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New York im Jahr 2023: Tief unten in der Kanalisation tummelt sich Meisterbrau, ein mutierter weißer Hai und Liebhaber klassischer Musik. Währenddessen wird hoch über den Schluchten Manhattans ein neuer Turm zu Babel gebaut, nach dem Willen des visionären Trillionärs Harry Gant, der seinen Reichtum mit der Erfindung von Automatischen Dienern begründet hat. Und ausgerechnet so ein Roboter soll den Tycoon Amberson Teaneck erschlagen haben? Auf der Suche nach dem Mörder wird ein gigantisches Komplott entdeckt.
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Seitenzahl: 872
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New York im Jahr 2023: Tief unten in der Kanalisation tummelt sich Meisterbrau, ein mutierter weißer Hai und Liebhaber klassischer Musik. Währenddessen wird hoch über den Schluchten Manhattans ein neuer Turm zu Babel gebaut, nach dem Willen des visionären Trillionärs Harry Gant, der seinen Reichtum mit der Erfindung von Automatischen Dienern begründet hat. Und ausgerechnet so ein Roboter soll den Tycoon Amberson Teaneck erschlagen haben? Auf der Suche nach dem Mörder wird ein gigantisches Komplott entdeckt.
Hanser E-Book
Matt Ruff
Die Trilogie der Stadtwerke
Aus dem Amerikanischen von Giovanni und Ditte Bandini
Carl Hanser Verlag
Für Ayn Rand
Who’s who auf der sozialen Stufenleiter
Reiche
Harry Gant, Generaldirektor von Gant Industries
Amberson Teaneck, ein verstorbener Firmenaufkäufer
Wohlhabende und Mittelständler
Joan Fine, eine weiße liberale Katholikin
Lexa Thatcher, Herausgeberin des Long Distance Call
Die Crew des U-Boots »Yabba-Dabba-Doo«:
Philo Dufresne, Kapitän
Morris Kazenstein, erster Offizier und jüdisch-amerikanisches Allround-Wunderkind
Irma Rajamutti, Chefmaschinistin
Oliver, Heathcliff, Mowgli, Galahad und Klein Nell Kazenstein, Maschinenraumbesatzung
Neunundzwanzig-Wörter-für-Schnee, ein Inuit-Findelkind
Marshall Ali, Neunundzwanzig-Wörters kurdischer Mentor
Norma Eckland, Kommunikationsoffizier
Asta Wills, Sonartechnikerin
Osman Hamid, U-Boot-Fahrer
Jael Bolívar, Schiffsbiologin
Manager und PR-Leute von Gant Industries:
Vanna Domingo, Regulatorin der Öffentlichen Meinung
Clayton Bryce, Leiter der Abteilung für Kreative Buchhaltung
Whitey Caspian, ein Techniker der Öffentlichen Meinung
C.D. Singh, ein Lobbyist im Kongreß
Bartholomew Frum, eine Nachwuchskraft
Fouad Nassif, eine weitere Nachwuchskraft
Seraphina Dufresne, die neunzehnjährige Tochter von Philo Dufresne (und der verstorbenen Flora Daris)
Rabi Thatcher, Lexa Thatchers und Philos siebenjährige Tochter
Ellen Leeuwenhoek, Fotografin und Enthüllungsreporterin des Long Distance Call
Toshiro Goodhead, Stripteasetänzer
Ernest G. Vogelsang, FBI-Agent, Sektion für un-un-amerikanische Umtriebe
Arbeiter, Arme & Supra-Arme
Kite Edmonds, aus Kanada gebürtige hunderteinundachtzigjährige Veteranin des amerikanischen Bürgerkriegs
Maxwell, Veteran des schwarzafrikanischen Freihandelskrieges von 07
Troubadour Penzias, ein weiterer Veteran des schwarzafrikanischen Freihandelskrieges von 07
Kapitän Chance Baker, vom Eisbrecher »South Furrow« und später vom U-Boot-Jäger »Mitterrand Sierra«
Kapitänin Wendy Mankiller, vom Kampf-U-Boot »City of Women«
Mitarbeiter des Zoologischen Dezernats der Abwässerbehörde von New York City:
Fatima Sigorski, Koordinatorin
Lenny Prohaska und Art Hartower vom May-Team 23
Eddi Wilder, Nachwuchskraft, May-Team 23
Frankie Lonzo und Salvatore Condulucci, Fisch-Cowboys des Städtischen Aquariums von New York
Oscar Hill, ein glückloser Pfadfinderführer
Oblio Wattles, ein glückloser Pfadfinder
Es überkommt mich ...
Es überkommt mich ein sehr komisches Gefühl,wenn ich eure Generation ansehe. Wißt ihr, wir hatten immer so diese Vorstellung, daß jede neue Generation optimistischer sein würde, daß jede neue Generation fortschrittlicher sein und lauter nach Freiheit und Gerechtigkeit rufen würde. Aber mein jüngster Sohn, der jetzt sechzehn ist, sagt zu mir: »Dad, du bist ein sentimentaler Grufti. Du meinst, daß es irgendwann besser werden wird, daß noch irgendeine Hoffnung besteht«, sagt er, »aber keiner von uns glaubt daran.« Und dann erzählt er mir, daß die halbe Weltbevölkerung an Aids sterben wird, daß die Pole abschmelzen werden, daß der tropische Regenwald in dreißig Jahren restlos verschwunden sein wird und wir dann keinen Sauerstoff mehr haben, was aber gar keine Rolle spielt, weil’s sowieso noch höchstens sieben Jahre bis zum nuklearen Holocaust dauert, und wenn ich Zweifel an den Zeitangaben anmelde, sagt er, daß er mir das auf seinem Rechner beweisen kann… Wenn ich von der nächsten Generation irgendeinen Beitrag erwarte, dann ist es die Entdeckung, wie man, ohne jegliche Hoffnung, für soziale Veränderungen kämpft.
Wißt ihr, wenn man in den sechziger Jahren auf die Erde sprang, sprang sie zurück, genau wie Einstein es vorausgesagt hatte. Wir wußten, daß wir jede Schlacht gewinnen würden, weil wir jeden Tag erwachsener wurden. Jeder Tag war ein neuer Tag, und am Rande des Abgrunds zu leben war romantisch. Aber vielleicht ist eure Vision die realistischere von beiden…
Abbie Hoffman in der University of South Carolina, 1987
Es heißt, die Leute glauben nicht mehr an Helden. Zum Teufel mit ihnen! Wir beide, Max, wir werden ihnen ihre Helden wiedergeben.
Roger Ward im Film Mad Max
Dementi
Die Aufgabe der Geschichtsschreibung ist, die Vergangenheit gemäß ihrer eigenen – nicht unserer – Logik zu rekonstruieren. Alle Epochen, sagte Ranke, sind Gott gleich nah. Aber sosehr er auch versuchen mag, sich loszureißen, bleibt der Historiker ein Gefangener seiner eigenen Epoche. »Kein Mensch«, schrieb Emerson, »ist imstande, sich gänzlich von seinem Zeitalter und seiner Herkunft zu befreien oder ein Modell zu erschaffen, an dem das Erziehungswesen, die Religion, die Politik, die Sitten und die Künste seiner Zeit keinerlei Anteil hätten. Mag er auch noch so originell, noch so eigenwillig und phantasievoll sein, es ist ihm nicht möglich, aus seinem Werk jede Spur der Gedanken zu tilgen, inmitten deren es entstanden ist.« Der Historiker sitzt, wie jeder andere auch, auf ewig in der Falle der egozentrischen Weltsicht, und der »Gegenwartismus« ist seine Erbsünde.
Arthur M. Schlesinger jr., The Cycles of American History
Die folgende Geschichte sollte nicht als ein ernsthafter Versuch mißverstanden werden, vorauszusagen, wie das Jahr 2023, wenn es erst mal da ist, wirklich sein wird. Jede historische Hochrechnung der Zukunft ist von vornherein zum Scheitern verurteilt, und überhaupt macht’s viel mehr Spaß, sich das Ganze einfach auszudenken. Die Trilogie der Stadtwerke beschreibt das Jahr 2023 ausschließlich so, wie es 1990 existiert, im Hinterzimmer des Bostoner Hauses, in dem ich diese ersten Worte schreibe.
Ein ganz und gar anderes Jahr…
1
In der Kanalisation von New York sind schon Alligatoren, kleine Jungen und mindestens ein Pferd herumgeschwommen. Die Jungen und das Pferd scheinen die Erfahrung nicht sonderlich genossen zu haben, aber den Alligatoren ist sie prächtig bekommen.
Robert Daley, The World Beneath the City
Niemand konnte behaupten, man hätte ihn nicht gewarnt. Die Aussichtskanzel stach rund achthundert Meter über den Straßen der Stadt in die Himmelskuppel. Sie war der Öffentlichkeit nicht zugänglich. Die meisten Besucher des Gant Phoenix durften nicht weiter als bis zum Prometheus-Deck im 205. Stockwerk, das ohnehin schon der höchste Aussichtspunkt war, der Touristen irgendwo auf der Welt geboten wurde – selbst das sechshundertneunzig Meter hohe Gant Minaret in Atlanta war niedriger. Einige wenige auserwählte Freunde, Geschäftspartner und Politiker kamen – an Tagen, an denen das Wetter für angenehm und die Wahrscheinlichkeit, daß eine plötzliche Sturmbö jemanden fortreißen könnte, für hinlänglich gering erachtet wurde – in den Genuß, noch höher zu klettern, bis auf die Terrasse im 208. Stock, um dort die dunstige, dünne Luft, die im Phoenix Souvenir Shop für 7,50 Dollar die Flasche verkauft wurde, umsonst zu atmen. Aber nur Harry Gant selbst hatte je das letzte Stück aufsteigen dürfen, weitere hundert Meter hinauf, eine Sprossenleiter hoch, die im Inneren der ankermastähnlichen Turmspitze des Phoenix verlief, oben durch eine Falltür hindurch und so schließlich in die große Glaskugel, Gants Adlerhorst, klettern, den höchsten Punkt des höchsten Bauwerks, das je von Menschenhand errichtet worden war.
