4,99 €
4 Seasons – vier Romane – ein lustvoller Reigen
Noah könnte sich glücklich schätzen. Er arbeitet in New York als erfolgreicher Manager für eine Musikfirma und ist mit der attraktiven April zusammen. Aber etwas fehlt ihm im Leben, er spürt eine tiefe Leere und Unzufriedenheit, eine Ruhelosigkeit, die er sich nicht erklären kann. Zufällig erfährt er von der berühmten Violinistin Summer Zehova, die sich aus der Öffentlichkeit und von ihren Freunden zurückgezogen hat. Ihr Aussehen, ihre Musik, die Gerüchte über ihre Vergangenheit fesseln ihn, und der Wunsch, ihr zu begegnen, wird zur Obsession. Summer hält sich unterdessen in Brasilien auf, um dort ein neues Leben zu beginnen. Auch die Musik hat sie völlig aufgegeben. In ihrer Zerrissenheit droht Summer, erneut in ihren früheren haltlosen, zerstörerischen Lebensstil abzudriften. Sie beschließt nach Europa zurückzukehren, doch dann kommt es zur schicksalhaften Begegnung mit Noah, den seine Suche bis nach Südamerika geführt hat. Wird Summer durch Noahs Zuneigung zur Musik zurückfinden? Und gibt es für sie beide eine glückliche, erfüllte Zukunft?
Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
Seitenzahl: 462
Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.
Sollte dieses E-Book Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung dieses E-Books verweisen.
Die Originalausgabe erschien 2015 unter dem Titel
»The Pleasure Quartet – Summer« im Verlag Simon & Schuster, London.
1. Auflage
Copyright © 2015 by Vina Jackson
Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2015
bei carl’s books, München,
in der Verlagsgruppe Random House GmbH
Umschlaggestaltung: semper smile, München
Satz: Uhl + Massopust, Aalen
ISBN 978-3-641-14972-7
www.carlsbooks.de
1ES LIEGT NICHT AN DIR, SONDERN AN MIR
Das Eichhörnchen war schuld.
Nach einem frühen Mittagessen im West Village nahe der Greenwich Avenue schlenderten Noah und April zum Washington Square Park. Das warme Sonntagswetter hatte die Menschen ins Freie gelockt. Ein Pianist hatte sein großes, fahrbares Instrument in den Schatten des Rundbogens geschoben und improvisierte schwungvoll über ein Klavierkonzert von Rachmaninow. Hier und da klimperten Gitarrenspieler Melodien vor sich hin, die in der schwülen Luft disharmonisch aufeinanderprallten. Weiter hinten saß die Taubenfrau an ihrem üblichen Platz und strickte eifrig. Rund um den Brunnen tauchten Kinder und Erwachsene die Zehen ins Wasser, während Touristen mit ihren Smartphones fotografierten. Bei den hohen Universitätsgebäuden auf der anderen Seite des Parks war ein Straßenmarkt aufgebaut worden, an dessen Ständen leckere Speisen, handgearbeiteter Schmuck oder Geschenkartikel angeboten wurden, die Noah nicht mal seinen ärgsten Feinden geschenkt hätte. Wobei er nicht glaubte, tatsächlich echte Feinde zu haben.
April hatte vorgeschlagen, in einem vegetarischen Gourmetrestaurant an der 6th Avenue, in das sie in letzter Zeit am liebsten ging, zu Mittag zu essen. Jetzt, eine knappe Stunde später, hatte Noah schon wieder Hunger, da die doch recht faden Speisen alles andere als appetitanregend gewesen waren. Vom Markt waberte der Geruch von gegrilltem Fleisch und gebratenen Zwiebeln herüber, und ihm lief das Wasser im Mund zusammen. Er bedauerte, April nicht überredet zu haben, zu Totos Sushi-Laden an der Thompson Street zu gehen.
Händchen haltend schlenderten sie gemächlich die Wege entlang und bogen hinter dem Brunnen rechts ab, um der eingezäunten Hundewiese auszuweichen. Aprils schulterlanges Haar wehte leicht in der Brise.
Sie trug ein schlichtes bedrucktes Sommerkleid, das ihr bis knapp über die Knie reichte, ihre gebräunten Beine waren schlank und sportlich, ihre Schritte federnd in den flachen rosa Schuhen mit den dünnen Sohlen.
Zwei Kinder kamen auf Rollern um die Ecke geflitzt und schlängelten sich geschickt durch die Menge. Der blonde Junge in blauen Shorts und gelbem T-Shirt war etwa sechs Jahre alt. Begleitet wurde er von einem kleinen Mädchen mit einem riesigen grünen Sturzhelm, unter dem das runde Gesicht und die dunklen Augen kaum zu sehen waren, bloß der Ausdruck äußerster Entschlossenheit, als wollte es mit ihnen zusammenstoßen, wenn sie ihm nicht aus dem Weg gingen.
Bei dem Anblick musste Noah unwillkürlich lachen. April packte seine Hand fester. Sie gingen langsamer, machten sich auf den Zusammenprall gefasst, doch nur wenige Zentimeter vor ihren Füßen wichen die beiden Kinder mit einem geschickten Schlenker aus und rasten, ohne sie weiter zu beachten, vorbei, als gehörte der Park ihnen.
»Die Kleine war niedlich«, bemerkte April.
Noah lächelte.
»Da wird ein Platz frei.« April deutete auf eine Bank, von der sich gerade ein älteres Paar erhob. Ein Baum mit tief hängenden Ästen spendete Schatten.
»Komm, setzen wir uns.«
Sie hatten für den Nachmittag nichts vor. Noah überlegte, ob sie sich vielleicht später, gegen Abend, den neuen Michael-Mann-Film im Multiplex am Union Square anschauen sollten, aber bis dahin stand nichts auf dem Plan. Er wollte nur ein bisschen abhängen, sich eine Verschnaufpause gönnen vor all den Terminen, die er für den folgenden Tag im Büro angesetzt hatte. Außerdem wusste er, dass die nächsten achtundvierzig Stunden für April hektisch werden würden, da die Monatszeitschrift, bei der sie als Produktionsassistentin arbeitete, in Druck musste. Die meisten Sonntage ihrer Wochenenden verbrachten sie auf diese entspannte Weise.
