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Die junge englische Studentin Lily macht ihre ersten wilden sinnlichen Erfahrungen, als sie sich ein Tatoo stechen lässt. Kurz darauf gerät sie zwischen mehrere Männer – unter ihnen ein verwegener Rockstar, ein eher bodenständiger Uni-Dozent und ein glamouröser Fotograf – und lernt die Welt der Fetischclubs und des BDSM kennen.
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Seitenzahl: 413
1 DAS MÄDCHEN MIT DEM TRÄNENTATTOO
Hätte ich gewusst, was dieses Tattoo bedeutet, hätte ich es mir wahrscheinlich nie zugelegt. Aber als ich es erfuhr, war es schon zu spät, und so bin ich nun für alle »das Mädchen mit dem Tränentattoo«.
Jahrelang hatte ich davon geträumt, mir ein Tattoo stechen zu lassen. Das gehörte für mich zu den Verheißungen der Zukunft – so wie einen Job zu ergattern und eines Tages einen Typen abzubekommen. Ich musste eigentlich nur den richtigen Zeitpunkt abwarten. Dass ich mein Tattoo bekommen würde, hielt ich für weniger fraglich, als nach der Uni einen Job zu finden. Sogar weniger, als mich je zu verlieben.
Als Neil endlich gegangen war und Liana und ich an der unscheinbaren, verwitterten Tür in der Straße mit den vielen kleinen Läden, Trödlern und Cafés vorbeikamen, hatte ich auf einmal das sichere Gefühl, jetzt wäre der richtige Moment gekommen. Auf dem Bürgersteig stand ein einfaches weißes Schild mit der Aufschrift TATTOO STUDIO in großen, schwarzen Kursivbuchstaben.
Ich hatte mich hier schon öfter herumgedrückt, und mehr als einmal hatte ich allen Mut zusammengenommen und die Tür ein Stück aufgemacht, aber drinnen war ich noch nie gewesen. Oft hatte ich geträumt, dass ich hineingehen würde, die Kataloge mit den Vorlagen durchblätterte, zielsicher das schönste Motiv aussuchte, mich in den Stuhl sinken und mir das Tattoo stechen ließ. Aber im letzten Augenblick hatte ich doch immer gekniffen. Ich hatte Angst, ein braves Mädchen wie ich würde von den gepiercten und mit Tattoos übersäten coolen Typen, die ich in dem Laden vermutete, einfach nur schallend ausgelacht.
»Also los jetzt«, sagte Liana und schob sich an mir vorbei in den Laden. Sie war schon immer die Mutigere von uns beiden gewesen. All die Selbstzweifel, mit denen ich mich ständig herumschlug, schienen ihr völlig fremd zu sein.
Hinter der Tür ging es eine steile, einst rot gestrichene, mittlerweile abgetretene Betontreppe hinauf. Auf der linken Seite befand sich ein dicker, aus einem alten Wasserrohr geschweißter Handlauf. Ich klammerte mich daran fest, als wäre es die Rettungsleine, die mich von meinem bisherigen Ich zu jener Person führte, die ich gern sein wollte, und folgte Liana die Stufen hinauf.
Oben erwartete uns das Studio. Die Wände waren dunkelrot gestrichen und voll mit Fotos von tätowierten Körperteilen, mit Skizzen und Plakaten von alten Heavy-Metal-Bands und Rockgruppen. Ich freute mich über ein etwas zerfleddertes Poster von Jimmy Page und Robert Plant, beide mit Gitarre in der Hand. Wer auch immer diesen Raum dekoriert hatte, schien einen guten Musikgeschmack zu haben.
Der Tätowierer beachtete uns gar nicht. Er schaute erst auf, als Liana hüstelte, nachdem wir uns schon vor dem Ladentisch die Beine in den Bauch gestanden hatten. Sein Name sei Jonah, er stamme aus Neuseeland, dieses Studio in Brighton betreibe er schon seit fünfzehn Jahren, jedenfalls erzählte er das Liana, die ihn mit ihrem Geplapper zu bezirzen versuchte.
Jonah hatte eine Glatze und trug von Kopf bis Fuß fast ausschließlich Leder. Sein Gürtel bestand aus dicken Metallgliedern und klirrte bei jedem Schritt. Die muskulösen Arme waren von den Fingerknöcheln bis zu den Schultern, wo sie unter seiner Lederweste verschwanden, komplett tätowiert.
»Sagt mal, Mädels, ihr seid doch nicht etwa betrunken?«, fragte er und musterte uns misstrauisch.
»Ach woher«, erwiderte Liana. »Nur ein Gläschen, um uns Mut zu machen. Wir haben das schon seit Jahren vor.«
»Habt ihr eure Ausweise dabei?«
Hinter einer Seitentür hörte man einen altmodischen Wasserkessel pfeifen. Sie flog auf, und ein anderer Mann trat ein. Er war viel jünger, Anfang zwanzig, und hätte Jonahs Sohn sein können. Beide Männer hatten den gleichen Mund, Lippen wie Mick Jagger, so voll, dass man gar nicht sagen konnte, ob das nun schön oder hässlich war. Jedenfalls gab es beiden einen verwegenen Gesichtsausdruck, der Liana sehr zu gefallen schien und mich ein wenig nervös machte. Der Jüngere lehnte sich an den Türrahmen und drehte sich eine Zigarette. Als er mit der Zunge über das Papier leckte, starrte er Liana ungeniert an.
»Komm schon, Jo«, sagte er schließlich. »Die beiden Mädels wissen schon, was sie tun. Mach hier nicht einen auf fies. Wenn sie das Geld haben, kriegen sie ihr Tattoo.«
Liana lächelte ihn dankbar an.
Jonah schnaubte verächtlich. »Keine Ausweise, keine Tattoos. Ich habe keinen Bock, mich mit angefressenen Eltern rumzuschlagen.«
Wir zückten unsere Studentenausweise, die er aber kaum eines Blickes würdigte. »Wisst ihr, was ihr wollt?«
Wir waren beide über achtzehn, sogar fast gleich alt, unsere Geburtstage lagen nur einen Monat auseinander – ihrer war am 22. Mai, meiner am 21. Juni. Zwillinge, genau am ersten und letzten Tag dieses Sternzeichens geboren, eine Tatsache, mit der sich Lianas esoterisch angehauchte Mutter gerne unsere Freundschaft erklärte.
»Ja. Wir wollen beide das Gleiche.«
Jonah hob die Augenbrauen, als hätten wir gerade eben wieder den Beweis geliefert, totale Kindsköpfe zu sein.
Liana wollte natürlich die Erste sein. Sie zwinkerte mir zu, als sie hinter dem Vorhang verschwand, der den Tattoo-Bereich vom Rest des Studios abtrennte. Ihr langer Rock schwang um ihre schmalen Fesseln. Sie war von Natur aus so schlank, dass sie fast dürr wirkte, und trug gern weite Klamotten im Zigeunerlook, von denen Neil immer sagte, sie erinnerten ihn an die Vorhänge seiner Großmutter. Doch sie verstand es, sich mit einem Stolz zu bewegen, der ihre gesamte Erscheinung sehr anziehend machte.
Der Typ mit der Selbstgedrehten schien jedenfalls eindeutig Gefallen an ihrer Figur zu finden und verbarg nicht im Geringsten, dass ihm ihr Hintern gefiel, als sie durch den Raum schwebte.
»Ich heiße Nick«, sagte er, den Blick unverwandt auf die Stelle geheftet, wo gerade eben noch Liana gestanden hatte. Offenbar war ich Luft für ihn.
»Lily«, warf ich ihm knapp hin.
»Hübscher Name«, entgegnete er gelangweilt.
Ich achtete nicht weiter auf ihn.