»Fragwürdig«, hatte seine Regulatorin der Öffentlichen Meinung vor Jahren gesagt, als er ihr seine Idee mit der Adlerhorstkanzel erstmals eröffnet hatte. »Was die Medienwirkung angeht, entschieden fragwürdig, sie für sich allein behalten zu wollen.«
»Warum fragwürdig?« Sie waren damals beide ein bißchen beschwipst gewesen, und ihre Stimme hatte eher benebelt als wirklich besorgt geklungen, aber Wein und Unbekümmertheit schärften Gants Aufmerksamkeit in diesem Moment um so mehr.
»Denk biblisch, Harry. Du bettelst ja praktisch darum, daß irgendein Kolumnist oder TV-Kommentator sich über dich lustig macht.«
»Wieso?«
»Stell es dir doch nur einmal vor: eine mächtige Persönlichkeit steht an erhöhter Stelle, während ihr zu Füßen die ganze Welt ausgebreitet liegt…«
»Ach so«, sagte er, »das. Aber Moment mal, wenn ich mich recht erinnere, waren es zwei mächtige Typen, die in der Geschichte auf einem Gipfel standen, also wär’s doch möglich –«
»Niemand wird dich mit Jesus vergleichen, Harry.«
»Und warum nicht?«
»Weil Jesus nichts von dem haben wollte, was er von da oben sah, während du eine ganze Menge davon willst. Fünf Minuten nachdem du zum erstenmal in deinen kleinen Ausguck geklettert bist, wirst du auf drei neue Produktreihen gekommen sein, in die du investieren könntest – allesamt wahnsinnig unpraktisch, allesamt irgendwie umweltschädlich oder das gemeine Wohl gefährdend und allesamt profitabel, zumindest bis die Schadensersatzklagen entschieden sind. Wieder fünf Minuten, und du wirst dich nach einem geeigneten Standort für dein nächstes Gebäude umsehen, das du wahrscheinlich doppelt so hoch wie dieses hier wirst bauen wollen. Und wieder fünf Minuten später wirst du dich wahrscheinlich übergeben, weil du ebensogut wie ich weißt, daß du nicht schwindelfrei bist.«
Das stimmte: Er war nicht schwindelfrei. Seltsames Eingeständnis von seiten eines Mannes, der zweieinhalb Superwolkenkratzer und eine ganze Palisade von kleineren Türmen besaß, aber so war’s nun einmal. Seine Abneigung gegen Flugreisen war geradezu sprichwörtlich: Da er es vorzog, wenn eine Ortsveränderung denn unbedingt nötig war, mit der Bahn zu fahren, hatte er ein Netz von Transrapid-Bahnen gebaut, das hundert Städte miteinander verband, und hatte damit praktisch im Alleingang die amerikanische Eisenbahn-Renaissance des 21. Jahrhunderts eingeleitet. Gleichzeitig hatte Gant Industries die Videokonferenztechnik auf ein solches Niveau gebracht, daß es ihm nun möglich war, an gleichzeitig in Singapur, Prag, Tokio und Caracas stattfindenden Aufsichtsratssitzungen teilzunehmen, ohne auch nur für einen Augenblick den sicheren Boden von Manhattan zu verlassen.
Nicht einmal die künstlichen Canyons und Gipfel seiner Heimatstadt, Symbole all dessen, was ihm lieb und teuer war, konnten ihn seine angeborene Höhenangst vergessen lassen. Was immer für Gefühle sich in Harry Gants Brust regen mochten, wenn er an der nordwestlichen Skyline die protzigen Zinnen von Trumps Riverside Arcadia betrachtete oder das näher gelegene Chrysler Building (dessen schlappe siebenundsiebzig Stockwerke ihm gehörten) oder, im Süden, die Zwillingsriesen, die die Battery überragten – das Bedürfnis, rüberzuflitzen und den ersten Fahrstuhl nach oben zu nehmen, überkam ihn mit Sicherheit nie.
Aber mit dem Phoenix war es eine andere Sache. Der Phoenix war nicht lediglich sein Besitz, sondern seine Schöpfung, sein Gebäude, das höchste Bauwerk in der Geschichte der Menschheit. Wenn er an seinem höchsten Punkt stand (oder auf dem Minarett in Atlanta, dem ehemaligen höchsten Gebäude in der Geschichte der Menschheit, obwohl er da nicht mehr so häufig hinfuhr), schien sein ganzes Bewußtsein irgendwie von Grund auf verwandelt zu sein, als ob das, was ihn trug, nicht die vulgäre Konstruktion aus Stahl und Beton sei, sondern die Kraft seines eigenen Willens – eine Kraft, die durch nichts zu erschüttern war.
Nun.
Um ganz ehrlich zu sein, war die scherzhafte Voraussage seiner Regulatorin, er würde sich übergeben, beinah in Erfüllung gegangen – aber nur beinah. Der Gant Phoenix war offiziell im Juni 2015 eröffnet worden, in einem Monat, in dem die Ostküste von einigen der heftigsten Gewitter seit über hundert Jahren heimgesucht worden war. Während Schwarzseher über besorgniserregende Veränderungen des Weltklimas unkten, lud Gant eines Nachmittags die Hautevolee der Stadt ein, zum Prometheus-Deck heraufzukommen und »sich das kostenlose Feuerwerk anzusehen«. Eine ganze Batterie von Schwingungsdämpfern wirkte nach Kräften den durch den Wind bedingten Schwankungen der oberen Regionen des Wolkenkratzers entgegen; der Festtagspunsch schwappte zwar noch immer leicht in seiner Terrine, aber nachdem sie einmal am kalten Büffet entlangflaniert waren, wo man alle Snacks mit einem Schuß Dramamin versetzt hatte, empfanden das die Partygäste eher als amüsant denn als brechreizerregend.
»In die Kanzel würde ich jetzt nicht hochsteigen, Harry«, riet Gants Architekt. »Nicht heute.«
»Warum? Macht Ihnen das Gewitter Sorgen?«
»Nicht das Gewitter. Der Wind. Das Ding wird nicht annähernd so ruhig bleiben wie der Rest des Gebäudes.«
»Kein Problem«, sagte Gant. »Solang’s nicht abbricht…«
»Abbrechen wird’s nicht. Wenn man eine Angelrute aufrecht hochhält und wippt sie hin und her, bricht sie auch nicht durch, aber das heißt noch lange nicht, daß man sich auf der Spitze des verdammten Dings wohl fühlen würde.«
»Hmm«, sagte Harry Gant. »Danke für die Warnung. Vielleicht genehmige ich mir vorher noch ein paar Häppchen.«
Eine Stunde später befand sich Gant oben in der kugelförmigen Glaskanzel und wurde darin wie ein Ballonfahrer, der in einen Hurrikan abgetrieben ist, durch die Gegend geschleudert. Während er sich verzweifelt an den schmalen Handlauf klammerte, der den einzigen festen Halt in der Kanzel bot, spürte er, wie sich ihm der Magen umdrehte; und um ein Haar hätte er seinen weltentrückten Ausguck mit dramamindurchtränkten Kanapees besprüht. Nur eine zufällige Beobachtung rettete ihn, denn plötzlich gewährten ihm die Sturmgötter freie Sicht bis hinunter auf die hundert Meter tiefer gelegene offene Terrasse des 208. Stockwerks, wo eine mit einem größtenteils aus Klebeband bestehenden Rettungsseil abgesicherte blonde Fotografin krampfhaft versuchte, ein Zoom-Objektiv auf ihn scharf zu stellen. Gant nutzte die paar Sekunden, um sich, so gut es ging, wieder in die Gewalt zu bekommen: Er wies seinen rebellischen Magen in die Schranken, er fand das Gleichgewicht wieder und stellte sich aufrecht hin, er zwang seinem Gesicht einen Ausdruck beiläufiger Entschlossenheit auf. Um ihn herum explodierte der Himmel; unten ratterte ein Hochgeschwindigkeitsverschluß.
Das Foto erschien auf der Titelseite der nächsten Ausgabe des Rolling Stone; die Schlagzeile lautete: Harry Gant: Ein heutiger RIDERONTHE STORM, und wenn Gants blitzumrankte Gestalt auch in mancherlei Hinsicht an einen gewissen gefallenen Engel erinnerte, der auf Bald Mountain herumsprang, änderte es doch nichts an der Tatsache, daß das ein verflucht eindrucksvolles Porträt war. Von dem Tag an hörte Harry Gant auf, sich um mögliche biblische Anspielungen zu sorgen – ganz im Gegenteil scheute er nicht davor zurück, selbst Gebrauch davon zu machen.
Ein gutes Beispiel dafür (und einen weiteren Beweis für die Weitsicht seiner ehemaligen Regulatorin) konnte man in mittlerer Entfernung, am nördlichen Ende von Manhattan ausmachen, wo eine neuzeitliche Zikkurat ihrerseits nach Höherem strebte. Von einer kreisförmigen Basis aus, der mehrere Häuserblocks des einstigen Stadtviertels hatten weichen müssen, schwang sich die Zikkurat in einer Abfolge überdimensionierter sich nach oben verjüngender Stufen empor: ein mit durchscheinendem schwarzem Glas verkleideter stahlknochiger Fegefeuerberg. An diesem Oktobertag des Jahres 2023 hatte der Stufenturm bereits fast mit der obersten Zinne des Phoenix gleichgezogen; schon zu Thanksgiving würde er höher und Gants Adlerhorst um ebensoviel niedriger sein. Bis zum Ende des Jahrzehnts würde er, wenn’s nach Harry Gant ging, die Meilenmarke überschritten haben.
»Babel« hatte er ihn getauft, »Gant’s New Babel«, womit der sagenhafte Turm nach einer Unterbrechung von fünf Jahrtausenden endlich doch fertiggestellt wurde. Untere Geschosse schon jetzt zu besonders günstigen Bedingungen zu vermieten; nähere Auskünfte telefonisch zu erfragen.
»Fordern Sie mit einem solchen Namen nicht das Schicksal heraus?« fragten ihn Zeitungs- und Fernsehreporter immer wieder und schenkten ihm damit Publicity im Wert von Millionen von Dollar. »Haben Sie keine Angst, daß die Geschichte sich wiederholen könnte?«
»Kein bißchen«, antwortete Gant. »Wir leben in einem neuen Zeitalter, meine Damen und Herren. Wenn Sie meine diesbezügliche Meinung hören wollen: Ich glaube, der wahre Grund, warum Gott seinerzeit das babylonische Projekt abgebrochen hat, war der, daß er auf Leute warten wollte, die den Job richtig erledigen würden.«
Ein neues Zeitalter: Englisch war jetzt die Muttersprache der ganzen Menschheit, eine Muttersprache, die bereits in tausend Dialekte zerfallen war und dadurch nur um so vitaler wurde und um so besser gedieh. Die Menschheit hatte den Himmel in selbstgebastelten feurigen Wagen erstürmt und war unbeschadet zurückgekehrt. Und was Gott anbelangte: Wäre Er in Seinem Herzen nicht schon jetzt ein Amerikaner und ein begeisterter Bewunderer amerikanischer Tüchtigkeit gewesen – nun, bis Harry Gant und die Abteilung für Öffentliche Meinung mit Ihm fertig waren, würde Er einer sein.
