Lovecraft Country - Matt Ruff - E-Book

Lovecraft Country E-Book

Matt Ruff

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Beschreibung

Atticus Turners Gefühle für seinen Vater waren schon immer zwiespältig. Doch als der verschwindet, macht Atticus sich wohl oder übel auf die Suche. Auch wenn die Spur nach „Lovecraft Country“ in Neuengland führt, Mitte der 50er Jahre ein Ort der schärfsten Rassengesetze in den USA. Mit Hilfe seines Onkels George, Herausgeber des „Safe Negro Travel Guide“, und seiner Jugendfreundin Letitia gelangt Atticus bis zum Anwesen der Braithwhites. Hier tagt eine rassistische Geheimloge, mit deren Hilfe Braithwhite junior nichts weniger als die höchste Macht anstrebt. Matt Ruff erzählt mit überbordender Phantasie und teuflischem Humor die wahnwitzigen Abenteuer einer schwarzen Familie.

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Atticus Turners Verhältnis zu seinem Vater Montrose war schon immer schwierig. Doch als der von einem Tag auf den anderen aus Chicago verschwindet, macht sich der zweiundzwanzigjährige Atticus wohl oder übel auf die Suche. Auch wenn Montrose’ letzte Spur nach »Lovecraft Country« in Neuengland führt, Mitte der fünfziger Jahre ein Ort der schärfsten Rassengesetze. Zusammen mit seinem Onkel George, Herausgeber des Safe Negro Travel Guide, und Jugendfreundin Letitia gelangt Atticus schließlich bis zum Anwesen der Braithwhites. Im alten Herrenhaus tagt der Adamitische Orden der Alten Morgenröte, eine rassistische Geheimloge, mit deren Hilfe der junge Caleb Braithwhite nichts weniger als die Weltherrschaft anstrebt. Doch dafür braucht er Atticus, und nicht nur ihn.

Hanser E-Book

Matt Ruff

Lovecraft Country

Roman

Aus dem Englischen von Anna Leube und Wolf Heinrich Leube

Carl Hanser Verlag

Für Harold und Rita

LOVECRAFT COUNTRY

JIM-CROW-MEILE – Eine Maßeinheit speziell für farbige Kraftfahrer, die sowohl geografische Distanz als auch plötzlich auftretende Anwandlungen von Angst, Paranoia, Frustration und Empörung umfasst. Ihre vielgestaltige Natur lässt keine exakte Berechnung der Reisedauer zu, und ihre Heftigkeit gefährdet ständig Gesundheit und psychisches Wohlergehen des Reisenden.

The Safe Negro Travel Guide, Ausgabe Sommer 1954

Atticus war schon beinahe zu Hause, als der State Trooper ihn rechts heranfahren ließ.

Vor zwei Tagen war er in Jacksonville mit einem gebrauchten 48er Cadillac Coupé aufgebrochen, den er von seinem letzten Sold gekauft hatte. Am ersten Tag fuhr er vierhundertfünfzig Meilen, verpflegte sich aus einem Korb, den er vorsorglich eingepackt hatte, und hielt nur an, um zu tanken. Bei einer Tankstelle war das Klo für Schwarze außer Betrieb, und als der Tankwart ihm den Schlüssel für die Toilette für Weiße verweigerte, war Atticus gezwungen, in die Büsche hinter der Tankstelle zu pinkeln.

Er übernachtete in Chattanooga. The Safe Negro Travel Guide hatte vier Hotels und ein Motel aufgeführt, alle im gleichen Stadtteil. Atticus entschied sich für das Motel, zu dem ein Vierundzwanzig-Stunden-Diner gehörte. Das Zimmer kostete drei Dollar, genau wie im Guide angegeben.

Am anderen Morgen schaute er sich im Diner den Straßenatlas an. Bis Chicago waren es noch einmal sechshundert Meilen. Auf halbem Weg dorthin lag Louisville, Kentucky, wo es nach Angaben des Guide ein Restaurant gab, in dem er zu Mittag essen konnte. Atticus überlegte einen Moment, doch obwohl er gern seine Heimkehr noch hinausgezögert hätte, war der Wunsch, den Süden hinter sich zu lassen, noch stärker. Also holte er nach dem Frühstück seinen Korb aus dem Wagen und ließ sich vom Koch Sandwiches, Cokes und ein kaltes Brathähnchen geben.

Gegen eins erreichte er den Ohio, die Grenze zwischen Kentucky und Indiana. Als er über eine Brücke fuhr, die den Namen eines toten Sklavenhalters trug, kurbelte er die Scheibe herunter und zeigte Jim Crow zum Abschied den gereckten Mittelfinger. Ein weißer Autofahrer kam ihm entgegen, sah die Geste und rief irgendetwas Unflätiges, aber Atticus lachte nur, trat aufs Gaspedal und war im Norden.

Nach einer Stunde Fahrt an ausgedehnten Feldern vorbei hatte er eine Reifenpanne. Atticus fuhr vorsichtig bis zu einer Bucht am Straßenrand, wo er gefahrlos halten konnte, und stieg aus, um den Ersatzreifen aufzuziehen, aber der war ebenfalls platt. Das ärgerte ihn, denn er hatte das Reserverad vor der Abfahrt überprüft und geglaubt, es sei in Ordnung, doch wie drohend er es auch ansah, der Reifen war und blieb beharrlich platt. Ein Reifen aus dem Süden, und Atticus dachte: Jim Crows Rache.

Zehn Meilen weit hinter ihm waren nichts als Felder und Wald, aber vor sich sah er in einer Entfernung von etwa zwei Meilen eine Ansammlung von Gebäuden. Er nahm den Safe Negro Travel Guide und machte sich zu Fuß auf den Weg. Auf der Straße herrschte reger Verkehr, und zunächst versuchte er, Autos anzuhalten, die in seine Richtung fuhren, aber entweder ignorierten ihn die Fahrer, oder sie drückten extra aufs Gas, und schließlich gab er den Versuch auf und konzentrierte sich darauf, einen Fuß vor den anderen zu setzen.

Er gelangte zum ersten Gebäude. Auf dem Schild an der Fassade stand JANSSENS AUTOREPARATURWERKSTÄTTE, und Atticus dachte schon, er habe Glück, aber dann sah er die Konföderiertenflagge über der Einfahrt. Das hätte ihn fast dazu gebracht, einfach weiterzugehen, aber er sagte sich, er müsse es versuchen.