Meinen Vornamen hatte ich schon immer gehasst. Er klang ganz nach bravem Töchterchen wohlhabender Eltern, was ich ja auch war. Unbedarft, langweilig und mehr oder weniger Jungfrau. Wenn meine Eltern mir schon unbedingt einen altmodischen englischen Namen hatten verpassen müssen, wieso dann nicht wenigstens einen, den man cool zu Jo oder Jac abkürzen konnte?
Nick zündete sich seine Zigarette an und blies den Rauch in meine Richtung. Ich hielt die Luft an, um ihm nicht die Freude zu machen, einen Hustenanfall zu bekommen.
Wir sprachen kein Wort miteinander, bis Liana fertig war. Kaum trat sie hinter dem Vorhang hervor, huschte ich dahinter. Ich wollte die Sache so rasch wie möglich hinter mich bringen, damit ich es mir nicht doch noch anders überlegte.
»Zeig mal«, hörte ich Nick zu ihr sagen. Sie kicherte, und ich stellte mir vor, dass sie ihren Rock höher als nötig hob und ihm ihr nacktes Bein entgegenstreckte, das Nick bestimmt streicheln würde.
»Für dich also das Gleiche?«, fragte Jonah, ohne mich anzuschauen. Er beugte sich über eine Schale mit Metallinstrumenten und bestückte seine Tätowierpistole mit einer neuen Nadel.
»Nein.«
»Nein?« Er sah mich an, und ein Lächeln spielte um seine vollen Lippen. »Ich dachte, ihr zwei hättet das seit Jahren vorgehabt.«
»Jetzt will ich aber etwas anderes.« Ich hatte es auf einmal gründlich satt, den Erwartungen anderer Leute zu entsprechen. Selbst wenn es Liana war, so gern ich sie auch hatte.
»Bist du dir sicher?«, hakte er nach, als ich ihm erklärt hatte, was ich mir vorstellte. Die Idee war mir gerade erst gekommen, als ich einen letzten Blick auf die Poster geworfen hatte.
»Ganz sicher.«
»Gut.«
Er wies auf den Stuhl neben sich, und ich nahm Platz. Ganz kurz überlegte ich, ihn um eine örtliche Betäubung zu bitten, wie man sie beim Zahnarzt bekommt. Aber vermutlich hätte mich Jonah nur verächtlich angeschaut, selbst wenn er so etwas im Angebot gehabt hätte. Und außerdem wollte ich ja cool und entschlossen rüberkommen, ganz so, als wollte ich jede Sekunde dieser Erfahrung genießen. Zudem war das Tattoo winzig, es würde bestimmt kaum mehr wehtun als ein Mückenstich, höchstens dass es ein bisschen zwickte und brannte. So stellte ich mir das jedenfalls vor.
Doch ich täuschte mich gewaltig.
Beim ersten Stich hätte ich vor Schmerz fast aufgeschrien. Ich umkrallte die Armlehnen. Der Schmerz breitete sich wellenförmig um die Einstichstelle aus, erfasste erst meine Wange und dann meinen Kiefer, bis dann sogar die Nervenenden in meinen Fingerspitzen kribbelten und zuckten, als wäre ich ein Frosch, den man vor einer kichernden Klasse auf dem Seziertisch mit Elektroschocks traktiert. Meine Fantasie ging mit mir durch.
Ich schloss die Augen.
Gerade als der Schmerz etwas nachließ, oder ich zumindest meinte, ihn aushalten zu können, stach die Nadel zum zweiten Mal zu. Ich holte tief Luft. Die Gerüche des Studios überwältigten meine Sinne: irgendwelche Chemikalien; trockener Staub; die männlichen Ausdünstungen von Jonah, der sich über mich beugte; seine alte Lederweste; frischer und abgestandener, kalter Zigarettenrauch; und sogar Lianas billiges Parfüm, das noch in der Luft hing, obwohl sie doch jetzt auf der anderen Seite des bunten Vorhangs war, wo sie sicher ihren Knöchel mit dem neuen Tattoo pflegte und mit Nick flirtete.
Allmählich blendete mein Bewusstsein das gedämpfte Geräusch von Jonahs Tätowierpistole aus und konzentrierte sich nun auf das Geschehen; es unterteilte die Empfindung in einzelne Stufen, schottete sich gegen den Schmerz ab, bis er in eine andere, unendlich weit entfernte Dimension abdriftete und nichts mehr mit mir zu tun hatte.
»Und, ist es auszuhalten?«, hörte ich Liana rufen.
Mit einem Schlag war ich wieder in der Realität. »Aujaah! Geht so.«
Jonah trat einen Schritt zurück und besah sich sein Werk.
»Fast fertig«, erklärte er. »Nur noch die Kontur ausfüllen.«
»Schwarz bitte, nicht blau. Auf keinen Fall blau!«
»Ja, das hast du schon gesagt …«
Aus dem Augenwinkel sah ich, dass er nach einer anderen Nadel griff und sie sorgsam in sein Instrument einsetzte. Ich holte tief Luft, als sich seine schwere Hand wieder der Stelle unterhalb meines linken Auges näherte.
Diesmal war der Schmerz nicht so stechend. Irgendwie dumpf, sogar beruhigend. Fast angenehm.
Schon immer war ich gern zum Arzt und zum Zahnarzt gegangen. Das hier war jetzt ziemlich ähnlich. Ich fand es tröstlich, wenn ich in einen Stuhl sinken und mich einem Experten in die Hand geben konnte. Die spartanische Einrichtung des Raums, der kühle Glanz der sterilisierten Instrumente und Jonahs präzise, bedachte Bewegungen, all das wirkte auf merkwürdige Weise angenehm. Seine Finger, die in Handschuhen steckten, berührten meine Wange so sanft wie Schmetterlingsflügel.
Nachdem ich den anfänglichen Schreck und Schmerz überwunden hatte, war es doch nicht so schlimm. Ich saß im hellen Schein der Lampe, während Jonah, dessen Augen meinen ganz nah waren, sich große Mühe gab. Wie unter einem Vergrößerungsglas sah ich jede einzelne Pore seiner rötlichen Wangen. Die Gesichtszüge dieses Fremden, der mich gerade fürs Leben zeichnete, erschienen vor mir wie in einem Zerrspiegel.
»Ich gehe nur mal schnell Zigaretten holen, okay?«, hörte ich Liana rufen, dann das Bimmeln der Ladenglocke.
»Dauert nicht mehr lang«, sagte Jonah und wischte vorsichtig mit einem Tuch um die Stelle herum, die er gerade bearbeitet hatte. »Nur noch sauber machen.« Der stechende Geruch eines Desinfektionsmittels nahm mir fast den Atem.
Nun war der Schmerz beinahe schon vergessen, und eine wohlige Wärme und Benommenheit beherrschten meine noch etwas trunkene Wahrnehmung. Und doch fühlte ich mich nüchterner denn je. Ich hatte es getan! Ich hatte mein Tattoo.
Was würden meine Eltern wohl dazu sagen? Eigentlich waren sie der Grund, dass ich es unbedingt haben wollte, und deshalb hatte ich Liana aus dem Moment heraus vorgeschlagen, uns jetzt endlich die lang ersehnten Tattoos stechen zu lassen.
Ich hatte es satt, die Lily vom Lande zu sein, das brave Töchterlein, die Langweilerin. Ich wollte endlich aus der Rolle fallen, anders sein. Etwas wagen, das mir niemand zugetraut hätte.
»So, fertig«, sagte Jonah und hielt mir einen kleinen Spiegel hin.
Ich schlug die Augen auf.
Perfekt.
Eine winzige Träne, die aus meinem linken Auge kullerte, und ein feiner schwarzer Strich, der sie verband.