Zugegeben, unten in den Canyons der Stadt, wo manche Bürgersteige seit Jahrzehnten nicht mehr mit direktem Sonnenlicht in Berührung gekommen waren und wo die Fußgänger, da man sie schlecht mit Schwingungsdämpfern von der Art ausrüsten konnte, wie sie Gants Phoenix stabilisierten, aus eigener Kraft mit den Mikrotaifunen, die durch die Straßenschluchten heulten, fertig werden mußten, sahen die Dinge vielleicht nicht ganz so wahnsinnig rosig aus. Aber das war schließlich kein Grund, nicht optimistisch in den Tag zu blicken.
Nehmen wir zum Beispiel Eddie Wilder; erst kürzlich aus Moose Hollow, Maine, in die Stadt gezogen, machte er sich an diesem Morgen mit dem typischen schwungvollen Schritt des angehenden Erfolgsmenschen auf den Weg zu seiner neuen Arbeitsstätte. In seiner schicken grün-weißen Uniform der Abwässerbehörde tauchte er aus der U-Bahn-Station Ecke 34th und Broadway auf und blieb erst einmal stehen, um sich den Hals nach den Sehenswürdigkeiten zu verrenken. Da Moose Hollow (wie erst kürzlich auf der Titelseite des Kulturteils von USA Today gestanden hatte) zu den zehn technologisch unterentwickeltsten Orten des US-amerikanischen Festlands gehörte und Eddie das erste Mitglied seiner Familie in drei Generationen war, das eine größere Stadt als Bangor besuchte, erschien ihm alles neu und aufregend: die Elektro-Neger, die auf den Bürgersteigen Zeitungen verkauften, die mit Anticrashsystem ausgerüsteten Taxis, die auf den überfüllten Straßen ein Zusammenstoßvermeidungsballett vollführten, die monolithische Architektur, die in jeder Richtung den Horizont aussperrte.
Harry Gant wäre stolz – wenn auch kaum überrascht – gewesen zu erfahren, daß der Gant Phoenix Eddie Wilders absolutes Lieblingsgebäude in ganz Manhattan war. Natürlich, hätte man Eddie gefragt, wäre seine Antwort gewesen, sein Favorit sei das Empire State Building. Er wußte nicht, daß es das Empire State Building gar nicht mehr gab – seit der Christnacht 2006 nicht mehr, als eine vollbesetzte 747-400-Maschine direkt nach dem Start von Newark International von einem Meteoriten getroffen worden und, völlig manövrierunfähig, kreischend über den Hudson angeschlingert gekommen war. Der gefeierte Katastrophenchronist Tad Winston Peller hatte den Unfall in seinem Megabestseller Empy und Flug 52 in allen Einzelheiten beschrieben, aber da es in Moose Hollow weder einen Buchladen noch eine öffentliche Bibliothek gab, hatte Eddie Wilder das Werk nicht gelesen. Ebensowenig hatte er – da Moose Hollows einzige Zeitung, der Hollow Point, fast ausschließlich über das Töten und Verspeisen großer Vierbeiner berichtete – eine der Pressemeldungen mitbekommen, in denen der aufstrebende Business-Mogul Harry Gant gelobt hatte, das berühmte Wahrzeichen in Rekordzeit wiederaufzubauen, »aber in zeitgemäßerer Form, mit einem neuen Namen und in jeder Raumachse zweimal so groß«. So gesehen war Eddies Irrtum also verständlich. Zwar schienen die Proportionen des Phoenix nicht ganz mit denen des Gebäudes übereinzustimmen, das auf der Schwarzweißpostkarte zu sehen war, die sein Urgroßvater bei seiner Rückkehr vom Koreakrieg in New York gekauft hatte, aber nun – in echt, vermutete Eddie, waren Sachen wohl immer größer als auf Bildern.
Das einzige, was Eddie am Phoenix auszusetzen hatte, waren die Digitalen Plakatwände, in Dreiviertelhöhe des Wolkenkratzers aufgehängte riesige stroboskopisch pulsierende Lichtmosaike, die ihm wie eine Verunstaltung nationalen Kulturerbes erschienen. Es gab vier von diesen rund zwanzig Stockwerke hohen Leuchttafeln, an jeder Seite des Gebäudes eine. Die dargestellten Reklamen rückten viertelstundenweise weiter, so daß, wenn beispielsweise der Coca-Cola-Schriftzug nach Westen leuchtete, man wußte, daß es zwischen fünfzehn und dreißig Minuten nach der vollen Stunde war. Aus dem Bild, das momentan an der Westseite zu sehen war, wurde Eddie allerdings nicht schlau, was seine Gereiztheit nur noch verstärkte – wie ein Witz, dessen Pointe er nicht kapierte. Es sah aus wie ein Blatt aus einem riesigen Abreißkalender, nur daß darauf kein Datum zu lesen war, sondern bloß eine Zahl, 997, in Rot auf weißem Hintergrund.
»Machen Sie nicht son Gesicht«, sagte eine Stimme hinter ihm. »Niemand weiß, was zum Teufel das heißen soll, nicht mal Harry selbst.«
Eddie drehte sich um und fand sich einer Frau gegenüber – ungefähr seine Größe, unscheinbares Gesicht, aber mit den Lachfältchen um Augen und Mund, die in der Regel einen humorvollen Menschen kennzeichnen. Ihr Haar (ebenso unscheinbar, von einem unauffälligen Braun) war zu einem strähnigen Pferdeschwanz gebunden; dem Gesamteindruck nach konnte sie Ende Dreißig oder Anfang Vierzig sein. In der rechten Hand hielt sie eine brennende Zigarette; in der linken einen der neusten Marvel-D.C.-Comics, Die Rückkehr der Jeanne d’Arc.
Normalerweise hätte Eddie (er selbst war ein begeisterter Spiderman-Abonnent) nach dem Comicheft gefragt, aber jetzt war er in New York und wollte sich so schnell wie möglich eine entsprechend coole Haltung zulegen. Also zeigte er statt dessen auf die Zigarette und sagte in einem, wie er hoffte, angemessen großstädtisch-rüden Ton: »Das sollten Sie besser lassen.«
Anstatt zu antworten, tat sie einen Zug, nicht trotzig-unverschämt – sie blies ihm den Rauch nicht ins Gesicht –, sondern wie um ihm zu verstehen zu geben, daß sie sich über dieses Thema schon selbst lange und gründlich genug Gedanken gemacht hatte. »Sie haben recht, das sollte ich wirklich«, sagte sie dann und fügte mit einem Augenzwinkern hinzu: »Gaffen Sie nicht zu lang. Sie kommen sonst zu spät zur Arbeit.«
Damit trat sie an die Bordsteinkante und hob die Hand; ein Taxi bog haarscharf um einen in zweiter Reihe parkenden Lieferwagen herum und blieb vor ihr stehen. Erst nachdem sie eingestiegen und das Taxi losgefahren war, wurde Eddie bewußt, daß sie die gleiche Uniform wie er getragen hatte.
Sie kommen sonst zu spät… Er las noch einmal die Adresse auf dem vorgedruckten Brief, den er in der Tasche hatte, und marschierte los, westwärts, Richtung Hudson. Das Backsteingebäude, in dem das Zoologische Dezernat der Abwässerbehörde untergebracht war, befand sich an der Eleventh Avenue, gegenüber dem Jacob Javits Convention Center. Eddie kam rechtzeitig an und stellte sich am Empfangsschalter vor, wo die Koordinatorin, eine Frau namens Fatima Sigorski, ihn einteilte. »Sie kommen ins May-Team 23«, erklärte sie ihm. »Ihre Partner sind Joan Fine, Art Hartower und Lenny Prohaska.« Sie schob ihm zwei hundemarkenähnliche Plastikchips über den Tresen zu. »Achten Sie unbedingt darauf, daß Sie die während der Arbeit immer tragen.«
»Wozu?«
»Für die Verwaltung. Für den Fall, daß Sie die Bedingungen für den vorzeitigen Eintritt in den Ruhestand unter Umständen erfüllen sollten, die eine Identifizierung erschweren.« Sie zeigte den Korridor hinunter auf eine halbgeöffnete Tür. »Das da ist der Briefingraum. Da drin finden Sie Hartower und Prohaska. Hartower ist dünn und hat schütteres Haar, sieht aus wie ein Finanzbeamter mittleren Alters. Prohaska sieht genauso aus, nur daß er einen Nasenstecker mit einem Zirkon hat. Er kommt aus Kalifornien.«
»Und Miss Fine?«
»Die dürfte sich gerade im Klo eingeschlossen haben.«
»Ah.«
Das Briefingzimmer war wie ein kleinerer Vorführraum in einem Kinocenter eingerichtet: Reihen von roten Plastikstühlen und an der Wand gegenüber ein winziger holographischer Projektionsschirm. Eddie zählte an die dreißig Männer und Frauen, allesamt in Uniformen, die unterschiedlich fortgeschrittene Stadien der Abnutzung zeigten; er schien der einzige Neuling zu sein. Hartower und Prohaska standen unter der gerahmten Vergrößerung eines sehr alten Fotos und teilten sich die neuste Ausgabe der New York Times. Das gerahmte Foto, das offensichtlich einen Ehrenplatz an der Wand einnahm, zeigte, meinte Eddie, einen Penner, der sich gerade aus einem Gully herausstemmte.
Eddie ging hinüber und stellte sich seinen neuen Arbeitskollegen vor. Dann fragte er mit einer vorsichtigen Kopfbewegung zu dem seltsamen Foto: »Wer is das?«
»Das«, sagte Prohaska und blähte dabei seine Nüstern, so daß der Zirkon wackelte, »ist Teddy May.«
»Der größte Mensch, der je durch die Abwässer der Stadt gewatet ist«, fügte Hartower hinzu. »Gott segne ihn und schenke ihm Frieden.«
»Was is mit seinem rechten Auge?«
»Arbeitsunfall«, sagte Prohaska. »Er hat es sich verbrüht, als er in einen Wartungskanal gekrochen war, um ein geplatztes Dampfrohr zu flicken, während er gleichzeitig zwei Alligatoren mit bloßen Händen abwehrte…«
»Alligatoren?« sagte Eddie.