In der Werkstatt waren zwei weiße Männer, ein kleiner Kerl mit flaumigem Schnauzer, der auf einem hohen Hocker saß und in einer Zeitschrift blätterte, sowie ein deutlich größerer Mann, der sich unter die geöffnete Motorhaube eines Pick-up beugte. Als Atticus hereinkam, blickte der Kleine von seiner Zeitschrift auf und gab ein unanständiges Schmatzgeräusch von sich.

»Verzeihung«, sagte Atticus. Erst jetzt wurde der Große auf ihn aufmerksam. Als er sich aufrichtete und sich ihm zuwandte, sah Atticus eine Tätowierung auf seinem Unterarm, die wie ein Wolfskopf aussah.

»Entschuldigen Sie die Störung«, sagte Atticus, »aber ich habe ein Problem. Ich brauche einen neuen Reifen.«

Der große Mann sah ihn einen Moment grimmig an und sagte kurz angebunden: »Nein.«

»Ich sehe, Sie sind sehr beschäftigt«, sagte Atticus, als sei dies das Problem. »Es geht nicht darum, dass Sie mir den Reifen wechseln, Sie brauchen ihn mir nur zu verkaufen, und ich …«

»Nein.«

»Wollen Sie denn kein Geld verdienen? Sie brauchen gar nichts zu machen, bloß …«

»Nein.« Der Mann verschränkte die Arme. »Soll ich es noch hundertmal sagen? Das können Sie haben.«

Jetzt geriet Atticus in Rage: »Das ist eine Wolfshund-Tätowierung, stimmt’s? Siebenundzwanzigstes Infanterieregiment?« Er berührte das Dienstabzeichen auf seinem Revers. »Ich war im vierundzwanzigsten Infanterieregiment. Wir kämpften direkt neben dem Siebenundzwanzigsten, praktisch in ganz Korea.«

»Ich war nicht in Korea«, sagte der große Mann, »ich war auf Guadalcanal und Luzon. Und da gab’s keine Nigger.«

Damit beugte er sich wieder unter die Motorhaube, sein Rücken war abweisend und zugleich eine Aufforderung. Die Deutung blieb Atticus überlassen. Die ganzen Demütigungen der vergangenen sechs Monate in Florida machten die Entscheidung schwieriger, als ihm lieb war. Der kleine Mann auf dem Hocker schaute immer noch zu ihm hin, und wenn er irgendetwas gesagt oder auch nur gegrinst hätte, wäre Atticus in Fahrt gekommen. Aber der Kleine spürte wohl, wie schnell es ihm an den Kragen gehen konnte, selbst wenn ihn der Große beschützte, und er sagte nichts und grinste auch nicht. Atticus stapfte hinaus, die Fäuste in den Hosentaschen.

Auf der anderen Straßenseite war ein Kramladen mit einem Münztelefon auf der Veranda. Atticus sah in seinem Guide, dass es in Indianapolis, etwa fünfzig Meilen entfernt, eine Werkstatt gab, die einem Neger gehörte. Er wählte die Nummer und erklärte dem Mechaniker am anderen Ende der Leitung seine Notlage. Der Mann war hilfsbereit, warnte aber, es würde eine Weile dauern, bis er kommen könne. »In Ordnung«, sagte Atticus, »ich warte hier.«

Er legte auf und bemerkte, dass ihn die alte Frau im Laden nervös durch die Fliegengittertür beobachtete. Auch diesmal beschloss er, zu seinem Wagen zurückzugehen. Im Kofferraum lag neben dem unbrauchbaren Ersatzreifen eine Pappschachtel voll zerlesener Taschenbücher. Atticus wählte Ray Bradburys Mars-Chroniken, setzte sich in den Cadillac und las etwas über den »Raketensommer« von1999, als infolge der Abgase eines Raumschiffs vom Mars der Schnee schmolz. Er stellte sich vor, er sei selbst an Bord, auf dem Weg gen Himmel in einem Feuerstrahl, und lasse Norden und Süden für immer hinter sich.

Vier Stunden vergingen. Er las das komplette Buch, trank warmes Cola und aß ein Sandwich, aber mit Rücksicht auf begehrliche Blicke vorbeikommender Autofahrer rührte er das Brathähnchen nicht an. Er schwitzte in der flimmernden Junihitze. Als der Druck auf die Blase nicht mehr zu ignorieren war, passte er eine Flaute im Verkehr ab und stellte sich an eine Platane am Straßenrand.

Als der Abschleppwagen kam, war es nach sieben Uhr. Der Fahrer, ein grauhaariger, ziemlich hellhäutiger Neger, stellte sich als Earl Maybree vor. »Einfach Earl«, sagte er, als Atticus ihn mit Mr Maybree anredete. Dann holte er den Ersatzreifen hinten von seinem Lieferwagen herunter. »Gleich kriegen wir Sie wieder flott.«

Gemeinsam brauchten sie keine zehn Minuten. Beim Gedanken daran, wie einfach das gewesen war und wie er wegen nichts und wieder nichts den Nachmittag hatte vergeuden müssen, geriet Atticus erneut in Rage. Um sich zu beruhigen, entfernte er sich ein paar Schritte vom Wagen und tat, als betrachte er die tiefstehende Sonne am Horizont.

»Wie weit haben Sie’s noch?«

»Bis Chicago.«

Earl hob eine Augenbraue. »Heute Nacht?«

»Na ja, so war’s geplant.«

»Wissen Sie was«, sagte Earl. »Ich bin fertig für heute. Warum kommen Sie nicht mit zu mir? Meine Frau soll Ihnen ein anständiges Essen machen, und Sie können sich ein bisschen ausruhen.«

»Nein, Sir, das geht nicht.«

»Freilich geht das. Das liegt auf Ihrer Strecke. Und ich möchte nicht, dass Sie aus Indiana wegfahren und denken, das sind alles böse Menschen.«

Earl wohnte im Farbigenviertel in der Nähe der Indiana Avenue, nordwestlich vom State Capitol. Sein Haus war ein schmales einstöckiges Gebäude aus Holz mit einem winzigen Rasenstück davor. Als sie ankamen, war die Sonne gerade untergegangen, Wolken trieben von Norden her, sodass es noch schneller dunkel wurde. Auf der Straße war ein Stickballspiel im Gange, aber jetzt riefen die Mütter ihre Kinder ins Haus.