Tiefschwarz auf weißer Haut.
Jetzt sah ich nicht mehr wie Schneewittchen aus. So hatten mich meine Eltern und Verwandten immer liebevoll genannt, bis ich einmal im Alter von zwölf Jahren so zornig dagegen aufbegehrt hatte, dass anschließend niemand mehr wagte, mich so zu nennen. Disneyfilme hasste ich aus tiefstem Herzen.
»Gefällt mir«, sagte ich. Jonah tupfte mir erst eine Creme unters Auge und klebte mir dann ein transparentes Pflaster darauf.
»Hoffentlich sagst du das auch noch in zwanzig Jahren«, entgegnete er.
Ich sammelte mein Zeug zusammen und verließ den Laden.
Liana und Nick standen rauchend auf dem Bürgersteig und blickten versonnen aufs Meer hinaus.
»Fertig«, verkündete ich.
Sie schauten mich an.
»Scheiße, verdammte!«, entfuhr es Liana. »Du hast dir ja das Gesicht tätowieren lassen!« Sie kniff die Augen zusammen, um die Sache genauer zu betrachten. »Bist du völlig übergeschnappt, Lily?«
»Ich habe mich halt umentschieden«, antwortete ich. »Ich wollte was anderes.«
Nick grinste anerkennend und pfiff leise durch die Zähne.
»Stille Wasser sind tief«, kommentierte er.
»Herrgott …«, zischte Liana. »Wir hatten doch gesagt, wir lassen uns das Gleiche machen.« Sie schob das Bein vor und deutete auf den kleinen, bunten Schmetterling, der nun ihren Knöchel zierte und unter dem durchsichtigen Pflaster leicht verzerrt aussah.
Ich lächelte.
Vielleicht würde ich mir morgen noch die Haare schneiden lassen. Um endlich ganz und gar eine andere zu werden. Da ich von Natur aus pechschwarzes Haar hatte, war Färben überflüssig.
»Du hast wirklich nicht alle Tassen im Schrank!«
Ich war nicht immer so überdreht gewesen. Wer mich vor meiner Zeit auf der Universität von Sussex kannte, fand mich wahrscheinlich eher langweilig. Gehobene Mittelschicht, beide Eltern Akademiker, Eigenheim mit Garten und Haustieren, eigenes Zimmer und so weiter. Alles, was eine glückliche, wenn auch etwas zu behütete Kindheit ausmachte. Erst als ich von zu Hause auszog, begann ich manches infrage zu stellen, zunächst die kleineren Dinge, dann das Ganze. Nachdem die Saat des Zweifels erst einmal aufgegangen war, wucherte sie immer weiter.
Wenn ich an das Leben meiner ewig duldsamen Mutter dachte, wurde ich ganz depressiv. Sie hatte ihre Karriere aufgegeben, um mich auf die Welt zu bringen, hatte viel Zeit mit Windeln verbracht, für mich die Chauffeurin gespielt und im Garten Unkraut gejätet. Das konnte doch nicht alles sein. Ich hatte ein paar Freunde gehabt und meine Unschuld im Alter von siebzehn an einen netten Jungen verschenkt, der mir nichts bedeutete, aber gerade zugegen war. Es war ganz in Ordnung gewesen, mit ihm zu schlafen, aber spektakulär war es nicht. Eines Tages würde ich in dieser Hinsicht mehr erleben, da war ich mir sicher. Doch irgendetwas fehlte mir die ganze Zeit. Etwas Wichtiges. Ich wusste nur nicht, was.
Als Jugendliche war ich gewiss keine Rebellin, denn es gab nichts, wofür oder wogegen ich meinte kämpfen zu müssen. Meine Aufmüpfigkeit reichte gerade mal so weit, dass ich die Wände meines Zimmers mit Postern von Heavy-Metal-Bands und Rockstars zupflasterte. Die grimmigen Bilder von Alice Cooper und Kiss inspirierten mich irgendwie, obwohl ich mir eingestehen musste, dass selbst meine musikalische Rebellion dem Trend Jahrzehnte hinterherhinkte. Meine Rockidole waren längst alt und anständig geworden. Ich hing irgendwie in der Luft.
Liana lernte ich an meinem ersten Tag an der Uni kennen. Wir saßen zufällig am selben Tisch in der Mensa. Beide waren wir zum ersten Mal weg von zu Hause und noch ein wenig orientierungslos, hatten aber bereits das Gefühl, dass wir uns dort nicht so recht einfügen würden. Wir waren Außenseiter und passten gut zueinander, auch wenn wir uns äußerlich sehr unterschieden. Sie hatte mittelbraunes Haar und ich schwarzes, außerdem war sie größer und schlanker als ich. Meine Eltern waren beide Mediziner, ihr Vater war Patentingenieur, und ihre Mutter hatte früher als Stewardess gearbeitet.
Was mich zu ihr hinzog, war jedoch weniger unser ähnlicher familiärer Hintergrund, sondern ihre Wildheit und ihr Draufgängertum, die ich bewunderte. Sie schien die unsichtbaren Ketten abgeschüttelt zu haben, die mich noch zurückhielten. Wir hatten uns beide für englische Literatur eingeschrieben und besuchten mehrere Seminare gemeinsam. Bald waren wir unzertrennlich, und ein Jahr später zogen wir mit vier anderen Studenten in ein großes Haus nahe Hove.
Einer von ihnen war Neil. Er war ganz neu an der Uni, und so nahmen wir ihn unter unsere Fittiche. Er war wie ein kleiner Bruder für uns, harmlos und treu. Liana gestand mir allerdings einmal, dass er sie an ihren Vater erinnerte, der auch immer schweigend ihre Ausschweifungen missbilligte.
Es war ein Freitagnachmittag. Mit Liana, Neil und einem Dutzend anderer hatte ich früh in der Bar des Studentenwerks zu trinken angefangen, dann waren wir durch die Pubs der Stadt gezogen. Liana und ich hielten uns allerdings zurück – wir wollten die ganze Nacht durchmachen, wenn wir die anderen erst einmal losgeworden wären. Da wir beide keine Lust hatten, übers Wochenende zu unseren Eltern zu fahren, könnten wir uns zwei volle Tage lang von unserem Kater erholen, ehe es am Montag mit den Seminaren und Vorlesungen weiterginge.
Als wir schließlich zur Strandpromenade und den Lanes kamen, waren wir nur noch zu siebt. Gut gelaunt und ohne Eile klapperten wir die dortigen Bars ab. Liana und ich waren immer noch einigermaßen nüchtern und amüsierten uns köstlich über die Possen unserer Freunde, die spätestens in ein paar Stunden reif fürs Bett sein würden, während wir noch die ganze Nacht vor uns hatten.
Nachdem wir am Nachmittag am großen Pier eine Pause eingelegt hatten, um uns mit Fish and Chips zu stärken, verschwanden wieder einige. Weitere Verluste hatten wir auf dem Weg zur Bar des Komedia in der Gardner Street zu beklagen. Weil Neil die Bedienung kannte, konnten wir ungestört in einer Ecke sitzen, unsere übermütigen Späße treiben und uns ewig an unseren Gläsern festhalten.
Liana kramte in ihrer lächerlich großen Handtasche nach Geld und fluchte dabei leise vor sich hin, als könnte sie dadurch neue Scheine aus dem Nichts herbeizaubern.
»Scheiße, Scheiße, Scheiße«, sagte sie. »Hier war doch noch Geld drin, ich bin mir ganz sicher.«
»Das glaubst du immer«, warf ich ein.
Neil, der deutlich weniger Alkohol vertrug als wir, saß uns bleich und nicht mehr ganz frisch gegenüber und starrte aus glasigen Augen ins Leere.