»… und dann, nachdem er das erledigt hatte, ist er wieder nach oben, wo – es war Winter – eine Lufttemperatur von dreiundzwanzig Grad unter Null herrschte – was, den Wind mitgerechnet, einem Auskühlungsfaktor von vierzig unter Null entspricht. Der abrupte Übergang von heiß zu kalt lähmte ihm jeden Muskel und Nerv im Augenlid.«
»Moment mal«, sagte Eddie. »Alligatoren in der Kanalisation? War das nicht bloß so ne Geschichte?«
»Was für ne Geschichte?«
»Na, Sie wissen doch: das Buch von dem Typ, wo niemand ein Bild von schießen durfte.«
»Hast du’s mal gelesen, das Buch von dem Typ, wo niemand ein Bild von schießen durfte?«
»Natürlich nicht. Niemand hat das Buch gelesen. Und außerdem les ich keine Bücher. Aber sogar bei uns oben in Hollow kennt jeder die Geschichte.«
»Nun«, sagte Hartower, »Teddy May hat sie erlebt.«
»Und das ist also unser Job im Zoologischen Dezernat? Alligatoren jagen?«
»Mach dich nicht lächerlich«, sagte Prohaska. »Die letzten haben Teddy May und seine Männer schon in den dreißiger Jahren des vorigen Jahrhunderts erledigt.«
»Sicher«, sagte Hartower, »gelegentlich stößt man schon noch auf vereinzelte Exemplare des Gavialis gangeticus, die unter Little India und Little Pakistan ihre Runden drehen, alle Jubeljahre mal vielleicht sogar auf einen Crocodylus niloticus, aber Alligatoren gibt’s keine.«
Fatima Sigorski betrat den Briefingraum und klatschte in die Hände, um sich Aufmerksamkeit zu verschaffen. »Okay, Leute, machen wir uns an die Arbeit.«
»Bleib in unserer Nähe«, sagten Prohaska und Hartower und dirigierten Eddie zu einer Dreiersitzgruppe in der hintersten Reihe. Eine irgendwie bekannt aussehende Frau mit Pferdeschwanz schlüpfte noch herein, als Fatima sich umdrehte, um die Tür zu schließen; Eddie roch sofort den Tabak, obwohl das ganze Gebäude unübersehbar als Nichtraucherzone ausgewiesen war.
»He!« sagte er und streckte den Finger aus. »Die kenn ich. Wer ist die?«
»Mit der ist unser Team komplett«, erklärte ihm Hartower. »Joan Fine.« Und im Verschwörerton: »Ehemals Joan Gant.«
»Gant?«
»Die Exfrau des Milliardärs«, sagte Prohaska. »Sie war die oberste Werbechefin bei Gant Industries, die Regulatorin der Öffentlichen Meinung. Früher mal.«
»Und nicht nur das«, fügte Hartower hinzu, »sie ist außerdem auch die uneheliche Retortentochter von Schwester Ellen Fine, der abtrünnigen Nonne, die in den nuller Jahren den Katholisch-Feministischen Kreuzzug anführte.«
»Feministischen Kreuzzug?«
»Du weißt schon: die Lesben, die ihren Habit verbrannten, weil sie vom Papst die Erlaubnis wollten, als Ordensschwestern Kinder zu kriegen.«
»Ah«, sagte Eddie, der genaugenommen nichts wußte. »Aber wenn ihre Ma ne Schwuchtel war und ihr Mann ein Milliardär, was tut sie denn dann in der Kanalisation?«
»Buße.«
Die Kanalarbeiter hatten sich jetzt alle gesetzt; Fatima Sigorski klatschte noch einmal, damit Ruhe eintrat. »Ich habe hier den vorläufigen Bericht dieses Monats«, begann sie und hielt dabei eine Elektro-Schreibtafel in die Höhe. »Wie üblich ist er eine Mischung aus guten und schlechten Nachrichten. Dank dem selbstlosen Einsatz unserer Brooklyn-Sektion konnte man der Serrasalmus-natteriri-Plage unter dem Park Slope praktisch vollständig Herr werden. Auf der Minusseite: Letzte Nacht ist im Souterrainklo eines kubanischen Restaurants der Großvater des Eigentümers vermutlich von einem Electrophorus electricus kaltgemacht worden. Es gibt keine Augenzeugen, und die Polizei schließt nicht aus, daß es sich um einen Lebensversicherungsbetrug handeln könnte, also werden wir auf die Bestätigung warten, bevor wir offiziell irgendwelche Maßnahmen ergreifen. Trotzdem wäre es wahrscheinlich ratsam, bei Einsätzen unter Spanish Harlem ein Paar hüfthohe Gummistiefel dabeizuhaben…«
Joan Fine saß in einer der ersten Reihen und hätte liebend gern geraucht. Aber auch wenn Fatima Sigorski eine gelegentliche Zigarette im Damenklo stillschweigend durchgehen ließ, duldete sie während der Einsatzbesprechung nicht einmal Kaugummi; also blieb Joan, um die Spannung abzubauen, nichts anderes übrig als der Rosenkranz, mit dem sie, während Fatima sprach, ununterbrochen in der Tasche herumspielte. Joan hatte ihn am Tag ihrer ersten Beichte von ihrer Mutter geschenkt bekommen; und auch wenn Joan damals lediglich ihre jugendliche Verachtung für die römisch-katholische Theologie gebeichtet hatte, hielt sie den Rosenkranz noch immer in Ehren und bezeichnete ihn als ihren Glücksbringer. Die Perlen waren aus billigem Acrylglas, aber das Kruzifix, das eine reformierte Karmeliterin gefestigt hatte, die sich nach Feierabend als Kunstschmiedin betätigte, war aus massivem Silber. Die silberne Dornenkrone des Gekreuzigten war sorgfältig mit einer Lasernadel eingraviert worden, und wenn sie gegen eine starke Lichtquelle gehalten wurde, projizierte sie das Gebet der Ehrwürdigen Schwesternschaft Katholischer Feministinnen in pointillierter Feuerschrift auf die nächste Wand: Narren marschieren, wo Engel nicht zu schleichen wagen. Gott schenke uns Narrheit für unseren Kampf.
Joan fand, das wäre auch ein geeignetes Motto für das Zoologische Dezernat der Abwässerbehörde gewesen. Was natürlich der Grund dafür war, daß sie seinerzeit den Job angenommen hatte.
»Jetzt zum heutigen Einsatz: Was die neue Spezies angeht, von der ich letzten Freitag andeutungsweise gesprochen hatte, haben wir leider die endgültige Bestätigung erhalten. Dürfte ich um Verdunkelung bitten?« Gehorsam dimmte sich die Deckenbeleuchtung herunter. »Das Bildmaterial, das ihr gleich sehen werdet«, sagte Fatima, »wurde von May-Team 67 aufgenommen, unmittelbar bevor die gesamte Crew die Bedingungen für den vorzeitigen Eintritt in den Ruhestand erfüllte. Band ab.«
Sie trat zur Seite, und der Projektionsschirm leuchtete nach kurzem Flackern in drei Dimensionen auf. Das Video war von einer nach achtern gerichteten, am Heck eines der gepanzerten Patrouillenboote der Behörde montierten Kamera aufgenommen worden. Die Barkasse fuhr durch einen der größeren Hauptkanäle, und man bemerkte sofort, daß irgend etwas nicht stimmte: Nach der brodelnden Schaumspur zu urteilen, die die Schiffsschraube aufwirbelte, kämpfte die Barkasse entweder gegen eine verdammt starke Strömung an, oder aber, was wahrscheinlicher war, sie fuhr mit voller Kraft vor etwas weg. Als das Patrouillenboot eine enge Kurve nahm, ertönten eine Serie von Schrotflintenschüssen und der donnernde Knall großkalibriger Pistolen: Die Mitglieder des todgeweihten May-Teams feuerten ihre Waffen in die matschige Brühe ab. Aber umsonst – denn plötzlich tauchte eine unförmige Gestalt aus dem Kielwasser der Barkasse auf, und ein riesiges Maul klaffte wie ein rasierklingengespickter Abgrund auf. Die Zuschauer im Briefingraum warfen sich schreiend in ihren Sitzen zurück, während das Monster in perfektem 3-D aus dem Bildschirm schoß – aber nicht landete. Genau an der Stelle, wahrscheinlich in dem Sekundenbruchteil bevor die Kamera von ihrem Stativ getrümmert worden war, hatte der Cutter die Sequenz zu einer Schleife geschlossen, so daß die Kreatur wie festgenagelt da blieb, wo sie war, halb aus dem Wasser aufgetaucht, und sich unaufhörlich vor und zurück wand, wie um sich begutachten zu lassen.
»Carcharodon carcharias«, sagte Fatima Sigorski, als die entsetzten Kanalarbeiter sich wieder gefaßt hatten. »Von unseren Freunden vom Bronx Zoo einwandfrei identifiziert. Wir wissen noch nicht mit Sicherheit, wie er da hingekommen ist, aber das HQ vermutet, daß es sich dabei um ein durchs Klo gespültes Haustier handeln könnte. Entweder das, oder es war mal wieder ein Scherz von diesen Fischköpfen vom Ichthyologischen Institut der NYU.«
Da hörte man Eddie Wilders geschockte Stimme: »Das isn gottverdammter weißer Scheißhai!«
Joan Fine drehte sich beim Klang seiner Stimme um. Eddie war halb von seinem Stuhl aufgestanden und da zitternd erstarrt, während Prohaska und Hartower, die ihn an je einem Ellbogen gepackt hatten, versuchten, ihn wieder auf den Stuhl zu ziehen. »Schnauze!« zischte Prohaska außer sich. »Maul halten und benehmen, oder willst du dir gleich am ersten Tag einen Minuspunkt einhandeln?« Joan lächelte. Eddie würde ihr wahrscheinlich über kurz oder lang auf die Nerven gehen, aber vorerst konnte sie nicht umhin, jemanden, der noch die Unschuld besaß, so zu reden, wie ihm der Schnabel gewachsen war – ohne Takt oder Kenntnis der einschlägigen Euphemismen –, sympathisch zu finden.
