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Teils Detektivgeschichte, teils Science-Fiction-Thriller – und ganz der neue, witzige Roman von Kultautor Matt Ruff. John Chu liebt seinen Job. Als Sherpa begleitet er zahlungskräftige Kunden in Online-Rollenspiele wie das populäre Call to Wizardry und zeigt ihnen die Kniffe des Games. Das Geschäft brummt, und John würde sich als glücklich bezeichnen, wären da nicht zwei klitzekleine Probleme: Zum einen hat seine Ex-Freundin nach einer unglücklich verlaufenen Trennung geschworen, seine berufliche und private Existenz zu vernichten. Zum anderen vermutet er, dass es sich bei seinem neuesten Kunden in Wirklichkeit um den nordkoreanischen Diktator Kim Jong-un handelt, der die virtuelle Welt studieren möchte, um sie für seine politischen Zwecke zu instrumentalisieren. John versucht, der wahren Identität des ominösen »Mr. Jones« auf die Spur zu kommen – und verstrickt sich in ein Komplott, das ihn den Kopf kosten könnte. Für Leser*innen von Ernest Cline, Jasper Fforde und Douglas Adams.
Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
Seitenzahl: 384
Matt Ruff
88 Namen
Roman
Aus dem amerikanischen Englisch von Alexandra Jordan
FISCHER E-Books
FÜR NEAL
DU HAST NOCH NIE EIN ONLINE-ROLLENSPIEL GESPIELT? Keine Sorge! Wir bei Sherpa, Inc. wollen Kunden aller Fähigkeitsstufen eine unterhaltsame, qualitativ hochwertige Gaming-Erfahrung bieten. Leg einfach los – wir erklären dir alles Wissenswerte genau zum richtigen Zeitpunkt. Wenn du schon vorher etwas reinschnuppern möchtest, kannst du dir unseren praktischen Quick-Start-Guide im ANHANG anschauen, in dem alle wichtigen Konzepte und Begriffe erklärt werden. Wir freuen uns darauf, für dich zu arbeiten!
Ein Ausrufezeichen über dem Kopf eines Charakters zeigt, dass er eine Quest für dich hat.
Tipp im Ladebildschirm von Call to Wizardry
SHERPA – wird bezahlt, um Spieler durch ein Massive Multiplayer Online Role-Playing Game (MMORPG) zu führen. Sherpas stellen ihren Kunden Charaktere, Ausrüstung und fähige Teamkameraden zur Verfügung und ermöglichen es ihnen, Spielinhalte für erfahrene Spieler zu erleben, ohne Hunderte von Stunden investieren zu müssen. Sherpas sind oft Freiberufler und haben mit den Unternehmen, die das jeweilige Spiel veröffentlicht haben, nichts zu tun.
Wie das Kaufen von Gold und andere »Pay-to-win«-Strategien auch halten viele Spieler das Engagieren von Sherpas für Cheating. Spielefirmen haben unterschiedliche Einstellungen dazu. Einige tolerieren die Sherpas, während andere – wie zum Beispiel Tempest, der Entwickler des bekannten Call to Wizardry – das Spielen mit Hilfe von Sherpas als eine Verletzung des Endbenutzer-Lizenzvertrages (EULA) ansehen und Spieler dafür bannen.
Lady Adas Lexikon
Der Kunde ist ein Idiot.
Er heißt Brad Strong, und im echten Leben ist er Rohstoffhändler für eine dieser großen Wallstreet-Banken, deren Namen immer dann im Raum stehen, wenn die Wirtschaft abschmiert, die aber nie haftbar gemacht werden. Darf man seinen Social-Media-Konten Glauben schenken, ist Brad Absolvent der Wharton School of Finance. Er besitzt ein 180 Quadratmeter großes Haus in Soho und fährt einen Jaguar XP. Er klettert, ist Taucher und lernt Krav Maga, den Kampfsport des israelischen Militärs. Er ist ein rechter Hardcoreliberalist, wählt aber die Republikaner, weil man ja auch pragmatisch bleiben muss. Er ist ein Fan der Three Stooges und vom jungen Chuck Palahniuk. Er hasst fette Frauen, Linke und Leute, die nur von ihren Kindern erzählen.
Brad hat mir und meinen Kollegen bei Sherpa, Inc. eine riesige Summe gezahlt – riesig für uns, für ihn sind das Peanuts –, damit wir ihn auf ein Abenteuer in den Reichen von Asgarth im Spiel Call to Wizardry von Tempest mitnehmen. Wie die meisten unserer Kunden hat er sich für einen DPS-Charakter entschieden: einen Elfensamurai auf Level 200. Er hat erst überlegt, ob er stattdessen einen Orkninja nehmen solle, wollte sich dann aber nicht wie eine Pussy in den Schatten rumdrücken. Er will den Monstern entgegenrennen und »ihre verdammten Schädel spalten«.
Ich bin ein Tank und spiele einen Kriegertroll namens Klotzkopf von Moria. Meine Aufgabe ist es, die Aggro – also die Angriffe – der Monster auf mich zu lenken, damit sie mich in meinem Plattenharnisch der Unverwundbarkeit angreifen, während die DPS-Charaktere – Brad und meine Kollegen Jolene und Anja – das machen, was man eben macht, wenn man ordentlich Schaden pro Sekunde verteilen will. Ray, der als Gnomkleriker für das Heilen zuständig ist, verarztet alle Wunden, die meine Rüstung nicht verhindern kann. Es geht um die Balance. Die DPS-Charaktere müssen die Monster töten, bevor der Heiler kein Mana mehr hat und alle sterben. Doch wenn sie zu schnell zu viel Schaden anrichten, ziehen sie die Aggro auf sich, und was eigentlich ein wohlgeordneter Blutrausch sein sollte, wird zu einem chaotischen Gemetzel.
Damit sollten wir allerdings keine Schwierigkeiten haben. Jolene und Anja wissen beide, was sie tun, und Brad hat seinen Charakter von uns gekauft. Sein Samurai verursacht mit seinen Fähigkeiten genau die richtige Menge an Schaden.
Das Problem ist der Hammer. Als Brad uns vor zwei Tagen angeheuert hat, fragte er, ob er seinen Samurai schon vor dem Termin spielen dürfe, um etwas zu üben. Da er ein Viertel der Gebühr im Voraus bezahlt hat, habe ich ja gesagt. Vermutlich hätte ich seiner Bemerkung über gespaltene Schädel mehr Beachtung schenken sollen. Im Training hat er nämlich festgestellt, dass ihm das Katana seines Samurais nicht gefällt, und im Auktionshaus des Spiels eine neue Waffe gekauft: Ivars Hammer.
Ivars Hammer ist im Prinzip Thors Hammer, nur ohne den ganzen Markenstress mit Marvel. Sogar an den hohen Standards von Call to Wizardry gemessen, ist der Hammer ein wunderschön gerenderter virtueller Gegenstand. Ein Kunstwerk, gleichermaßen brutal und sexy. Am Ende des mit schwarzem Basiliskenleder umwickelten Griffs befindet sich ein spitzer Drachenzahn, und auf dem Hammerkopf wurden mithrilfeine Blitze eingraviert. Verständlich, dass sich ein Alphamännchen mit Affinität zu gespaltenen Schädeln zu dem Hammer hingezogen fühlt.