Noah schwieg, während sie auf der Bank saßen. April unterbrach seine Träumereien nicht. Sie nahm einen Schluck aus ihrer Wasserflasche und bot sie ihm an. Er lehnte ab.
Für gewöhnlich war sie zufrieden damit, schweigend neben ihm zu sitzen, aber heute wirkte sie ungewöhnlich rastlos. Selbst nach beinahe zwei gemeinsamen Jahren beschwerte sie sich oft, sie könne ihn nicht richtig einschätzen, seine wechselnden Stimmungen nicht genauer deuten.
Schließlich brach sie das Schweigen.
»Beunruhigt dich etwas? Du wirkst so … abwesend.«
»Überhaupt nicht. Ich träume nur so vor mich hin.«
Ihn beschäftigte etwas, aber er konnte den Finger nicht darauflegen, es nicht näher benennen. Es entzog sich ihm, irritierte ihn.
Er blickte zu April, warf ihr einen Luftkuss zu. Ihr Haar glänzte golden, als die Sonne sich zwischen den Ästen hindurchstahl, in deren Schatten es größtenteils lag. Ihre bloßen Schultern hatten denselben warmen Farbton, noch immer gebräunt von ihrem gemeinsamen Sommerurlaub in Cancun.
Sie war einfach schön. Das fand er nach wie vor. Sein Goldmädchen.
»Ich liebe dich«, sagte April.
»Ich dich auch«, erwiderte er.
Das hatte er ganz automatisch gesagt, nicht zum ersten Mal, wie er wusste. Als wäre es keine Lüge, wenn er nicht entsprechend antwortete.
Andere Paare kamen vorbei, alte und junge, in Begleitung von Hunden oder Kindern, viele Hand in Hand, die Gesichter nichtssagend, ihre Körpersprache ein Rätsel für ihn.
Noah fühlte eine Enge in der Brust.
April legte die Hand auf sein rechtes Knie und drückte es.
Noah sah, wie ihre schlanken Finger den Stoff seiner Jeans packten.
»Oh …«
Sie ließ sein Knie los.
Ihr Blick war nicht mehr auf ihn gerichtet, sondern auf den Baum hinter der Bank gegenüber, auf der anderen Seite des Weges. April hielt die Luft an.
Er folgte ihrem Blick. Da gab es nichts Ungewöhnliches zu sehen.
Aprils Augen weiteten sich. »Wow …«
Schließlich entdeckte Noah, was ihre Aufmerksamkeit erregt hatte. Ein graues Eichhörnchen mit buschigem Schwanz lugte durch die Wegeinfassung, huschte vom Baum über das spärliche Gras, langsam, aber in gerader Linie wie ein Aufziehspielzeug. Seine dunklen Knopfaugen waren auf April gerichtet.
Zögernd streckte sie die Hand aus und versuchte es anzulocken.
Als das kühne Eichhörnchen ihre Einladung wahrnahm, wagte es sich durch die breiten Bögen der Einfassung und blieb auf dem belebten Weg hocken, ohne auf die Fußgänger zu achten oder zu fürchten, getreten oder überrannt zu werden. Dann näherte es sich vorsichtig der Bank, auf der April und Noah saßen.
»Es kommt auf mich zu«, flüsterte April.
»Das liegt an deinem einladenden Lächeln. Ist bestimmt ein männliches Eichhörnchen … Oder es meint, du hättest was zu fressen …«
Das kleine Tier schaffte es schließlich über den Weg und sah hoch, den Blick auf April gerichtet, deren glückliches Lächeln immer breiter wurde. Was erwartete es? Dass sie es streichelte, es fütterte?
April wühlte in ihrer kleinen Handtasche, suchte nach etwas, das sie dem Eichhörnchen anbieten konnte, aber da war nichts.
Sie schaute zu Noah in der Hoffnung, er könnte ihr helfen.
Er schüttelte den Kopf.
Das kleine Tier blickte sie an wie ein Bittsteller.
Behutsam streckte April die Hand in seine Richtung aus. Ihre Handfläche war nur noch ein kleines Stück vom Kopf des Eichhörnchens entfernt, als die beiden rasenden Rollerfahrer zurückkamen und das Tier wieder über den Weg in die Sicherheit des Rasens huschte, um nicht überfahren zu werden.
April richtete sich auf.
Noah spürte ihre Enttäuschung.
Sie schwiegen.
Hatte sie erwartet, das Eichhörnchen würde ihr die Hand lecken, sie küssen?
Ein dünnes Lächeln erschien auf ihrem Gesicht, während sie über das Geschehene nachdachte. Sie wirkte in sich gekehrt, fast verloren.
Endlich erkannte Noah ihre Stimmung. Es war nicht das erste Mal in den letzten Monaten, dass er sie so erlebte. Sie wurde grüblerisch, nicht unbedingt abwesend, eher rastlos, als fehlte etwas in ihrem Leben, in ihrer Beziehung.
Obwohl er das vor ihr nie offen zugeben würde, wusste er, dass sie recht hatte. Und seine Gefühle waren ganz ähnlich, auch wenn sie sich anders ausdrückten.
Sie wollte mehr.
Er wollte mehr – oder zumindest etwas anderes. Doch während April sich zweifellos im Grunde ihres Herzens klar darüber war, was sie suchte, war Noah es nicht, abgesehen von der Tatsache, dass ihrer beider Weg unmerklich auseinanderlief.
Eine Familie, alle eifrig an Eis in den unterschiedlichsten Pastelltönen leckend, kam mit zwei angeleinten, schwanzwedelnden Hunden vorbei.
»Willst du eins?«, fragte Noah.
»Was?«
»Ein Eis?«
April antwortete nicht.
»Hast du diese Woche irgendwelche Gigs?«, fragte sie stattdessen.
»Zwei. Nevsky Prospekt spielt im Bowery Ballroom, und die Holy Criminals haben einen unangekündigten Auftritt als Vorband in der Knitting Factory.«
Viggo Franck, jahrelanger Leadsänger der Criminals, hatte sich angeblich zurückgezogen oder eine Solokarriere gestartet, wobei er in letzterem Fall vertraglich nicht an Noahs Musikfirma gebunden war, sollte er etwas Neues herausbringen. Die Band hatte einen neuen Sänger gefunden und wollte fern von der Aufmerksamkeit der Presse und der Fans ausprobieren, ob er zu ihnen passte.
