geschwindigkeit von Millionen Stundenkilometern ausdehnt. Innerhalb weniger Sekunden wächst der Durchmesser dieses Feuerballs auf knapp zwei Kilometer an. Sein Licht und seine Hitze sind so enorm, dass Beton explodiert, metallene Objekte schmelzen oder verdampfen, Stein zerspringt und Menschen sich augenblicklich in brennenden Kohlenstoff verwandeln.[8]

Das fünfstöckige, fünfeckige Gebäude des Pentagons und alles, was sich innerhalb seiner 600000 Quadratmeter Bürofläche befindet, verwandelt sich durch den ersten Blitz aus Licht und Hitze explosionsartig in hocherhitzten Staub. Durch die nahezu zeitgleiche Ankunft der Schockwelle bersten alle Wände, alle 27000 Angestellten sind sofort tot.

Nicht das Geringste bleibt in dem Feuerball bestehen.

Nichts.

Der Explosionsort wird ausgelöscht.[9]

Die strahlende Hitze des Feuerballs breitet sich mit Lichtgeschwindigkeit aus und entzündet alles Brennbare in seiner Reichweite über mehrere Kilometer in jede Richtung.[10] Vorhänge, Papier, Bücher, Holzzäune, menschliche Kleidung, trockene Blätter stehen unmittelbar in Flammen und nähren einen riesigen Feuersturm, der ein über 100 Quadratkilometer großes Gebiet verschlingen wird, das vor diesem Lichtblitz das Zentrum der amerikanischen Regierungsgewalt und die Heimat von ungefähr sechs Millionen Menschen war.[11]

Mehrere Hundert Meter nordwestlich des Pentagons werden auf den zweieinhalb Quadratkilometern des Nationalfriedhofs Arlington – einschließlich der 400000 Knochensätze und Grabsteine zur Ehrung der im Krieg gefallenen Soldaten sowie der Überreste der 3800 in Sektion 27 begrabenen freigelassenen Sklaven – die Besucher, die ihnen an diesem Nachmittag im beginnenden Frühling die Ehre erweisen, die Gärtner, die den Rasen mähen und die Bäume beschneiden, die Fremdenführer, die Besucher herumführen, die Soldaten der Old Guard mit ihren weißen Handschuhen, die am Grab des unbekannten Soldaten Wache halten, augenblicklich in brennende, verkohlte menschliche Statuen verwandelt. In das schwarze organische Pulver, das Ruß genannt wird. Den Verbrannten bleibt das beispiellose Grauen erspart, das nun ein bis zwei Millionen schwer verletzte Menschen durch diesen Atomangriff überkommt, der wie ein Blitz aus heiterem Himmel über sie hereinbrach.[12]

Auf der anderen Seite des Potomac River, zwei Kilometer in nordöstlicher Richtung, werden die Marmorwände und -säulen der Denkmäler für Lincoln und Jefferson überhitzt. Sie zersplittern in ihre Einzelteile.[13] Die Brücken und Autobahnen aus Stahl und Stein, die diese historischen Monumente mit ihrer Umgebung verbinden, wölben sich und brechen zusammen. Auch das weiter südlich, jenseits der Interstate 395 gelegene strahlende und weitläufige Fashion Centre at Pentagon City mit seiner gläsernen Fassade und seinen unzähligen Läden voll teurer Markenkleidung und Haushaltsgütern, mit seinen Restaurants und anderen Gastronomiebetrieben, den Büros und dem angrenzenden Hotel Ritz-Carlton, Pentagon City wird ausradiert. Deckenträger, Balken, Rolltreppen, Kronleuchter, Teppiche, Möbel, Schaufensterpuppen, Hunde, Eichhörnchen, Menschen gehen in Flammen auf. Es ist Ende März, 15:36 Uhr Ortszeit.

Seit der Detonation sind drei Sekunden vergangen. Im Baseballstadion vier Kilometer im Westen, dem Nationals Park, findet gerade ein Spiel statt. Die Kleidung der meisten der 35000 Zuschauer fängt Feuer.[14] Die Menschen, die nicht direkt durch die Flammen sterben, erleiden schwere Verbrennungen dritten Grades.[15] Ihre Körper werden der äußeren Hautschicht beraubt, und die blutige Dermis darunter wird freigelegt.

Um Verbrennungen dritten Grades zu überleben, ist eine sofortige Spezialbehandlung und oft auch die Amputation von Gliedmaßen notwendig. Hier im Nationals Park haben vielleicht einige Tausend Menschen zunächst irgendwie überlebt. Sie waren gerade drinnen, um etwas zu essen zu kaufen oder auf die Toilette zu gehen – jetzt benötigen sie dringend ein Bett in einem Brandverletztenzentrum. Aber es gibt nur zehn Verbrennungsbetten im gesamten Großraum Washington, D.C., im Burn Center des MedStar Washington Hospital im Stadtzentrum. Und weil diese Einrichtung etwa acht Kilometer nordöstlich des Pentagons liegt, ist sie nicht mehr funktionsfähig – falls sie überhaupt noch existiert. 70 Kilometer nordöstlich gibt es im Johns Hopkins Burn Center in Baltimore weniger als 20 Verbrennungsbetten, und die sind schon bald belegt. Insgesamt gibt es in allen 50 Bundesstaaten der USA zusammen nur um die 2000 Verbrennungsbetten.[16]

Innerhalb von Sekunden hat die Wärmestrahlung dieses atomaren Angriffs auf das Pentagon die Haut von ungefähr einer Million Menschen schwer verbrannt. 90 Prozent von ihnen werden sterben. Verteidigungsforscher wie auch zivile Wissenschaftler haben das jahrzehntelang berechnet.[17] Die meisten Opfer werden sich nur noch wenige Meter von dort wegbewegen können, wo sie sich zum Explosionszeitpunkt befanden. Als in den 1950er-Jahren mit diesen makabren Berechnungen begonnen wurde, bezeichneten die Experten für Zivilverteidigung diese Menschen als »Dead When Found«, beim Auffinden tot.[18]

»Dead When Found«

(U.S. Federal Civil Defense Administration)

In der Joint Base Anacostia-Bolling, einer im Südosten auf der anderen Seite des Potomac gelegenen vier Quadratkilometer großen militärischen Einrichtung, gibt es weitere 17000 Opfer, einschließlich fast aller Beschäftigten in den Hauptquartieren der Defense Intelligence Agency und der White House Communications Agency, der U.S. Coast Guard Station Washington, dem Marine-One-Hubschrauberhangar und zahlreichen anderen schwer bewachten Bundeseinrichtungen, die der nationalen Sicherheit dienen.[19] Die Mehrzahl der 4000 Studenten, die gerade die National Defense University besuchten, sind ebenfalls tot oder liegen im Sterben. Es ist eine tragische Ironie der Ereignisse, dass an dieser – vom Pentagon finanzierten und am 200. Geburtstag der USA gegründeten – Universität die amerikanischen Offiziere die Taktiken erlernen, mit denen die militärische Vorherrschaft ihres Landes rund um den Globus gesichert wird. Die Universität ist nicht die einzige militärische Bildungseinrichtung, die durch diesen ersten Atomschlag ausgelöscht wird. Die Eisenhower School for National Security and Resource Strategy, das National War College, das Inter-American Defense College, das Africa Center for Strategic Studies, sie alle existieren plötzlich nicht mehr. Das gesamte Hafengebiet, vom Buzzard Point Park bis zur St. Augustine’s Episcopal Church, vom Navy Yard bis zur Frederick Douglass Memorial Bridge, wird komplett zerstört.

Im 20. Jahrhundert entwickelten Menschen die Atombombe, um die Welt vom Bösen zu befreien, und jetzt, im 21. Jahrhundert, ist die Atombombe kurz davor, die Welt zu zerstören. Alles niederzubrennen.