Fatima allerdings mißbilligte diesen Verstoß gegen die guten Sitten.
»Es ist ein Carcharodon carcharias«, hämmerte sie mit tadelndem Ton die harten griechischen Konsonanten in den Raum. »Ein durch Mutation umweltangepaßter Carcharodon carcharias. Ich verlass mich darauf, daß wir uns alle daran erinnern werden, wenn wir in Hörweite eines Reporters kommen sollten. In der Kanalisation gibt’s eine einzige Sache, die weniger als zehn Buchstaben im Namen hat, und ›Hai‹ ist das nicht.«
»Tut mir leid«, sagte Eddie. »Tut mir leid, aber das Vieh sieht ganz genauso –«
»Noch eins. Das HQ hält weiterhin daran fest, auffallenden Individuen jeder gegebenen Spezies Kodenamen zuzuordnen. Auch wenn nichts darauf hindeutet und ich wirklich nicht hoffe, daß wir mehr als einen von der Sorte zu sehen kriegen werden, hat man beschlossen, einzelne Carcharodon nach Biermarken zu benennen. Dieser hier«, sie zeigte auf das noch immer zuckende Hologramm, »ist Meisterbrau. Das ist der Name, den ich zu hören erwarte, wenn ihr in der Mittagspause über ihn reden solltet – nicht Smiley, nicht Jaws, nicht Mackie Messer, sondern Meisterbrau. Ist das klar?« Eddie nickte brav.
»Die uns vorliegenden Informationen deuten darauf hin, daß Meisterbrau zuletzt in der Kanalisation um die Times-Square-Kreuzung dem Nahrungserwerb nachgegangen ist. Alle May-Teams sollen mit allen zur Verfügung stehenden Waffen dieses Gebiet einkreisen. Die Teamchefs denken bitte daran, sich an der Waffenausgabe zu melden, und holt euch auch einen Neger aus dem Maschinenpark; des weiteren werden heute hohe Methan- und sonstige Toxikakonzentrationen gemeldet, also vergeßt nicht, eure Sauerstoffflaschen aufzufüllen. Das wär’s, Leute. Auf die Barkassen, viel Glück, und haltet da draußen die Augen auf. Und hütet eure Zunge.«
Eine höfliche körperlose Stimme sprach von Harry Gants Handgelenk aus: »Viertel nach acht, Sir.«
Gant streifte seinen Ärmel hoch und entblößte ein armbanduhrgroßes Dick-Tracy-Gesicht. Er strich mit dem Daumen über Tracys Kinnkerbe und sagte: »Bist du’s, Toby?«
»Ja, Sir, Mr. Gant. Ms. Domingo hat mich geschickt. Zeit, herunterzukommen, Sir.«
»Was steht heute morgen auf dem Programm, Toby?«
»Um neun halten Sie eine Ansprache in der ›Gant Medientechnischen Hochschule für überdurchschnittlich begabte jugendliche Einwanderer‹. Anschließend haben Sie ein Krisenmanagement-Meeting mit der Abteilung für Öffentliche Meinung, es geht dabei um den Piraten Philo Dufresne. Und natürlich das Negerproblem.«
»Ah ja«, sagte Gant, »das. Toby?«
»Ja, Sir?«
»Gibt es heute irgendwas Besonderes, woran ich denken sollte? Ich meine nicht Geschäftliches; sieh in meiner persönlichen Datei nach.«
»Ja, Sir.« Auf der Terrasse des 208. Stockwerks kratzte sich der Automatische Diener mit einem dunkelhäutigen Finger den Kopf. Dann sagte er: »Sie denken vielleicht an Ihren Hochzeitstag, Mr. Gant. Das heißt, heute wäre Ihr Hochzeitstag, wenn Sie noch immer –«
»Stimmt«, sagte Gant und schnippte mit den Fingern. »Der Tag vor Halloween, komisch, daß ich das vergessen konnte.«
»Die ehemalige Ms. Gant«, fügte Toby hinzu, »hat nächsten Monat außerdem Geburtstag. Ihren einundvierzigsten. Und Sie werden nächste Woche dreiundvierzig.«
»Stimmt, stimmt. Okay, Toby, du gehst zu Ms. Domingo und sagst ihr, ich bin gleich unten. Sag ihr auch, daß ich für diese Schulgeschichte um neun sechs Mobile Fernseher als Multimedia-Support brauche. Das ist alles.«
»Ja, Sir«, sagte der Diener und legte auf. Gant blieb noch eine Weile in seinem Adlerhorst. Gute alte Joan, dachte er mit einer Spur von Wehmut und ohne jeden Groll. Das letzte, was er über seine Exfrau gehört hatte, war, daß sie irgendeiner proletarischen Tätigkeit nachging und ein Obdachlosenheim in der Bowery leitete. Ein dürftiger Gebrauch ihrer Talente… Aber er lächelte trotzdem, denn der Gedanke an Joan ließ ihn an die Vergangenheit im allgemeinen denken, und der Gedanke an die Vergangenheit im allgemeinen ließ ihn an sich selbst denken, an die amerikanische Bilderbuchkarriere, die sein Leben darstellte.
Harry Dennis Gant, geboren 1980 auf dem Rücksitz eines auf einem Rastplatz am Jersey Turnpike verreckten Toyotas. Mutter gelernte Bauarbeiterin, Vater Lehrer, beide zum Zeitpunkt von Harrys Geburt erwerbs- und obdachlos, der schrottreife Toyota ihr letzter verbliebener Besitz. Und was hatte er bei diesen bescheidenen Anfängen – der modernen Entsprechung, wie Harry Gant sich gern vorstellte, einer Geburt in einer einfachen Blockhütte – in knapp dreiundvierzig Jahren nicht aus sich gemacht! Was hatte er in der Welt nicht alles geschaffen – und sein Leben war noch nicht einmal zur Hälfte vorbei, noch nicht einmal zur Hälfte.
Eigenliebe und Vaterlandsliebe entfachten im Ofen von Harry Gants Seele ein Feuer, das ihn für den neuen Tag vorwärmte. Er war froh, am Leben zu sein; froh, imstande zu sein, den hochbegabten Jugendlichen, zu denen er in einer Stunde sprechen würde, eine so wunderbare Gabe – die Gabe der Inspiration – zu überbringen. Er nickte der riesigen Stadt, die unter ihm ausgebreitet lag, respektvoll zu, öffnete die Falltür im Fußboden der Kanzel und machte sich an den Abstieg.
Das Negerproblem, mit dem Gant Industries zu kämpfen hatte, darf nicht mit dem Afroamerikanerproblem verwechselt werden, das ganz einfach darin bestand, daß es keine Afroamerikaner mehr gab – noch, was das angeht, Schwarzafrikaner; zumindest keine, die man zum Essen hätte einladen können. Kurz nach der Jahrhundertwende hatte ein neuzeitlicher – die Bezeichnung voll und ganz verdienender – Schwarzer Tod, dessen Herkunft und Ätiologie noch vollkommen unbekannt waren, über Nacht bundesweit Ghettos in Geisterstädte verwandelt, Nigeria und drei Dutzend weitere schwarzafrikanische Staaten entvölkert und die paar Handvoll Überlebenden in immer entlegenere geheime Reservate getrieben. Der gefeierte Katastrophenchronist Tad Winston Peller hatte darüber ein Buch geschrieben, den Megabestseller Es heißt, er kam aus Idaho: Geschichten um den Schwarzen Tod von 2004. Dieses Erfolgsbuch hatte den Stoff zu nicht weniger als sieben Miniserien geliefert, ganz zu schweigen von einem wöchentlich ausgestrahlten Sci-fi-Drama – Dunkles Herz, Roter Planet – über eine Familie jazzliebender Astronauten, die einzig deswegen dem Massensterben entgeht, weil sie sich zum Zeitpunkt, als die Pandemie ausbricht, auf dem Mars befindet.
Aber das ist alles eine andere Geschichte. Das Negerproblem hatte nichts mit Krankheit oder Kabelfernsehen zu tun; es war ein ausschließlich verbrauchermarktspezifisches Phänomen.
Der Selbstmotivierende Android – im Jahr 2003 von einer Disney-Tochtergesellschaft versuchsweise auf den Markt gebracht und ab 2007 von der neugegründeten Gant Industries unter der Produktbezeichnung Gant Automatic Servant serienmäßig hergestellt – eroberte sich anfangs beträchtliche Marktanteile als kostengünstiger Ersatz für Industriearbeiter. Die ersten Androiden wiesen ein nur entfernt menschenähnliches Äußeres auf, da sie eher nach funktionalen als nach ästhetischen Kriterien entwickelt worden waren, aber Harry Gant, der bereits für eine Zeit vorausplante, in der seine Diener nicht nur für Bergwerke und Fabriken, sondern auch für private Haushalte erschwinglich sein würden, bestand auf einem gefälligeren Design. Und so kam der Automatische Diener ab 2010 in einer breiten Palette realistischer Hautfarben und sonstiger Rassenmerkmale auf den Markt. Als überzeugter Verfechter des Rechts des Verbrauchers auf ein möglichst differenziertes Warenangebot forderte Gant seine Marketingexperten ganz gewiß nicht dazu auf, ein bestimmtes Modell zuungunsten eines anderen zu pushen; er war ebenso erstaunt wie jeder andere auch, als die Verkaufszahlen von Typ AS204 – dem Automatischen Diener in der schlichten schwarzen Ausführung – sprunghaft anstiegen und schon bald die aller übrigen Versionen zusammengenommen um das Zehnfache übertrafen.
Lange Zeit deutete nichts darauf hin, daß das Käuferverhalten irgendwelche PR-Probleme zur Folge haben würde. Die plötzliche Flut von – durchweg höflichen und arbeitsamen – dunkelhäutigen Dienern schien die Leute nicht nur nicht zu stören, sondern ihnen offenbar sogar ein merkwürdig tröstliches Gefühl zu verschaffen. Der wichtigste Aktivposten der Werbeindustrie ist das allgemeine menschliche Bedürfnis, Unerfreuliches zu minimieren oder wenigstens zu übersehen, und ebendiesem Bedürfnis kamen die AS204 wie eine Armee von Sidney Poitiers und Hattie McDaniels entgegen, mit dem Auftrag ausgesandt, jede Erinnerung an die Afrikanische Seuche restlos auszurotten; aber die Kehrseite dieses Aktivpostens ist die Gefahr unterschwellig verbleibender Schuldgefühle, und als Harry Gant erfuhr, eine ultrarepublikanische Baumwollerbin habe sich zwecks Einrichtung einer Art »Vom-Winde-verweht-Teil-I«-Freizeitpark dreihundert Diener auf ihre Plantage liefern lassen, setzte er seinen ganzen Einfluß als Großinserent ein, damit die Medien die Finger von dieser Story ließen.