Auch Earl und Atticus gingen ins Haus. Mavis, Earls Frau, begrüßte Atticus herzlich und zeigte ihm, wo er sich frischmachen konnte. Als er sich an den Küchentisch setzte, war ihm trotz des freundlichen Empfangs nicht ganz wohl, weil er über viele der naheliegenden Gesprächsthemen – seinen Militärdienst in Korea, den Aufenthalt in Jacksonville, die Ereignisse des heutigen Tages und vor allem seinen Vater in Chicago – eigentlich nicht sprechen wollte. Doch nach dem Tischgebet überraschte ihn Earl mit der Frage, was er von den Mars-Chroniken hielt. »Ich hab sie bei Ihnen im Auto gesehen.«

Und so redeten sie über Ray Bradbury, über Robert Heinlein und Isaac Asimov, die Earl alle gut fand. Nicht gut fand er L. Ron Hubbard. Die Tom-Swift-Serien, die Earl in seiner Jugend begeistert hatten, waren ihm nun peinlich, einmal wegen der Art, wie darin Neger dargestellt waren, und dann auch, weil ihm das damals als Junge gar nicht aufgefallen war, obwohl sein Vater immer wieder versucht hatte, ihn darauf hinzuweisen. »Ja genau, mein Dad hatte auch Probleme mit der Auswahl meiner Lektüre«, sagte Atticus.

Mavis sprach nicht viel während des Essens, sie schien es zufrieden, zuzuhören und Earls Teller nachzufüllen, sobald er leer zu werden drohte. Als sie mit dem Nachtisch fertig waren, war es stockdunkel geworden, und Regen trommelte an die Scheiben des Küchenfensters. Schließlich machte Mavis den Mund auf. »Also, bei dem Wetter«, sagte sie, »können Sie heute Nacht nicht mehr weiterfahren.« Atticus war inzwischen so müde, dass er sich, ohne auch nur pro forma zu protestieren, nach oben ins Gästezimmer bringen ließ. Auf der Kommode stand das Foto eines jungen Mannes in Uniform. Um eine Ecke des Rahmens war eine schwarze Schleife gelegt. »Unser Dennis«, sagte Mavis, zumindest schien es Atticus so. Doch als sie das Bett frisch bezog, ergänzte sie: »Er ist im Wald gefallen«, und da begriff er, dass sie von den Ardennen sprach.

Er legte sich ins Bett mit einem Buch, das Earl ihm gegeben hatte: noch ein Bradbury, eine Kurzgeschichtensammlung mit dem Titel Dark Carnival. Das war eine nette Geste, aber nicht gerade die geeignete Bettlektüre. Nachdem er eine Erzählung über ein Familientreffen von Vampiren und eine weitere höchst seltsame über einen Mann, dem das Skelett entfernt worden war, gelesen hatte, schlug er das Buch zu, besah sich kurz den Verlagsnamen Arkham House auf dem Buchrücken und legte es beiseite. Er griff nach seiner Hose und zog den Brief seines Vaters hervor. Beim Wiederlesen berührte er mit dem Finger ein Wort ganz unten auf der Seite. »Arkham«, murmelte er.

Um drei Uhr morgens hörte der Regen auf. Atticus öffnete die Augen in der Stille, anfangs unsicher, in welchem Land er überhaupt war. Im Dunkeln zog er sich an und schlich die Treppe hinunter; er hatte vor, eine kurze Nachricht zu hinterlassen, aber Earl war schon wach und rauchte am Küchentisch eine Zigarette.

»Wollen Sie sich heimlich davonstehlen?«, fragte er.

»Ja, Sir. Ich weiß Ihre Gastfreundschaft zu schätzen, aber ich muss nach Hause.«

Earl nickte und machte eine kleine, abwehrende Geste mit der Hand, in der er die Zigarette hielt.

»Richten Sie Mrs Maybree meinen Dank aus. Und grüßen Sie sie von mir.«

Earl wiederholte die Handbewegung. Atticus stieg in seinen Wagen und fuhr durch die dunklen, noch feuchten Straßen; dabei fühlte er sich wie der Geist, in dessen Bett er geschlafen hatte.

Beim ersten Morgengrauen war er bereits ein gutes Stück im Norden. Er kam an einem Schild mit der Aufschrift CHICAGO – 52 vorbei. Der State Trooperparkte auf der anderen Straßenseite. Er hatte ein Nickerchen gemacht, und wäre Atticus nur fünf Minuten früher vorbeigekommen, hätte der Polizist nichts gemerkt, aber in der rosa Morgendämmerung richtete er sich blinzelnd und gähnend auf. Als er Atticus vorbeifahren sah, war er plötzlich hellwach.

Atticus blickte in den Rückspiegel und sah, wie der Streifenwagen auf der Straße wendete. Er holte die Wagenpapiere des Cadillac und den Kaufvertrag aus dem Handschuhfach und legte sie zusammen mit seinem Führerschein auf den Beifahrersitz, ganz unübersehbar, um jedes Missverständnis auszuschließen. Im Rückspiegel blitzten Scheinwerfer, und die Polizeisirene heulte auf. Atticus fuhr rechts ran, kurbelte das Seitenfenster herunter und ergriff – so hatte er es in seiner allerersten Fahrstunde gelernt – das Steuer oben mit beiden Händen.

Der Polizist ließ sich Zeit mit dem Aussteigen und blieb erst einmal stehen, um sich zu strecken, bevor er zu Atticus’ Wagen schlenderte.

»Ist das Ihr Auto?«, fragte er.

»Ja, Sir«, sagte Atticus. Ohne die Hände vom Lenkrad zu nehmen, wies er mit dem Kopf in die Richtung der Papiere auf dem Beifahrersitz.

»Zeigen Sie her.«

Atticus händigte ihm die Dokumente aus.

»Atticus Turner«, las der Polizist vor. »Wissen Sie, warum ich Sie angehalten habe?«

»Nein, Sir«, log Atticus.

»Zu schnell gefahren sind Sie nicht«, versicherte der Polizist. »Aber als ich Ihr Kennzeichen sah, war ich plötzlich in Sorge, Sie könnten sich verirrt haben. Nach Florida geht es in die andere Richtung.«

Atticus fasste das Lenkrad noch etwas fester. »Ich bin auf dem Weg nach Chicago, Sir.«

»Weswegen?«

»Familie. Mein Vater braucht mich.«

»Aber Sie wohnen doch in Florida?«

»Ich habe in Jacksonville gearbeitet. Seit ich nicht mehr bei der Armee bin.«

Der Polizist gähnte, ohne sich die Mühe zu machen, die Hand vor den Mund zu halten.