Die Wissenschaft, die hinter der Bombe steckt, ist komplex. Der thermonukleare Lichtblitz wird von zwei sich ausbreitenden Hitzewellen begleitet.[20] Die erste hält nur für den Bruchteil einer Sekunde an, die zweite hingegen mehrere Sekunden, wodurch die menschliche Haut in Brand gesetzt wird. Die Lichtblitze sind geräuschlos; Licht macht kein Geräusch. Nun folgt ein durch die Druckwelle hervorgerufenes lautes Krachen. Die von der atomaren Explosion erzeugte immense Hitze verursacht eine starke Druckwelle, die sich vom Zentrum ausgehend wie ein Tsunami ausbreitet, wie eine gigantische Wand aus hochkomprimierter Luft, die sich mit Überschallgeschwindigkeit fortbewegt. Sie mäht Menschen nieder, wirbelt andere in die Luft, lässt Lungen und Trommelfelle platzen, saugt Körper auf und spuckt sie wieder aus. »Generell werden große Gebäude durch die plötzliche Änderung des Luftdrucks zerstört, Menschen und Objekte wie Bäume und Leitungsmasten dagegen durch den Wind«, erklärt ein Archivar, der diese makabren Statistiken für das Atomic Archive zusammenträgt.[21]

Die Schockwelle des wachsenden nuklearen Feuerballs schiebt sich wie ein Bulldozer fünf Kilometer weit nach außen und richtet katastrophale Zerstörung an.[22],[23] Die Luft hinter der Druckwelle beschleunigt sich und erzeugt Winde mit außergewöhnlichen, schwer vorstellbaren Geschwindigkeiten von vielen Hundert Stundenkilometern. Im Jahr 2012 hatte Hurrikan Sandy, der einen Schaden von 70 Milliarden US-Dollar anrichtete und 147 Menschen das Leben kostete, eine maximale anhaltende Windgeschwindigkeit von etwa 130 Stundenkilometern.[24] Die höchste je auf der Erde gemessene Windgeschwindigkeit betrug 407 Stundenkilometer, an einer abgelegenen Wetterstation in Australien. Die nukleare Druckwelle in Washington, D.C. zerstört alle Gebäude auf ihrem direkten Weg; sie verändert augenblicklich die physische Form von Bürogebäuden, Wohnanlagen, Denkmälern, Museen, Parkhäusern – sie lösen sich auf und werden zu Staub. Was die Druckwelle nicht zermalmt, wird durch den peitschenden Wind zerfetzt. Gebäude brechen zusammen, Brücken stürzen ein, Kräne kippen um. Objekte, ob nun so klein wie Computer und Zementblöcke oder so groß wie 18-rädrige Lastwagen und Doppeldeckerbusse, fliegen durch die Luft wie Tennisbälle.

Der nukleare Feuerball, der alles im Umkreis von 1,8 Kilometern vernichtet hat, steigt jetzt mit einer Geschwindigkeit von 75 bis 100 Meter pro Sekunde nach oben wie ein Heißluftballon.[25] 35 Sekunden vergehen. Die bekannte Pilzwolke beginnt sich zu bilden. Die Farbe der gigantischen Kappe und des Stamms, die aus verbrannten Menschen und den Trümmern der Zivilisation bestehen, wechselt von Rot zu Braun und schließlich zu Orange. Als Nächstes stellt sich die tödliche umgekehrte Sogwirkung ein. Alles – Autos, Menschen, Laternen, Straßenschilder, Parkuhren, Stahlträger – wird ins Zentrum des lodernden Infernos zurückgesaugt und von Flammen verzehrt.[26]

60 Sekunden sind verstrichen.

Kappe und Stamm des mittlerweile grauweißen Pilzes wachsen 8 bis 15 Kilometer in den Himmel.[27] Die Kappe bläht sich auf, und ihr Durchmesser beträgt schließlich 15 bis 30 Kilometer. Sie reicht bis jenseits der Troposphäre, höher als Verkehrsflugzeuge fliegen und über die Zone hinaus, wo die meisten Wetterphänomene der Erde entstehen. Freigesetzte radioaktive Teilchen regnen als Fallout zurück auf die Erde und die Menschen. Eine Atombombe erzeuge »ein Hexengebräu aus radioaktiven Produkten […], die gleichfalls von der Wolke mitgerissen würden«, warnte der Astrophysiker Carl Sagan vor Jahrzehnten.[28]

Seit der Detonation sind weniger als zwei Minuten vergangen, und mehr als eine Million Menschen sind tot oder liegen im Sterben. Jetzt beginnt das Inferno, das erst nach dem anfänglichen Feuerball entsteht; es ist ein unermesslich großes Megafeuer. Gasleitungen explodieren, eine nach der anderen, und werden zu gigantischen Flammenwerfern, die einen stetigen Feuerstrom ausspucken. Tanks mit brennbaren Flüssigkeiten platzen auf. Chemiefabriken explodieren. Zündflammen von Boilern und Heizöfen setzen wie Streichhölzer alles in Flammen, was nicht schon brennt.[29] Eingestürzte Gebäude werden zu gigantischen Öfen. Überall verbrennen Menschen bei lebendigem Leib.

Offene Spalten in Böden und Dächern wirken wie Schornsteine. Durch die Flammen freigesetztes Kohlendioxid sinkt nach unten und gelangt in die U-Bahn-Tunnel, wo es Fahrgäste auf ihren Sitzen erstickt. Wer in Kellern oder anderen unterirdischen Räumen Zuflucht gesucht hat, muss sich übergeben, erleidet Krämpfe, fällt ins Koma und stirbt. Wer sich oberirdisch aufhält und direkt in die Explosion blickt, erblindet – in manchen Fällen aus bis zu 20 Kilometer Entfernung.[30]

Zehn Kilometer vom Ground Zero entfernt, in einem Umkreis von über 20 Kilometern um das Pentagon (in der 5-psi-Zone), krachen Autos und Busse ineinander. Asphaltstraßen werden von der immensen Hitze flüssig und bilden eine Falle für Überlebende, als würden sie in geschmolzener Lava oder Treibsand versinken. Winde mit Hurrikanstärke machen aus Hunderten Feuern Tausende und schließlich Millionen. In 15 Kilometer Umkreis entzünden lodernd heiße Asche und vom Wind umhergewehte brennende Überreste neue Feuer, und eines nach dem anderen vereinigen sie sich miteinander. Ganz Washington, D.C. wird zu einem einzigen Feuersturm. Ein Megainferno. Das sich bald in einen Mesozyklon aus Feuer verwandelt. Acht, vielleicht neun Minuten vergehen.

In 15 bis 20 Kilometer Entfernung vom Explosionsort (in der 1-psi-Zone) schlurfen Überlebende im Schock umher, als wenn sie kurz vor dem Tod stünden. Sie verstehen nicht, was gerade passiert ist, und versuchen verzweifelt zu entkommen. Zehntausende Menschen hier haben Lungenrisse erlitten. Krähen, Spatzen und Tauben, die über ihnen fliegen, fangen Feuer und fallen vom Himmel, als würde es Vögel regnen.[31] Es gibt keinen Strom. Keine Telefonverbindungen. Keinen Notruf.

Der elektromagnetische Impuls der Bombe legt vor Ort Radio, Internet und Fernsehen komplett lahm. Autos mit elektronischer Zündung lassen sich in einem kilometerweiten Umkreis nicht mehr starten. Wasserwerke können kein Wasser mehr pumpen. Da im gesamten Gebiet eine tödliche Strahlendosis herrscht, können Ersthelfer nicht ausrücken. Nach Tagen werden die wenigen Überlebenden realisieren, dass keine Hilfe kommt.

Wer es irgendwie schafft, dem Tod durch die Detonation, die Druckwelle und den Feuersturm zu entkommen, erkennt plötzlich eine heimtückische Wahrheit des Atomkriegs: Man ist vollkommen auf sich alleine gestellt. Der ehemalige Direktor des US-Katastrophenamts FEMA Craig Fugate erklärt uns, dass die einzige Überlebensmöglichkeit darin besteht, herauszufinden, wie man »sich am Leben halten kann«. Dass jetzt ein »Kampf um Nahrung, Wasser, Elektrolyte« beginnt.[32]

Warum und woher wissen amerikanische Verteidigungswissenschaftler diese schauderhaften Dinge und noch dazu so genau? Wie kommt es, dass die US-Regierung so viel über die Auswirkungen von Atombomben weiß, während in der Bevölkerung Ahnungslosigkeit darüber herrscht? Die Antwort ist so grotesk wie die Fragen selbst: weil sich die US-Regierung in all den Jahren seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs auf einen atomaren Weltkrieg vorbereitet und ihn einstudiert hat. Einen nuklearen Dritten Weltkrieg, der garantiert mindestens zwei Milliarden Menschenleben fordern wird.