»Cool«, sagte April. »Kann ich mitkommen?«
»Kein Problem.«
Die Sache mit dem Eichhörnchen und den rollerfahrenden Kindern hatte mütterliche Gefühle in ihr geweckt, da war er sich sicher. Wieder mal.
Nach dem Ausflug in den Washington Square Park hatte April den Wunsch geäußert, noch weiter zu laufen, also waren sie zur High Line hinübergegangen und zweimal hin und zurück geschlendert, meist in Gedanken versunken.
»Schlaf mit mir«, bat April, als sie ihre Wohnungstür hinter sich schlossen.
Noah wandte sich ihr zu, schwelgte im Anblick ihrer Schönheit. Nach so vielen Stunden in der Sonne traten ihre Sommersprossen hervor, zart verstreut über ihren Nasenrücken und die scharfen Wangenknochen. Der goldene Glanz ihrer Haare hatte nun einen warmen Bronzeton angenommen. Das blasse Smaragdgrün ihrer Augen passte zu der Farbe, in der sie den schmalen Flur gestrichen hatte, der zu dem in Weiß gehaltenen Schlafzimmer führte. Noah war nie ein besonders visueller Mensch gewesen und hatte April bei der Gestaltung, Farbauswahl und Möblierung der Wohnung vollkommen freie Hand gelassen, als sie im vergangenen Jahr zu ihm gezogen war. Er hatte nur zur Bedingung gemacht, dass die Wand mit den CD-Regalen in seinem Arbeitszimmer unverändert blieb. Anfänglich hatte sie vorgeschlagen, alle zu digitalisieren – das würde viel Platz sparen –, doch Noah hatte darauf bestanden, die CDs zu behalten, da Musik sein Beruf sei und ihm diese Eigenheit gestattet sein müsse.
Er küsste sie, die üppige Weichheit ihrer Lippen war ein Erlebnis, warme Seidenkissen, an denen noch der süße Geschmack ihres Lippenstifts haftete und die ihn jedes Mal wieder zu der Überzeugung gelangen ließen, wie nahe er und April sich standen.
Während er sie an sich drückte, spürte er ihren Herzschlag durch den dünnen Stoff des Kleides. Sie schlang ihre Hände um seinen Rücken und zog ihn an sich. Die Atemzüge wurden kürzer, ihre Zungenspitzen berührten sich in einem unberechenbaren Tanz, wurden beinahe zu einem Ringen, wer sich als Erster löste, wozu keiner bereit war.
Aprils Herzschlag wurde hektischer, ein fernes Trommeln, ging dann aber in einen regelmäßigen, stetigen Rhythmus über, wie ein aufsteigendes Lied. Ungebändigte Ströme der Leidenschaft, die durch ihre Blutbahnen flossen.
Noahs Hand wanderte zu Aprils Hüfte, packte den Stoff ihres Kleides und schob den Saum nach oben, legte ihre Schenkel und das weiße Spitzenhöschen frei. Sein Handrücken strich über ihren Bauch, dann zog er das Gummiband des Höschens zur Seite und tauchte tiefer, bis seine Finger an den lockigen Wald stießen, der ihren Intimbereich abschirmte. Die von dort aufsteigende Hitze breitete sich sofort über seine eindringenden Finger. Er schlüpfte hinein.
»Du bist so nass …«
»Ja.«
Ihre Lippen lösten sich voneinander. April bewegte sich. Er zog seine Hand aus dem Höschen und hob sie an ihre Haare, ließ seine Finger durch den seidenen Vorhang gleiten, teilte die glatten Wellen, genoss das Gefühl. Er drehte sich leicht und biss ihr sanft ins Ohrläppchen. April erschauerte, ein leises Beben, das durch ihren Körper lief und sie beinahe taumeln ließ. Noah hielt sie an der Schulter fest.
»Komm«, sagte er.
Hand in Hand gingen sie ins Schlafzimmer, an der Schwelle streiften sie die Schuhe ab.
Einem Instinkt folgend trat April ans Fenster und zog die Vorhänge fest zu. Unwillkürlich verspürte Noah leichte Gereiztheit. Das machte sie immer. Konnte einfach die Vorsicht nicht außer Acht lassen, obwohl sie sich in einem hohen Stockwerk befanden, keine höheren Häuser auf der anderen Seite der Straße zum Battery Park hin standen und jeder, der ihnen von unten nachspionieren wollte, ein starkes Fernglas, eine Kameradrohne oder übernatürliche Voyeurkräfte besitzen müsste. Selbst auf dem Weg zum Sex dachte April stets an andere Dinge, an unnötige Vorsichtsmaßnahmen. Und wieder war der Zauber des Augenblicks zerstört. Der Bann war gebrochen.
April kehrte ihm den Rücken zu, ein rätselhaftes Lächeln auf den Lippen. Sie zog sich aus.
Das brachte Noah vollends aus der Fassung. Er hatte erwartet, hatte gehofft, sie selbst entkleiden zu können. Sie langsam, gemächlich Zentimeter für Zentimeter zu enthüllen, zu verharren, mit den Fingern über ihre Haut zu streichen, sein Verlangen ganz allmählich aufzubauen, sie zu necken und zu reizen, genüsslich ihr Spiel in die Länge zu ziehen.
April sah ihn irritiert an. Er stand immer noch reglos da und machte keine Anstalten, sich auszuziehen.
»Worauf wartest du?«, fragte sie leicht vorwurfsvoll und griff nach hinten, um ihren BH aufzuhaken.
Sie hat kein Gefühl für Rituale, wurde ihm klar.
Für sie war Sex nur ein weiteres Element des Lebens, an dem man sich erfreuen und es genießen konnte, wie ein gutes Essen oder eine angenehme Unterhaltung. Eine Zutat wie Salz und Pfeffer oder zärtliche Worte, die man sich im richtigen Moment ins Ohr flüsterte, auch wenn beide Partner nicht an sie glaubten. Ein Bestandteil, der dazu diente, die ruhigen Freuden einer Langzeitbeziehung zu bereichern, raue Kanten zu glätten, unbenannte Lücken der Intimität zu füllen. Mehr nicht.