Der amerikanischen Umgangssprache konnte er allerdings keinen Maulkorb anlegen. Der in Gants Abteilung für Öffentliche Meinung als Faktotum beschäftigte Linguist der Universität Oxford schätzte, daß der Ausdruck »Elektro-Neger« irgendwann zwischen 2014 und 2016 Eingang ins gesprochene Englisch fand.
»Elektro-Neger«: ein liebloser Spitzname, der nicht nur einer abscheulichen Verunglimpfung des Andenkens an die Toten gleichkam, sondern darüber hinaus eine Flut von Erinnerungen und Vorstellungen wachrief, die Gant Industries auf keinen Fall mit einem Qualitätsprodukt wie dem Automatischen Diener in Verbindung gebracht wissen wollte. Der Terminus hatte vor einigen Jahren angefangen, sich auch in die Print- und Elektronikmedien einzuschleichen: mehr als nur vereinzelte Erwähnungen in verschiedenen überregionalen Publikationen sowie eine heimtückische Verwendung in einer Late-Night-Show, auf die Vanna Domingo und die Abteilung für Öffentliche Meinung mit einer Breitseite von empörten Faxen und einem angedrohten Werbeboykott reagiert hatten. Eine Zeitlang schien sich das Problem in Wohlgefallen auflösen zu wollen, doch nur um mit um so größerer Vehemenz wiederaufzuflammen, als eine Country-Metal-Formation aus Delaware ein Album mit dem Titel Electric Negroes on the Neon Prairie veröffentlichte. Vergangenen August hatte sogar das Wall Street Journal, und dazu noch in einer Schlagzeile, den Ausdruck gebraucht, womit die Schlacht um die Heraushaltung von »Elektro-Neger« aus dem Wortschatz der Medien endgültig verloren zu sein schien.
Und das war das Negerproblem. Kein großes Problem, wie Harry Gant als erster eingeräumt hätte: bis dato hatte der Absatz nicht im mindesten darunter gelitten, und die Verbraucher waren mit ihren Dienern so zufrieden wie eh und je – wie immer sie sie auch nennen mochten.
Aber tatsächlich würde Harry Gant, was Elektro-Neger und deren landfriedenbrechendes Potential anbelangte, noch eine ganze Menge dazulernen müssen.
Joan hängte sich den Rosenkranz zusammen mit ihren Hundemarken um den Hals. Trotzdem sie sich schon vor so langer Zeit von der Kirche losgesagt hatte, bereitete sie sich auf ihr Tagewerk mit einer ernsten Entschlossenheit vor und behandelte ihre Waffen und ihre Ausrüstung mit einer Ehrerbietung, die einem Jesuiten alle Ehre gemacht hätte. Diese frühmorgendliche Übung entlockte Prohaska, für den die Kanalarbeit ein Job wie jeder andere war – wenngleich einer, der eine sehr hohe Gefahrenzulage einbrachte –, stets die eine oder andere frotzelnde Bemerkung.
»Na, bereit für eine weitere Woche im Kampf gegen die Mächte des Bösen?« fragte er und deutete dabei auf das Kruzifix. »Das ist doch eine tote Religion.«
»Ich weiß«, sagte Joan und zog den Reißverschluß des Synthetik-Bodysuits hoch, von dem sie hoffte, daß er sie im Falle eines unfreiwilligen Bades vor Chemikalien und Mikroorganismen schützen würde. »Und welchem Glauben hängst du momentan so an, Lenny?«
»Panverehrung.« Er zeigte ihr einen versteinerten Holzspan. »Ökologisch-politisch korrekte heidnische Baumpower.«
Joan lachte. »Baumpower. Die wird dir sicher helfen, wenn du bis zum Hals in der Scheiße steckst! Außerdem, hattest du mir nicht gesagt, Teddy May wär Katholik gewesen?«
»Klar. In der guten alten Zeit, als man Alligatoren noch mit Kleinkalibergewehr und Rattengift zu Leibe rückte.«
»Na, dann nenn mich eben eine Traditionalistin.« Sie nahm eine Sauerstoffflasche aus der Aufladevorrichtung und schnallte sie sich auf den Rücken. Hinter ihr wies Hartower einen widerwilligen Eddie ein.
»Handgranaten gehören hier an den Gürtel, so«, sagte er gerade. »Die rührst du nicht an, außer es geht wirklich um Leben und Tod, kapiert? Als nächstes –«
»Moment«, sagte Eddie, »nur’n Moment. Mit der abgesägten Schrotflinte kann ich schon umgehen, aber mit dem übrigen Kram… müßt ich nicht irgend so’n Trainingskurs machen? So ne Art Grundausbildung?«
»Das Zoologische Dezernat kann sich keine Trainingskurse leisten. Ein Viertel der Mittel, die wir vom HQ kriegen, wird für Ausrüstung und Munition ausgegeben, und die restlichen drei Viertel gehen für Versicherungsprämien drauf. Sieh’s doch einfach so: Sollte der Fall eintreten, daß du endgültig in den vorzeitigen Ruhestand versetzt wirst, weil du mit irgend etwas nicht richtig umgehen konntest, kriegt deine Familie eine Wahnsinnsentschädigung…«
Joan ging zum Ausgabeschalter, um den Empfang von vier kompletten Ausrüstungen zu quittieren. »Brauch auch’n Schlüssel für einen Diener«, sagte sie und schob ihren Gewerkschaftsausweis in einen Scanner. Der schmallippige junge Mann am Schalter reichte ihr wortlos den Schlüssel; er studierte an der Columbia University Kunstgeschichte und jobbte nebenbei, um sich die Miete zu verdienen, und er hielt jeden, der die Kanalisation als seinen Lebensberuf erwählt hatte, für übergeschnappt. Besser, kein Gespräch mit so jemandem anfangen.
Die Automatischen Diener des Dezernats waren am hinteren Ende des Gerätelagers untergebracht, hinter den Ersatzteilen für die Patrouillenboote. Joan fand denjenigen, zu dem der Schlüssel gehörte, und öffnete das Kryptonitschloß, das ihn an der Wand befestigt hielt. Es war eine ältere Version des AS204, zu einer Zeit konstruiert, als Gants Ingenieure das Gelenkproblem noch nicht hundertprozentig im Griff hatten; beim Versuch, ein natürliches Spektrum von Bewegungsabläufen zu imitieren, unterliefen dem Ding bisweilen Fehlleistungen. Wenn es zum Beispiel den Ellbogen falsch herum abknickte, wurde einem vom bloßen Zusehen ganz anders. Seine von jahrelangem Dienst in einer unfreundlichen Unterwelt überbeanspruchte Außenhülle ähnelte eher abgewetztem Leder als menschlicher Haut. Joan hatte sich nie entscheiden können, ob ihr dieser oder der modernere Typ von Diener lieber war, der praktisch nicht von einem echten Menschen zu unterscheiden war; wahrscheinlich keiner von beiden. Irgendwo in ihr grollte der Linke Gott gegen die Schöpfung des Automaten schlechthin.
»Harpo eins-eins-fünf«, las Joan Namen und Nummer des Dieners von dessen Erkennungsmarke ab. »Wach auf.«
Der Diener öffnete die Augen, zwei hinter künstlichen schokoladenfarbenen Iris verborgene Videokameras. Er richtete den Blick auf sie und produzierte ein strahlendes Lächeln, als sähe er nach langer Zeit seine allerliebste Freundin wieder. »Zippity-doo-day!« begrüßte er sie. Wie alle Diener nahm er beim Sprechen die Porzellanzähne nur einen Spaltbreit auseinander, damit man nicht sah, daß er keine Zunge, sondern nur einen elektronischen Stimmgenerator hatte. »Ist das nicht ein wunderschöner Morgen!«
»Harpo eins-eins-fünf«, fragte Joan ihn, »hast du je einen Morgen erlebt, den du nicht wunderschön gefunden hättest?«
Der Diener, ein für körperliche Arbeit konzipiertes Modell, das nur das notwendige Minimum an Konversation beherrschte, beantwortete diese Frage lediglich mit einem noch breiteren Grinsen und wiederholte seinen Gruß: »Zippity-doo-day! He, machen wir uns an die Arbeit!«
Den Diener im Schlepptau, ging Joan zurück, um Hartower und Prohaska zu holen – und Eddie, der endlich seine ganze Ausrüstung angelegt hatte, aber noch ziemlich verloren darin aussah. Ein Lastenaufzug brachte sie zum Bootshafen hinunter, einer Betonpier in einer künstlichen Lagune, zehn, zwölf Meter unter dem Javits Center. Sieben Barkassen waren da festgemacht, flache gepanzerte Boote mit vorn und achtern montierten Suchscheinwerfern und Laserkameras. Prohaska bestieg die, auf deren Rumpf jemand mit weißer Farbe »M. Team 23« gepinselt hatte, und warf die Maschine an, während Hartower die Taue losmachte und Joan den Inhalt des Erste-Hilfe-Kastens überprüfte. Sie hatten genug Verbandmull und Desinfektionsmittel, um starkes Nasenbluten zu behandeln; sollte irgend etwas Schlimmeres eintreten, konnten sie nur hoffen, daß sie sich gerade unter einem Krankenhaus befanden.