Um genauere Antworten zu bekommen, müssen wir mehr als 60 Jahre in die Vergangenheit blicken. Auf ein geheimes Treffen, das im Dezember 1960 im U.S. Strategic Air Command (SAC) stattfand.

Teil I

Die Vorgeschichte (Oder: Wie wir hier gelandet sind)

Kapitel 1

Der streng geheime Plan für den atomaren Weltkrieg

Dezember 1960, Hauptquartier des Strategic Air Command, Luftwaffenbasis Offutt, Nebraska

Eines Tages vor nicht allzu langer Zeit traf sich eine Reihe von amerikanischen Militärbeamten, um einen geheimen Plan zu besprechen, der zum Tod von etwa 600 Millionen Menschen führen würde.[33] Das entsprach einem Fünftel der damaligen Weltbevölkerung von drei Milliarden Menschen. An diesem Tag waren unter den Anwesenden:

US-Verteidigungsminister Thomas S. Gates, Jr.

der stellvertretende US-Verteidigungsminister James H. Douglas, Jr.

der stellvertretende Direktor der US-Verteidigungsforschung und -technik John H. Rubel

der Vereinigte Generalstab

der Commander des US-Strategic Air Command, General Thomas S. Power

Army Chief General George H. Decker

Navy Chief Admiral Arleigh A. Burke

der Air Force Commander General Thomas D. White

der Marine Corps Commandant General David M. Shoup

viele weitere hochrangige US-Militärbeamte[34]

Der Raum befand sich unter der Erde. Die Wände waren über 45 Meter lang, mehrere Stockwerke hoch, und im zweiten Stock gab es einen verglasten Balkon. Es gab Schreibtischreihen, Telefone und Karten. Stellwände mit Karten. Eine ganze Wand voller Karten. Das Hauptquartier des Strategic Air Command in Omaha, Nebraska war der Ort, von dem aus Generäle und Admiräle den Atomkrieg leiten würden, wenn er ausbräche. So war es damals, so ist es heute im Jahr 2024 immer noch – die unterirdische Kommandozentrale wurde für den Atomkrieg des 21. Jahrhunderts aufgerüstet.

Alles, was Sie über dieses Meeting erfahren werden, basiert auf dem Bericht eines Augenzeugen, der an diesem Tag mit im Raum war: der ehemalige Unternehmensleiter und jetzige Verteidigungsbeamte John H. Rubel[35]. Im Jahr 2008, als er auf die 90 zuging und nicht mehr lange zu leben hatte, enthüllte Rubel diese Informationen in einer kurzen Autobiografie. Angesichts seines nahenden Todes fasste er den Mut, eine lange unterdrückte Wahrheit auszusprechen. Dass er Reue empfand, weil er Teil eines solchen Plans aus dem »Herz der Finsternis« gewesen war. Weil er danach jahrzehntelang geschwiegen hatte. Das, woran er mitgewirkt hatte, so schrieb Rubel, war ein Plan zur »Massenvernichtung«. Seine Worte.[36]

An diesem Tag im großen unterirdischen Bunker in Nebraska saßen Rubel und die anderen Atomkriegsplaner in ordentlichen Klappstuhlreihen (die altmodischen Stühle mit Holzlamellen). Die Viersternegeneräle saßen in der ersten Reihe, die mit nur einem Stern in der letzten. Rubel, damals stellvertretender Direktor der Abteilung für Verteidigungsforschung und -technik im Pentagon, saß in der zweiten.

General Thomas S. Power, der Commander des Strategic Air Command, gab ein Zeichen, woraufhin ein Referent auf die Bühne trat. Ihm folgte ein Gehilfe, der ein Flip-Chart trug, und ein zweiter mit einem Zeigestock. Der erste hatte die Aufgabe umzublättern und der zweite, auf Dinge zu zeigen. General Power (der wirklich so hieß) erklärte seinem Publikum, dass nun demonstriert werde, wie ein nuklearer Großangriff auf die Sowjetunion ablaufen würde. Daraufhin stellten sich zwei Luftwaffenpiloten links und rechts neben der 50 Meter langen Kartenwand auf. Jeder hatte eine große Trittleiter bei sich. Die Karte zeigte die Sowjetunion und China (damals chinesisch-sowjetischer Block genannt) und die angrenzenden Länder.

SAC-Hauptquartier, unterirdische Kommandozentrale. Die »große Tafel«. Aufnahme von Anfang 1957

(U.S. Air Force Historical Research Agency)

Rubel erinnerte sich, dass »beide Männer ihre große Leiter im selben strammen Tempo bestiegen und gleichzeitig oben ankamen. Beide griffen nach einem roten Band, das, wie wir nun bemerkten, um eine große Rolle durchsichtige Plastikfolie gewunden war. Mit einer einzigen Handbewegung löste jeder die Schleife, die das Band an seinem Ende der Rolle sicherte, woraufhin sich die Plastikfolie mit einem Zisch! entrollte, kurz flatterte und dann schlaff vor der Karte herunterhing.«[37] Auf der Karte waren nun Hunderte kleiner schwarzer Markierungen zu sehen, »die meisten davon über Moskau«, und jede stellte eine Atombombendetonation dar.

General Powers erster Referent begann, den US-Plan für einen nuklearen Angriff auf die Sowjetunion zu schildern. Die erste Angriffswelle würde mit US-Kampfjets durchgeführt werden, die von in der Nähe des japanischen Okinawa stationierten Flugzeugträgern abhöben. »Welle um Welle« von Angriffen würde folgen. Immer neue Bombardements durch strategische Langstreckenbomber vom Typ Boeing B-52, die in ihren Bombenschächten mehrere thermonukleare Waffen trügen – jede mit der mehrtausendfachen Zerstörungskraft der auf Hiroshima und Nagasaki abgeworfenen Atombomben. Jedes Mal, wenn der Referent eine weitere Angriffswelle erläuterte, schrieb Rubel, »öffneten [die zwei Männer auf den Trittleitern] ein weiteres Paar rote Bänder, eine weitere Plastikfolie zischte hinab, und Moskau wurde unter den kleinen Markierungen auf den Lagen aus Plastikfolie noch gründlicher ausradiert«.[38]

Am meisten schockierte Rubel, wie er schrieb, dass der Plan alleine für Moskau »vierzig Megatonnen – Megatonnen – […] vorsah, das etwa Viertausendfache der Bombe, die auf Hiroshima abgeworfen worden war, und vielleicht zwanzig- bis dreißigmal mehr als alle nicht nuklearen Bomben, die von den Alliierten während des Zweiten Weltkriegs im Verlauf von mehr als vier Jahren an beiden Kriegsschauplätzen abgeworfen wurden«.[39]

Trotzdem blieb Rubel während dieses Meetings im Jahr 1960 auf seinem Stuhl sitzen und sagte nichts.

Nicht ein Wort. 48 Jahre lang. Sein Eingeständnis ist jedoch bemerkenswert – der erste bekannte Fall, dass ein Teilnehmer dieses Treffens es wagte, solch persönliche Details darüber preiszugeben, was dort vor sich ging.[40] Details, die jedem Menschen die schlichte Wahrheit vor Augen führen: dass dieser Plan für den Nuklearkrieg ein Plan für Völkermord war.

Die Luftwaffenpiloten stiegen die Leitern herab, klappten sie zusammen, nahmen sie unter den Arm und verschwanden.

Die 4000-fache Sprengkraft der Bombe, die auf Hiroshima abgeworfen wurde.

Was bedeutet das überhaupt – ist das menschliche Gehirn in der Lage, das wirklich zu begreifen?