Noah fühlte sich von Rauheit angezogen. Nicht im Bett. April reagierte stets ein wenig gereizt, wenn er von den ausgetretenen Pfaden ihres Liebesspiels abwich. Aber im Leben. Gefahr, Magie löste einen unerwarteten Nervenkitzel in ihm aus, was ihn vermutlich so aufnahmefähig für Musik und so gut darin machte, Bands und Sänger zu entdecken, die sich als innovativ erweisen könnten und mit denen er daran arbeiten konnte, ihre Unberechenbarkeit zu fördern, das Oberflächliche hinter sich zu lassen und ein neues Niveau zu erreichen.
April nahm ihren BH ab und enthüllte ihre Brüste.
Sie beugte sich vor, um ihr Höschen abzustreifen, wackelte ein wenig mit den Hüften, woraufhin es zu Boden glitt und sie daraus hervortrat.
Ihr Schamhaar hatte ein dunkleres Blond, war dicht, fühlte sich aber trotzdem weich an, wie Noah wusste. Sie hatte ihm nie gestattet, es abzurasieren, war nie auf seine Vorschläge eingegangen.
Wie erstarrt und noch nicht bereit, irgendetwas zu tun, hielt er den Blick weiter auf sie gerichtet. Verdammt, sie war schön. Jedes Mal, wenn er sie nackt sah, kam es ihm wie beim ersten Mal vor. Eine Offenbarung. Selbst ihre winzigen Makel waren anscheinend bloß der äußere Rahmen für ihre Vollkommenheit. Ein etwas schiefer Schneidezahn, den man nur sah, wenn sie laut lachte, eine dünne Narbe in ihrer rechten Augenbraue, eine leichte Verfärbung der Haut an der Innenseite ihres rechten Oberschenkels, in Form einer Insel auf einer Weltkarte, nur einen Fingernagel lang. April machte der Fleck ungeheuer befangen, und Noah pflegte sie früher mit der Behauptung aufzuziehen, der Fleck sehe aus wie Sardinien, es könne aber auch Sizilien sein, Malta oder Tuvalu. Und dann war da noch der dunkle, harmlose Leberfleck auf ihrem Rücken, genau in der Mitte zwischen ihren Schulterblättern.
All das machte sie wahrhafter.
Und für ihn umso anziehender.
April, inzwischen vollkommen nackt, ging hinüber zum Bett, schlug die cremefarbene Decke zurück und schlüpfte darunter.
Noah regte sich endlich, zog das graue T-Shirt über den Kopf, zerzauste dabei seinen dunklen Lockenschopf, zerrte an dem abgetragenen Ledergürtel und streifte die Jeans ab.
Als er zu April unter die Decke kam, ihr Körper warm und weich an seinem, merkte er, dass sie sich in die Mitte des Bettes gelegt hatte, sodass ihm nichts anderes übrig blieb, als sich über sie zu legen. Sie hatte die Beine bereits weit geöffnet. Ihre Feuchtigkeit hieß ihn willkommen. Er schmiegte seine Lippen an ihre Halsbeuge und atmete den kaum mehr wahrnehmbaren Duft ihres Parfüms ein, mit dem sie sich vor dem Restaurantbesuch und dem Spaziergang durch Greenwich Village eingesprüht hatte, L’Eau von Issey Miyake. Er kannte den Namen, weil sie sich das Parfüm letztes Jahr zu Weihnachten gewünscht hatte. Sie überraschten einander nur selten.
Er glitt in sie hinein.
Mit Leichtigkeit.
Entspannter Wochenendsex.
Vorhersehbar. Angenehm. Ruhig.
Er war hart, aber liebevoll und eingestimmt auf Aprils inneren Rhythmus, ritt sie mit Umsicht und Energie, glitt virtuos über die inneren Wogen ihrer Lust, bemüht, seine Bewegungen an die Gezeiten ihres beiderseitigen Verlangens anzupassen, Ebbe und Flut sowie die Intensität der verborgenen Meere auszugleichen, die ihre Sexualität beherrschten.
Schon bald begann April zu keuchen, und Noah wusste, dass sie kurz vor dem Orgasmus war, daher beschleunigte er seine Stöße.
»Oh Goooott …« Ihr triumphierender Aufschrei durchschnitt die Stille des Raumes.
Noah schloss die Augen und konzentrierte sich jetzt darauf, selbst zum Höhepunkt zu kommen. Seiner Erfahrung nach war April eine der wenigen Frauen, die leicht kamen. Darin lag keine Herausforderung.
Ein Gedanke schoss ihm durch den Kopf, während er sich weiter in ihrer nachgiebigen Weichheit vergrub: Wenn sie das nächste Mal fickten, würde er laute Musik dazu laufen lassen. Wer sagte denn, dass man Arbeit nicht mit Vergnügen verbinden konnte?
Er hatte April kennengelernt, als er erst ein paar Monate in der Stadt war. Bridget, seine Ex-Freundin, der er ursprünglich aus London nach New York gefolgt war, hatte schon bald mit dem Versuch, den Big Apple zu erobern, Schiffbruch erlitten und war zu der Erkenntnis gelangt, dass es für eine große Karriere bei ihr nicht reichen würde. In England hatte Bridget mit ihrer dunklen Stimme und geschickten Phrasierung in Studentenkreisen und Clubs einen gewissen Erfolg als Folksängerin gehabt, aber auf der Bleeker Street war sie lediglich eine unter vielen nur mäßig talentierten Sängerinnen und bekam, trotz einiger Gigs in Kenny’s Castaways und The Bitter End, weder genug wohlwollende Kritiken noch zusätzliche Engagements.
Noah hatte als freier Journalist für verschiedene Musikzeitschriften gearbeitet und Bridget im Zusammenhang damit kennengelernt. Aufgrund einer positiven Kritik war es ihm gelungen, sie ins Bett zu bekommen, und er dachte sich, dass er mit einem Laptop überall arbeiten konnte, daher war es keine große Sache gewesen, ihr nach Manhattan zu folgen.
Als die entmutigte Bridget ihren Traum schließlich begrub und beschloss, nach England zurückzukehren, hatte Noah sich entschieden zu bleiben. Er hatte das aufregende Leben von New York immer gemocht, und da er von Geburt Halb-Amerikaner war, brauchte er sich keine Sorgen um eine Arbeitserlaubnis zu machen. Dank eines Vorschusses, den er dafür eingestrichen hatte, eine ungeschminkte Biografie über eine beliebte Boyband zu schreiben, deren Manager er aus der Studienzeit kannte, hatte er sich eine bezahlbare Wohnung in Brooklyn leisten können, wo die Rockszene boomte.