Leider ist Ivars Hammer aber eine Waffe für einen Tank. Egal wem man damit eins überbrät, das Ziel wird so richtig wütend, und bei einem kritischen Treffer verschießt die Waffe Blitze, die die Aggro jedes Monsters im Umkreis von 30 Metern anziehen. Brads Samurai wird dauernd von einer ganzen Traube Gegner belagert, und im Gegensatz zu meiner Rüstung hat sein Schuppenpanzer den Angriffen wenig entgegenzusetzen.
Brad stirbt, und Ray belebt ihn wieder (und wieder). Ich warne Brad, dass das noch häufiger passieren wird, wenn er den Hammer weiter benutzt. Brad will nichts davon hören. Als zahlender Kunde meint er, jede beliebige Waffe benutzen zu dürfen. Ich erinnere ihn daran, dass ich ihn nur begleite. Die Regeln machen andere. »Das ist dein Problem. Dann überleg dir eben was«, sagt Brad.
Wir tun, was wir können. Ich wechsele von Klotzkopf, dem Krieger, zu Sir Valence, einem Paladin, der Heiliges Feuer herbeibeschwören kann, seinen Schild wirft wie Captain America und Gegner im Notfall auch paralysieren kann, um sie von dem Kampf fernzuhalten. Jolenes Waldläufer beschwört eine feuerspuckende Schildkröte als Tierbegleiter, die die Rolle des zweiten Tanks übernimmt. Als Brad trotz unserer Bemühungen immer wieder stirbt, belebt Ray ihn wieder, und Anja, deren Druide Schmiedekunst beherrscht, flickt die Löcher in seinem Schuppenpanzer, damit wir für die Reparaturen nicht in die Stadt zurückkehren müssen.
Unser Vertrag mit Brad garantiert ihm zwei abgeschlossene Dungeons. Sogar für die schwersten Dungeons braucht man selten mehr als drei oder vier Stunden, und die Grotten der Boshaftigkeit, in denen wir uns befinden, sollten ein Kinderspiel sein. Doch das dauernde Sterben und Wiederbeleben hält uns auf, so dass wir nach einer Stunde gerade mal den ersten Boss besiegt haben.
Brad ist genauso frustriert wie wir, und da er im Gegensatz zu uns nicht auf der Arbeit ist, zeigt er es auch. Er wird ungeduldiger und stürzt sich in den Kampf, bevor wir anderen bereit sind. Mit absehbarem Ergebnis. Jolene versucht, Brad zu beruhigen, und wir stellen fest, dass er schwarze Frauen auch nicht sonderlich gernhat. Jolene gibt auf, und Anja übernimmt. Sie hat mehr Erfolg und kann Brad beruhigen, aber er stirbt trotzdem andauernd. Ich rufe mein Nutzerinterface auf und drehe die Details hoch, so dass Brads zahlreiche Tode von möglichst viel spritzendem Blut und umherfliegenden Eingeweiden begleitet werden. Zwar hat diese Einstellung keine direkten Auswirkungen auf das Gameplay, aber mir geht es gleich besser.
Nach weiteren 40 Minuten erreichen wir den zweiten Boss: einen grünen Drachen namens Anastasia. Wir bleiben vor ihrer Höhle stehen, damit ich Brad den Kampfablauf erklären kann. Es gibt drei Phasen, sage ich ihm. In der ersten beißt sie und versucht, dich in ihre Klauen zu bekommen. In der zweiten spuckt sie Säure. Und in der dritten Phase schlägt sie mit den Flügeln und verursacht so Tornados. Dann geht es wieder von vorne los, bis entweder alle von uns tot sind oder wir sie besiegt haben. Die Überlebensregeln sind ganz einfach: Zieh die Aggro nicht auf dich. Stell dich nicht in die Säure. Geh den Tornados aus dem Weg. Außerdem müssen wir auf ihre Eier achten, die an den Wänden der Höhle liegen. Sie reagieren empfindlich auf Erschütterungen und wenn man sie angreift – oder wenn sie von Blitzen getroffen werden – schlüpfen die Drachenbabys. Anastasias Brut spuckt genauso gerne Säure wie ihre Mutter und hinterlässt Pfützen von klebrigem Krazy Glue, die es bedeutend schwerer machen, den Tornados auszuweichen. Wenn mehr als eine Handvoll Drachenbabys schlüpfen, kann man den Kampf im Prinzip nicht mehr gewinnen.
Als ich fertig bin, frage ich Brad, ob er nicht vielleicht nur für diesen einen Kampf bitte sein Katana benutzen könne.
»Nein«, sagt Brad.
Es wird immer schwieriger, bei diesem Kerl nicht die Nerven zu verlieren, und das liegt nicht nur an seinem Verhalten. Die Avatar-Erstellung von Call to Wizardry übernimmt das echte Gesicht des Spielers und projiziert es auf die mythische Kreatur, die er gerade spielt. Brads Selbstbräunervisage spannt sich über die harten Konturen eines Elfengesichtes und erweckt den Eindruck eines aufs Geschmackloseste stereotypisierten Asiaten. Die Samurairüstung macht es noch schlimmer. Ich fühle mich, als würde ich mich mit der Hauptfigur aus einer alten Aufführung von Der Mikado unterhalten. Und die ist ein Idiot.
Aber ich bin Profi und muss meine Miete bezahlen, also bleibe ich ruhig. Trotzdem bestehe ich darauf: Der Hammer hilft uns hier nicht weiter, sage ich. Er zerstört zu viele Eier, und dann hängen wir den ganzen Abend bei diesem Boss fest.
Brad sagt, dass er das Katana nicht benutzen kann, OK? Er hat es nicht mehr, weil er es einem Händler verkauft hat, bevor er sich Ivars Hammer besorgt hat. Wenn ich in die Stadt zurückteleportieren möchte, um ihm ein neues Schwert zu kaufen, dann würde er es für diesen einen Kampf benutzen. Ansonsten solle ich die Klappe halten und mich damit abfinden.
Ich sollte ihm wirklich dieses Ersatzschwert kaufen. Das wäre das einzig Richtige. Ich verliere aber doch die Geduld, und wir haben noch ein ganzes Stück Arbeit vor uns, also beschließe ich, dass wir uns durchprügeln müssen. Ich werfe Jolene einen Blick zu, und sie nickt. Zwischen den Pfeilen in ihrem Köcher steckt eine Stele der Vernichtung, die Waldläufer-Version einer Atombombe. Die Rohstoffe dafür kann man nicht kaufen, sondern man muss sie mühselig von Hand sammeln. Normalerweise setzt man die Stele nur für die tödlichen Endbosse ein. Sie ist zwar viel zu stark für Anastasia, aber so sollten wir den Kampf im ersten Versuch gewinnen.
Ich gebe Ray einen privaten »Brad-bloß-nicht-wiederbeleben«-Befehl. Ray antwortet nicht, aber sein Gesichtsausdruck verrät mir, dass er schon beschlossen hat, Brad nicht zu helfen.
»Alles klar«, sage ich, »los geht’s.«
Anastasia schläft zusammengerollt in der Mitte ihrer Höhle, wacht aber blinzelnd auf, als wir hereinkommen. Ich ziehe mein Schwert und gehe zum Angriff über, gebe mir aber keine Mühe, als Erster da zu sein. Ich lasse Brad den Vortritt, als er »Banzai!« schreiend an mir vorbeiprescht. Er gibt Anastasia eins auf die Nase. Jetzt ist sie hellwach und wirft brüllend den Kopf in den Nacken. Die Animation ist wirklich unglaublich gut. Das Spiel von Wut und Verwirrung auf dem Gesicht des Drachen passt haargenau zu dem Gesichtsausdruck von jemandem, der von einer Bande mordlustiger Zwerge aus dem Schlaf gerissen wird. Ihr Blick huscht von mir zu Brad und wieder zurück, und sie legt den Kopf schief, als wäre sie noch nie in ihrem Leben so verwirrt gewesen: Was macht denn der DPS in der ersten Reihe? Wissen diese Idioten überhaupt, was sie tun?