Und noch wichtiger, kann irgendjemand den Plan für die Massenvernichtung stoppen, bevor er in die Tat umgesetzt wird?

Kapitel 2

Das Mädchen im Trümmerfeld

6. August 1945, Hiroshima, Japan

Die Atombombe, die im August 1945 auf Hiroshima abgeworfen wurde, tötete mehr als 80000 Menschen auf einen Schlag.[41] Die genaue Zahl ist immer noch umstritten. In den Tagen und Wochen nach dem Bombenangriff war es nicht möglich, eine genaue Zählung der Opfer durchzuführen. Aufgrund der massenhaften Zerstörung der staatlichen Einrichtungen, der Krankenhäuser, Polizeireviere und Feuerwachen, herrschte völliges Chaos und Verwirrung.[42]

Die 13-jährige Setsuko Thurlow war 1,8 Kilometer vom Explosionsort entfernt, als die Atombombe mit dem Codenamen Little Boy in einer Höhe von 580 Metern detonierte – eine sogenannte Luftdetonation.[43],[44] Es war das erste Mal, dass eine Kernwaffe im Krieg verwendet wurde. Die Bersthöhe war von dem amerikanischen Verteidigungswissenschaftler John von Neumann genau berechnet worden. Seine Aufgabe war es gewesen, herauszufinden, wie mit dieser einen Atombombe möglichst viele Menschen am Boden darunter getötet werden könnten.[45] Militärplaner hatten festgestellt, dass durch eine Detonation direkt am Boden eine immense Menge an Erde aufgeschleudert wird, was viel Energie »verschwendet«. Darüber waren sie sich einig.

Setsuko Thurlow wurde durch die Druckwelle ohnmächtig.

Eine Karte der durch die Druckwelle und das Feuer verursachten Schäden in Hiroshima aus der U.S. Strategic Bombing Survey

(U.S. National Archives)

Als sie zum ersten Mal das Bewusstsein wiedererlangte, konnte sie nichts sehen und sich nicht bewegen. »Dann hörte ich die flüsternden Stimmen der Mädchen um mich herum«, erinnerte sie sich Jahre später. Sie konnte hören, wie sie sagten: »Gott, hilf mir, Mutter, hilf mir. Ich bin hier.«[46]

Wie durch ein Wunder hatte Setsuko im Schutz eines eingestürzten Gebäudes die erste Druckwelle überlebt, die durch die Detonation einer Atombombe entsteht. Sie erinnerte sich, wie um sie herum alles dunkel war. Es fühlte sich so an, als hätte sich ihr Körper in Rauch aufgelöst. Nach einer Weile – Sekunden oder vielleicht Minuten – registrierte ihr Gehirn, dass die Stimme eines Mannes sie anwies, etwas zu tun.

»Gib nicht auf«, sagte der Mann. »Ich versuche, dich zu befreien.«

Dieser Mann, ein Fremder, schüttelte Setsukos linke Schulter und schob sie von hinten. Raus da … kriech, so schnell du kannst, dachte sie.

Als der atomare Angriff auf Hiroshima stattfand, besuchte Setsuko Thurlow die achte Klasse einer Mädchenschule. Sie war eines von über 30 jungen Mädchen, die für streng geheime Abhörarbeiten im Hauptquartier der japanischen Armee in Hiroshima rekrutiert und ausgebildet worden waren. Dort befand sie sich, als die Bombe explodierte.

»Können Sie sich das vorstellen«, sagte Setsuko später, »dass ein 13-jähriges Mädchen so eine wichtige Arbeit machen musste? Das zeigt, in was für einer verzweifelten Lage Japan war.«

In diesen ersten Momenten nach der Explosion der Atombombe begriff Setsuko, dass der Mann sie aus den Trümmern befreien wollte und sie jetzt tätig werden musste, wenn sie nicht sterben wollte. Sie drückte und stemmte. Begann zu treten. Irgendwie schaffte sie es, unter den Trümmern hervor- und durch die Tür nach draußen zu kriechen. »Als ich aus dem Gebäude herauskam, stand es in Flammen«, erinnerte sie sich. »Das bedeutete, dass die etwa 30 anderen Mädchen, mit denen ich dort drinnen gewesen war, gerade lebendig verbrannten.«

Die Atombombe war von einem Flugzeug der U.S. Army Air Forces abgeworfen worden. Das war damals die einzige Möglichkeit, eine solche Bombe an ihr Ziel zu befördern. Die Bombe war drei Meter lang und wog 4400 Kilogramm, etwa so viel wie ein mittelgroßer Elefant. Eine zweite Maschine flog direkt hinter dem Bomber und beförderte drei Physiker aus dem Los-Alamos-Labor sowie zahlreiche wissenschaftliche Instrumente zum Sammeln von Daten.

Die exakte Sprengkraft der Bombe (die Kraft, die erforderlich ist, um eine gleichwertige Explosion zu erzeugen) war unter Verteidigungswissenschaftlern und Militärbeamten jahrelang umstritten. Im Jahr 1995 legte sich die US-Regierung schließlich auf das Äquivalent von 15 Kilotonnen TNT fest.[47] In der nach dem Krieg durchgeführten Strategic Bombing Survey wurde geschätzt, dass 2100 Tonnen konventionelle Bomben gleichzeitig auf Hiroshima hätten abgeworfen werden müssen, um die gleiche Wirkung zu erzielen.

Setsuko Thurlow schaffte es, nach draußen zu gelangen. Es war früh am Morgen, aber es schien, als wäre es mitten in der Nacht. Die Luft war erfüllt von dichtem schwarzem Rauch. Setsuko sah ein schwarzes Objekt auf sie zukommen, gefolgt von weiteren schwarzen Objekten, die sie erst für Geister hielt.

»Teile ihrer Körper fehlten«, bemerkte sie. »Haut und Fleisch hingen von den Knochen. Manche trugen ihre eigenen Augäpfel.«[48]

Ein Stück die Straße hinunter lag Dr. Michihiko Hachiya, Direktor des Hiroshima-Communications-Krankenhauses, gerade auf dem Boden seines Wohnzimmers und erholte sich von einer Nachtschicht, als der starke Lichtblitz, der durch die Zündung einer Atombombe ausgelöst wird, ihn erschreckte. Dann folgte ein zweiter Lichtblitz. Er wurde ohnmächtig – oder doch nicht? Staub wirbelte um ihn herum, und langsam nahm er wahr, was vor sich ging. Teile seines Körpers, seine Oberschenkel und sein Hals, waren zerfetzt und bluteten. Er war nackt. Die Druckwelle hatte ihm die Kleidung vom Körper gerissen. »In meinem Hals steckte eine Glasscherbe von beträchtlicher Größe, die ich einfach herauszog«, berichtete Dr. Hachiya später und erinnerte sich, dass er sich gefragt hatte: »Wo ist meine Frau?«[49] Er richtete seinen Blick wieder auf seinen Körper. »Blut begann zu spritzen. War meine Halsschlagader verletzt worden? Würde ich verbluten?«

Nach einer Weile fand Dr. Hachiya seine Frau Yaeko-san. Sie rannten nach draußen, während ihr kleines Haus um sie herum einstürzte. »Wir rannten, stolperten, fielen«, erinnerte er sich. »Als ich mich aufrappelte, erkannte ich, dass ich über den Kopf eines Mannes gestolpert war.«[50]

Die Überlebensgeschichten von Setsuko Thurlow und Dr. Hachiya sowie zahllose ähnliche wurden jahrzehntelang von der US-Armee und ihren Besatzungstruppen in Japan unterdrückt. Die Auswirkungen von im Krieg eingesetzten Atomwaffen auf Menschen und Gebäude wurden geheim gehalten, weil die US-Verteidigungsbehörden exklusiv über diese Informationen verfügen wollten. Für den nächsten Atomkrieg. Das Pentagon wollte sichergehen, dass es mehr über die Auswirkungen nuklearer Explosionen wusste, als jeder zukünftige Feind wissen konnte.