»Ich kriege keinen Tropfen mehr runter«, ächzte er.
»Spielverderber«, murmelte Liana, während ich nur lächelte.
»Ich gehe mal besser nach Hause«, sagte Neil und erhob sich schwerfällig von seinem Platz, wobei er sich mit einer Hand auf dem Tisch abstützte, der mit unseren leeren Gläsern den Anblick eines Schlachtfelds bot.
Liana blickte in die Runde, ohne ihn überhaupt noch zu beachten.
»Wo sind denn die anderen beiden abgeblieben? Wie hießen sie noch mal? Wally und Dasha?« Erst jetzt fiel ihr auf, dass sich die beiden Biologiestudenten, mit denen wir bislang rumgezogen waren, längst abgesetzt hatten und wir drei die letzten Mohikaner waren. Beziehungsweise wir zwei, denn Neil warf ja gerade das Handtuch.
»Na endlich. Nur noch du und ich, Süße.« Liana zwinkerte mir zu, als Neil verschwand. »Der Abend ist noch so jung, und wir sind noch so fit, Lily, mein Herzblatt.«
»Eigentlich glaube ich nicht, dass ich es schaffe, die ganze Nacht durchzumachen, selbst wenn ich es mir leisten könnte«, sagte ich. Liana kramte wieder in ihrer Handtasche. Der anstrengende Tag und das Glas Lager, das ich mir gerade gegönnt hatte, forderten bereits ihren Tribut.
Mit strahlendem Gesicht zog sie zwei Fünfziger heraus.
»Wusste ich’s doch. Mein Notgroschen!«
Sie reichte mir einen der beiden Scheine. »Kannst du mir irgendwann mal zurückgeben«, sagte sie. »Ist eigentlich sowieso nicht mein Geld, und außerdem schulde ich dir bestimmt noch was von neulich.«
»Zwei Fünfziger!«, rief ich. »Wo hast du denn so viel Geld her?«
»Hat mir Dad geschickt. Offensichtlich hat er wegen irgendwas ein schlechtes Gewissen.«
»Wedle damit nicht so herum.«
»Wir sollten es für einen guten Zweck ausgeben. Wenn nicht für Alk, dann eben für was anderes, das sich lohnt. Hast du eine Idee?«
»Tja, keine Ahnung«, antwortete ich. »Schade, dass Neil schon gegangen ist. Ihm würde bestimmt was einfallen.«
»O ja, ganz bestimmt.« Liana grinste frech.
»Was willst du damit sagen?«, fragte ich.
»Spiel nicht die Unschuld vom Lande … Dir ist doch wohl nicht entgangen, wie er dich die ganze Zeit angestarrt hat?«
Nein, das nicht. Bloß hatte es mich nicht besonders interessiert. Neil sah ganz gut aus und war nett, aber auch reichlich langweilig.
»Er ist einfach nicht mein Typ.«
»Was ist denn dein Typ? Komm, hab dich nicht so. Wenn du so weitermachst, bleibst du bis an dein Lebensende solo«, neckte mich Liana.
Mir fielen die schon lang vergessenen Gesichter in meinem Kinderzimmer ein. Finster geschminkte Männer in schwarzem Leder mit Metallnieten, wilde Kerle. Diese Poster hatte ich natürlich zu Hause gelassen, hier in meiner Wohngemeinschaft hätte man mich dafür ausgelacht. Da Liana merkte, dass ich keine Lust hatte, über das Thema zu reden, ließ sie rasch davon ab.
»Puh«, sagte sie und strich sich die Haare aus der Stirn. »Viel zu warm hier drin. Mir fallen auch schon die Augen zu. Wollen wir einfach ein bisschen an die frische Luft gehen? Früher oder später finden wir bestimmt etwas, das Spaß macht.«
»Ich bin dabei.«
Der Abend brach herein, und es wurde merklich kühler. Die Juweliere und Antiquitätenhändler in den Lanes schlossen bereits ihre Läden, und die Passanten zerstreuten sich.
Wir wanderten ziellos umher. Noch immer hatten wir keinen Plan, wie wir uns diesen Abend und die Nacht um die Ohren schlagen wollten, als wir auf einmal an dem Tattoo-Studio vorbeikamen.
»Halt mal!«, rief ich.
»Was denn?«
»Weißt du noch, dass wir uns mal geschworen haben, uns beide das gleiche Tattoo stechen zu lassen?«
Über ein Jahr war das nun her. Wir hatten uns gerade erst kennengelernt und waren damals viel betrunkener gewesen als heute. Unsere Begeisterung, endlich unseren Familien entronnen zu sein und einander gefunden zu haben, war noch ganz frisch. Ich erinnerte mich nur undeutlich an unser damaliges Gespräch, doch der Plan erschien mir plötzlich ungeheuer reizvoll. Das wäre ein echter Tabubruch, etwas, das brave Mädchen nie und nimmer tun würden.
»Super Idee. Genau das machen wir«, sagte Liana. »Meinst du, das Geld reicht?« Sie deutete auf ihre Rocktasche, wo der zerknitterte Geldschein nun steckte.
Ich hatte nicht die geringste Ahnung, wie teuer ein Tattoo war.
»So ein kleines kann ja nicht die Welt kosten«, meinte ich achselzuckend und ging auf die Ladentür zu.
»Mensch, Lily, ist das aufregend«, sagte Liana kichernd.
Und nun hatten wir es tatsächlich getan.
»Was habt ihr jetzt vor, ihr zwei Hübschen?«
»Noch was trinken, das muss doch gefeiert werden, oder?«, antwortete Liana, die bester Laune war, auch wenn ihr der Knöchel sicherlich höllisch wehtat, jedenfalls wenn ich von dem brennenden Schmerz in meinem Gesicht ausging.
»Ich erhebe ja nur ungern die Stimme der Vernunft«, sagte Nick und strich Liana eine Strähne aus dem Gesicht, als würde er sie schon seit Ewigkeiten kennen. Allmählich kam ich mir vor wie das fünfte Rad am Wagen und war drauf und dran, die beiden allein zu lassen, mich eifersüchtig schmollend nach Hause zu verziehen und mein Tattoo zu pflegen. Doch ich machte mir Sorgen, Liana könnte mal wieder in eine üble Geschichte hineinschlittern. Also würde ich diesen Nick tapfer ertragen, solange Liana ihn nicht abhängte. »Aber es ist keine gute Idee, mit einem frisch gestochenen Tattoo Alkohol zu trinken«, fuhr er fort. »Ihr müsst nach Hause gehen und die Stelle waschen. Habt ihr nicht zugehört, als es um die Nachbehandlung ging?«
»Natürlich haben wir zugehört«, erwiderte Liana und zog an ihrer Zigarette. »Wir sind doch nicht blöd. Aber ein kleiner Schluck wird ja wohl noch drin sein? Es ist Freitagabend, und wir sind noch stocknüchtern.«
Ich sagte nichts dazu. Mir war zum Heulen zumute. Wie dumm von mir, geglaubt zu haben, ein Tattoo würde alles verändern. Ich hatte jetzt zwar mein neues Gesicht, war aber immer noch dasselbe Mädchen mit demselben Leben.
»Ich wohne gleich hier um die Ecke. Und habe jetzt frei, den Laden schließt Jonah ab. Kommt doch auf ein Glas mit zu mir. Warmes Wasser für eure Tattoos gibt es auch. Dann kriegt ihr einen Kaffee, und ich bestelle euch ein Taxi, sobald ihr bereit seid, euch Mami und Papi zu präsentieren. Darum beneide ich euch allerdings nicht«, fügte er mit einem Blick auf die ewige Träne unter meinem Auge hinzu.