Brad hebt Ivars Hammer, um noch einmal zuzuschlagen, doch Anastasia erwischt ihn mit ihrer Pranke, zerfetzt seine Rüstung und seine Brust. Sein Herz und seine Lunge verabschieden sich, und sie beißt ihm den Kopf ab. Was von seinem Körper noch übrig ist, sackt als Haufen glibberiger Innereien zu Boden.
Grellweißes Licht durchflutet die Höhle, als Jolenes Atompfeil sein Ziel findet. Ich setze mich in Bewegung, schleudere meinen Schild und schwinge mein Schwert.
»Belebt mich wieder!«, krakeelt Brads körperlose Stimme. »Belebt mich wieder!«
Wir ignorieren ihn. Ich ziehe die Aggro auf mich, und Anja, deren Druide jetzt die Gestalt eines Berglöwen angenommen hat, greift Anastasia von der Seite aus mit ihren Klauen an. Jolenes Schildkröten-Begleiter kommt von der anderen Seite, während Jolene selber hinter mir stehen bleibt und einen Pfeil nach dem anderen von der Sehne schnellen lässt.
Innerhalb kürzester Zeit verliert Anastasia ihren eigenen blutigen Todeskampf. Zu Phase drei kommen wir gar nicht erst. Der Drache fällt zu Boden, und durch die Erschütterung schwellen die Eier an und zerplatzen dann ganz harmlos. Für einen Moment ist in der Höhle alles friedlich.
»Belebt mich wieder, ihr Wichser!«, schreit Brad.
Ray ist schon dabei. Ich bin mir sicher, dass er versucht ist, Brad einfach liegenzulassen, aber auch er will bezahlt werden.
Brad weiß Rays Professionalität nicht zu würdigen. Kaum dass sein Körper wieder ganz ist, springt er auf, schreit: »Was zum Teufel sollte das denn?!«, und geht mit Ivars Hammer auf Ray los. Doch im Spiel kann man seine Teamkameraden nicht angreifen oder sie auch nur anrempeln: Anstatt wie geplant frontal gegen Ray zu prallen, läuft Brad einfach durch ihn hindurch.
»Brad«, sage ich. Ich deute auf die Schatztruhe, die dort aufgetaucht ist, wo eben noch Anastasias Leiche lag. Der lilafarbene Schimmer um sie herum zeigt an, dass sie epische Beute enthält.
Brad stampft immer noch fuchsteufelswild auf die Truhe zu und tritt dagegen. Das ist erlaubt. Der Deckel springt auf, und ein gold-orangefarbener Schimmer ergießt sich aus der Truhe. Ein Tusch ertönt. Die Beute ist legendär – nicht nur episch. Heute ist Brads Glückstag.
Ich trete vor, um besser sehen zu können, und das Herz rutscht mir in die Hose, als ich das Heft sehe, das aus der Kiste ragt. Gilliams Tödliche Klinge: noch eine Waffe für einen Tank.
Das Schwert ist nicht nur irgendeine beliebige Waffe. Für einen Paladin ist Gilliams Tödliche Klinge die Waffe überhaupt. Sie ist ebenso selten wie mächtig: Selbst wenn man noch tausend Schatztruhen öffnet, ist es unwahrscheinlich, das Schwert ein zweites Mal zu bekommen. Und wie alle legendären Waffen ist es charaktergebunden, sobald man es aufhebt, deshalb wird es auch in Auktionshäusern nicht verkauft.
Die meisten Sherpa-Verträge legen fest, dass Kunden nur die Waffen aufheben dürfen, die ihre Charaktere auch verwenden können: keine Tank-Waffen für andere Klassen, keine DPS-Waffen für Heiler und so weiter. Doch die Kunden von Sherpa, Inc. dürfen ohne Einschränkungen sämtliche Beute nutzen, die sie finden. So haben die Kunden nie den Eindruck, die Regeln würden gegen sie arbeiten, und wenn sie eine Waffe doch freiwillig liegenlassen, fühlen sie sich moralisch überlegen oder altruistisch.
Brad ist kein Altruist, aber er starrt das Schwert so lange wortlos an, dass in mir die leichtsinnige Hoffnung aufkeimt, er wolle es nicht haben. Dann schaut er zu mir herüber. Ich habe mein bestes Pokerface aufgesetzt, doch Brad durchschaut mich mit seinen Wallstreet-Instinkten sofort. Grinsend wendet er sich wieder der Truhe zu. Brad lässt Ivars Hammer los, der mit einem dumpfen Geräusch auf dem Boden aufkommt und in sein Inventar verschwindet. Er schließt seine Faust um den Griff von Gillams Klinge, und ein weiterer Tusch verkündet, dass sie jetzt unwiderruflich an ihn gebunden ist.
Die Klinge des Schwertes besteht aus rasiermesserscharfem Kristall, in dem das Licht in ständig wechselnden Farben schimmert. Als Brad die Waffe hochhält, ist sie mit dem Weiß des Heiligen Feuers gefüllt, doch als er sie hin und her bewegt, wird sie feuerrot, giftgrün, eisblau und nimmt schlussendlich ein dunkles Lila an, das von violetten Funken durchsetzt ist. Meine Verzweiflung wächst, als mir klarwird, dass ich die Aggro nie im Leben halten kann, solange er dieses Schwert hat. Und Brad will, dass wir als Nächstes ins Feuerrote Schloss gehen, das voller Vampire und Sukkuben ist. Ein Albtraum für jede schlecht organisierte Gruppe.
KLONK!
Grelles Licht durchflutet die Höhle, als ob Jolene noch einen ihrer Atombomben-Pfeile abgeschossen hätte. Ich drehe mich um und hebe die Hand, um meine Augen vor dem Licht der Flutstrahler zu schützen, die an der Decke aufgetaucht sind. Direkt daneben geht eine weitere Reihe Lichter an, dann eine dritte.
Ich fühle mich an meinen einzigen Besuch in einem echten Freizeitpark erinnert, den wir mit der Klasse gemacht haben, als ich neun war. Ein Freund und ich schlichen uns von der Gruppe weg, um mit der Geisterbahn zu fahren. Auf einem ghoulverseuchten Friedhof blieb der Wagen stecken, und wir schrien uns die Kehlen aus dem Hals, bis der Betreiber kam und uns rettete. Das Licht der Notfallbeleuchtung entlarvte die Ghoule als das, was sie waren: Marionetten auf einer Bühne.
Diese Flutlichter haben einen ähnlichen Effekt, auch wenn sie zu einhundert Prozent computergeneriert sind. Im Bruchteil einer Sekunde wird aus Anastasias fotorealistischer Höhle ein billiges Set aus Holz und Pappmaché. Die 3-D-Schatztruhe ist nur noch ein Stück bemalte Pappe, das von einem Stock aufrecht gehalten wird.
»Was zum Teufel ist hier los?«, fragt Brad, dessen legendäres Schwert nur noch ein Styroporspielzeug ist.