»Sie haben dort gearbeitet, oder Sie arbeiten immer noch dort?«

»Sir?«

»Gehen Sie wieder zurück nach Florida?«

»Nein, Sir, das habe ich nicht vor.«

»Das haben Sie nicht vor. Sie bleiben also in Chicago?«

»Eine Zeitlang.«

»Wie lange?«

»Ich weiß nicht. Solange mich mein Vater braucht.«

»Und was dann?«

»Ich weiß nicht. Ich habe mich noch nicht entschieden.«

»Sie haben sich noch nicht entschieden.« Der Polizist runzelte die Stirn. »Aber hier sind Sie einfach auf der Durchfahrt, stimmt’s?«

»Ja, Sir«, sagte Atticus und widerstand der Versuchung hinzuzufügen: »Wenn Sie mich lassen«.

Mit immer noch gerunzelter Stirn reichte der Polizist die Papiere durch das Fenster zurück. Atticus legte sie wieder auf den Beifahrersitz. »Was ist da drin?«, fragte der Polizist als Nächstes und deutete auf den Korb am Boden.

»Was von meinem Lunch von gestern übrig ist.«

»Was ist hinten drin? Irgendwas im Kofferraum?«

»Nur meine Anziehsachen«, sagte Atticus. »Meine Uniform. Ein paar Bücher.«

»Was für Bücher?«

»Hauptsächlich Science-Fiction.«

»Science-Fiction? Und das ist Ihr Wagen?«

»Officer …«

»Aussteigen.« Der Polizist trat von der Wagentür zurück und legte eine Hand auf den Griff seines Revolvers. Atticus stieg langsam aus. Im Stehen war er ein paar Zentimeter größer als der Polizist; als Quittung für diese Unverschämtheit wurde er umgedreht, gegen den Cadillac geschubst und grob gefilzt. »Okay«, sagte der Polizist. »Kofferraum aufmachen.«

Als Erstes durchwühlte er Atticus’ Kleidungsstücke und klopfte seinen Matchsack ab, als wäre auch der ein Schwarzer, der gegen einen Wagen gedrückt würde. Dann nahm er sich die Bücher vor und kippte die Schachtel in den Kofferraum aus. Atticus versuchte, nicht hinzusehen, sagte sich, Taschenbücher seien ja da, um schlecht behandelt zu werden, aber es war schlimm, wie wenn man mit ansehen musste, wenn Freunde zusammengeschlagen wurden.

»Was ist das?« Der Polizist fingerte einen in Geschenkpapier eingewickelten Gegenstand von ganz unten aus der Schachtel hervor.

»Auch ein Buch«, sagte Atticus. »Ein Geschenk für meinen Onkel.«

Der Polizist riss das Papier auf und förderte ein gebundenes Buch zutage. »Eine Prinzessin vom Mars.« Er schaute Atticus von der Seite an. »Dein Onkel hat eine Schwäche für Prinzessinnen, stimmt’s?« Er warf das Buch zu den anderen. Atticus litt ein wenig, als es aufgeklappt mit zerknitterten Seiten in der Schachtel landete.

Der Polizist ging um den Cadillac herum. Als er die Beifahrertür öffnete, dachte Atticus, er habe es auf die Mars-Chroniken vorne auf der Ablage abgesehen, aber der Polizist kam an mit dem Safe Negro Travel Guide. Er blätterte darin herum, erst verblüfft, dann geradezu perplex. »Diese Adressen«, murmelte er, »sind das alles Orte, wo Farbige bedient werden?« Atticus nickte. »Also«, sagte der Polizist, »das ist ja wirklich der Gipfel …« Er besah sich den Guide näher und warf einen kurzen Blick darauf. »Nicht besonders dick, wie?« Atticus reagierte nicht.

»In Ordnung«, sagte der Polizist schließlich. »Sie können gehen. Aber diesen Führer behalte ich. Keine Sorge«, fügte er hinzu und nahm damit den Einspruch vorweg, von dem Atticus wusste, dass er ihn besser unterließ, »Sie brauchen ihn ja nicht mehr, Sie haben doch gesagt, Sie fahren nach Chicago? Nun, zwischen hier und Chicago gibt es keinen einzigen Ort, wo Sie halten wollen. Kapiert?«

Atticus hatte kapiert.

Das Hauptbüro der Safe Negro Travel Company (Eigentümer: George Berry) befand sich in Washington Park in der South Side von Chicago. Atticus parkte vor dem Freimaurertempel neben dem Büro und schaute den morgendlichen Fußgängern und Autofahrern zu: Kein einziges weißes Gesicht war darunter. In Jacksonville gab es Straßen, in denen ebenfalls nie ein Weißer zu sehen war, aber diese Straße, dieses Viertel war sein Zuhause, war früher einmal seine ganze Welt gewesen – und das war so wohltuend wie sonst nur die Stimme seiner Mutter. Er wurde gelassener, der angestaute Zorn löste sich langsam auf, und er dachte bei sich, dass der Polizist recht hatte: Hier brauchte er keinen Führer.

Um diese Zeit war das Büro noch geschlossen, aber Atticus sah, dass im Apartment darüber Licht war. Anstatt auf die Klingel zu drücken, ging er ums Haus herum, stieg die Feuerleiter hoch und klopfte an die Küchentür. Von drinnen drang das Scharren eines Stuhls und das Knarren eines Riegels. Die Tür öffnete sich einen Spalt, und Onkel George spähte misstrauisch heraus. Aber als er sah, wer da ankam, rief er »He!«, riss die Tür weit auf und schloss Atticus fest in die Arme.

»Selber he!«, sagte Atticus lachend und drückte ihn.

»Mann, schön, dich zu sehen!« George trat einen Schritt zurück, fasste Atticus an den Schultern und musterte ihn von Kopf bis Fuß.

»Seit wann bist du zurück?«

»Bin gerade eingelaufen.«

»Schön, komm rein.«

Als Atticus die Küche betrat, hatte er auf einmal das gleicheGefühl wie bei seinem einzigen Besuch zu Hause nach seiner Einberufung. Er kam sich vor wie im Spiegelkabinett, denn obwohl er, kurz bevor er zur Armee gegangen war, seine volle Größe erreicht hatte, war er in seiner Erinnerung an diesen Ort viel kleiner, sodass der Raum ihm wie geschrumpft erschien. Als sein Onkel die Tür zugemacht und ihn ein zweites Mal umarmt hatte, bemerkte Atticus, dass auch George geschrumpft war, was allerdings in diesem Fall bedeutete, dass sie jetzt beide gleich groß waren.

»Ist Tante Hippolyta zu Hause?«, fragte Atticus, neugierig, ob sich bei ihr der gleiche Effekt eingestellt hatte.