»Wir leben nicht bei unseren Eltern«, erwiderte ich schnippisch.
»Na, dann könnt ihr auch bei mir übernachten, nur zur Sicherheit. Nicht, dass du dir am Ende noch eine Augenentzündung holst.«
Seine plumpe Anmache brachte ihn selbst zum Lachen. Ich hätte ihm am liebsten eine geklebt, auch wenn ich zugeben musste, dass er ein Hingucker war, besonders wenn er lächelte und zwischen seinen vollen Lippen die schönen, weißen Zähne blitzten. Auf seine strubbelige, nachlässige Art war er sehr attraktiv. Auf Typen wie Neil, die ständig ins Fitnessstudio rannten, ohne dass man es ihnen ansah, blickte er bestimmt verächtlich herab. Er blieb offenbar ohne Anstrengung schlank, und einen ansehnlichen Bizeps hatte er auch. Und ganz bestimmt hatte er schon eine Woche lang keinen Kamm mehr in der Hand gehabt.
»Worauf warten wir noch?« Liana hielt jedem von uns einen Arm hin, damit wir uns einhakten, und so zogen wir zu Nicks Wohnung in der King’s Road.
Ich ließ die beiden allein im Laden nebenan Wein und noch mehr Zigaretten kaufen und schaute unterdessen aufs Meer, das sich am Pier brach. Da vibrierte mein Handy.
Alles in Ordnung? Soll ich euch abholen?
Neil hatte sich genügend erholt, um sich Sorgen zu machen, und fühlte sich auch schon wieder in der Lage, uns zu retten. Wahrscheinlich plagte ihn das schlechte Gewissen, seit er die Kneipe verlassen hatte. Das war ja süß, aber auch irgendwie nervig. Erinnerte mich schwer an meine Eltern.
Uns geht’s bestens. Übernachten bei Freund. Warte nicht auf uns, simste ich ihm zurück, damit Neil nicht durchdrehte und am Ende noch die Polizei rief, falls wir wirklich nicht nach Hause kämen.
Mein Tattoo pochte noch immer, und ich hatte das plötzliche Bedürfnis, zum Pier zu rennen und mich ins Meer zu stürzen, damit die eisigen Fluten meine brennende Wange kühlten und am besten auch gleich diesen blöden Bammel fortspülten, der mir ständig im Nacken saß. Als könnte ein beherzter Sprung ins kalte Nass aus mir einen ganz neuen Menschen machen – wie eine Taufe. Und ich hatte tatsächlich das Gefühl, dieser Abend würde einen Neuanfang setzen.
Ich hatte ja keine Ahnung, wie sehr sich das bewahrheiten sollte.
»Alles in Ordnung mit dir, Schatz?« Lianas Stimme riss mich aus meinen Tagträumen. »Schau nicht so betröppelt. Deine Eltern werden schon drüber hinwegkommen. So oft besuchst du sie ja nicht, sie müssen es also nicht tagtäglich ertragen.«
Lachend nahm sie mich bei der Hand und zog mich hinter Nick her bis hoch zu seiner Wohnungstür.
»Alle Achtung«, sagte Liana, als wir in das helle, weite Wohnzimmer traten, dessen großes Erkerfenster einen grandiosen Ausblick aufs Meer bot. »Hier wohnt kein verarmter Künstler, habe ich recht?«
»Ihr könnt meinen Eltern für die Wohnung danken. Ihr beiden seid nicht die einzigen rebellischen Kinder in der Stadt, auch wenn ihr das vielleicht glaubt.«
Seine Mutter sei eine erfolgreiche Rechtsanwältin, erzählte er uns, und sein Vater Banker. Er aber habe sein Jurastudium abgebrochen, um bei seinem Onkel Jonah als Tätowierer in die Lehre zu gehen. Das sei seine Art, sich den Erwartungen seiner Eltern zu entziehen.
Liana fühlte sich bei ihm gleich wie zu Hause. Sie fläzte sich aufs Sofa und legte den Knöchel mit dem neuen Tattoo auf einen Schemel. Ich ließ mich etwas steif neben ihr nieder.
Nick reichte uns beiden ein Glas Wein und verschwand dann kurz, um mit einer Schüssel warmem Wasser und sauberen Tüchern wiederzukommen. Er zog sich einen Stuhl zu Liana heran, schob ihr den Rock bis weit übers Knie hoch, obwohl er doch nur an ihren Knöchel musste, den sie schon entblößt hatte.
Ich trank einen Schluck Rotwein. Es war ein mieses, billiges Gesöff, aber ich brauchte einen Stimmungsaufheller. Egal was, Hauptsache, es half mir zu ertragen, wie Liana und ihr neuer Typ miteinander turtelten.
Er strich mit seinen Händen um ihr Fußgelenk und betastete jede Wölbung, als wäre sie ein Universum für sich, bis er plötzlich mit einem Ruck das Pflaster abriss. Sie sog hörbar die Luft ein.
»Bisschen vorsichtiger, Mann«, sagte sie mit zusammengebissenen Zähnen.
Ihre Reaktion schien ihn nur anzuheizen. Seine Wangen glühten, und seine vollen Lippen waren leicht geöffnet, als würde er sie bereits küssen – zumindest in seiner Vorstellung.
Als mein Blick seine Hose streifte, bekam ich fast einen Schreck, so groß war die Beule in seinem Schritt. Lianas Schmerzen machten Nick offensichtlich an. Ich war hin und her gerissen. In diesem Augenblick hätten wir die Beine in die Hand nehmen sollen. Ich als die Vernünftigere von uns beiden hätte aufstehen und gehen sollen, Liana wäre mir trotz ihrer Dickköpfigkeit sicher gefolgt. Sie war zwar leichtsinnig, aber auch eine treue Seele.
Andererseits, was ging es mich an, mit wem Liana rumflirtete. Sie war nicht betrunken und mochte den Typen offenbar.
»Raucht ihr?«, fragte er.
Es war klar, dass er damit nicht Zigaretten meinte.
Liana grinste ihn an. »Warum nicht? Lustiger, als eine Aspirin zu nehmen.«
Nick streichelte noch einmal über ihr Bein, stand auf und kramte in einem Schrank.
»Reicht gerade noch für uns drei«, sagte er und warf Liana ein kleines Alufolienpäckchen und Zigarettenpapier in den Schoß. »Kannst du drehen?«
Sie nickte und faltete die Folie vorsichtig auf. Zum Vorschein kam grünes, trockenes Gras, und ein unverkennbarer klebrig süßlicher Geruch verbreitete sich. Ich hatte noch nie Marihuana geraucht, aber auf dem Campus schon oft den Duft in der Nase gehabt.
»Na, Lily, mein Unschuldslamm, heute noch ein zweites erstes Mal?«, neckte sie mich, zupfte reichlich von dem grünen Zeug ab und verstreute es auf dem Zigarettenpapier. Ich nickte. »Keine Angst, ich zeige dir, wie man das richtig macht.«
»Gib nicht so an«, erwiderte ich. Der Wein stieg mir langsam zu Kopf, und ich fühlte mich streitlustiger als sonst. Liana lachte nur.
Sie zündete die Tüte an, nahm einen tiefen Zug und winkte hektisch, damit ich mein Gesicht ihrem näherte.
»Es knallt nicht so rein, wenn du es von mir nimmst«, presste sie zwischen den Zähnen hervor, den Rauch immer noch in den Lungen. Sie legte mir sanft die Hände auf die Schultern, beugte sich vor und drückte ihre Lippen auf meine, nicht um mich zu küssen, sondern um mir den Rauch in den Mund zu blasen.