Eine Razzia der EULA-Polizei ist hier los. Das ist wirklich ärgerlich, aber ich kann nicht anders, als auch beeindruckt zu sein. Jede andere Firma hätte uns einfach rausgeschmissen, wenn sie uns dabei erwischt hätte, wie wir die Nutzungsbedingungen verletzen. Doch nicht Tempest. Sie machen sogar ein Spektakel daraus, wenn sie dich bannen. Genau wegen dieser Liebe zum Detail ist Call to Wizardry das erfolgreichste MMORPG aller Zeiten.
Ein Abschnitt in der Wand öffnet sich, und dahinter sieht man einen Wartungstunnel aus Beton. Zwei Männer in Anzügen kommen auf uns zu. Auf den ersten Blick könnte man sie für Anwälte halten, doch dann fallen einem die Handschuhe auf, die sie tragen – sie sind aus blauem Latex, wie diejenigen, die Polizisten anhaben, wenn sie Beweise sichern. Die Handschuhe sind ein Insider, eine Anspielung auf eine Science-Fiction-Serie, die vor meiner Geburt unglaublich beliebt war und die nach nur einer Staffel abgesetzt wurde. Ich bin Nerd genug, um die Anspielung zu verstehen: Die EULA-Cops sollen uns nicht nur virtuell einbuchten. Sie sind Henker.
Brad meint, sie mit seinem Styroporschwert angreifen zu können. Er schafft ein paar stockende Schritte, bevor ihn die Bewegungssteuerung seines Nutzerinterfaces im Stich lässt.
Die beiden blau behandschuhten EULA-Cops rücken in die Mitte des Raumes vor, bis wir ihnen in einem Halbkreis gegenüberstehen. EULA-Cop #1 konsultiert ein Tablet, spricht uns der Reihe nach an. Ich komme als Erster an die Reihe. »JohnChuAlias8437 ät gmail punkt com, aka Klotzkopf von Moria, aka Sir Valence, Sie werden des Verstoßes gegen Abschnitt 5 des Endnutzer-Lizenzvertrages von Call to Wizardry für schuldig befunden …«
Abschnitt 5 des EULA verbietet nicht genehmigte kommerzielle Aktivitäten innerhalb des Spieles. Man nennt ihn auch den Anti-Sherpa-Paragraphen. Jolene, Anja und Ray haben diesen Abschnitt ebenso verletzt wie Brad, der uns angeheuert hat. Interessanterweise hat Brad auch noch gegen Abschnitt 2 verstoßen, der es verbietet, die Accounts anderer Spieler zu hacken oder von einem Hack zu profitieren.
»Die Strafe für diese Verbrechen ist die sofortige und dauerhafte Sperrung der betreffenden Nutzeraccounts«, schließt der EULA-Cop. »Wenn Sie der Meinung sind, dass ein Irrtum vorliegt, können Sie sich innerhalb von 60 Tagen an den Kundensupport wenden.«
Mit diesen Worten dreht er sich zu seinem Partner um. EULA-Cop #2 streckt eine behandschuhte Faust aus, in der er ein kleines, zylindrisches Gerät hält. Lichtdurchlässige blaue Antennen sind an beiden Enden des Geräts befestigt und stoßen ein Summen aus, das etwa genauso angenehm ist wie Fingernägel, die über eine Tafel kratzen.
Ich kann mich nicht bewegen, aber von meinem Platz aus kann ich Brad am Ende des Halbkreises sehen. Blut tröpfelt seinem Samurai aus Nase und Ohren. Das Summen wird lauter, und aus dem Tröpfeln wird ein kräftiger Strahl. Für einen Augenblick überkommt mich Schadenfreude, als Brads Kopf explodiert.
Dann bin ich dran. Alles wird schwarz. In der Leere schweben Worte vor meinen Augen: ACCOUNT GESPERRT.
Ruhe in Frieden, Klotzkopf von Moria.
Ruhe in Frieden, Sir Valence.
Mir bleiben noch 88 Namen.
AVATAR – die audiovisuelle Manifestation einer Person oder eines Software-Agenten in einer virtuellen Umgebung. Avatare können jedem beweglichen oder unbeweglichen Gegenstand ähneln, den der Host-Computer rendern kann. Außerdem können sie den betrachtenden Personen unterschiedlich dargestellt werden: In einer Online-Konferenz mit drei Teilnehmern sieht Alice für Bob aus wie eine fotorealistische Darstellung ihrer selbst. Charlie sieht und hört sie dagegen als eine Cartoon-Figur, ein sprechendes Pferd oder den Geist von Neville Chamberlain. Die Fähigkeit, mehrere Aspekte zu übertragen, wird als Facettierung bezeichnet und bietet die Möglichkeit, viele verschiedene Exploits zu nutzen oder anderen Quatsch anzustellen.
Lady Adas Lexikon
»Ihr kriegt keinen verschissenen Cent von mir.«
Jolene und ich haben Brad in der Game-Lobby wiedergetroffen, einer virtuellen Lounge, die Spieler gerne vor oder nach Runs zum Abhängen nutzen. Die Lobby ist im Cyberpunk-Stil gehalten: Alles ist verchromt, und überall sind Neonlichter; es gibt eine Bar mit einem Jumbotron-Fernseher, der immer deinen Lieblingskanal zeigt, eine Tanzfläche, über die Laserstrahlen zucken und auf der dreimal die Woche Karaoke-Abende stattfinden, Spielautomaten, die alte Spiele emulieren können, und überall hängen interaktive Bildschirme, mit denen man Teammitglieder für Call to Wizardry und ein Dutzend anderer beliebter MMORPGs finden kann. Wegen der Sponsorenvereinbarung mit Tempest dürfen Sherpas in der Lobby keine Werbung machen, aber nichts hindert dich daran, auf einem eigenen Pop-up-Bildschirm das Sherpa-Forum auf GigSearch aufzurufen.
Wir drei stehen um einen Tisch am Rand der Tanzfläche. Ich habe eine Kuppel der Stille benutzt, damit wir uns nicht über die Musik hinweg anschreien müssen. Wir nutzen alle unsere Standardavatare. Brad sieht zwar nicht mehr aus wie der Charakter aus einer Gilbert-und-Sullivan-Operette, aber ich habe trotzdem den Eindruck, dass ich ihn in der realen Welt lieber nicht kennenlernen möchte. Ich habe meine Schulzeit nicht auf einer normalen Highschool verbracht, also blieben mir die rituellen Demütigungen erspart, aber ich habe genug Folgen von Glee gesehen, um zu wissen, dass Brad seine prägenden Jahre damit verbracht hat, Nerds in Spinde zu sperren.
Jolene ist eine große, sportliche schwarze Frau in den frühen Fünfzigern. Ihr Avatar ähnelt ihren Facebook-Fotos, aber wie die meisten hat sie einige Schönheitsfehler kaschiert und die Lücke zwischen den Schneidezähnen entfernt. Im echten Leben trägt sie eine konservative, natürliche Kurzhaarfrisur, die zu ihrem Job als IT-Spezialistin in einer Kanzlei in Colorado Springs passt. Ihr Avatar hingegen trägt mehrere aufwendig miteinander verflochtene Zöpfe. Für diese Frisur müsste man in echt Hunderte von Dollar in Extensions stecken und wer weiß wie viele Stunden in Pflege investieren. Hier in der Phantasiewelt ist die Frisur kostenlos, und du musst dir keine Sorgen machen, dass ein Fremder einfach so deine Haare angrabbelt.