»Nein«, sagte George. »Sie ist in Wyoming. Dort ist das neue Kurhotel in der Nähe von Yellowstone, von Quäkern geführt, ob du’s glaubst oder nicht. Steht angeblich jedermann offen. Sie testet das mal.« Als sie jung verheiratet waren, hatte Hippolyta als Scout für den Safe Negro Travel Guide gearbeitet, insbesondere für Ferienanlagen. Anfangs war sie zusammen mit George gereist, aber jetzt war sie meistens allein unterwegs, und George blieb zu Hause und kümmerte sich um den gemeinsamen Sohn. »Sie ist schon mindestens eine Woche weg, aber Horace freut sich bestimmt, dich zu sehen, wenn er mal aufwacht.«

»Horace schläft immer noch?«, fragte Atticus überrascht. »Das Schuljahr ist doch noch nicht zu Ende, oder?«

»Nicht ganz«, sagte George. »Aber heute ist Samstag.« Er lachte über Atticus’ Reaktion auf diese Neuigkeit: »Ich brauche dich wohl nicht zu fragen, wie deine Fahrt war.«

»Nein, brauchst du nicht.« Er hielt ihm das mitgebrachte Buch hin, als wäre es ein verletzter Vogel. »Hier, bitte.«

»Was ist das … Oh, Mr Burroughs!«

»Ein Souvenir aus Japan«, sagte Atticus. »Ich hab da diesen Buchladen außerhalb vom Stützpunkt in Gifu gefunden, der Typ hatte ein Regal mit Büchern in Englisch, fast alles Science-Fiction … Ich hab erst gedacht, das könnte eine Erstausgabe sein, aber ich glaube, es ist bloß alt.«

»Weitgereist«, meinte George. Das Buch ging bei den zerknitterten Seiten auf, die Atticus vergeblich glattzustreichen versucht hatte.

»Ja, es war in besserem Zustand, als ich es gekauft habe.«

»Ach was, das macht doch nichts«, sagte George. »Lässt sich doch bestimmt immer noch gut lesen.« Er lächelte. »Komm, wir stellen es auf den Ehrenplatz.« Er steuerte auf das Schlafzimmer zu, das er und Hippolyta mit ihren besten Büchern teilten.

Atticus folgte ihm, blieb aber vor dem zweiten Schlafzimmer der Wohnung stehen und betrachtete seinen Cousin. Horace, mittlerweile zwölf Jahre alt, lag mit offenem Mund auf dem Rücken und atmete schwer keuchend. Neben seinem Kissen lag eine Ausgabe von Tom Corbett, Space Cadet, weitere Bände waren am Boden verstreut.

Gegenüber dem Bett stand ein niedriges Pult an der Wand. Darauf war ein Blatt Bastelpapier in Felder unterteilt, die Szenen eines intergalaktischen Abenteuers zeigten: Neger in Umhängen wanderten in einer Landschaft umher, die an die Fernsehserie Buck Rogers erinnerte. Vom Flur aus nahm Atticus sie in Augenschein, hielt den Kopf schräg und versuchte, die Handlung zu erraten.

George kam durch den Flur wieder zurück. »Er wird immer besser«, sagte Atticus mit gedämpfter Stimme.

»Ja. Er will mich überreden, etwas mit Comics zu machen. Ich hab ihm gesagt, wenn er genug Geld gespart hat, würde ich mit einer kleinen Auflage einsteigen … Also, hast du Hunger? Ich könnte ihn aufwecken, deinen Vater anrufen, und wir gehen alle gemeinsam frühstücken. Warst du schon bei Montrose?«

»Noch nicht«, antwortete Atticus. »Und vorher muss ich mit dir noch was bereden.«

»In Ordnung. Komm, mach dir’s bequem. Ich setze schon mal Kaffee auf.«

Während George in der Küche hantierte, ging Atticus in das vordere Zimmer, das ihm in der Kindheit als Bibliothek und Leseraum gedient hatte. Der Bücherbestand des Paars war getrennt, Hippolytas Interessen gingen hauptsächlich in Richtung Wissenschaft und Naturgeschichte, dazwischen fanden sich ein paar Jane-Austen-Romane. George hatte eine Neigung für seriöse Literatur, aber seine eigentliche Leidenschaft und der Großteil seines Regalanteils gehörten den Schundsparten: Science-Fiction, Fantasy, Mystery und Krimis, Horrorstorys und unheimliche Geschichten.

Atticus teilte Georges Vorliebe für diese meist von weißen Autoren bedienten Genres, und das war Anlass zu permanentem Streit mit seinem Vater gewesen. George war als älterer Bruder weitgehend immun gegen dessen Verachtung und konnte ihm immer sagen, er solle seine Meinung für sich behalten. Atticus hatte dieses Privileg nicht. Wenn sein Vater seinen Lektüregeschmack in Frage stellte, musste er sich der Diskussion wohl oder übel fügen.

Meist gab es jede Menge, worüber sich streiten ließ. Edgar Rice Burroughs zum Beispiel bot mit seinen Tarzan-Geschichten eine Fülle kritisches Futter (war es überhaupt nötig, alle Probleme aufzulisten, die Montrose mit Tarzan hatte, angefangen allein schon mit seiner Grundidee?), oder seine Barsoom-Serie mit ihrem Protagonisten John Carter, der Hauptmann in der Armee von Nord-Virginia war, bevor er zum Kriegsherrn auf dem Mars wurde. »Ein Offizier der Konföderierten?«, hatte sich sein Vater empört. »Soll das der Held sein?« Wenn Atticus einzuwenden versuchte, das sei doch gar nicht so schlimm, denn eigentlich war ja John Carter ein Exkonföderierter, spottete sein Vater: »Exkonföderierter? Was soll das sein, so was wie ein Exnazi? Der Typ hat für die Sklaverei gekämpft! Den kannst du doch nicht als ›Ex‹ titulieren!«

Montrose hätte ihm auch einfach verbieten können, solche Sachen zu lesen. Atticus kannte andere, deren Väter es so gemacht und ihre Comic-Hefte und Amazing-Storys-Sammlungen in den Müll geworfen hatten. Aber Montrose hielt, von wenigen Ausnahmen abgesehen, nichts von einem Bücherverbot. Er bestand stets darauf, dass Atticus sich Gedanken machte über seine Lektüre, anstatt sie einfach zu verschlingen, und Atticus musste, wenn er ehrlich war, zugeben, dass das ein vernünftiges Anliegen war. Aber auch wenn es fair war, die guten Absichten seines Vaters anzuerkennen, so war es doch ebenso fair, darauf hinzuweisen, dass sein Vater ein Streithammel war, dem es Spaß machte, einen Grund zu finden, an ihm herumzunörgeln.