Mit Blitzen aus Energie und Licht beendeten zwei Atombomben – die auf Hiroshima wurde am 6. August 1945 abgeworfen und drei Tage später eine weitere auf Nagasaki – einen Weltkrieg, in dem bereits 50 bis 75 Millionen Menschen gestorben waren. Noch im selben Jahr begann eine kleine Gruppe US-amerikanischer Atomwissenschaftler und Verteidigungsbeamter neue und noch größere Pläne zu entwerfen: Im nächsten Weltkrieg sollten unzählige Atomwaffen zum Einsatz kommen und wie gesagt rund ein Fünftel der damaligen Weltbevölkerung töten.

Und damit sind wir wieder bei den Männern angelangt, die im Dezember 1960 im unterirdischen Bunker saßen und den Plänen für den atomaren Weltkrieg lauschten.

Kapitel 3

Der Auftakt

1945–1990: Los Alamos, Lawrence Livermore und die Sandia National Laboratories

Der Plan für den atomaren Weltkrieg, der im Jahr 1960 unter Geheimhaltung im Hauptquartier des Strategic Air Command präsentiert wurde, war etwa ein Jahr lang ausgearbeitet worden.[51] Der Verteidigungsminister hatte ihn für den US-Präsidenten erstellen lassen. 15 Jahre waren vergangen, seit die beiden Atomwaffen auf Japan abgeworfen worden waren, die in einem Sekundenbruchteil Zehntausende Menschen getötet hatten, bevor Tausende weitere in den anschließenden Feuerstürmen verbrannt waren.

Damals im August 1945 hatten die USA noch eine dritte Bombe zum Abwurf vorbereitet und verfügten über ausreichend nukleares Material, um bis zum Ende des Monats eine vierte Bombe herzustellen, falls sich Japan nicht ergab.[52] »Die ersten Atombomben waren wie ein Wissenschaftsprojekt an einer Schule«, erklärt Dr. Glen McDuff, langjähriger Ingenieur für Kernwaffen in Los Alamos, ehemaliger Historiker und Kurator des geheimen Museums des Labors. »19 von 20 wissenschaftlichen Geräten, die ihnen zur Verfügung standen, entwarfen und konstruierten sie selbst, aus nur etwa 80 gewöhnlichen Vakuumröhren.«[53]

Als der Weltkrieg endlich zu Ende war, war die Zukunft des Atomlabors in Los Alamos ungewiss. »Nach dem Krieg, mit nur einer Atombombe im Lager, verfiel die Infrastruktur des Labors und der Stadt Los Alamos«, so McDuff. »Es war ein täglicher Kampf, dass uns der Strom nicht abgestellt wurde. Die Hälfte der Angestellten von Los Alamos war gegangen. Es sah düster aus. Bis die Navy auf den Plan trat.«

Die U.S. Navy war die mit Abstand mächtigste Seestreitkraft der Welt und zutiefst darüber besorgt, dass sie in diesem neuen Zeitalter der atomaren Kriegsführung an Bedeutung verlieren könnte. Also wollte sie drei Atombombentests durchführen – und jeder sollte dabei zuschauen können.

Im Jahr 1946 durchbrach beim Atombombentest Baker nach der Detonation die Gasblase die Wasseroberfläche der Lagune des Bikini-Atolls und schleuderte zwei Millionen Kubikmeter radio­aktives Meerwasser und Sediment in die Luft.

(U.S. Library of Congress)

Die Operation Crossroads war ein großes, feierliches Ereignis.[54] Ein gewaltiger, öffentlichkeitswirksamer Militärtest, der demonstrieren sollte, dass 88 Kriegsschiffe ein zukünftiges nukleares Gefecht auf See bestens überstehen konnten. Mehr als 42000 Menschen versammelten sich auf dem Bikini-Atoll bei den Marshallinseln. Staatsoberhäupter, Journalisten, Würdenträger – sie reisten zu diesem weit entfernten Ort mitten im Pazifik, um die atomaren Explosionen zu erleben. Es war das erste Mal seit dem Krieg, dass Amerika wieder atomare Waffen zündete. Eine Demonstration dessen, was der Welt bevorstand.

»Für das im Verfall begriffene Los Alamos war die Navy im Jahr 1946 der Retter«, so McDuff.

Die Operation Crossroads hauchte dem Atombombenprogramm neues Leben ein. Schon Mitte 1946 was das US-Atomwaffenarsenal auf neun Atombomben angewachsen. Nach dem Test forderte der Vereinigte Generalstab eine Beurteilung der »Atombombe als militärische Waffe« an, um über die nächsten Schritte entscheiden zu können. Das Gutachten, das bis 1975 unter Verschluss gehalten wurde, befeuerte den wachsenden militärisch-industriellen Komplex.[55] Die Details waren alarmierend.

Atombomben seien »eine Bedrohung für die Menschheit und die Zivilisation«,[56] warnten die Admiräle, Generäle und Wissenschaftler, die den Bericht verfasst hatten. Es seien »Massenvernichtungswaffen«, die »große Teile der Erdoberfläche entvölkern« könnten. Aber sie könnten auch sehr nützlich sein, teilte die Gruppe dem Vereinigten Generalstab mit: »Wenn eine große Anzahl verwendet wird, können Atombomben nicht nur das Militär jeder Nation vollständig vernichten, sondern auch ihre sozialen und ökonomischen Strukturen zerstören und deren Wiederaufbau für lange Zeit verhindern.«

Russland werde bald über ein eigenes Arsenal verfügen, betonte der Bericht, und das setze Amerika der Gefahr eines Überraschungsangriffs aus – der später als die schon erwähnte »Blitz aus heiterem Himmel«-Attacke bezeichnet wurde. »Durch das Aufkommen der Atombombe«, so warnte das Gremium, »hat das Überraschungsmoment obersten Stellenwert erlangt, sodass ein Aggressor, der plötzlich und unerwartet mit mehreren Atombomben angreift, einen zunächst stärkeren Gegner vollständig besiegen [könnte]« – damit waren die Vereinigten Staaten gemeint.

Das, was Amerika erschaffen hatte, prophezeite ihm den eigenen potenziellen Untergang.

»Die Vereinigten Staaten haben keine andere Wahl, als das Atomwaffenarsenal zu vergrößern«,[57] lautete der Rat an den Vereinigten Generalstab. Der nahm das zur Kenntnis und stimmte zu.

1947 war das amerikanische Atomwaffenarsenal auf 13 Atombomben angewachsen.[58]

1948 waren es 50.

1949 schon 170.

Aus freigegebenen Akten wissen wir heute, dass sich die Militärplaner darüber einig waren, dass die Feuerkraft von 200 Atombomben dafür ausreichte, das gesamte Sowjetimperium zu vernichten. Doch das Unvermeidliche trat ein. Schon im Sommer desselben Jahres wurde das US-Atomwaffenmonopol gebrochen. Am 29. August 1949 zündeten die Russen ihre erste Atombombe, die fast identisch zu der war, die die USA vier Jahre zuvor auf Nagasaki abgeworfen hatten. Ein in Deutschland geborener kommunistischer Spion, der in Großbritannien studiert hatte, stahl die Baupläne für die Bombe aus dem Labor in Los Alamos. Er war ein Wissenschaftler des Manhattan-Projekts und hieß Klaus Fuchs.

Der Wettlauf um den Bau weiterer Atombomben nahm dramatisch an Fahrt auf. Im Jahr 1950 hatten die USA ihr Arsenal um 129 Atomwaffen vergrößert – von 170 auf 299. Die Sowjetunion verfügte zu diesem Zeitpunkt über fünf.[59]

Im folgenden Jahr, 1951, vergrößerte sich das US-Arsenal erneut – diesmal auf unglaubliche 438 Atomwaffen. Mehr als das Doppelte der Zahl, von der man dem Vereinigten Generalstab gesagt hatte, sie könne »weite Gebiete der Erdoberfläche entvölkern und nur spärliche Überreste der materiellen Werke des Menschen zurücklassen«.[60]

Im nächsten Jahr gab es abermals eine annähernde Verdoppelung der annähernden Verdoppelung.

1952 umfasste das US-Arsenal 841 Atomwaffen.

Achthunderteinundvierzig.