»Genieß die Kahnfahrt, solang’s noch möglich ist«, sagte Hartower, als er sah, wie Eddie die Lagune anguckte. »Das hier ist zur Hälfte Frischwasser; sie pumpen’s extra rein, um sicherzugehen, daß die Boote nicht auf Grund laufen. Draußen in den Hauptkanälen aber ist das Problem weniger zuwenig als zuviel. Schon mal einen Fluß aus menschlichen Ausscheidungen gesehen?«
Eddie zog es vor, diese Frage nicht zu beantworten. Statt dessen sagte er, als er die Weite des Tunneleingangs sah, den Prohaska, sobald sie losgemacht hatten, ansteuerte: »Ich hatte keine Ahnung, daß das hier unten so groß ist.«
»War früher auch nicht so«, erklärte ihm Prohaska. »Zu Teddy Mays Zeiten konnte man noch durch den größten Teil der Kanalisation laufen oder kriechen, da brauchte man keine Boote oder sonstigen Schwimmapparate. Ein paar der Nebenkanäle sind noch immer so klein, daß man da einfach langmarschieren kann. Aber die Hochhäuser wurden immer höher, es kam immer mehr Dreck runter, also mußte man die Hauptkanäle jährlich erweitern…«
»… und dann«, sagte Hartower, »boomte Ende der neunziger Jahre die Gentechnologie, und auf einmal wurde es in den Abwässern merkwürdig, alles mögliche Viehzeugs wanderte ein und veranstaltete über Nacht hübsche kleine Evolutionsspielchen, mit denen es sich den Bedingungen hier unten anpaßte. Daher das Zoologische Dezernat.«
»Bleibt nur zu hoffen, daß du ein gutes Immunsystem hast«, sagte Prohaska. »In den Kanälen schwirren Bakterien rum, für die die noch nicht mal Namen erfunden haben.«
Dann schwiegen sie ein Weilchen, und Eddie wirkte zunehmend weniger begeistert von seinem Job. Der Automatische Diener stand am Bug der Barkasse und zog schnüffelnd Luft in die Nase, wodurch alle drei Sekunden eine vollständige chemische Analyse der Atmosphäre durchgeführt wurde. Während sie immer weiter in das Kanalisationssystem vorstießen, lenkte Hartower Eddies Aufmerksamkeit auf die schimmernden Gebilde, die im Kielwasser des Patrouillenbootes wirbelten: »Jetzt stecken wir wirklich in der Scheiße, was, Junge?«
Andere May-Teams waren unmittelbar nach ihnen ausgelaufen, aber inzwischen hatten sie abgedreht und jedes eine andere Route ins Zielgebiet genommen. Sie waren allein in den Abwässern. Prohaska schaltete die Suchscheinwerfer und die Unterwasserstrahler auf maximale Leuchtkraft.
»Wo sind wir?« fragte Joan. Sie hatte ihr Comicheft aufgeschlagen und blätterte es gerade durch.
»Der Elektrische Navigator sagt, wir sind unter 41st und Ninth, mit östlichem Kurs auf die Kreuzung zu.«
»Dann heißt es besser aufpassen. Da ist irgendwo ein Wasserfall, direkt hier in der Nähe.«
Eddie tippte Joan auf die Schulter. »Hören Sie«, sagte er, »für den Fall, daß ich mir ne Krankheit hol oder sonstwas und ich keine Gelegenheit hab, Sie hinterher zu fragen – stimmt’s, daß Sie mit einem Milliardär verheiratet waren?«
»Wer hat dir das gesagt?« fragte Joan Eddie. Prohaska fing am Steuerrad unschuldig an zu pfeifen; Hartower vertiefte sich in die jüngste Stellungnahme von Mobil Oil auf der Titelseite der Times. »Sie haben nicht rein zufällig mit zwei anderen Mitgliedern dieses May-Teams geschwatzt? Zwei Mitgliedern, die hoch und heilig geschworen hatten, sie würden aufhören, über mein Privatleben zu tratschen?«
»Wir haben ihm kein Wort gesagt«, schwindelte Hartower, und der Automatische Diener grölte, so vergnügt wie immer: »Methan! Zippity-doo-day, in diesem Tunnel baut sich gerade eine tödliche Methankonzentration auf!«
Prohaska warf einen Blick auf den Behelfsluftscanner, der sich an seinem Schutzanzug befand; er hatte ein Flüssigkristalldisplay, auf dem ein Flüssigkristallkanarienvogel zu sehen war, der tot von seiner Flüssigkristallstange fiel. »Er hat recht«, sagte Prohaska. »Alle Mann die Masken auf.«
Als sie alle Dosensauerstoff atmeten, wiederholte Eddie mit leicht erstickter Stimme die Frage: »Stimmt das?«
Joan seufzte, dann nickte sie. Eddies Offenheit kam ihr allmählich nicht mehr so erfrischend vor.
»Wow«, stieß Eddie nach, »ham Sie ihn wegen seim Geld geheiratet?«
Prohaska lachte bellend. »Joan interessiert sich nicht für Geld«, sagte er, »jedenfalls nicht für Geld um seiner selbst willen. Augenscheinlicher Reichtum widerspricht ihren politischen Überzeugungen.«
»Was nicht bedeuten soll«, fügte Hartower hinzu, »daß die Heirat mit Harry Gant sie nicht in eine ganz andere Steuerklasse gebracht hätte. Aber das eigentliche Motiv war vermutlich seine historische Bedeutung…«
»… und wahre Liebe natürlich. Voll im Trend natürlich…«
»He, Jungs?« sagte Joan. »Ihr wißt doch, daß ich euch beide mit einer Hand in der Tasche sanatoriumsreif schlagen könnte, also warum wechseln wir nicht einfach das Thema?«
»Seine was für ne Bedeutung?«
»Historische Bedeutung«, erklärte ihm Prohaska. »Harry Gants Entscheidung, wo er an diesem Tag frühstücken wird, hat weiterreichende Auswirkungen auf den Gang der Weltgeschichte, als die Entscheidung der meisten Menschen, was sie ihr Leben lang tun werden. Und Joan hat schon immer den Wunsch verspürt, ihre Spur im Sand der Zeit zu hinterlassen…«
»Genau wie ihre Mutter«, sagte Hartower. »Wenn auch nach Möglichkeit mit etwas größerem Erfolg.«
»Stimmt. Der Katholisch-Feministische Kreuzzug war ja ein ziemlicher Reinfall.«
»Was erklärt, weshalb der Papst noch immer seinen Schniedel hat.«
»Das reicht«, sagte Joan in drohendem Ton und nahm eine Dose Reptilien-Repellent in die Hand. »Ich schwöre bei Gott, das war das letzte Mal, daß ich mit euch Arschlöchern einen trinken gegangen bin.«
»Ist ja schließlich nicht unsere Schuld, wenn du schon nach drei Bier geschwätzig wirst, oder? Außerdem fand ich die Sache mit dem Kampf für eine bessere Welt und so wirklich lieb. Wahnsinnig naiv, aber lieb …«
Joan holte mit der Repellentdose aus; Hartower ging in Deckung. Eddie Wilder streckte seine Hand aus, um eine Schlägerei zu verhindern, während ein unsichtbares Orchester zu aller Entsetzen Ravels Bolero mit voller Lautstärke losschmetterte.
»Tut mir leid, tut mir leid«, entschuldigte sich Eddie. Er fummelte nach etwas Unförmigem, das den Ärmel seines Schutzanzugs ausbeulte.
»Was ist das?« schrie Prohaska, der die Barkasse um ein Haar gegen die Wand des Tunnels gesetzt hätte. »Hat heute morgen jemand ne Blaskapelle dabei?«
»Is’n Abschiedsgeschenk von meinen Leuten«, sagte Eddie. »Eine Timex Philharmonic. Die haben sie extra vom Versandhaus L.L. Bean kommen lassen.«
Vorn zeigte der Automatische Diener ins Wasser und sagte irgend etwas, aber das Donnern der Fagotte übertönte seine Worte.
»Sie kann zehn verschiedene Classics spielen«, fuhr Eddie mit seiner Erklärung fort. »Sie hat vierundsechzig Stimmen.«
»Die sind nicht zu überhören«, sagte Hartower. »Die Frage ist: Kannst du die zum Schweigen bringen?«
»Na ja, da bin ich grad dabei«, sagte Eddie. Er versuchte, sich zu erinnern, wo der Ausschaltknopf war, aber bevor es ihm wieder einfiel, schoß ein Hai aus dem Wasser und fraß ihn.
Vanna Domingo wartete im Parkhaus des Phoenix mit den Mobilen Fernsehern, die Gant angefordert hatte. Die Fernseher – Automatische Diener mit einem kabeltauglichen hochauflösenden Monitor anstelle des Kopfes – könnte man sich leicht als einen makabren Anblick vorstellen, in dem Stil, wie Magritte sie hätte entwerfen können, wenn er für Zenith gearbeitet hätte; tatsächlich aber hatte Gant ein tschechisches Top-Designerstudio mit der äußeren Gestaltung seiner Mobil-TVs beauftragt, um sicherzugehen, daß die Geräte eher lustig als unheimlich aussahen. Dies wurde in erster Linie dadurch erzielt, daß sie in witzige Outfits gesteckt wurden. Wenn Vorbestellungen irgendeine Aussagekraft hatten, dann wartete der amerikanische Mittelwesten bereits mit größter Ungeduld auf ein Haushaltsgerät in Cowboykluft, das Geschirr spülen, abtrocknen, wegräumen und gleichzeitig eines von 500 spannenden TV-Programmen empfangen konnte.
Die Fernseher, die Vanna Domingo für Gants Ansprache in der Schule mitgebracht hatte, waren wie Apollo-Astronauten gekleidet. Harry Gants Vater hatte oft voller Stolz erzählt, er habe die NBC-Liveübertragung der ersten Mondlandung mitverfolgt, und auch Harry selbst hatte schon immer eine Schwäche für die Jungs von der NASA gehabt – selbst wenn er persönlich nie in das Weltraumprogramm investiert hätte. Das war eindeutig zu hoch für ihn.
»Morgen, Vanna«, sagte Gant, als er aus seinem Privatfahrstuhl ausstieg.
»Harry.« Sie neigte demütig den Kopf, wie ein Vasall vor seinem Lehnsherrn. Gant versuchte, es zu übersehen. Auch wenn er durchaus der Meinung war, daß die Etikette der Unternehmenshierarchie eine gewisse Ehrerbietung gegenüber Vorgesetzten verlangte, bestand doch ein kleiner Unterschied zwischen einem Großkapitalisten und einem Großfürsten – ein Unterschied, den Vanna in ihrer an Verehrung grenzenden Loyalität allzuleicht aus den Augen verlor. Aber in ihrem Job war sie hervorragend, keine Frage.
Gant deutete auf das Ding, das Vanna unter den Arm geklemmt trug, eine kleinformatige mattschwarze Mappe. Ein Elektro-Buch. »Was lesen Sie zur Zeit?« fragte er. Vanna las viel und gern, aber weil sie sich ihres literarischen Geschmacks schämte und mehr als nur ein bißchen paranoid war, zog sie die Anonymität eines programmierbaren Textdisplays ohne verräterischen Schutzumschlag einem normalen Buch vor.