Innerhalb eines halben Jahres war ihm ein A&R-Job bei einer etablierten Musikfirma angeboten worden, mit der Aufgabe, örtliche Bands zu fördern. Er hatte ein gutes Ohr, einen ausgeprägten Geschmack für das Originelle und eine britische »Keine halben Sachen«-Einstellung, die ihn rasch bei den Musikern beliebt machte, mit denen er arbeiten und die er überreden musste, sich unter Vertrag nehmen zu lassen, ohne dass sie dabei das Gefühl hatten, ihre Ideale und Prinzipien aufzugeben. Im Gegensatz zu anderen Leuten aus der Musikindustrie gab er nie vor, ihr Freund zu sein, und achtete darauf, sich nicht zu offen in ihre Musik einzumischen. Stattdessen beschränkte er sich auf freundliche Hinweise und dezente Produktionsempfehlungen, wenn es ihm gelungen war, die Bands ins Studio zu bringen. Eine Einstellung, die bei ihren oft unerfahrenen und misstrauischen Managern gut ankam.
Noah genoss dieses Leben. Obwohl selbst nicht sonderlich kreativ, war er trotzdem an der Entstehung erfolgreicher Musik beteiligt. Das war die beste aller möglichen Welten, und doch fehlte etwas. Sex, Frauen.
Eine Reihe harmloser One-Night-Stands rings um das Netzwerk von Clubs und Veranstaltungsorten, die er jetzt regelmäßig aus beruflichen Gründen aufsuchte, hatten sich als unergiebig erwiesen. Aber dann war er April begegnet.
Für eine seiner Bands war ein Fotoshooting vereinbart worden – ein Trip-Hop-Trio aus Philadelphia mit einer Sängerin, deren tiefe, sinnliche Stimme ihn stets innerlich bewegte, sobald sie zu singen begann, wenngleich ihre Alltagsstimme ein wenig schrill und sehr amerikanisch klang. Sie hatte seit Langem eine Beziehung mit dem Bassisten der Gruppe, trotzdem war Noah wider bessere Einsicht in Versuchung geraten, sich an sie ranzumachen. Die Marketingabteilung der Musikfirma hatte einen bekannten Modefotografen engagiert, dessen Atelier an der Lower East Side lag, und Noah hatte vereinbart, sich nach dem Fotoshooting mit den Musikern zu treffen, um Probeaufnahmen neuer Songs abzuholen, an denen sie arbeiteten.
Er wartete im Vorraum des Ateliers auf sie und blätterte in einer der Modezeitschriften, die auf einem niedrigen Glastisch auslagen. Unwillkürlich musste er lächeln, als ihm durch den Kopf ging, dass er genauso gut im Wartezimmer eines Zahnarztes sitzen könnte. In dem Moment kam eine junge Frau mit kurzem blondem Haar herein, die einen Stapel in Zellophan gehüllter Kleidungsstücke an Bügeln über dem Arm trug.
Ihre Blicke trafen sich.
Sie bemerkte sein amüsiertes Lächeln.
»Was ist denn so komisch?«, fragte sie.
»Das galt nicht Ihnen, keine Bange. Nur etwas, das mir gerade durch den Kopf ging, bevor Sie hereinkamen.«
»Sie sind Engländer.«
»Allerdings.«
Sie erwiderte sein Lächeln.
Inzwischen war er lange genug in Amerika, um zu erkennen, dass ihr Akzent auch nicht von hier stammte. Er wagte eine Vermutung.
»Kanadierin?«
Sie nickte und legte ihr unhandliches Kleiderbündel auf einem Sofa ab.
»Ich heiße April«, stellte sie sich vor.
»Noah.«
»Warten Sie auf Hutch, oder sind Sie einer seiner Assistenten?«
»Weder noch. Er ist da drinnen.« Noah deutete auf die Tür, die den Vorraum vom Loftatelier trennte, in dem die Fotosession stattfand. »Ich gehöre zu der Gruppe, zu den Musikern, die gerade fotografiert werden. Der Band.«
»Ihr Manager? Aufpasser? Sie sehen nicht wie ein Rock-Typ aus.«
Noah gefiel ihre Art. Und ihr Aussehen auch, wie er sich sofort eingestand. Sie hatte eine selbstsichere Art, die ihm sehr zusagte, als wüsste sie, was sie wollte, und nichts würde sie von ihrem Ziel abbringen.
»Gibt es denn einen typischen Rock-Typ?«
»Weiß ich nicht. Sie sehen normal aus …« Sie hielt mitten im Satz inne, als hätte sie das Gefühl, etwas Falsches gesagt zu haben. Sie senkte den Blick.
»Mir macht es überhaupt nichts aus, normal zu sein«, gab Noah zurück. »Ich habe nicht das Bedürfnis, gängigen Erwartungen zu entsprechen.«
»Das habe ich nicht gemeint«, sagte April. »Ich habe mich missverständlich ausgedrückt. Das passiert mir manchmal.«
»Ist schon in Ordnung. Wie ist es mit Ihnen?«
»Mit mir?«
»Was führt Sie hierher, April? Arbeiten Sie vielleicht für eine Reinigung?«
Sie lachte. »Nein.«
Er lachte auch.
»Was ist denn dann mit den ganzen Kleidern?«
»Die sind für Modeaufnahmen, die morgen stattfinden. Ich habe sie nur schon vorab hergebracht. Ich arbeite bei einer Zeitschrift.« Sie blickte auf das Exemplar, das er auf den Glastisch zurückgelegt hatte. »Genau genommen für die, in der Sie gelesen haben.«
»Was für ein kurioser Zufall.«
»Kurios? Ein lustiges Wort!« Ihre Augen waren blassgrün, und er starrte sie unwillkürlich an, wobei alles andere an April durchaus auch nähere Aufmerksamkeit verdiente. Sein Blick wurde von einer dünnen, fast unsichtbaren Linie angezogen, einer Narbe, wurde ihm klar, die sich durch eine ihrer Augenbrauen zog. Eine winzige Unvollkommenheit, die sie noch faszinierender wirken ließ, fand er. Ihm gefiel diese junge Frau. Sehr.