Wer das People-Magazin abonniert hat, kennt meinen Avatar aus einem Artikel in der Ausgabe vom 8. März: »John Chu, Sherpa greift nach den Sternen.« Mein echter Nachname ist Conway, aber aus Respekt für meine Mutter nenne ich mich Chu. Sie hat mich aufgezogen und mich vor unangenehmen Fragen wie »Wieso hast du einen irischen Nachnamen, wenn du Asiate bist?« bewahrt.
Mein Avatar hat weniger Akne-Narben als ich, aber den größten Unterschied macht der Mom-und-Dad-Schalter aus. So nenne ich den Code, den mein Freund Djimon Campbell eingebaut hat. Djimons Eltern kommen ebenfalls von verschiedenen Kontinenten: Die Familie seines Vaters kommt aus England und Schottland, und seine Mutter ist eine Yoruba. Djimons Eltern leben getrennt, haben sich aber das Sorgerecht geteilt, und als Kind hat er gemerkt, dass man ihn anders behandelt, je nachdem, bei welchem Elternteil er gerade ist. Eines Tages hat er ein Experiment gestartet und mit einer Public-Domain-Morphing-Software eine Avatar-Erweiterung gebastelt, mit der er entweder den Erbteil seines Vaters oder den seiner Mutter betonen kann. Seine Haut wurde dunkler oder heller, als sie eigentlich war. Das Ergebnis verblüffte ihn: Er hatte erwartet, dass seine Hautfarbe das Verhalten der Leute beeinflussen würde, doch er hatte nicht damit gerechnet, dass es so krass werden würde.
Ich habe Djimon einhundert Kröten bezahlt, damit er meinem Avatar einen ähnlichen Code schreibt. Für mich ist das ein Arbeitswerkzeug. Die historisch gewachsene Verbindung zwischen chinesischen Hackern und Gold-Farmern hat das Vorurteil geprägt, dass Menschen, die chinesisch aussehen, die geborenen Sherpas sind. Genauso, wie wir Chinesen immer Streber sind. Für das erste Treffen mit einem neuen Kunden hebe ich also das Erbteil meiner Mom hervor. Wenn sich dagegen jemand beschwert, kann man nicht europäisch genug aussehen.
Im Augenblick steht die Dad-Einstellung auf elf. Der Wert ist ziemlich hoch, und trotzdem kann es sein, dass Brad nichts auffällt. Jolene fällt es definitiv auf.
Sie öffnet einen privaten Kanal: Für Brad sieht es so aus, als stünde sie bewegungslos mit auf dem Tisch gefalteten Händen vor ihm, doch ich sehe, dass sie sich mit vor Erstaunen geweiteten Augen zu mir herüberlehnt. »Oh mein Gott!«, sagt sie. »Weiß … weißer … schneeweiß!«
Ich ignoriere sie. Äußerlich sehe ich wie mein Vater aus, doch innerlich bin ich ganz im Mom-Modus, erstelle ein psychologisches Profil von Brad und versuche herauszufinden, wie ich ihn dazu bringe, den Rest unseres Honorars rauszurücken. Ich könnte damit drohen, ihn im Sherpa-Forum anzuschwärzen, aber das würde ihn vermutlich nur zum Lachen bringen. An seine Fairness zu appellieren würde vermutlich gleichzeitig jenen Teil in ihm ansprechen, der gerne Nerds in Spinde sperrt. Bloß nichts tun, was als Schwäche ausgelegt werden könnte. Ich beschließe, dass meine einzige Hoffnung darin besteht, ihn aus dem Konzept zu bringen und seine Wut in andere Bahnen zu lenken.
»Habt ihr mich gehört? Ich habe gesagt, ihr kriegt keinen …«
»Du hast Gold gekauft«, sage ich.
Das macht ihn sprachlos. »Was?«
»Im Auktionshaus kostet Ivars Hammer mindestens 25000 Gold. Der Samurai war pleite, als du ihn übernommen hast, und für das Katana kannst du nicht mehr als ein paar hundert bekommen haben, also hast du Gold gekauft.«
»Und?«
»Ich vermute mal, dass du das nicht im In-Game-Laden gekauft hast.« Nachdem sie mehrere Jahre lang versucht haben, Gold-Farmer aus Call to Wizardry auszuschließen, hat Tempest beschlossen, ihnen die Geschäftsgrundlage zu entziehen und Goldkäufe völlig legal in den offiziellen Shop einzubauen. Der Preis schwankt wie auf dem echten Goldmarkt, doch er wird immer so niedrig gehalten, dass Goldgeschäfte auf dem Schwarzmarkt nicht mehr profitabel sind. Mit einer Ausnahme.
»Das Gold kommt von einem Kerl, den ich in dem Forum gefunden habe, wo ich euch auch angeheuert habe«, sagt Brad.
Ich nicke wissend. »Die Sache ist die … Man kann in Call to Wizardry nur dann gutes Geld mit Goldverkäufen machen, wenn man es gestohlen hat. Die Verkäufer knacken die Accounts von anderen Spielern, liquidieren deren Sachen und verkaufen das Gold dann an …« – Idioten wie dich – »Leute, die ein Schnäppchen machen wollen.«
Brad zuckt die Achseln. Spieler, die so unvorsichtig sind, dass man ihre Accounts hacken kann, sind nicht sein Problem, will er mir damit sagen.
Sind sie aber doch. »Alles, was in der Spielwelt passiert, wird aufgezeichnet«, sage ich. »Sobald die Accounts als gehackt gemeldet werden, kann Tempest ganz genau nachverfolgen, wo das Gold hin ist. Die Diebe kriegen sie nicht, aber die Käufer können sie sehr wohl drankriegen.«
Brad zuckt erneut die Achseln, aber seine selbstsichere Fassade bröckelt. »Woher wollt ihr wissen, dass es an mir lag?«, fragt er. »Euch haben sie auch hochgenommen.«
»Weil wir mit dir zusammen waren. Tempest ist der Spur des Goldes gefolgt. Sie haben uns eine Weile belauscht und so herausgefunden, dass wir Sherpas sind.« Ich improvisiere weiter: »Und um uns eine richtige Lektion zu erteilen, haben sie auf den perfekten Augenblick gewartet, um uns den Stecker zu ziehen. Sogar die Beute in Anastasias Höhle war vermutlich absichtlich legendär.«
»Das Schwert? Das haben sie uns absichtlich gegeben?«
»Und dann haben sie es sich gleich wieder zurückgeholt«, sage ich. Ich erzähle Blödsinn, aber das weiß Brad ja nicht. »Ich kann wirklich verstehen, dass du aufgebracht bist, aber wir haben dich nicht verarscht, sondern Tempest. Oder der Betrüger, der dir das Gold verkauft hat.«
Brad wendet den Blick ab und scheint darüber nachzudenken. Als er sich mit ruhiger Mine wieder mir zuwendet, nickt er und wirkt wie die Vernunft selbst. Spätestens jetzt weiß ich, dass wir am Arsch sind.