Onkel George war keine große Hilfe. »Dein Vater hat ja gar nicht unrecht«, sagte er einmal, als Atticus sich beklagte.

»Aber du liebst diese Geschichten!«, sagte Atticus. »Du liebst sie doch genauso wie ich!«

»Ja, stimmt schon«, gab George zu. »Aber mit Geschichten ist es wie mit Menschen. Sie werden nicht deshalb perfekt, weil man sie liebt. Du willst ihre Vorzüge hervorheben und ihre Mängel übersehen. Und trotzdem gibt es die.«

»Aber du regst dich nicht auf, so wie Dad.«

»Ja, ich rege mich nicht auf. Nicht über Geschichten. Manchmal enttäuschen sie mich allerdings.« Er sah zu den Regalen hinüber. »Und manchmal geben sie mir einen Stich ins Herz.«

Jetzt stand Atticus vor ebendiesen Regalen und griff nach einem Buch mit dem Verlagssignet von Arkham House: Der Außenseiter, von H. P. Lovecraft.

Atticus hatte zunächst nicht gedacht, dass er Lovecraft mögen würde. Er schrieb Horrorgeschichten, die mehr Georges Ding waren, während Atticus Abenteuergeschichten mit glücklichem oder zumindest hoffnungsvollem Ausgang besser gefielen. Doch eines Tages hatte er es aus einer Laune heraus mit Lovecraft probieren wollen und aufs Geratewohl eine lange Erzählung mit dem Titel »Berge des Wahnsinns« ausgewählt.

Erzählt wurde von einer auf die Suche nach Fossilien ausgerichteten wissenschaftlichen Expedition in die Antarktis. Dabei entdeckten die Wissenschaftler eine Gebirgskette mit Gipfeln, noch höher als der Everest. Auf einer Hochebene lag eine Stadt, die vor Jahrmillionen von einer außerirdischen Rasse erbaut worden war, den »Alten Wesen«, die in der Zeit des Präkambriums aus dem All auf die Erde gekommen waren. Obwohl die Alten Wesen die Stadt schon längst verlassen hatten, durchstreiften ihre früheren Sklaven, protoplasmatische Monster namens Schoggoths, noch immer die unterirdischen Gänge der zerfallenen Stadt.

»Schiggoths?«, hatte sein Vater gefragt, als Atticus den Fehler machte, ihm davon zu erzählen.

»Schoggoths«, verbesserte ihn Atticus.

»Soso. Und die Herrenrasse, die Klan-Chefs …«

»Die Alten Wesen.«

»Ich wette, sie sind hellhäutig. Und die Schiggoths sind schwarz.«

»Die Schoggoths sind fassförmig. Sie haben Flügel.«

»Aber sie sind weiß, stimmt’s?«

»Sie sind grau.«

»Hellgrau?«

Nach ein paar weiteren Sticheleien in diesem Stil – und einem ernsteren Seitenhieb auf Lovecrafts absichtliche Missverständnisse in Sachen Evolution – ließ es Montrose auf sich beruhen, zumindest schien es so. Aber ein paar Abende später kam er mit einer Überraschung nach Hause.

An jenem Abend war Atticus’ Mutter mit einer Freundin ausgegangen, und Atticus war allein in der Wohnung und las »Cthulhus Ruf«; er versuchte, das seltsame Gegurgel im Küchenabfluss zu überhören, und war direkterleichtert, als sein Vater nach Hause kam.

Montrose legte sofort los. »Ich war nach der Arbeit noch schnell in der Stadtbücherei«, sagte er und hängte seinen Mantel an den Haken. »Ich habe ein bisschen über deinen Freund Mr Lovecraft recherchiert.«

»Ach ja?«, sagte Atticus, nicht besonders begeistert. Er erkannte die perverse Mischung aus Ärger und Schadenfreude in der Stimme seines Vaters und wusste, dass etwas, woran er Freude gehabt hatte, ihm nun gründlich vergällt würde.

»Es stellt sich heraus, dass er auch Lyriker war. Kein Langston Hughes, aber immerhin nicht uninteressant … Schau her.«

Das maschinengeschriebene Schriftstück, das ihm sein Vater reichte, war wie eine billige Parodie auf einen der geheimnisvollen Texte aus Lovecrafts Geschichten: eine literarische Amateurzeitschrift, produziert auf einem alten Vervielfältigungsapparat und in fleckige Pappe gebunden. Anstatt einer Titelseite verriet ein Aufkleber die Herkunft: PROVIDENCE, 1912. Atticus erfuhr nie, wie das Heft im Bestand der Chicagoer Stadtbüchereien gelandet war, aber da es nun mal existierte, wunderte er sich nicht, dass sein Vater es aufgestöbert hatte; Montrose hatte für so etwas einen Riecher.

Eine Karteikarte aus dem Büchereikatalog steckte als Lesezeichen in der Zeitschrift. Atticus schlug sie auf dieser Seite auf, und da standen sie: acht satirische Verszeilen von Howard Phillips Lovecraft.

Der Titel des Gedichts hieß »Über die Erschaffung der Nigger«.

Manchmal geben sie mir einen Stich ins Herz …

»Frischst du alte Freundschaften auf?«, fragte George und brachte den Kaffee.

»Ja, so ungefähr.« Atticus stellte das Buch an seinen Platz zurück und bedankte sich für den Kaffee. Sie saßen da, und Atticus spürte, wie ihn eine tiefe Erschöpfung überkam.

»Also«, sagte George, »wie war Florida?«

»Nach Rassen getrennt«,erwiderte Atticus, und dabei fiel ihm ein, dass es nicht die richtige Beschreibung war, denn das traf genauso gut auf Chicago zu.

Doch George nickte. »Natürlich, ich hab auch nicht geglaubt, dass es dir im Süden gefällt. Allerdings hab ich dich nicht so früh zurück erwartet. Ich hab gedacht, du hältst es dort wenigstens den Sommer über aus.«

»Hab ich auch gedacht«, sagte Atticus. »Ich hab mir überlegt, ob ich es danach in Kalifornien versuchen soll. Aber dann kam das.« Er zeigte George den Brief seines Vaters.