»Niemand ist perfekt. Erst recht nicht mit einem britischen Studienabschluss.«
»Verstehe.«
»Und wie ist es mit Kanada? Woher stammen Sie?«
»Aus Vancouver.«
»War ich noch nie«, sagte Noah, »aber ganz in der Nähe. Ich war vor einigen Jahren in Seattle und wollte eigentlich ein Auto mieten und rüberfahren. Hat sich dann aber nicht ergeben.«
»Das ist schade. Gastown ist die Wucht.«
»Wären Sie noch dort gewesen, oder schon in New York?«
»Wenn ich gewusst hätte, dass Sie kommen, wäre ich vielleicht geblieben …«
Er genoss es, wie sie spielerisch ein Gespräch aufrechterhielt, sich ein Wortgefecht mit ihm lieferte, ihn aufzog und bereits verführte.
In dem Moment öffnete sich die Ateliertür, und die Bandmitglieder strömten heraus, alle in bester Laune, noch ganz aufgekratzt von der Fotosession.
Noah und April tauschten Telefonnummern aus.
Sie war fast zur gleichen Zeit in der Stadt angekommen wie er, fanden sie später heraus, hatte von einem kleinen örtlichen Verlag gewechselt, in dem sie nach dem Kunststudium eine Stelle gefunden hatte. Jetzt arbeitete sie als Produktionsassistentin bei einer mittelgroßen Zeitschriftengruppe. Sie hatte eigentlich nichts mit der Moderedaktion zu tun und die Kleiderlieferung an Hutch Leas Fotoatelier nur für eine Kollegin übernommen, deren Kind krank geworden war. Normalerweise hätte sie nie einen Fuß dorthin gesetzt. Ihr Job bestand darin, der Grafikabteilung bei der Fertigstellung der Layouts für die Druckerei zu assistieren.
Noah machte sich eine Menge Gedanken darüber, wohin er sie zu einem ersten Date einladen und wie lange er warten sollte, bis er sie anrief und ein Treffen vorschlug. Er ahnte, dass sie sich nicht mit einem »plus Begleitung« auf einer Gästeliste beeindrucken ließe, wie prestigeträchtig die Veranstaltung auch sein mochte. Daher lud er sie schließlich zu einem Besuch im Metropolitan ein, in dem eine gerade eröffnete Ausstellung mit Bildern aus der Londoner Royal Academy begeisterte Kritiken bekam und Karten heiß begehrt waren, ihm aber gegen Gefälligkeiten aus dem Musikbereich zur Verfügung standen. Er traf die richtige Wahl.
Nach knapp einer Woche waren sie ein Paar.
Noah wusste, dass er in dieser Hinsicht vollkommen irrational empfand, doch kurz nachdem April bei ihm eingezogen war, fasste sie den Entschluss, ihre Haare wachsen zu lassen, und obwohl ihre Freunde ihr neues Aussehen mochten, fühlte er sich betrogen, als hätte er beim Erwerb einer neuen Partnerin die falsche Ware erhalten.
So wurde die Saat gesät.
Nach außen hin war alles bestens. Sie stritten sich selten, der Sex war gut, wenn auch meist vorhersehbar, sie machten als Paar etwas her, genossen die Gesellschaft des anderen, und New York pulsierte vor Leben. Was sollte da schiefgehen?
April war unordentlich, genoss das Chaos, verstreute ihre Kleider im gesamten Schlafzimmer und darüber hinaus, wenn Noah sie gewähren ließ. Er selbst hingegen war pedantisch und gewissenhaft, überorganisiert, bis auf die Stapel von Kassetten und CDs, die von seinem Schreibtisch bis in die Küche überquollen, was er stets auf seine Arbeit schob und worüber sie sich nie beschwerte oder es als Ausrede für ihre häusliche Nachlässigkeit benutzte. Sie war sogar damit einverstanden, wie er sich kleidete, konservativ, einfallslos und etwas monoton in Kombinationen von Schwarz, Blau und Grau, wohingegen sie sich großzügig bei jeder Farbe des Regenbogens bediente und das erstaunlicherweise auch gut tragen konnte, ohne dass sich etwas biss oder geschmacklos wirkte.
»Sind alle Kanadierinnen wie du?«
»Inwiefern?«
»So angenehm im Zusammenleben?«
»Bin ich das?«
»Absolut.«
»Möchtest du mich komplizierter?«
»Wie ein gefallenes Mädchen mit dunkler Vergangenheit aus einem viktorianischen Roman?«
»Oder aus irgendeinem anderen Zeitalter …«
Noah hätte es gern bejaht, angedeutet, dass an ihr zu viel Strahlendes, zu viel Normales war, aber natürlich würde sie ihn nicht verstehen. Er küsste sie auf die Wange. Sie lagen zusammen im Bett. April blätterte in einer Zeitschrift; sie las nur selten Bücher – noch so etwas, das ihn gelegentlich an ihr störte –, und er war mitten in einem spannenden Thriller, während er gleichzeitig eine der Bands hörte, die er betreute. Er hatte an dem Tag eine Reihe von Remixes bekommen, nach einer Woche anstrengender Aufnahmen mit einem hiesigen Produzenten. Der Sound war nicht besser geworden. Die Songs waren toll, aber die Gesamtstruktur stimmte immer noch nicht, und obwohl er selbst kein Musiker war – er konnte weder Noten lesen noch Klavier, Gitarre oder ein anderes Instrument spielen –, hatte ihm seine Intuition immer gute Dienste geleistet, auch wenn er nicht genau benennen konnte, was zu ändern wäre. Das war manchmal frustrierend. Seine Gedanken waren halb bei dem Buch in seiner linken Hand und halb bei der Musik, wanderten durch die musikalischen Windungen in dem Versuch, sie auf ein anderes Niveau zu heben. Dabei merkte er nicht, dass seine rechte Hand unter der Decke verschwunden war und er geistesabwesend seinen Schwanz streichelte. Sie schliefen beide immer nackt.
Ihre Stimme drang zu ihm durch, wie aus weiter Ferne, während er gleichzeitig spürte, dass April ihn fest in den linken Arm kniff. Er nahm die Kopfhörer ab.
»Was zum Teufel machst du da?«, schimpfte sie.
Er hatte keine Ahnung, was sie meinte.