Da das US-Atomwaffenmonopol gebrochen worden war, hatte der Wettlauf um die nukleare Vorherrschaft eine neue Dringlichkeit erhalten. Auf der anderen Seite der Erde begannen auch die Sowjets, in rasantem Tempo Atomwaffen zu bauen.

In nur drei Jahren wuchs das Atomwaffenarsenal der UdSSR von einer auf 50 Bomben an.

Aber die Atombombe – ihre außergewöhnliche Kraft, ihre Fähigkeit zur Massenvernichtung – sollte schon bald verblassen im Vergleich zu dem, was als Nächstes kam. Auf den Reißbrettern der amerikanischen und russischen Waffenentwickler wurden radikal neue Pläne entworfen. So folgte die Erfindung der »zerstörerischsten, unmenschlichsten und willkürlichsten Waffe, die jemals erschaffen wurde«, wie es eine Gruppe Nobelpreisträger nannte.[61] Eine klimaverändernde, hungersnoterzeugende, zivilisationsbeendende, genomverändernde neuere, größere, noch monströsere Nuklearwaffe – eine, die die beteiligten Wissenschaftler »the Super« nannten.

Tatsächlich – »die Super […] funktioniert besser in großen als in kleinen Ausführungen«, teilt uns ihr Entwickler Richard Garwin mit. Für die Leserinnen und Leser dieses Buches bestätigte er: »[Ja], ich bin der Architekt der Super […], dieser ersten thermonuklearen Bombe.«[62] Edward Teller hatte die Idee, Richard Garwin entwickelte sie – zu einer Zeit, als niemand anderes wusste, wie es ging.

Im Jahr 1952 wurde diese nukleare Bombe erfunden. Eine zweistufige Megawaffe: eine Atombombe in einer Atombombe. In einer thermonuklearen Waffe wird eine Atombombe als Auslösemechanismus verwendet. Als ein innerer, explosiver Zünder. Die monströse Explosionskraft der Super entsteht durch eine unkontrollierte, selbsterhaltende Kettenreaktion, in der Wasserstoffisotope unter extrem hohen Temperaturen miteinander verschmelzen. Dieser Prozess wird als Kernfusion bezeichnet.

Eine Atombombe tötet Zehntausende Menschen, wie es die auf Hiroshima und Nagasaki abgeworfenen taten. Eine thermonukleare Bombe, die auf Städte wie New York oder Seoul abgeworfen wird, tötet Millionen Menschen mit einem einzigen, extrem heißen Blitz.

Der Prototyp der Waffe, die Richard Garwin im Jahr 1952 entwarf, hatte eine Sprengkraft von 10,4 Megatonnen. Das entspricht beinahe 1000 Hiroshima-Bomben, die gleichzeitig explodieren. Es war eine entsetzliche Waffe. Garwins eigener Mentor, Enrico Fermi vom Manhattan-Projekt, geriet beim bloßen Gedanken an den Bau einer solchen Monstrosität in eine Gewissenskrise. Fermi und sein Kollege I. I. Rabi wandten sich zwischenzeitlich von ihren Bomben bauenden Kollegen ab und schrieben an Präsident Truman, dass die Super ein »böses Ding« sei.[63]

Wörtlich schrieben sie: »Die Tatsache, dass die Zerstörungskraft dieser Waffe grenzenlos ist, macht ihre Existenz und das Wissen, wie sie gebaut werden kann, zu einer Gefahr für die gesamte Menschheit. Sie ist zwangsläufig ein böses Ding, egal aus welcher Perspektive man es betrachtet.«

Der Präsident ignorierte jedoch den Appell, den Bau der Super zu stoppen, und Richard Garwin erhielt grünes Licht für die Ausarbeitung der Pläne. »Die Wasserstoffbombe war von Natur aus böse, und sie ist und bleibt etwas Böses«, sagt auch Garwin.[64]

Die Super wurde gebaut. Ihr Codename war Mike. Die Operation hieß Ivy. »Also war es der Ivy-Mike-Test.«

Die Testzündung fand am 1. November 1952 auf der Insel Elugelab statt, die zu den Marshallinseln gehört. Der Prototyp Ivy Mike wog etwa 80 Tonnen – ein Vernichtungsinstrument von solch gewaltigen Dimensionen, dass es in einem 27 Meter langen und 14 Meter breiten Gebäude aus Aluminium-Wellblech gebaut werden musste.

Ivy Mike explodierte mit einer bisher unerreichten Sprengkraft.[65] In einem geheimen Bericht stand über den zurückgebliebenen Bombenkrater, dass er »so groß war, dass 14 Gebäude von der Größe des Pentagons darin Platz hätten«.[66] Es gibt viel über die unmenschliche Zerstörungskraft thermonuklearer Waffen zu sagen, aber zwei Luftaufnahmen – vor und nach dem Ivy-Mike-Test – machen sie erst wirklich begreiflich.

Das obere Bild auf der folgenden Seite zeigt die Insel Elugelab, wie sie seit ihrer geologischen Entstehung ausgesehen hat.

Im unteren Bild ist die gesamte Insel verschwunden. An ihrer Stelle klafft ein Krater mit einem Durchmesser von über drei Kilometern und einer Tiefe von 60 Metern. Die Zerstörung der Erde mit Massenvernichtungswaffen hatte nun eine neue Dimension angenommen. Die Entwicklung der Super bedeutete, dass jetzt eine Waffe existierte, die Landflächen verschwinden lassen konnte.

Die Insel Elugelab vor und nach dem thermonuklearen Bombentest Ivy Mike im Jahr 1952

(U.S. National Archives)

Es ist schlicht unvorstellbar, was geschah, nachdem die US-Kriegsplaner gesehen hatten, was 10,4 Megatonnen im Bruchteil eines Augenblicks zerstören können: Das thermonukleare Waffenarsenal wurde mit rasender Eile zuerst um Hunderte, dann um Tausende Bomben vergrößert.[67]

1952 umfasste es wie gesagt 841 Atombomben. Im darauffolgenden Jahr waren es 1169.

Die rasante Vergrößerung des geheimen Atomwaffenarsenals

(US-Verteidigungsministerium; US-Energieministerium)

»Der Prozess wurde industrialisiert«, erklärt der Los-Alamos-Historiker Glen McDuff. »Das waren keine Wissenschaftsprojekte mehr.«

1954 zählte das Arsenal 1703 Atomwaffen. Der militärisch-industrielle Komplex der USA produzierte nun durchschnittlich 1,5 Atomwaffen pro Tag.

1955: 2422. Fast zwei Bomben pro Tag, und es gab jetzt zehn neue Systeme, einschließlich drei neuer Arten thermonuklearer Bomben.

1956: 3692. Die Zahl der Bomben erklomm immer schwindelerregendere Höhen. Der sprunghafte Anstieg des Produktionsniveaus bedeutete, dass diese Massenvernichtungswaffen nun buchstäblich vom Fließband kamen, und zwar durchschnittlich 3,5 Atombomben pro Tag.

Im Jahr 1957 umfasste das US-Arsenal 5543 Bomben. In nur einem Jahr war es also um 1851 Nuklearwaffen angewachsen. Mehr als fünf pro Tag. Und die Zahl wuchs weiter.

1958: 7345.

Und weiter.

1959: 12298.

1960, als sich die US-Kriegsplaner im unterirdischen Bunker in Nebraska trafen, umfasste das Arsenal 18638 Atombomben.

1967 wurde der bisherige Rekordwert von 31255 Atombomben erreicht.[68]

Einundreißigtausendzweihundertfünfundfünfzig Atombomben.

Warum sollte man ein Arsenal aus 1000, 18000 oder 31255 Atombomben haben, obwohl schon eine einzige von der Größe der Ivy Mike über zehn Millionen Menschen töten kann, wenn man sie auf New York oder Moskau abwirft? Warum weiterhin Tausende dieser Waffen produzieren, wenn schon der Abwurf einer einzigen thermonuklearen Bombe mit ziemlicher Sicherheit einen unaufhaltsamen Atomkrieg auslösen wird, der das Ende der menschlichen Zivilisation bedeutet?