»Du hast recht, es ist nicht eure Schuld«, sagt Brad. »Aber ihr kriegt trotzdem keinen scheiß Cent von mir.« Er zuckt wieder die Achseln. »Es ist genau, wie du gesagt hast: Ich kann diejenigen, die dafür verantwortlich sind, nicht drankriegen, also muss ich es wohl an euch auslassen.«
Jolene bricht ihr Schweigen. »Mann, was läuft denn bloß falsch bei dir? Warum willst du unbedingt so ein …«
Brad schneidet ihr das Wort ab: »Wer hat dich nach deiner Meinung gefragt, Beyoncé? Glaubst du, ich gebe einen feuchten Dreck, was du …«
»Du bist für mich gestorben«, sage ich. Brad verschwindet. Sein Avatar belegt immer noch dieselben Koordinaten im Cyberspace, aber wir können einander nicht mehr hören oder sehen.
Jolene starrt weiter auf die Stelle und hört sich an – und nimmt vermutlich auch auf –, was Brad zu sagen hat. Weitere dreißig Sekunden später sagt auch sie »Du bist für mich gestorben« und seufzt.
»Griefnet?«, frage ich sie.
»Nee«, sagt sie. »Wenn er das N-Wort benutzt hätte, würde ich es da posten. Aber über ›Beyoncé‹ kann ich nicht richtig wütend sein, auch wenn er es als Beleidigung gemeint hat … Wir sollten wohl gehen und die schlechten Neuigkeiten überbringen, was?«
Anja und Ray warten in der Spielhalle der Lobby auf uns. Anjas Avatar sieht aus, wie sie vor ihrem Unfall ausgesehen hat: eine hübsche, zierliche Jugendliche mit dem Körperbau einer Gymnastin. Anjas Familie, die Kirchners, sind Deutschargentinier und wohnen in Paraná. Anja war auf dem Weg nach Buenos Aires, um an der Auswahl für die Olympischen Sommerspiele teilzunehmen, als der Van, der sie zum Flughafen bringen sollte, seitlich von einem Bus erfasst wurde. Seitdem ist sie teilweise gelähmt, und eine experimentelle Stammzellentherapie, die ihr helfen sollte, hat alles nur noch schlimmer gemacht, so dass sie jetzt nicht mehr ohne Hilfe atmen kann. Die Maschine, die sie am Leben erhält, arbeitet mit einem VR-System, das die elektrischen Impulse ihres Großhirns liest und interpretiert. Anja ist vierundzwanzig Stunden am Tag online, sie sehnt sich nach Anerkennung und macht sich nicht allzu viel aus Geld, kurz, sie ist die perfekte Angestellte. Ich gebe mir Mühe, das nicht zu sehr auszunutzen. Jolene findet, dass ich mir mehr Mühe geben sollte.
Ray Nelson sieht aus wie ein weißer Kerl in den Dreißigern mit durchschnittlicher Statur, braunen Augen und kurzem schwarzem Haar. Er hat keine Social-Media-Accounts – zumindest nicht unter diesem Namen –, also weiß ich nicht, ob er wirklich weiß ist, aber wenn ich raten müsste, würde ich vermutlich sagen ja. Wenn man sich eine andere Kultur oder ein anderes Geschlecht aneignet, tendiert man dazu, Vorurteile zu verkörpern. Rays Avatar sieht nicht aus wie ein Star, ist nicht blond und blauäugig und erinnert auch nicht an ein inzestuöses Landei. Für einen Weißen sieht er einfach zu unscheinbar aus, wer würde denn bitte so tun wollen, als wäre er normal?
Jolene hat eine interessante Meinung zu dem Thema. Kurz nachdem sie voll bei Sherpa, Inc. eingestiegen ist, hat sie mich gefragt, was ich über Ray weiß. Ich antwortete, dass er der beste Heiler sei, mit dem ich je zusammengearbeitet habe. Dann wollte sie wissen, was ich offline über ihn weiß. Was macht er, wenn er nicht spielt? Keine Ahnung, sagte ich. Er spricht nicht oft über sich selbst. Jolene war damit nicht zufrieden und hat mit ihren IT-Skills Rays IP-Adresse herausbekommen. Sie hat sie zurückverfolgt und herausgefunden, dass sie Teil eines ganzen Blocks von IP-Adressen ist, der einem Internetanbieter aus Südostkalifornien gehört. Der Anbieter versorgt auch einen Teil der Mojavewüste, von dem man sagt, dass dort Menschen leben, denen es gesetzlich verboten ist, sich in der Nähe von Kindern aufzuhalten.
Du hältst Ray wegen seiner IP-Adresse für einen Pädophilen?, fragte ich, als Jolene mir davon erzählte. Keine Ahnung, was er ist, sagte sie, aber ich habe so ein Gefühl, dass er etwas zu verbergen hat. Hast du das nicht? Nicht bei ihm, antwortete ich, aber bei dir mache ich mir jetzt schon Gedanken.
Was ich sicher über Ray weiß, ist, dass die Sherpa-Sache seine Haupteinnahmequelle ist, kein Nebenjob. Das macht mir Sorgen, denn gute Heiler findet man selten, und wenn er mit seiner Arbeit für Sherpa, Inc. nicht genug Geld verdient, um die Miete zu zahlen, tritt er einfach einer anderen Crew bei. Ich war schon mal knapp davor, ihn zu verlieren.
»Er zahlt nicht?«, sagt Ray, ohne darauf zu warten, dass ich die Neuigkeiten verkünde. »Der hat uns übers Ohr gehauen, oder?«
»Er ist ein Arschloch«, sage ich. »Das passiert schon mal. Ist einfach Pech …«
»Pech?« Rays Avatar sieht aus wie immer, doch vermutlich läuft Ray gerade vor Wut rot an. »Und was ist mit dem Ding von letzter Woche? Oder den beiden Kunden in der Woche davor?«
Wir hatten in letzter Zeit ein paar Schwierigkeiten. Heute Abend ist schon das dritte Mal innerhalb eines Monats, dass uns die EULA-Polizei während eines Auftrages hochnimmt. Die beiden Male davor haben die Kunden uns bezahlt, waren aber nicht zufrieden und haben uns Ein- oder Zwei-Sterne-Bewertungen im Sherpa-Forum gegeben.
Der Zwischenfall letzte Woche war anders. Wir sind problemlos durchgekommen, und der Kunde namens Ollie Oxenfree wollte sogar noch einen dritten Dungeon laufen und die Überstunden zahlen. Der Stress ging erst danach los, als Ollie nicht in der Lobby zu uns stieß. Meine Chat-Nachrichten und E-Mails wegen der Bezahlung kamen alle zurück, und als ich mich mit dem Account bei Call to Wizardry einloggen wollte, den ich während des Auftrags verwendet habe, stellte ich fest, dass er gesperrt worden war. »Ollie« hat uns nicht nur verarscht, er hat uns auch an Tempest verpfiffen.
Wir wurden über den Tisch gezogen. Das passiert. Ich hatte Sorge, dass Brad etwas Ähnliches abziehen würde, und genau deswegen habe ich so lange damit zugebracht, seine Social-Media-Accounts zu überprüfen.
»Das ist kein Pech«, sagt Ray. »Sondern Darla.«
»Woher willst du das wissen?« Ich klinge Brad beunruhigend ähnlich, als ich das sage.
»Sie rechnet mit dir ab, wie sie’s gesagt hat. Und wir sind der Kollateralschaden.«
»Komm schon, Ray. Sei kein …«
»Sorry, John. Ich kann mir das nicht mehr leisten.«
»Was, wenn ich dir meinen Teil vom Vorschuss gebe?«
Ray verzieht das Gesicht. »Der hat doch nur ein Viertel im Voraus bezahlt, oder? Sogar mit deinem Teil kriege ich nur die Hälfte von dem, was du mir schuldest. Und …«
»Meinen Teil kannst du auch haben«, verkündet Anja.