Sie musste ihm seine Verständnislosigkeit angesehen haben.
»Was?«
»Du fummelst an deinem Schwanz rum …«
Er blickte nach unten. Sie hatte recht. Er spielte mit sich, seine Finger bewegten sich zwischen seinem Schwanz und den Eiern. Er war nur halb hart, die Hand auf seinen Genitalien nicht mehr als eine angenehme, federleichte Berührung.
»Oh, tut mir leid.« Er zog seine Finger zurück.
Ärger blitzte in Aprils Augen auf.
»Wie konntest du nur?«
»Ist einfach passiert. War mir gar nicht klar. Hat nichts zu bedeuten.«
Berührte sie sich denn nie unbewusst? Das tat doch jeder.
»Ich bin … gekränkt …« Sie suchte offensichtlich nach dem richtigen Wort. »Beleidigt …«, fuhr sie fort.
»Nicht nötig«, versuchte Noah sie zu beruhigen. »Hat keine Bedeutung. Wirklich.«
»Bin ich dir nicht genug?« Ihr Mund verzog sich zu einem kindlichen Schmollen.
»Doch, doch.« Er legte das Buch beiseite und strich ihr mit der Hand über die Wange.
April schüttelte die Hand angewidert ab.
»Damit hast du gerade an deinem Schwanz rumgespielt …«
»Das war die andere«, gab er zurück.
Sie wandte sich ab.
Ohne ein weiteres Wort knipste sie ihr Leselicht aus und zog sich ihren Teil der Decke über die Schultern. Noah tat das Gleiche und wandte ihr den Rücken zu. Er wusste, dass sich die Wolke bis zum Morgen verziehen und die Sache wohl nicht wieder zur Sprache kommen würde.
Aber er konnte nicht einschlafen, musste immer wieder an ihre Frage von vorhin denken. Sie ging ihm nicht aus dem Sinn. Bin ich dir nicht genug? Seine Gedanken kreisten darum.
Und jedes Mal kam ein Ja als Antwort zurück.
Weshalb er sich über sich selbst ärgerte.
Vielleicht war er für einen einfachen, anspruchslosen Zustand des Glücklichseins, der Häuslichkeit nicht geschaffen. Er war sich bewusst, dass er unter Menschen, auf Partys, Veranstaltungen oder sonst wo stets über die Schulter nach anderen Ausschau hielt, nach neuen Gesprächen, nach Ablenkungen. Immer bemüht, langweiliger Gesellschaft zu entfliehen, auf etwas Besseres auf der anderen Seite des Zimmers hoffte, in einem anderen Raum, irgendwo. Mit Frauen war es dasselbe. Der Nervenkitzel lag in der Jagd, den anfänglichen Erkundungen, den frühen Tagen der Leidenschaft, sexueller Ausschweifungen und Exzesse.
Er wollte mehr.
Wusste jedoch nicht, worin das bestehen könnte. Hätte er es überhaupt erkannt, wenn es sich ihm darbot?
Er dachte an April neben sich, ihr Körper warm und weich, beinahe perfekt, die samtige Hitze, wenn er sich in ihr bewegte, der schwache Nachtgeruch in ihrem Atem, der moschusartige Duft ihrer Möse, wie sie atmete, wenn sie miteinander vögelten. Stockend, nach Luft schnappend, als hinge sie an einer Felskante, spielte ein Spiel und wäre sich unsicher, ob sie loslassen sollte oder nicht.
Aber so richtig loslassen konnte sie nicht, oder?
Manchmal träumte er von mehr.
Davon, in den frühen Morgenstunden aufzuwachen, den Kopf noch voller Watte, ihre weichen Lippen um seinen Schwanz zu spüren, wie sie ihn langsam lutschte, sein Erwachen steuerte, die Erregung leitete wie ein Orchesterdirigent. Ihn vollkommen und im wahrsten Sinne verschluckte. Nichts, was sie jemals willentlich tun würde, wie er wusste.
Er beschwor die bleichen Rundungen ihrer Arschbacken herauf, wenn er in sie drang, während sie auf allen vieren kniete und ihm erlaubte zuzustoßen, wobei er sich stets fragte, wie eng ihr anderes Loch wohl sein mochte. Gelegentlich hatte er die Regung verspürt, die wenigen Zentimeter zu überwinden und zu versuchen, sie anal zu penetrieren, doch sie hatte immer klargemacht, dass das nicht infrage komme. Wobei er keine besondere Präferenz für Analsex hatte, obwohl er es die wenigen Male, bei denen Frauen es ihm erlaubten oder die angeblich perverse Methode vorschlugen, durchaus genossen hatte, aber es war mit etwas Abartigem, mit einem Tabu verbunden, das eine starke Anziehungskraft auf ihn ausübte.
April war normal.
Und nahezu perfekt.
Und leicht zu durchschauen.
Und langweilig.
Sie vögelte, weil man das mit seinem Freund machte. Das war bei Frauen und Männern so üblich. Er wusste nicht, ob sie es genoss. Sie kam so leicht, dass er sich oft fragte, ob sie ihren Orgasmus vortäuschte. Sie erwartete von ihm, sie zu nehmen, in sie einzudringen, sie zu besitzen, und glaubte anscheinend, dass ihr Sex ein Geschenk war, für das er (oder andere Männer) dankbar sein würden, ein Angebot, doch sie ergriff selten die Initiative. Wäre es nicht eine gesundheitsfördernde Leibesübung gewesen, wäre ihr der Liebesakt seiner Vermutung nach völlig gleichgültig geblieben, und sie hätte ihn nur als eine weitere Tätigkeit betrachtet wie Essen, Joggen oder ein gepflegtes Gespräch.
Mehr.
Er wollte mehr.
Er träumte von einer dunklen sexuellen Macht, die ihn so bewegen würde wie Musik, wie Magie.
April musste für ein paar Tage zur Druckerei der Zeitschrift nach Illinois fliegen, um sich über neue Produktionsverfahren zu informieren. Die Reise war schon seit einiger Zeit geplant. Noah blieb in Manhattan und verspürte, obwohl er es ihr gegenüber nie zugeben würde, eine gewisse Erleichterung, aber auch eine leise Erregung. Offenbarten sich hier neue Möglichkeiten? Die Chance, ihre Beziehung zu überdenken? Er wusste es nicht.