Ein neuer Begriff war in aller Munde: »Abschreckung«. Um zu verhindern, dass etwas passiert. Aber was bedeutet das überhaupt?

Geschichtsstunde Nr. 1

Abschreckung

Die Nuklearpolitik der USA orientiert sich an bestimmten Regeln für den Atomkrieg. Von Beginn der 1950er-Jahre an arbeiteten Kriegsplaner Konzepte aus, die den Ausbruch eines Atomkriegs angeblich verhindern und den Kriegsplanern gleichzeitig dabei helfen sollen, einen Atomkrieg zu gewinnen, wenn er doch ausbricht. Regel Nr. 1 ist die Abschreckung, die der Öffentlichkeit mit der Behauptung schmackhaft gemacht wird, dass ein gigantisches Atomwaffenarsenal unerlässlich dafür ist, Feinde von einem möglichen atomaren Angriff abzuhalten.

Abschreckung steht im Zentrum der Nuklearpolitik. Sie funktioniert so: Jede Atommacht baut ein Arsenal an Atomwaffen auf und zielt damit auf den atomar bewaffneten Feind, jederzeit bereit, sie innerhalb weniger Minuten abzufeuern. Weiterhin schwören alle Atommächte, ihre Atomwaffen nie zu verwenden, außer sie werden dazu gezwungen. Manche Menschen sehen in der Abschreckung eine friedliche Retterin. Andere empfinden dieses Konzept als doppelzüngig und fragen: Wie können Atomwaffen die Menschheit vor einem Atomkrieg bewahren?

Seit Jahrzehnten hat die Abschreckung es dem US-Verteidigungsministerium erlaubt, Zehntausende Atomwaffen samt Trägersystemen herzustellen sowie ein komplexes Abwehrsystem zur Verteidigung gegen einen nuklearen Angriff aufzubauen. Soweit bekannt, wurden Billionen Dollar für Atomwaffen ausgegeben. Es gibt keine Möglichkeit, die Gesamtsumme mit Sicherheit zu bestimmen, da die genauen Zahlen geheim sind. Regel Nr. 1 gibt vor, einfach zu sein: Abschreckung bewahrt die Welt vor einem Atomkrieg. Was aber passiert, wenn die Abschreckung versagt?

Kapitel 4

Der SIOP

Der Single Integrated Operational Plan für den atomaren Weltkrieg

Die außer Kontrolle geratene Vergrößerung des US-Atomwaffenarsenals spiegelte sich auch in den Atomkriegsplänen der Teilstreitkräfte wider. So verrückt es heute klingen mag, verfügten die jeweiligen Chefs der U.S. Army, der Navy und der Air Force vor dem Dezember 1960 über ihr eigenes Atomwaffenarsenal samt Trägersystemen und hatten eigene Ziellisten. Um das Chaospotenzial durch diese mehreren, miteinander konkurrierenden Atomkriegspläne zu reduzieren, ordnete der Verteidigungsminister an, sie alle in einen einzigen Plan zu integrieren. So bekam der Single Integrated Operational Plan – der SIOP – seinen Namen.

Weniger als zwei Wochen nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs forderte das US-Militär den Aufbau eines 466 Atombomben umfassenden Arsenals. Es ist die erste bekannte systematische Schätzung, wie viele Atombomben für die Zerstörung von Zielen in Russland und in der von den Sowjets besetzten Mandschurei als notwendig erachtet wurden.

(U.S. National Archives)

Im Jahr 1960 hatte das Strategic Air Command (später in U.S. Strategic Command umbenannt) 280000 Mitarbeiter.[69] Um diesen neuen Plan auszuarbeiten, wurden 1300 von ihnen zum Vereinigten Stab für strategische Zielplanung zusammengefasst.[70] Die einzige Aufgabe dieser Männer und Frauen bestand darin, die einzelnen Ziellisten zu einer großen Zielsammlung zusammenzufassen. Das war der Plan, der John Rubel und seinen Kollegen an jenem Dezembertag im Bunker unter der Luftwaffenbasis Offutt vorgetragen wurde. Der geheime Plan, der, wenn er aktiviert werden würde, zum Tod von wie erwähnt circa 600 Millionen Menschen auf der anderen Seite der Welt führen würde.

Dieser Plan für den atomaren Weltkrieg zeigte, wie die gesamte US-Streitmacht einen präventiven Erstschlag gegen Moskau ausführen würde; wie die Verteidigungsforscher sorgfältig berechnet hatten, dass innerhalb der ersten Stunde 275 Millionen Menschen getötet werden und mindestens 325 Millionen weitere innerhalb der nächsten etwa sechs Monate durch radioaktiven Niederschlag sterben würden.[71] Ungefähr die Hälfte dieser Todesopfer gäbe es in den Nachbarländern der Sowjetunion – Länder, die sich nicht mit Amerika im Krieg befänden, aber durch Winde mit radioaktiver Strahlung verseucht werden würden.[72] Darunter wären auch bis zu 300 Millionen Chinesen.

Im Jahr 1960 lebten drei Milliarden Menschen auf der Welt. Das Pentagon bezahlte damals also 1300 Leute dafür, einen Kriegsplan zu erstellen, der 20 Prozent der Weltbevölkerung in einem präventiven atomaren Erstschlag auslöschen würde. Diese Zahl berücksichtigte jedoch noch nicht die rund 100 Millionen Amerikaner, die mit großer Sicherheit einem russischen Gegenangriff mit gleichen Mitteln zum Opfer fallen würden. Sie berücksichtigte auch nicht die weiteren rund 100 Millionen Menschen in Nord- und Südamerika, die im Lauf der nächsten etwa sechs Monate durch radioaktiven Niederschlag sterben würden. Oder die Unzähligen, die wegen klimatischer Veränderungen durch die in Brand gesetzte Welt verhungern würden.[73]

Als das Briefing geendet hatte, wurde ein zweiter geheimer Angriffsplan erläutert, ein »Angriff auf China, der von einem anderen Redner vorgetragen wurde«, so Rubel in seiner 2008 erschienenen Biografie. Auch hier gab es eine ähnliche Theatralik mit Leitern und Zeigestöcken und Plastikfolien. »Schließlich kam [dieser Redner] zu einer Tabelle, die auflistete, wie viele Todesopfer es allein durch den radioaktiven Niederschlag geben würde.«

Der Referent deutete auf eine Kurve. »Sie zeigte, dass [es] durch den Fallout im Lauf der Zeit […] 300 Millionen Tote [geben würde], die Hälfte der Bevölkerung Chinas«, schrieb Rubel.[74]

Nach einiger Zeit wurde das Meeting vertagt.

Am nächsten Morgen nahm John Rubel an einem weiteren, diesmal kleineren Treffen teil. Neben ihm selbst waren der Verteidigungsminister, alle Angehörigen des Vereinigten Generalstabs, die Staatssekretäre der Army, Navy und Air Force und der Kommandant des US-Marinekorps anwesend. Rubel erinnerte sich, dass der Vorsitzende des Vereinigten Generalstabs, Lyman Lemnitzer, »allen sagte, dass sie ihre Aufgabe sehr gut gemacht hätten, eine sehr schwierige Aufgabe, und dass sie für ihre Arbeit belobigt werden sollten«. Der Army Chief George Decker habe sie auf ähnliche Weise beglückwünscht. Und der Navy Chief Arleigh Burke habe »seine gewohnte Pfeife aus dem Mund genommen und die gleiche Botschaft wiederholt – schwere Aufgabe, gut gemacht, sollten belobigt werden«. Der letzte Sprecher, General Thomas White von der Air Force, habe »mit seiner krächzenden Stimme, die stets eine gewisse Autorität ausstrahlte, ein weiteres der Floskelgewitter abgelassen, die an diesem Morgen angesagt waren«.

Niemand erhob die Stimme, um etwas gegen einen nuklearen Präventivschlag durch die USA einzuwenden, mit dem Hunderte Millionen Menschen willkürlich getötet werden würden, schrieb Rubel. Keiner der Generalstabschefs. Nicht der Verteidigungsminister. Nicht Rubel selbst.