»Den neuen Tad Winston Peller«, sagte sie mit einem leichten Achselzucken. »Über Erdbeben.«
»Erdbeben!«
»Ja, an der Ostküste soll es bald ein richtig starkes geben. Peller sagt, daß es Boston und New York auf einen Schlag dem Erdboden gleichmachen wird.«
»Also, für Boston kann ich meine Hand nicht ins Feuer legen«, sagte Gant, »aber glauben Sie mir: Es wird mehr als ein Erdbeben nötig sein, um diese Stadt zu demolieren – besonders die Teile davon, bei deren Konstruktion ich ein Wort mitzureden hatte. Was wir hier haben, ist die weltweit beste Bausubstanz auf einem der weltweit härtesten Muttergesteine überhaupt.«
»Sie sind der Boss«, sagte Vanna und berührte eine dekorative Brosche, die am Halsausschnitt ihrer Bluse befestigt war. Ein gepanzerter Kleinbus verließ seine Parkbucht und hielt vor ihnen. Seine Türen öffneten sich, und auf Vannas Kommando stiegen die Mobilen Fernseher einer nach dem anderen ein und setzten sich.
»Tad Winston Peller«, sagte Gant kopfschüttelnd. »Sie wissen, daß ich selbst nie ein Mann der Feder gewesen bin, und ich kann jemandem, der es geschafft hat, aus Wörtern ein solches Vermögen zu machen, meinen Respekt nicht versagen, aber irgendwie…«
»… mögen Sie seine Sachen nicht.«
»Na ja. Katastrophen eben. Erdbeben, Überschwemmungen, radioaktiv verseuchte Tupperware… das ist eine ziemlich pessimistische Weltsicht. Ich würde mein Geld lieber dadurch verdienen, daß ich den Leuten eine glückliche Version der Welt verkaufe, wenn Sie verstehen, was ich meine.«
Vanna Domingo geriet nur einen Augenblick aus der Fassung, eine kaum wahrnehmbare Erschütterung, von der Gant nichts mitbekam. Dann setzte sie ein strahlendes Lächeln auf, nickte und sagte noch einmal: »Sie sind der Boss.«
Prohaska war derjenige, der als letzter zu schreien aufhörte. Joan sah im ersterbenden Flackern des Heckscheinwerfers seinen Zirkon noch einmal kurz funkeln, als Meisterbrau ihn hinunterzog. Aus Prohaskas Schrotflinte löste sich ein Schuß, der auf den blauen Kacheln der Tunneldecke ein paar Schrammen hinterließ; als der Nachhall des Schusses verklungen war, hörte man nur noch, wie das Schmutzwasser gegen die Bordwände des angeschlagenen Patrouillenbootes schwappte, und ein dumpfes Tosen, dem Joan in ihrer Benommenheit anfangs keine Beachtung schenkte.
Der weiße Hai war wie ein zahnbewehrter Marschflugkörper über den Bug geschossen und hatte die vollständige Besatzung über Bord gefegt. Nur Joan war es gelungen, am Stück wieder in die Barkasse zu klettern. Hartower hätte es beinahe auch geschafft, wurde aber im letzten Moment noch gepackt und mit solcher Wucht gegen die Unterseite des Bootes gerammt, daß er ein Leck in den Treibstofftank schlug und die gesamte Elektrik kurzschloß; Joan wollte lieber gar nicht wissen, wie sich der Aufprall bei ihm selbst ausgewirkt hatte. Er tauchte jedenfalls nicht wieder auf.
Während sie sich mit Wasser füllte, bekam die Barkasse allmählich Schlagseite nach Backbord. Joan rollte sich im Heck zu einem bibbernden Knäuel zusammen; sie hielt ihre Schrotflinte im Anschlag, hatte aber vergessen, sie zu entsichern, was nicht allzuviel ausmachte, da die Suchscheinwerfer ausgefallen waren. Die phosphoreszierenden Flechten, die in der Kanalisation wucherten, schimmerten zwar noch schwach, aber zum Zielen hätte ihr Licht nicht ausgereicht. Konnten Haie im Dunkeln sehen?
»Lenny?« rief sie (nicht zu laut), obwohl sie wußte, daß es keinen Sinn hatte. »Lenny Prohaska? Hartower?«
Es kam keine Antwort, aber die Barkasse schaukelte im Abwasser, als etwas an ihrem Boden entlangstreifte. Vielleicht war es ein Baumstamm. Joan befahl ihrem Herzen, nicht mehr so schnell zu schlagen, sie war vierzig, gottverdammt, im stoischen Alter, sie hatte sich in ihrer Jugend mit Union Carbide und Afrikaans Chemical angelegt, und da würde sie Herrgott noch mal schon auch mit einem Fischmutanten fertig werden. Ein paarmal wiederholt, schaffte es dieser Gedanke tatsächlich, das Zittern ihrer freien Hand insoweit zu mäßigen, daß sie eine Granate vom Gürtel losreißen konnte.
Das Ausklinken der Handgranate von ihrer Halterung aktivierte einen inneren Mechanismus, der nach demselben Prinzip wie die Nase des Automatischen Dieners funktionierte. Eine Luftprobe wurde entnommen, für untauglich befunden und ein in der Zündkapsel des Sprengkörpers versteckter miniaturisierter Hologrammprojektor eingeschaltet.
Joan blinzelte, als sich der durchscheinende Kopf John F. Kennedys in der Dunkelheit vor ihr materialisierte. »Es tut mir leid, Mitbürgerin oder Mitbürger«, sagte Kennedy in freundlichem, aber bestimmtem Ton, »aber die Sie umgebende Luft enthält ein Gemisch von Gasen, das eine unkontrollierte Kettenreaktion auslösen könnte. Die Sicherheitsbestimmungen des Bundes und Ihres derzeitigen Aufenthaltsortes untersagen bis auf weiteres die Anwendung von Handgranaten. Ihre Regierung entschuldigt sich für etwaige Unannehmlichkeiten, die Sie in diesem Zusammenhang in Kauf nehmen müssen.«
Joan wollte gerade zu einer Erwiderung ansetzen, als ihr plötzlich bewußt wurde, woher das dumpfe Getöse kam, das sie die ganze Zeit gehört hatte. »Wasserfall«, sagte sie etwas dümmlich, als der Tunnelboden unter ihr wegsackte. Vom Deck der Barkasse geschleudert, stürzte Joan fünf Meter tief in strudelnde schwarze Abwässer; ihre Schrotflinte und die Handgranate verschwanden im Getöse, aber irgendwie behielt sie ihre Sauerstoffmaske an und tauchte unversehrt in der Mitte eines rechteckigen Beckens von der Größe eines Footballfeldes wieder auf: der Times-Square-Kreuzung.
Sie strampelte auf der Stelle und versuchte, sich zu orientieren. Ihre behandschuhte Hand stieß gegen einen festen Gegenstand, sie schloß die Finger um etwas, was sich wie menschliches Haar anfühlte, und zog.
»Hartower…?«
»Zippity-doo-day!« begrüßte sie der abgetrennte Kopf des Automatischen Dieners. »Ist das nicht ein wunderschöner Morgen!«
Joan schleuderte ihn so weit weg, wie sie nur konnte, und hörte ihn am anderen Ende des Beckens aufklatschen. Was sie danach hörte, jagte ihr das nackte Entsetzen ein: der Bolero. Ravels Bolero, der aus der Tiefe heraufschallte, wo sich, wie sie mit Sicherheit wußte, Eddie Wilder nicht mehr seines Daseins erfreute. Die stampfenden Fagotte dröhnten crescendo, und eine Finne zerschnitt direkt vor ihr die Wasseroberfläche.
Da er bereits gut gefrühstückt hatte, beschnupperte Meisterbrau sie anfangs nur. Als der Haifisch an ihr vorbeizog, schrappte seine Sandpapierhaut das rechte Bein ihres Schutzanzugs auf. Die Berührung war so schmerzhaft, daß Joan im ersten Moment glaubte, er habe ihr das Bein glatt abgebissen. Sie strampelte hektisch rückwärts, wackelte mit Zehen, die sie nicht mehr ihr eigen zu nennen wagte. Ihre Sauerstoffflasche schepperte gegen die Wand des Beckens.
Das war’s, dachte Joan, deren Vierziger-Stoizismus vollends in der Scheiße versunken war. Kein Zweifel – wenn sie die Jeanne aus ihrem Comic gewesen wäre, die Heilige und jungfräuliche Kriegerin aus Good Old Frankreich, dann wäre sie in diesem Augenblick in gerechtem Berserkerzorn entflammt und hätte ihren Widersacher zerschmettert; aber sie war bloß Joan, und es war schlichte Todesangst, was sie beseelte, als sie den Kopf herumriß und eine schwache Aussicht auf Rettung erblickte, die ihr in Gestalt eines leuchtenden Kreises von violetten Flechten aus der Dunkelheit entgegenschimmerte.
Ein Tunnel. Kein schiffbarer Kanal, sondern eine der alten Nebenleitungen, nicht breiter als ein Meter, die über der Wasserlinie der Times-Square-Kreuzung mündete und nur ein dürftiges Rinnsal von Abwässern führte. Wenn sie es schaffte, sich da hochzuziehen…
Das synthetisierte Orchester ging auf halbe Lautstärke, als Meisterbrau untertauchte und zu einem weiten Wendemanöver ansetzte. Joan klinkte ihre zweite Handgranate aus; bevor JFK einen zweiten Auftritt einlegen konnte, knallte sie das Ding fest genug gegen die Beckenwand, um den Luftanalysator zu demolieren. Sie zog den Sicherungsstift ab und schleuderte die Granate so wie vorhin den Kopf des Automatischen Dieners – mehr um Weite als um Zielgenauigkeit bemüht – weg. Die plötzliche Druckwelle würde den Hai vielleicht verletzen oder sogar töten, aber in dieser Situation hätte es Joan schon vollauf genügt, ihn ein bißchen abzulenken.
Die behördlich ausgegebenen Standardhandgranaten waren mit einer 15-Sekunden-Zündvorrichtung ausgerüstet, wobei die lange Verzögerung den doppelten Zweck erfüllte, ungelernte Kanalarbeiter nach Möglichkeit daran zu hindern, kostspielige Rohre zu beschädigen, und