Er ging bei den Electric Ladyland Studios vorbei, um die Masters von neuem Material eines mittelmäßigen Liedermachers von der Westküste abzuholen, der schon lange bei dem Label unter Vertrag gestanden hatte, bevor Noah eingestiegen war. Als er in die Mittagssonne hinaustrat, merkte er, dass er keine Lust hatte, in sein Büro an der Perry Street zurückzukehren. Seine Arbeitsstunden waren flexibel, und zudem war er jederzeit auf dem Handy erreichbar. Die Aufnahmen konnte er immer noch anhören. Er wusste, dass sie nichtssagend, aber brauchbar sein würden, zugeschnitten auf den Radiomarkt, jeder Beat an der richtigen Stelle, oberflächlich, doch bestens geeignet zum Tanzen.
In Wahrheit hatte der frostige Austausch mit April an jenem unbehaglichen Abend Zweifel in ihm hinterlassen.
Warum hatte er sich selbst berührt, statt die Hand zu ihrem nackten Körper neben sich auszustrecken? Er versuchte sich zu erinnern, ob er vor sich hin geträumt hatte, fantasiert, ehemalige Freundinnen oder im Gehirn abgespeicherte Pornografie heraufbeschworen hatte, die ihn veranlasste, geistesabwesend seinen Schwanz zu streicheln statt seine Freundin. Ihm fiel nichts Erotisches ein, das ihm in dem Moment durch den Sinn gegangen war.
Der Gedanke, dass er April trotz ihrer Schönheit nicht mehr anziehend fand, bohrte sich in seinen Hinterkopf wie eine Termite, leise, hartnäckig, klein, knabberte aber eindeutig an den mentalen Dämmen ihrer Beziehung.
Er setzte sich vor ein Café an der Sullivan Street, trank Kaffee und beobachtete die Passanten. Eine kleine langhaarige Blonde kam vorbei. Sie wirkte wie eine Ausländerin, einerseits durch ihre Kleidung, elegant und schlicht, andererseits durch ihre Kopfhaltung, selbstbewusst in der Gewissheit, dass sie attraktiv war, das Kinn vorgereckt, die Stupsnase erhoben, die aufgeworfenen Lippen ungeschminkt, weich, einladend.
Sie bemerkte, dass er sie anstarrte, und zögerte kurz. Noah dachte schon, sie würde stehen bleiben, ein Gespräch mit ihm anfangen, sich vielleicht zu ihm setzen. Ein leises Lächeln erschien auf ihren Lippen, und sie ging weiter, äußerst selbstsicher, bestätigt in ihrer Macht, die sie über die Männer hatte. Sein Blick wanderte zu ihrem Hintern. Der Rock war kurz und eng, ihre Beine gerade und schlank, der Baumwollstoff schmiegte sich an ihre Haut wie ein dünner Schleier.
Als sie die Ecke der Bleeker Street erreichte, kam die Sonne hervor, enthüllte die Form ihres Körpers unter dem leichten Stoff. Aus irgendeinem Grund war Noah davon überzeugt, dass sie nichts darunter trug. Er wurde sofort hart bei dem Gedanken, dass diese junge Ausländerin, Mitte zwanzig, aber gefährlich jünger wirkend, genau die Art Frau war, die ohne Zögern morgens im Bett seinen Schwanz lutschen würde, um ihn zu wecken, und ihn mit wunderbaren Obszönitäten verwirren würde, sollte er sie in den Arsch ficken.
Sie verschwand um die Ecke, ließ sich von ihrer offen zur Schau gestellten Sexualität zu ihrem Ziel leiten, wo ein unbekannter Liebhaber zweifellos bereits in Erwartung ihrer Ankunft mit seinem Schwanz spielte.
Noah war kurz versucht aufzuspringen, ein paar Dollarscheine für den Kaffee auf den Tisch zu werfen und ihr nachzulaufen. Doch er blieb sitzen. Er war sich bewusst, dass er etwas darstellte, weder wie Brad Pitt noch wie Frankensteins Monster aussah, eine Unterhaltung mit einem Mindestmaß an Esprit führen konnte, doch den Dreh, Frauen spontan aufzureißen, hatte er nie so richtig rausbekommen. »Entschuldigung, Miss, sind Sie zufällig Französin?« Und falls sie es war, was sagte man dann? Und wenn nicht?
Verdammt, manchmal wünschte er sich, entscheidungsfreudiger zu sein. Wenn es um seine Arbeit ging, war er es durchaus, also wieso dann nicht im Privatleben?
Die Kellnerin kam und fragte ihn, ob er noch Kaffee wolle, was er ablehnte. Sie hatte einen ausgeprägten Mid-West-Akzent und trug enge schwarze Jeans mit einem dünnen roten Plastikgürtel, Segeltuchschuhe mit Keilabsatz und ein weißes T-Shirt mit dem Logo des Cafés. Unter dem sichtbaren BH zeichneten sich ihre Nippel durch den elastischen Stoff hart und scharf ab. Sie blickte zu ihm hinunter und musste unweigerlich sehen, wie sich seine Hose über der Erektion wölbte. Ihr Gesicht war sympathisch, aber ausdruckslos, und Noah stellte beschämt fest, dass es dem von April glich, irgendwie emotionslos, ohne Tiefe. Ausreichend für die Mehrheit der Betrachter, aber nicht für die nach Wahrheit Suchenden, denen bloße Schlichtheit nicht genug war. Er hielt ihren Blick kurz fest, als forderte er sie heraus, gegen seine so unübersehbare Erektion zu protestieren. Dann zahlte er und ging.
Auf dem Heimweg hielt ihn der Anblick von Frauen gefesselt. Alte und junge, allein oder zusammen mit anderen. Dünne und dicke. Die unterschiedliche Art, wie sie sich kleideten, wie viel Haut sie frei ließen, die vielfältigen Hinweise auf ihre Persönlichkeit, ihre Vorlieben und Abneigungen. Ihre Haltung, stocksteif oder mit hängenden Schultern, die Straße entlang schlendernd, auf Zehenspitzen wie durch Wasser trippelnd, die Augen geradeaus gerichtet oder allen Blicken mit falscher Bescheidenheit ausweichend. Jede unverwechselbar. Einmalig.
ENDE DER LESEPROBE