Aber schließlich tat es doch jemand:[75] General David M. Shoup, der Kommandant des Marinekorps, der für seine Taten als Angehöriger dieser Eliteeinheit im Zweiten Weltkrieg die Medal of Honor, die höchste militärische Auszeichnung, verliehen bekommen hatte.

»Shoup war ein gedrungener Mann mit randloser Brille, der auch als Lehrer in einer Kleinstadt im Mittleren Westen hätte durchgehen können«, berichtete Rubel weiter. Mit ruhiger, gleichmäßiger Stimme äußerte der General die einzige ablehnende Meinung zu dem Plan für den Atomkrieg: »Ich kann nur sagen, jeder Plan, der 300 Millionen Chinesen ermordet, zumal sie nicht einmal an dem Krieg beteiligt wären, ist kein guter Plan. Das ist nicht die amerikanische Art.« Im Raum wurde es still. »Niemand rührte sich«, so Rubel.

Niemand unterstützte Shoups Einwand.[76]

Niemand anderes sagte etwas.

Laut Rubel sahen alle einfach weg.

Erst Jahrzehnte später gestand Rubel, dass ihn dieser Atomkriegsplan der USA, an dem er beteiligt gewesen war, an die Pläne der Nazis für den Genozid erinnerte. In seiner Biografie verwies er auf den Tag im vorangegangenen Weltkrieg, als sich eine Gruppe von Amtsträgern des Dritten Reiches in einer Villa in Berlin-Wannsee getroffen hatten. Während des rund 90-minütigen Treffens entschieden diese angeblich rationalen Männer wie sie den Genozid weiter vorantreiben könnten, in einem Krieg, den sie momentan gewannen – dem Zweiten Weltkrieg.[77] Sie wollten sicherstellen, dass sie den totalen Sieg errangen. Die deutschen Reichsbeamten waren sich einig, dass Millionen von Menschen sterben mussten.

Millionen.

John Rubel brauchte Jahrzehnte, um auf Papier zu bringen, welche Gefühle die Treffen auf dem Luftwaffenstützpunkt bei ihm ausgelöst hatten. Als er schließlich auf sein Lebensende zuging, beschrieb er die grundlegenden Ähnlichkeiten zwischen den Versammlungen in Wannsee und Offutt, die ihm aufgefallen waren. »Ich dachte an die Wannsee-Konferenz im Januar 1942«, schrieb er, »auf der sich eine Gruppe deutscher Bürokraten kurzerhand darauf verständigte, jeden einzelnen Juden auszumerzen, den sie in Europa finden konnten. Dafür wollten sie Massenvernichtungsmethoden anwenden, die technologisch effizienter waren als die bis dahin üblichen Massenerschießungen, mit Auspuffgasen gefüllten Lastwagen oder Verbrennungen in Scheunen und Synagogen.« Rubel entschloss sich, der Welt endlich das zu erzählen, was er damals im Jahr 1960 nicht hatte erzählen können. »Es fühlte sich an, als würde ich einen ähnlichen Abstieg tief in das Herz der Finsternis miterleben, in eine düstere Unterwelt, die durch ein diszipliniertes, akribisches und energisch blindwütiges Gruppendenken regiert wurde, das die Hälfte der Menschen auf fast einem Drittel der Erdoberfläche auslöschen wollte.«[78]

Die »Endlösung« sah vor, Millionen europäischer Juden und zusätzlich noch Millionen andere auszurotten, die von den Nazis als Untermenschen betrachtet wurden. Der Plan für den atomaren Weltkrieg, den John Rubel und seine Kollegen absegneten – der SIOP –, beinhaltete die Massenvernichtung der genannten etwa 600 Millionen Opfer: Russen, Chinesen, Polen, Tschechen, Österreicher, Jugoslawen, Ungarn, Rumänen, Albaner, Bulgaren, Letten, Esten, Litauer, Finnen, Schweden, Inder, Afghanen, Japaner und andere, die nach den Berechnungen der US-Verteidigungsforscher von den radioaktiven Luftmassen verstrahlt werden würden.

Die »Endlösung« wurde umgesetzt. Der SIOP dagegen nicht. Aber einen ähnlichen, immer noch geheimen Plan gibt es auch heute. Über die Jahre hat sich sein Name geändert. Was als der Single Integrated Operational Plan begann, ist jetzt der Operational Plan oder OPLAN. Für das Nuclear Information Project haben der Projektdirektor Hans Kristensen und der leitende Wissenschaftler Matt Korda in Zusammenarbeit mit der Federation of American Scientists den aktuellen Operational Plan als OPLAN 8010–12 identifiziert. Sie fanden auch heraus, dass er aus »›einer Familie von Plänen‹ [besteht], die gegen vier als feindlich bestimmte Nationen gerichtet sind: Russland, China, Nordkorea und Iran«.[79]

Das Atomwaffenarsenal der USA ist heute kleiner als im Jahr 1960, aber es sind immer noch 1770 Atomwaffen, die meisten unmittelbar einsatzbereit und Tausende weitere in Reserve – insgesamt mehr als 5000 Sprengköpfe.[80] Russland verfügt über 1674 Atomwaffen, auch hier die meisten davon in einsatzbereitem Zustand und hält ebenfalls Tausende weitere in Reserve. Das Arsenal beider Länder ist also etwa gleich groß.[81]

Es sind die Folgen von genau dieser Art Massenvernichtungsplan, auf denen 72 Minuten bis zur Vernichtung beruht.

»Einen Atomkrieg kann man nicht gewinnen, und er darf nie geführt werden«, mahnten US-Präsident Ronald Reagan und Michail Gorbatschow, der Generalsekretär des Zentralkomitees der Kommunistischen Partei der Sowjetunion, die Welt 1985 in einer gemeinsamen Rede. Jahrzehnte später, 2022, warnte Präsident Joe Biden die Amerikaner, dass »die Gefahr eines [nuklearen] Armageddons« einen erschreckenden, neuen Höhepunkt erreicht habe.[82]

Hier sind wir also angelangt. Am Abgrund der totalen Zerstörung taumelnd – ihm vielleicht noch näher als je zuvor.

»Seien Sie auf eine atomare Explosion vorbereitet.«

(U.S. Federal Emergency Management Agency)

Teil II

Die ersten 24 Minuten

4 Zehntelsekunden nach dem Abschuss

Pjöngsong, Nordkorea

Der Atomkrieg beginnt mit einem Echozeichen auf einem Radarschirm.

Es ist 4:03 Uhr in Nordkorea, die dunkelste Zeit vor der Morgendämmerung. Auf einem scheinbar verlassenen Gelände etwa 36 Kilometer außerhalb der Hauptstadt Pjöngjang erhebt sich eine riesige Feuerwolke wenige Meter über dem Boden. Heiße Raketenabgase schießen aus dem Ende der mächtigen ballistischen Interkontinentalrakete (ICBM) Nordkoreas. Ihr Start erfolgt von einem Fahrzeug mit 22 Rädern, das hier auf grobem Erdboden geparkt ist. Die Hwasong-17, von der Analysten auch als dem »Monster« sprechen, beginnt ihren Aufstieg.[83]

Annähernd 36000 Kilometer über der Erde schwebt ein omnibusgroßer Sensor des US-Satellitensystems SBIRS (»sibbers« genannt) im Weltraum. Durch die Wolkendecke bemerkt er das Feuer der Raketenabgase nur wenige Zehntelsekunden nach dem Zünden.[84]

SBIRS-Satellit

(US-Verteidigungsministerium, Lockheed Martin)

SBIRS ist die Abkürzung für Space Based Infrared System und bezeichnet eine Gruppe von US-Satelliten. In einer Entfernung, die etwa einem Zehntel der Strecke zum Mond entspricht, scheint dieser hier aufgrund der Art seiner Fortbewegung reglos im Weltraum zu schweben. Er ist ein Satellit in einer geostationären Umlaufbahn, also genauso schnell unterwegs wie die Erde in ihrer Umdrehung, sodass er unbewegt über einem Punkt der Erde zu stehen scheint.

SBIRS