Jolene unterbricht: »O nein, das kannst du nicht. Behalte dein Geld, Schätzchen.«
»Es geht nicht nur ums Geld«, sagt Ray, ohne den Blick von mir abzuwenden. »Im Gegensatz zu dir habe ich keine Million Ersatzaccounts. Weißt du, wie lange es dauert, einen neuen Kleriker hochzuleveln?«
»Du willst Ersatz für den, den du heute Abend verloren hast?«, sage ich. »Ich gebe dir einen von meinen. Zwei – Ich gebe dir zwei.«
»Zwei Kleriker«, sagt Ray. Das ist wahnsinnig großzügig, und das weiß er auch. »Auf dem höchsten Level?«
»Einer von beiden. Der andere ist im hohen dreistelligen Bereich, 170 oder 175.«
»Den kann ich für dich hochleveln«, bietet Anja an. »Das dauert nicht lange.«
Jolene öffnet den Mund, um etwas zu sagen, überlegt es sich dann aber anders. Ich weiß, dass ich mir deswegen später noch etwas anhören darf.
»Zwei Kleriker«, sagt Ray, während er immer noch darüber nachdenkt. »Und deinen Teil der Vorauszahlung?« Ich nicke und versuche, nicht an meine eigenen unbezahlten Rechnungen zu denken. »Alles klar«, sagt Ray. »Ich bleibe noch ’ne Weile. Aber du musst das mit Darla klären. Finde sie und küss ihr den Arsch, oder mach was anderes, das sie dazu bringt, aufzuhören.«
»Mach ich«, verspreche ich. »Keine Sorge.«
Ray und Jolene loggen sich aus. Ich gebe Anja die Account-ID und das Passwort für den zweiten Kleriker, den ich Ray versprochen habe. »Nur wenn du wirklich willst«, sage ich und sehe den Blick vor mir, den Jolene mir zum Abschied zugeworfen hat.
»Wenn ich nicht wollte, hätte ich es nicht angeboten«, sagt Anja. Ob sie nun die Wahrheit sagt oder nicht, das nächste Mal, als wir uns treffen, ist der Kleriker auf dem höchsten Level.
»Alles okay bei dir?«, frage ich. »Wegen heute Abend, meine ich.« Ich weiß, dass es ihr nahegehen könnte, wegen einer EULA-Verletzung hochgenommen zu werden und einen Avatar zu verlieren.
Sie zuckt die Achseln. »So was passiert. Glaubst du wirklich, dass Darla dafür verantwortlich ist?«
»Ich glaube, heute Abend war das nur Brad. Das Ding letzte Woche könnte Darla gewesen sein. Aber keine Sorge, ich überlege mir da was.«
Wir wünschen uns gute Nacht. Anja geht zurück ins Spiel. Ich bleibe bei den Spielautomaten in der Lobby, spiele Gauntlet und denke an Darla.
Darla hat mich auf allen Social-Media-Plattformen blockiert, aber wenn man auf ihre Facebook-Seite geht, sieht man jemanden, der aussieht wie eine junge Chloë Grace Moretz in Kampfstiefeln und farbbespritztem Flecktarn. Sie sitzt im Schneidersitz im Gras und hat ein Paintball-Gewehr auf dem Schoß. Ihr schweißnasser Pony fällt ihr über die grünen Augen, und ihr Lächeln vermittelt den Eindruck, als wüsste sie viel mehr als du und würde nur darauf warten, dass du endlich eins und eins zusammenzählst. Ihrer Bio zufolge heißt sie Darla Jean Covington, »aus Virginia, geboren in Arizona, Wahlheimat Oregon«. Eine zweiundzwanzigjährige, weiße, apolitische, atheistische, omnivore Cis-Frau aus der Mittelschicht, die sich als bi-curious bezeichnet und sich – haha, performativer Widerspruch, kapiert? – in keine Schublade stecken lässt. Beruf: Unruhestifterin und Gamer Gurl. Beziehungsstatus: Single.
Wir haben uns in Call to Wizardry im Echsensumpf getroffen, wo wir Dinosaurierhäute und Archaeopteryx-Federn sammeln wollten. Der Server, auf dem wir waren, wird hauptsächlich von Südkoreanern genutzt, und in Seoul war es drei Uhr morgens. Wir hatten beide gehofft, den Sumpf für uns allein zu haben. Nach einem kurzen Versuch zu teilen fingen wir an, einander die Kills zu klauen. Als ich einen seltenen T-Rex erlegte, auf den Darla ein Auge geworfen hatte, forderte sie mich zu einem Duell heraus, und obwohl ihr Charakter vier Level unter meinem war, hat sie mir gründlich den Arsch versohlt. Und dann in der Revanche noch mal. Ich habe ihr sofort eine Stelle bei Sherpa, Inc. angeboten.
Was die Spielfähigkeiten angeht, war sie super. Ihre DPS-Skills waren phänomenal, doch sie konnte auch tanken. Für eine Heilerin hatte sie nicht den richtigen Charakter, aber auch das lernte sie schneller, als man gucken konnte.
Ihre Soft Skills ließen allerdings einiges zu wünschen übrig. Wenn die Kunden unhöflich wurden, nahm Darla es persönlich; wenn sie Fehler machten oder die Regeln eines Bosskampfes nicht sofort verstanden, machte sie sich über sie lustig. Letzteres nervte mich besonders. Ich erklärte ihr mehrmals, dass unser Geschäftsmodell darauf aufbaut, dass unsere Kunden Amateure sind; wenn sie genug Zeit hätten, um gute Spieler zu werden, dann müssten sie keine Sherpas anheuern. Das weiß ich, sagte Darla, aber manchmal sind die einfach so lame, dass ich schreien will.
Wenn sie uns nicht die Kunden vergraulte, ging Darla ihren Kollegen auf den Geist. Anja, die deutschstämmige Argentinierin, musste sich andauernd Witze über geflüchtete Nazis anhören. Mir ging sie mit meiner Laktoseintoleranz auf den Sack und mit Mickey Rooneys Darstellung in Frühstück bei Tiffany. Rays Schwäche war nicht so leicht zu finden, weil er wenig von sich preisgab, doch Darla schloss irgendwie, dass er Katholik war oder zumindest auf Bemerkungen über Katholiken ansprang. Selbst als er schon mit der Kündigung drohte, zog sie ihn immer noch mit der Frage auf, welche Ketzerei er am meisten verabscheute.
Zu dem Zeitpunkt hätte ich sie feuern sollen. Doch unsere Beziehung war kompliziert geworden, also verwarnte ich sie nur. Sie lachte und meinte, ich sei süß, wenn ich wütend bin. Ich sagte ihr, es wäre mir ernst; entweder, sie ließe es bleiben, oder sie müsste sich nach einer neuen Sherpa-Crew umsehen. Also versprach sie, Ray in Ruhe zu lassen. Anja auch, forderte ich. Und die Kunden. Schon gut, schon gut, sagte sie.
Und sie ließ es wirklich bleiben. Größtenteils. Ich war erleichtert, ging aber auch davon aus, dass es nicht lange dauern würde, bis sie in ein paar Wochen wieder loslegte und ich mich erneut zwischen ihr und der Firma würde entscheiden müssen. Und so kam es auch. Manche Dinge sind einfach von Anfang an zum Scheitern verurteilt.