George erkannte sofort die Handschrift auf dem Umschlag. Er nickte wieder. »Montrose hat mich nach deiner Adresse gefragt.«

»Hat er dir gesagt, was er mir schreiben wollte?«

George lachte. »Machst du Witze? Er würde nicht einmal zugeben, dass er dir überhaupt schreibt. Er meinte nur, er bräuchte deine Adresse, ›für alle Fälle‹. Seit du fort bist, war es immer so: Er macht sich Sorgen um dich, will alles erfahren, was ich weiß. Aber er will mich um Himmels willen nicht darauf ansprechen. Wenn wir zum Beispiel über irgendetwas anderes reden, lässt er beiläufig einfließen: ›Ach übrigens, hast du etwas von dem Jungen gehört?‹«

»›Dem Jungen‹.« Atticus zog ein Gesicht.

»Hör mal, wenn er deinen Namen genannt hätte, hätte es geklungen, als sorgte er sich um dich. Dass er überhaupt etwas sagt, ist schon ein Fortschritt. Als du das erste Jahr in Korea warst, wollte er nicht einmal fragen. Er kam zum Abendessen her und wartete darauf, dass ich von mir aus etwas erzählte. Und wenn ich das nicht tat, sagte er überhaupt nichts, ging aber auch nicht heim. Er blieb hier bis zehn, elf, manchmal bis Mitternacht und wartete, dass ich das Gespräch auf dich bringen würde. Das hat mich ganz verrückt gemacht.« George schüttelte den Kopf. »Also, was hat er dir geschrieben?«

»Mom«, sagte Atticus, »er schreibt, dass er herausgefunden hat, woher ihre Familie stammt.«

»Das treibt ihn also immer noch um?«

Dora, Atticus’ Mutter, war das einzige Kind einer unverheirateten Frau. Die Identität ihres Vaters war ein Geheimnis und ein Tabu. Die Familie hatte nichts mehr mit Atticus’ Großmutter zu tun haben wollen, und Dora hatte ihrerseits selten von ihr gesprochen. Von ihren Großeltern mütterlicherseits wusste sie gerade, dass sie in Brooklyn gewohnt hatten und irgendwo aus England stammten.

Montrose, der seine eigene Herkunft fünf Generationen weit zurückverfolgen konnte, hatte geschworen, mehr über Doras Vorfahren herauszufinden. Anfangs, nachdem er Dora kennengelernt hatte, war das als eine Art Liebesgabe gedacht gewesen, aber nach Atticus’ Geburt war die Recherche zu einem rein egoistischen Vorhaben geworden und eines auf der langen Liste von Dingen, über die sich die beiden stritten.

Atticus konnte sich daran erinnern, wie er im Kinderbett lag und hörte, wie die beiden sich zankten. »Wie kann es sein, dass du nichts darüber wissen willst?«, fragte sein Vater immer. »Wo du herkommst, ist doch ein Teil dessen, was du bist. Wie kannst du dir das denn nehmen lassen?«

Und seine Mutter erwiderte dann regelmäßig: »Ich weiß, wohin die Vergangenheit führt. Die Vergangenheit ist ein trauriger Ort. Warum sollte ich Genaueres darüber wissen wollen? Macht es dich denn glücklich, wenn du mehr darüber weißt?«

»Es geht nicht um Glück. Es geht darum, ein vollständiger Mensch zu sein. Du hast ein Recht darauf. Und du hast eine Pflicht.«

»Ich will aber nicht. Bitte, lass es einfach sein.«

Atticus war siebzehn, als die Mutter starb. Am Tag der Beerdigung überraschte er seinen Vater, wie er in der Schachtel mit Andenken kramte und ein Foto von Doras Großeltern herauszog – das einzige Bild, das sie von ihnen besessen hatte. Er löste es aus dem Rahmen, um zu lesen, was auf der Rückseite stand. Um irgendeinen Anhaltspunkt zu finden.

Atticus hatte es seinem verdutzten Vater aus der Hand gerissen. »Lass es sein!«, hatte er gerufen.« »Mutter hat gesagt, du sollst es sein lassen!« Montrose war einen Moment zurückgewichen, hatte sich dann aber gleich wieder gefasst. Noch wütender als sein Sohn, hatte er Atticus einen so heftigen Schlag versetzt, dass der zu Boden ging. Hochaufgerichtet blieb er vor ihm stehen und donnerte: »Sag du mir niemals, was ich zu tun habe, niemals!«

»Natürlich treibt ihn das immer noch um«, sagte jetzt Atticus als Antwort auf Georges Frage. »Aber was ich gerne von dir wissen möchte – du sagst, Dad hat dich verrückt gemacht. Ich frage mich, ob du glaubst, dass er sich am Ende nicht auch selber verrückt gemacht hat.« Er las aus dem Brief vor, hatte aber Schwierigkeiten mit der Handschrift seines Vaters: »›Ich weiß, dass Du wie Deine Mutter meinst, Du könntest verzeihen, die Vergangenheit vergessen. Das kannst Du nicht. Die Vergangenheit lebt, sie ist etwas Lebendiges. Sie gehört Dir, und Du bist ihr etwas schuldig. Jetzt habe ich etwas herausgefunden, etwas über die Vorfahren Deiner Mutter. Du hast ein heiliges, ein geheimes Vermächtnis, ein Geburtsrecht, das Dir vorenthalten worden ist.‹«

»Ein Vermächtnis?«, fragte George. »Meint er eine Erbschaft?«

»Er sagt es nicht direkt. Aber was immer es ist, es hat mit dem Ort zu tun, aus dem die Familie meiner Mutter angeblich kommt. Er schreibt, ich soll nach Hause kommen, damit wir zusammen dorthin gehen und Anspruch auf das erheben können, was mir gehört.«

»Das klingt gar nicht verrückt. Vielleicht ist es nur Wunschdenken, aber …«

»Das Verrückte daran ist nicht das Vermächtnis, es ist der Schauplatz. Der Ort, wo er mit mir hinwill, liegt in Lovecraft Country.«

George schüttelte verständnislos den Kopf.

»Arkham«, sagte Atticus. »Im Brief steht, dass Mutters Vorfahren aus Arkham in Massachusetts stammen. Arkham: Da lebt doch der Leichenreanimator Herbert West, und dort ist auch die Miskatonik-Universität, die die Expedition zur Fossiliensuche in den Bergen des Wahnsinns gesponsert hatte. Der Ort ist doch erfunden, nicht wahr?«

»Ja klar«, sagte George, »Ich glaube, Lovecrafts Vorbild dafür war Salem, aber Arkham ist kein realer Ort … Zeig mir mal den Brief.« Atticus reichte ihn ihm, und George nahm ihn genau in Augenschein, während er nachdenklich den Kopf wiegte. »Es ist ein D«, sagte er schließlich.