»Drin behalten«, japste sie, als sich unsere Münder voneinander lösten. Ihre Lippen waren unglaublich weich und schmeckten nach Wein. Zu meiner Überraschung bedauerte ich es, als sie sich wieder zurücklehnte.
»Oh, wie niedlich«, sagte Nick, der die nächste Flasche geholt hatte und gerade rechtzeitig zurückkam, um die Atemspende zu beobachten.
»Jetzt bin ich dran.«
Er nahm den Joint zwischen Daumen und Zeigefinger und saugte ihn förmlich aus. Dann fasste er Liana am Kinn und hob ihren Kopf an. Seine Hand strich über ihren Kehlkopf. Ich bekam einen Schreck und spannte alle Muskeln, um notfalls aufzuspringen und ihm in den Arm zu fallen. Ihr Hals wirkte unter seiner Pranke so erschreckend zart.
Doch statt Angst und Panik zu zeigen, krümmte sie zu meinem Erstaunen nur den Rücken und reckte ihm den Mund entgegen. Er schloss fest die Hand um ihren Hals und ließ nicht locker, während er ihr den Rauch in den Mund blies. Als er sie plötzlich freigab, sank sie mit einem glückselig entspannten Gesichtsausdruck aufs Sofa zurück.
Das Bild, wie er ihren Hals umfasste und sie darauf reagierte, taumelte in meinem Kopf herum, und ich begann haltlos zu kichern.
»Ich glaube, ich muss mal kurz verschwinden«, flüsterte ich, als ich endlich wieder einen Ton herausbekam.
Nick wies zum Flur. »Zweite Tür«, sagte er, ohne aufzuschauen. Sein Blick klebte förmlich an Liana. Sie hatten mein unkontrolliertes Gekicher gar nicht beachtet. Für die beiden war ich inzwischen ohnehin Luft, sie benahmen sich, als hätten sie gerade eine völlig faszinierende Entdeckung aneinander gemacht.
Ich stand auf und tastete mich mit weichen Knien an der Wand entlang zum Klo. Dabei versuchte ich zu begreifen, was zwischen Liana und Nick eigentlich abging und was ich da gesehen hatte, aber in meinem Kopf drehte sich nur alles. Der Shit hatte die Regie übernommen.
Im Spiegel glotzten mich meine blutunterlaufenen Augen an. Durch das Tattoo auf der einen Wange wirkte mein Gesicht wie aus dem Gleichgewicht geraten. Es kam mir so vor, als hätte ich mich in der Mitte durchgeschnitten und als gäbe es nun zwei Lilys: mein altes, braves Ich und die neue Rockerbraut. Ich sah aus wie ein Clown, und das Pflaster juckte. Am liebsten hätte ich es abgerissen und mich gekratzt, aber ich beherrschte mich, spritzte mir nur kaltes Wasser ins Gesicht und ging zurück ins Wohnzimmer.
Aus der Stereoanlage waberte Dark Side of the Moon von Pink Floyd. Die Klänge zogen mich völlig in ihren Bann, sie schienen unter meiner Haut zu vibrieren. Ich ließ mich auf die nächste Sitzgelegenheit fallen, einen Sitzsack, der direkt hinter der Tür lag, entspannte mich und ließ die Musik Welle um Welle über mich hinwegspülen. Selbst wenn ich noch einmal hätte aufstehen wollen, hätte ich es wohl kaum geschafft.
Es dauerte ein Weilchen, bis ich begriff, dass die Szene, die sich da vor meinen Augen abspielte, ganz real war und nicht bloß meiner Fantasie entsprang.
Nick hatte inzwischen das Hemd ausgezogen. Die Jeans hing ihm tief auf den Hüften und enthüllte seine V-förmigen Lendenmuskeln, die wie ein Pfeil auf seine mächtige Hosenbeule zeigten. Er war muskulös, aber eher auf die drahtige Art, nicht wie ein Bodybuilder. Bei jeder Regung ging eine Wellenbewegung durch seinen sehnigen Körper. Die spärlichen Haare auf seiner Brust hatten den gleichen Farbton wie seine goldbraune Haut. Seine Hände steckten in schwarzen Latexhandschuhen, wie sie auch Jonah getragen hatte, als er mir das Tattoo gestochen hatte.
Liana kniete nackt vor ihm auf dem Fußboden, ihre Hände waren hinter dem Rücken zusammengebunden und mit einem Seil verknotet, das ihre Oberschenkel umspannte, sodass ihr Hintern eingerahmt war. Ihr Kopf und ihre Knie ruhten auf Kissen. Angesichts der Art, wie sie gefesselt war, wirkten die fürsorglichen Kissen geradezu komisch, und ich fürchtete, gleich wieder loszukichern.
Mein Mund war trocken und brannte von dem inhalierten Rauch. Ich wollte etwas sagen, brachte aber nur ein Krächzen heraus, das in der Musik unterging. Anfangs fand ich den Anblick der gefesselten Liana bloß merkwürdig. Erst nach einer Weile kam mir der Gedanke, Nick könnte sich vielleicht an ihr vergangen haben, aber da sah ich ihr Gesicht, das eine völlig andere Geschichte erzählte.
Ihr Gesichtsausdruck war ekstatisch, ihr Mund leicht geöffnet, immer wieder spitzte ihre Zunge hervor, und sie leckte sich über die Lippen. Sie machte keine Anstalten, sich aus ihrer Lage zu befreien, im Gegenteil, sie reckte ihm den Hintern entgegen und spreizte einladend die Beine.
Nick schien ebenso fasziniert vom Anblick der gefesselten Liana wie ich. Er stand da und starrte ewig auf sie hinunter. Schließlich kniete er sich hin und prüfte mit seinem behandschuhten Finger, wie feucht sie war. Er schob erst einen Finger in sie hinein, dann noch einen und noch einen, bis nur noch sein Daumen zu sehen war, der in ihrer Arschfalte ruhte.
Liane presste sich ihm entgegen und stieß trotz der Seile, die ihr sichtbar in die Handgelenke und Schenkel schnitten, mit dem Hintern wild nach hinten. Die Lustlaute, die sie dabei von sich gab, übertönten mühelos die Musik und klangen viel kehliger als ein normales Stöhnen. Sie hörten sich fast tierisch an, eine Mischung aus Schmerz und höchster Lust, die sich gegenseitig hochpeitschten. Je fester Nicks Hand in sie stieß, desto heftiger stöhnte Liana. Er keuchte im selben Rhythmus wie sie, als versuchte er, seinen Grad an Erregung ihrem anzupassen.
Plötzlich griff er mit der anderen Hand fest in ihr langes Haar und zerrte ihren Kopf hoch, bis sie aufschrie.
»Was bist du?«, brüllte er.
»Ich bin eine Schlampe.«
»Wie heißt das richtig?«
»Ich bin deine Schlampe.«
»Schon besser. So, und jetzt komm für mich.«
Er ließ ihre Haare los, und sie fiel zurück auf das Kissen. Da hob Nick die Hand und schlug ihr mit lautem Klatschen auf den Hintern. Rasch schob er die Finger wieder zwischen ihre Beine, und an der Röte, die ihr in die Wangen stieg, und am jäh veränderten Tempo ihres Stöhnens verstand ich, dass er nun mit ihrer Klitoris spielte.
Die Luft im Raum war stickig, voller Ausdünstungen von Sex, die sich mit dem leicht chemischen Geruch der Latexhandschuhe mischten. Ich war im Rausch, nicht nur vom Wein, dem Hasch und dem Schmerz meines noch immer pochenden Tattoos, sondern auch vom Anblick meiner nackten Freundin, die vor mir auf allen vieren kauerte. Ich hätte mich vorbeugen und sie berühren können, aber ich tat es nicht. Zwischen uns lag ein Abgrund, sie befand sich in einer ganz anderen Welt.