Die Sache endete dann so: Die CAA-Agentin, die Janet Margeaux vertritt, rief mich an. Janet sollte in einem Jaden-Smith-Film mitspielen, in dem eine Sherpa-Crew eine Bank im Cyberspace überfällt – »eine Mischung aus Snow Crash und Die Thomas Crown Affäre.« Ms. Margeaux wollte ein paar Tage mit echten Sherpas verbringen, um sich auf die Rolle vorzubereiten. Das People-Magazin hatte ebenfalls Interesse: Wenn ich einverstanden wäre, würden sie einen Reporter mit uns in einen der Dungeons schicken, Videos und Screenshots machen und mich über die Branche interviewen.
Ich hatte noch nicht mal zugesagt, als ich mir schon wegen Darla Gedanken machte. Was, wenn sie Janet Margeaux wegen der schlechten Einnahmen des Citizen-Kane-Remakes aufzog, in dem sie mitgespielt hatte? Oder was, wenn sie »provokant« sein wollte und dem People-Journalisten gegenüber etwas Rassistisches sagte?
Ich hätte versuchen können, mir ihr zu reden, um ihr deutlich zu machen, wie wichtig dieser Auftrag für die Zukunft der Firma war. Ich hätte zugeben können, dass ich ihr trotz ihres aktuell guten Benehmens nicht vertraute. Doch ich hatte Angst vor ihrer Reaktion, also entschied ich mich dafür, die Sache umsichtiger – also feiger – anzugehen: Ich gab Janet Margeaux einen Termin an einem Wochenende, von dem ich sicher wusste, dass Darla ein wenig Facetime mit ihrer Familie in Virginia verbrachte. Ich fragte Jolene an, die schon öfter für Darla eingesprungen war, und sagte Ray und Anja erst im letzten Augenblick, worum es ging. Ray begriff sofort, dass ich Darla absichtlich nicht mitgenommen hatte, doch Anja verstand es nicht; sie hielt es einfach nur für Pech, dass sie nicht dabei war.
Alles lief gut – Janet Margeaux war begeistert, und die Journalistin verkündete, dass unser Interview eine ganze Seite füllen würde. Ich sagte mir, ich hätte die richtige Entscheidung getroffen und dass Darla das auch so sehen würde, wenn sie sich erst mal etwas abgeregt hatte.
Doch ich hatte es nicht eilig, das herauszufinden. An dem Tag, als Darla von ihrem Familientreffen wiederkommen sollte, stattete ich dem Echsensumpf noch einen Besuch ab. Der neueste Softwarepatch für Call to Wizardry hatte eine neue Subspezies des Velociraptors ins Spiel gebracht, mit dessen Klauen man magische Halsketten schmieden konnte. Ich stellte meine Benachrichtigungen ab und machte mich bereit, ein paar hundert Klauen zu farmen.
Darla kam online und suchte in der Lobby nach mir. Sie traf Anja, die es nicht besser wusste und ihr erzählte, was während ihrer Abwesenheit passiert war.
Im Sumpf war ich in einen Revierkampf mit einigen Griefern auf niedrigem Level geraten. Ich tötete sie so oft, bis sie die Lust verloren und mich in Ruhe ließen. Als Darla mich fand, war ich immer noch im PVP-Modus. Sie hatte sich als ein Deathlord auf Level 200 eingeloggt, und die ersten Anzeichen dafür, dass sie nach mir suchte, waren die sterbenden, verschrumpelnden Farne am Rande der Lichtung. Dann brach sie mit einem brennenden Zweihänder von der Größe eines Telefonmasts durch das tote Unterholz.
»Hey, Darla, lass uns drüber reden«, sagte ich. Sie köpfte mich. Als ich vom Friedhof wiederkam, schändete sie gerade meine Leiche; vermutlich hatte sie die Eingeweide-Einstellungen bis zum Anschlag hochgedreht. Wenn ich meinen Körper wiederbelebte, würde sie mich nur noch mal töten, also schwebte ich körperlos umher und sagte: »Komm schon, Darla, lass uns reden.«
Sie loggte sich aus. Ich tat es ihr gleich, ging in die Lobby und wartete. Es war Karaoke-Abend, und eine Gruppe Rentner klärte gerade, wer von ihnen Celine Dions »My Heart Will Go On« am schiefsten singen konnte. Um mich selbst zu bestrafen, entschied ich, dass ich keine Kuppel der Stille verdiente.
Doch das war selbstgerechter Quatsch. Eine der beliebtesten Weisheiten meiner Mutter ist, dass es einen Unterschied dazwischen gibt, ob man die Konsequenzen seines Handelns bedauert oder ob es einem leidtut. Ich bedauerte, dass Darla wütend war, aber ich bereute mein Handeln nicht – wenn überhaupt bestätigte ihr Verhalten, dass ich das Richtige getan hatte.
Weil es mir nicht leidtat, wäre es auch falsch, sich zu entschuldigen. Ich konnte ihr erklären, warum ich so gehandelt hatte, ich konnte versuchen, es wiedergut zumachen, aber eine Entschuldigung würde alles nur noch schlimmer machen. Entschuldige dich nicht, schärfte ich mir ein, während ich wartete. Entschuldige. Dich. Nicht.
Dann sah ich sie drüben bei der Bar stehen. Sie sah mich auch – hatte mich zweifellos zuerst gesehen –, ignorierte mich aber ostentativ.
Ich ging auf sie zu. »Darla«, sagte ich.
Sie drehte sich um und kippte mir einen virtuellen Martini ins Gesicht. Das ist weniger effektiv als ein echter Drink – man kann Teammitglieder nicht angreifen, und auch der Drink flog einfach durch mich durch.
Darlas Worte hatten eine größere Wirkung. »Du verlogenes, hinterhältiges Stück Scheiße!«, schrie sie. Die letzten Töne der Titanic-Titelmelodie waren gerade verklungen, und noch hatte sich niemand dazu entschlossen, zu applaudieren; Darlas lautstarker Ausbruch füllte die Stille. Es fühlte sich plötzlich so an, als würden uns alle in der Lobby anstarren.
Ohne nachzudenken, sagte ich: »Darla, es tut mir leid, ich …«
»Es tut dir leid?«, sagte sie. »Noch tut es dir nicht leid … aber das wird es.« Dann: »Du bist für mich gestorben.«
Das war vor zweieinhalb Monaten. Während der ersten Woche habe ich darauf gewartet, dass Darlas Rache die Form eines Posts im Sherpa-Forum annehmen würde. Sie hätte so einiges über unsere Beziehung schreiben können, das peinlich und schlecht fürs Geschäft gewesen wäre. Doch die Tage vergingen ohne einen Post. Wie gesagt hat sie mich auf Social-Media blockiert, aber ihre Accounts sind immer noch öffentlich, und ich konnte sehen, dass sie weder auf Facebook noch auf einer anderen Plattform etwas gepostet hatte, wenn ich mich unter einem anderen Namen einloggte. Es war, als wäre sie völlig aus dem Internet verschwunden.
Der Artikel des People-Magazins wurde veröffentlicht. Die Publicity hatte genau den Effekt, den ich mir erhofft hatte. Sogar einen besseren. Sherpa, Inc. hatte schlagartig sehr gut zu tun. Ich hob unseren Standardpreis an und stellte Jolene als Nachfolgerin von Darla in Vollzeit an. Zuerst verdienten wir echt gut.