Schließlich kam Liana. Ihr letzter Schrei war der lauteste, und als sie ihn ausstieß, überflutete mich eine so starke Welle der Erregung, dass ich glaubte, in Ohnmacht zu fallen, wenn ich nicht selbst gleich einen Höhepunkt erlebte. Ich wollte nur noch, dass Nick von ihr abließ, sich mir zuwandte und auch mich in diese seltsame Art von Lust einführte. Aber ich bekam den Mund nicht auf, und meine Glieder waren schwer wie Blei.
Nick zog sich schnalzend die Handschuhe von den Fingern, warf sie weg und nahm Liana wie ein krankes, müdes Kind in die Arme. Sie schmiegte sich wie ein Baby an seine Brust, und er streichelte ihr Haar und ihr Gesicht mit so großer Zärtlichkeit, dass ich an der groben Behandlung, deren Zeugin ich eben noch gewesen war, zu zweifeln begann.
Sie lagen eng aneinandergekuschelt, während ich mich noch immer auf dem Sitzsack lümmelte. Ihre Intimität wirkte noch viel intensiver als zuvor beim Sex, und nach einer Weile war es mir peinlich, sie weiter zu beobachten. Was, wenn der Zauber, der sie umfing, brach, und sie mich, die ungebetene Zuschauerin, entdeckten? Würden sie mich nicht für pervers halten? Meine Skrupel waren unter den gegebenen Umständen natürlich übertrieben, das wusste ich wohl, und doch genügten sie, um mich aus meiner Benommenheit zu reißen.
Ich warf einen Blick auf die Uhr. Stunden waren vergangen. Nach dem Joint hatte ich jedes Zeitgefühl verloren. Es war schon kurz vor Morgengrauen.
Liana lag noch immer zusammengerollt in Nicks Armen auf dem Fußboden, beide hatten die Augen geschlossen, und ihre Köpfe ruhten auf den Kissen, die zuvor Lianas Knie geschont hatten.
Ich nahm eine Decke vom Sofa und breitete sie sorgsam über die beiden. Sie rührten sich nicht.
Dann schnappte ich mir meine Handtasche und stürzte aus der Wohnung.
Zehn ganze Tage hörte und sah ich keinen Mucks von Liana. Sie kam nicht zurück in unsere Wohnung, wahrscheinlich steckte sie bei Nick, vielleicht war sie aber auch zu ihren Eltern gefahren.
Wir unternahmen keinen Versuch, einander anzurufen, wahrscheinlich beide aus demselben Grund: Sie schämte sich für den Abend, und ich hatte keine Lust, über das zu reden, was ich beobachtet und was es in mir ausgelöst hatte.
Den Tag nach unserer gemeinsamen Nacht hatte ich fast in Gänze verschlafen und kaum mein Zimmer verlassen. Ich ernährte mich von alten Keksen und Wasser aus dem Hahn und wälzte mich unruhig im Bett hin und her. Während mein Körper mit den Folgen des Weins und des Haschs kämpfte, bemühte ich mich, die Bilder von Liana und Nick aus dem Kopf zu bekommen, vor allem ihren Gesichtsausdruck bei seinen intimen Berührungen.
Ich versuchte mir zurechtzulegen, was ich ihr beim nächsten Mal, wenn wir uns sähen, sagen wollte. Da aber nichts so richtig Sinn ergab, dachte ich mir alle Viertelstunde etwas Neues aus. Vielleicht sollte ich einfach die Klappe halten und so tun, als wäre ich nicht dabei gewesen, als hätte ich nichts gesehen.
Ab und zu klopfte es an meiner Tür, doch ich reagierte nicht, bis Neil am späten Nachmittag schließlich meinen Namen rief.
Ich stöhnte zur Antwort, warf die Decke zurück und tapste in Unterwäsche zur Tür.
Neil starrte mit großen Augen auf meine spärliche Bekleidung. Doch das war noch nichts gegen seinen verblüfften Blick, als er mein Tränentattoo entdeckte.
Ich hatte das Pflaster vorsichtig entfernt, kaum dass ich nach Hause gekommen war, und die Stelle sorgfältig gesäubert. Sie war noch immer gerötet, und auch unter der Wundcreme, die ich nach Jonahs Anleitung aufgetragen hatte, war die Träne deutlich zu erkennen.
Neil klappte den Mund sperrangelweit auf und bekam ihn gar nicht mehr zu, während ich gähnte und mich vor ihm reckte. Offenbar fand er keine Worte für das, was er sah.
Ich lächelte und machte sein Fischgesicht nach. »Willst du mir vielleicht was sagen?«, fragte ich ihn.
»Schei… was …«, stotterte er und stierte wie hypnotisiert auf die schwarze Träne.
»Das ist ein Tattoo, Neil. Nicht mehr und nicht weniger.«
Er verzog das Gesicht und musterte es eingehend.
»Ist das echt? Oder geht das wieder ab?«, fragte er.
»Das ist echt. Kein Kinderkram. Total echt.«
Wenn er mich jetzt gefragt hätte, wie ich denn auf die Idee gekommen sei, hätte ich ihm sicher die Meinung gegeigt, aber er fragte nicht. Ich war mir allerdings sicher, dass er das bald nachholen würde.
»Wann?« Es ratterte erkennbar in seinem Hirn. Neil überlegte fieberhaft, wie mir das hatte zustoßen können, nachdem er uns am späten Nachmittag in der Komedia Bar allein gelassen hatte.
»Gestern, kurz nachdem du nach Hause gegangen bist«, erzählte ich ihm in aller Gemütsruhe. »Liana hat auch eines. Am Knöchel.«
»Am Knöchel?« Die Vorstellung, Liana habe eine Träne an ihrem Knöchel, verwirrte ihn offenbar.
»Ein anderes«, half ich ihm. »Sie hat sich einen Schmetterling stechen lassen.«
»Oh.« Er schluckte und starrte noch immer auf die Träne in meinem Gesicht.
»Sieht … merkwürdig aus«, sagte er. »Steht dir aber irgendwie. So schwarz, auf deiner blassen Haut.«
»Wirklich?«
Es brachte mich etwas aus der Fassung, dass es ihm zu gefallen schien – gerade von ihm hatte ich das nicht erwartet.
»Ich sehe damit aber nicht aus wie ein Clown oder wie Alice Cooper, oder?«, fragte ich ihn, plötzlich von Zweifeln gepackt.
Sein Blick blieb unbeirrt.
»Nein, nein, überhaupt nicht«, erklärte Neil. »Der hatte ja nur schwarze Ringe um die Augen und so dünne schwarze Striche, keine Träne. Außerdem war es bloß Make-up. Nichts Dauerhaftes.«
»Ich hätte nie gedacht, dass du weißt, wie Alice Cooper aussieht«, sagte ich.
»Ich habe ihn mal kennengelernt«, enthüllte er zu meiner Überraschung. »Mein Vater hat mit ihm zusammen bei einem Wohltätigkeitsturnier Golf gespielt. Golf ist seine große Leidenschaft.«
Ich prustete laut los. Das war doch einfach zu lächerlich. Schließlich löste sich sein Blick von meinem Gesicht und wanderte über meinen spärlich bekleideten Körper. Da fiel mir plötzlich ein, dass mein Schlüpfer ziemlich durchsichtig war und ich nicht geduscht hatte, nachdem ich am Morgen nach Hause gekommen war. Aber ich fühlte mich weder in einer gefährlichen noch in einer prickelnden Situation – Neil war in jeder Beziehung harmlos. Er machte mich kein bisschen an.
»Gefällt es dir wirklich?«
»Ja, sehr hübsch, überraschend, obwohl …«
»Obwohl?«
»So ein Tränentattoo steht ja für was, das weißt du doch, oder?«, fragte er vorsichtig.
»Für was denn?«
»Komisch, ich dachte, das ist Allgemeinwissen.«
»Also, was denn nun?«, fragte ich ihn ungeduldig.
»Das lassen sich Knackis machen, die jemanden umgebracht haben.«
»Scheiße!«, entfuhr es mir.
Neil, der meinen Aufschrei für Ärger hielt, wurde blass.
»Na schön«, sagte ich schließlich. »Vielleicht habe ich es vergeigt, aber jetzt ist es zu spät. Ich war nie im Knast und habe niemanden umgebracht. Noch nicht. Verschwinde jetzt, damit ich mir was anziehen kann.«
Neil ging und ließ mich mit meinen Gedanken allein.
Es war ein verrückter Einfall gewesen, aus einer Laune heraus, aber nun musste ich damit klarkommen.
Von jetzt an war ich das Mädchen mit dem Tränentattoo, und mein Leben sollte nie mehr so sein wie früher.
2 GLITZERNDE GROSSSTADT
Das Bett war zu schmal, und als er sich über mich lehnte und die Hand ausstreckte, um seine Hose vom Boden aufzuheben, zog er mir die Decke weg. Die kühle Morgenluft riss mich aus meiner Träumerei. Verblüfft stellte ich fest, wie behaart seine Schulter war.
Wie hieß er doch gleich?
Peter? Mark? Verflixt, ich konnte mich einfach nicht mehr erinnern. Jedenfalls ein ganz alltäglicher Name. Genauso durchschnittlich wie der Sex. Ich dachte daran, dass er sich kurz nach seinem schnellen Orgasmus von mir heruntergerollt hatte und eingeschlafen war, sodass ich mir unbedingt mit der Hand hatte Erleichterung verschaffen müssen.
David. Genau.
»Kippe?«, bot er mir an, während er sich eine ansteckte.
»Nein, danke.«
Wir hatten in den letzten Wochen in einem Pub am Cambridge Circus, wo wir beide Stammgäste waren, hin und wieder miteinander geflirtet; und gestern Abend hatte ich – eher aus Trägheit – nachgegeben und war mit ihm in sein WG-Zimmer nach Hackney gefahren. Vielleicht war seine halbherzige Performance ja die Reaktion auf meine spürbar fehlende Leidenschaft gewesen.
Hatte er mir wirklich einmal gefallen? Das Leben in London verleitete mich oft zur Unvernunft, und diese hier war nur die letzte in einer ganzen Reihe kleinerer Entgleisungen. Kaum hatten wir die Haustür hinter uns zugezogen, begannen wir uns im Dunkeln linkisch zu küssen; und nachdem wir uns gegenseitig ausgezogen hatten, merkte ich, dass David mich ungeschützt vögeln wollte. Ich hatte mich jedoch nicht erweichen lassen und darauf bestanden, dass er ein Kondom benutzte. Der Trottel hatte nicht mal welche im Haus. Zum Glück fand ich noch eines in den Tiefen meiner Handtasche. Dass eine Frau so etwas mit sich herumtrug, geilte ihn dermaßen auf, dass sein Schwanz sofort steinhart war. Allerdings nicht lange.
Mit selbstgefälligem Lächeln qualmte er seine Zigarette, ohne weiter von mir Notiz zu nehmen. Ich entschied, dass es höchste Zeit war, einen Strich unter diese lauwarme Sache zu ziehen, stand schweigend auf, suchte meine verstreuten Klamotten zusammen und zog mich an.
»Willst du nicht erst noch duschen und dann mit mir frühstücken?«, fragte David.
»Nein, keinen Bock.«
Seit kurzer Zeit lebte ich in London endlich das unabhängige Leben, von dem ich so lange geträumt hatte. Und war dabei keinen Deut glücklicher. Nach meinem Abschluss an der Sussex University hatte ich beschlossen, den Sommer nicht bei meinen Eltern zu verbringen, sondern an der Küste. Dass auch Liana in Brighton bleiben wollte, hatte mit den Ausschlag gegeben.
Neil hingegen war nach Hause gefahren und widmete sich vernünftigerweise einige Monate fern aller Ablenkungen seinen Bewerbungen. Er hatte sogar jemanden gefunden, der übergangsweise in unsere Wohnung einzog, einen Informatikstudenten, der Tag und Nacht Online-Poker spielte und kaum je das Zimmer verließ.
Zu meiner Überraschung hatten meine Eltern keine Einwände erhoben und sogar angeboten, mich weitere sechs Monate finanziell zu unterstützen, bis ich irgendwo beruflich Fuß gefasst hätte. Wahrscheinlich hatten sie sich in den drei Jahren meiner Abwesenheit daran gewöhnt, allein zu leben, und waren nicht gerade scharf darauf, eine inzwischen tätowierte Tochter wieder in den Schoß der Familie aufzunehmen.
Liana und Nick waren mittlerweile seit über einem Jahr ein Paar, und am Ende des Sommers hatte sie beschlossen, bei ihm einzuziehen. Unter diesen Umständen konnte ich es mir nicht mehr leisten, in der Wohnung zu bleiben, in der wir eine gefühlte Ewigkeit miteinander gelebt hatten. Doch ich hatte auch nicht die Energie und die Willenskraft, endlose Vorstellungsrunden möglicher neuer Mitbewohner durchzustehen, die ich aus Kostengründen gebraucht hätte. Wahrscheinlich wären es ohnehin Studenten im ersten oder zweiten Studienjahr gewesen, ebenso unbedarft wie ich damals, sodass ich mit ihnen nicht viel hätte anfangen können.
So landete ich schließlich in der Glitzerwelt der Großstadt, in London. Eine entfernte Cousine hatte mir für den Anfang ihr Sofa in Mill Hill zur Verfügung gestellt. Doch die Entfernung von dem Vorort zur Innenstadt schlug mit viel zu hohen Fahrtkosten zu Buche und ließ sich außerdem nur schlecht mit meiner Abenteuerlust vereinbaren. Kaum hatte ich einen Job als Teilzeitbedienung ergattert, zog ich deshalb in ein WG-Zimmer in Dalston.
Mit meinem Abschluss in Literatur hatte ich eigentlich auf eine Stelle in einer Buchhandlung gehofft, aber offenbar gab es da auf jedes Angebot circa tausend Bewerber, und das blöde Tattoo in meinem Gesicht war nicht unbedingt eine Empfehlung.
Mein wahres Problem, wie ich nun erkannte, aber war, dass ich eigentlich gar nicht wusste, was ich wollte. Ich war nie besonders ehrgeizig oder durchsetzungsstark gewesen. Die Liebe war mir noch nicht über den Weg gelaufen, und allmählich fragte ich mich, ob ich sie überhaupt erkennen würde, wenn sie mir denn einmal begegnete. Die wahre Liebe. Bisher hatte ich mich immer nur mit Männern getroffen, die sich dann als Missgriff erwiesen, und Intimität war ein flüchtiges Gefühl, dem allzu oft Enttäuschung folgte. Willkommen im richtigen Leben, Lily!
Mit Liana blieb ich in Verbindung, wir besuchten einander, so oft es ging, und telefonierten häufig, doch unterdessen sah ich auch stärker die dunkle Seite ihrer Persönlichkeit, die immer mehr in den Vordergrund trat, seit sie mit Nick zusammen war. Mit gewissem Unbehagen bekam ich aus der Entfernung mit, dass sie von neuen Bekannten in eine merkwürdige Welt eingeführt wurde, wo man sich mit BDSM und noch undurchsichtigeren Praktiken befasste, von denen sie mir aber nichts weiter erzählen wollte.