»Was?«

»Es heißt nicht Arkham mit K, sondern Ardham mit D.«

Atticus stand auf und schaute über Georges Schulter auf den Brief. »Das soll ein D sein?«

»Aber sicher.«

»Nein, eher noch ein B.«

»Nein, das ist ein D. Ardham, ganz sicher.«

»O Mann!«, seufzte Atticus frustriert. »Weißt du, jemand, der so viel davon redet, wie wichtig Erziehung ist, könnte wenigstens leserlich schreiben!«

»Das ist nicht seine Schuld«, sagte George, »Montrose ist Legastheniker.«

Das war Atticus neu. »Seit wann?«

»Schon immer. Das war ja der Grund, warum er so viel Ärger in der Schule hatte. Na ja, sagen wir, einer der Gründe. Dein Opa Turner hatte das gleiche Problem.«

»Warum weiß ich nichts davon?«

»Du meinst, warum Montrose nie mit dir darüber gesprochen hat?« George lachte. »Find es raus.« Er holte einen Straßenatlas aus einem der Regale, schaute erst hinten im Register nach und schlug die Karte von Massachusetts auf. »Genau, hier ist es.«

Ardham, eingezeichnet als winziger Punkt, der eine Ortschaft mit höchstens zweihundertfünfzig Einwohnern bedeutete, lag im Norden des Staates, direkt unterhalb der Grenze zu New Hampshire. Ein namenloser Zufluss des Connecticut River bildete südlich des Orts eine Schleife; auf der Karte war keine direkte Zugangsstraße vermerkt, obwohl ein State Highway ganz in der Nähe den Nebenfluss überquerte.

»Sorry«, sagte George, während Atticus stirnrunzelnd auf die Karte schaute. »Dein Dad hat nicht den Verstand verloren. Vielleicht hättest du besser angerufen, bevor du den ganzen Weg hierher unternommen hast.«

»Nein, es war sowieso höchste Zeit, einmal nach Hause zu kommen«, sagte Atticus. »Ich glaube, ich gehe mal lieber zu ihm. Muss herausfinden, was das für ein ›Geburtsrecht‹ sein soll.«

»Warte einen Moment …«

»Was denn?«

»Devon County«, sagte George und tippte dabei mit dem Finger auf die Landkarte. »Devon County, Massachusetts, da klingelt was bei mir … Ich frage mich … Vielleicht ist dieses Ardham am Ende doch in Lovecraft Country …«

»Wovon sprichst du eigentlich?«

»Gehen wir runter ins Büro. Ich muss meine Unterlagen durchsehen.«

George hatte den Safe Negro Travel Guide zunächst deshalb herausgebracht, weil er damit für seine Reiseagentur werben wollte, und obwohl der Guide schließlich auch so schon ein finanzieller Erfolg wurde, blieb die Agentur, die jetzt drei Niederlassungen hatte, das Hauptgeschäft und die wichtigste Einkommensquelle.

Jedermann konnte hier Reisen und Tickets buchen, doch als speziellen Service bot die Agentur Hilfe für Neger der Mittelschicht bei Verhandlungen mit den großen Reiseunternehmen, die sie bestenfalls nur widerstrebend als Kunden akzeptierten. Durch seine Kontakte und seine Scouts hielt George seine Unterlagen auf dem Laufenden; er wusste nicht nur, welche Hotels schwarze Gäste aufnahmen, sondern auch, welche Fluglinie und welche Kreuzfahrtgesellschaft aller Voraussicht nach deren Buchungen akzeptierten. Kunden, die ins Ausland reisen wollten, wurden Ziele empfohlen, wo es relativ wenige Rassenvorurteile gab und die, was genauso wichtig war, nicht von weißen amerikanischen Touristen überlaufen waren, denn nichts war frustrierender, als Tausende Meilen gereist zu sein, nur um den gleichen intoleranten Fanatikern zu begegnen, mit denen man es daheim täglich zu tun hatte.

Die Unterlagen wurden in einem Hinterzimmer aufbewahrt. Beim Eintreten knipste George das Licht an und angelte etwas von einem Aktenschrank herunter. »Schau dir das mal an«, sagte er zu Atticus.

Es war ein Straßenatlas, die gleiche Ausgabe wie die im Oberstock, aber dieses Exemplar war ausgiebig mit bunten Zeichnungen illustriert. Atticus erkannte Horace’ Handschrift: Einige der ersten künstlerischen Versuche des Jungen hatten darin bestanden, Straßenkarten mit Karikaturen zu verzieren. Horace war inzwischen richtig gut, und als Atticus den Atlas durchblätterte, ging ihm auf, dass er eine optische Umsetzung des Safe Negro Travel Guide in der Hand hielt.

Gegenden, in denen viele Schwarze lebten wie die South Side von Chicago, waren als strahlende Festung dargestellt. Kleinere Viertel und Enklaven waren mit Türmen oder als Oasen eingezeichnet. Abgelegene Hotels und Motels waren Gasthäuser mit lächelnden Gastwirten. Unterkünfte von Privatpersonen, die Zimmer an schwarze Reisende vermieteten, waren mit Bauernhütten, Baumhäusern oder Hobbithöhlen versehen.

Weniger gastfreundliche Landesteile waren von Ogern und Trollen, Vampiren, Werwölfen, wilden Bestien, Geistern, bösen Zauberern und vermummten weißen Rittern bevölkert. In Oklahoma schlängelte sich ein feuerspeiender weißer Drache um Tulsa herum, die Gegend, aus der Atticus’ Vater und Onkel stammten.

Atticus blätterte bis zu der Seite von Massachusetts. Devon County war mit einem Symbol gekennzeichnet, das er schon an vielen anderen Stellen im Atlas bemerkt hatte: einer Sonnenuhr. Daneben stand ein düsterer Tempelritter mit einer Henkersschlinge und warf seinen Schatten auf den Zeiger der Uhr.

»Victor Franklin«, sagte George, der in seinen Schubladen gekramt hatte, während Atticus im Atlas blätterte. Er schwenkte ein maschinengeschriebenes Blatt Papier, das er aus einem Ordner gezogen hatte.

»Wer?«, fragte Atticus.

»Ein ehemaliger Mitschüler aus Howard. Ich glaube nicht, dass du ihn je kennengelernt hast, aber in den letzten Jahren hat er das Grand-Boulevard-Büro für mich geleitet. Im vergangenen September fuhr er auf Besuch zu seinen Leuten in den Osten zurück, und ich fragte ihn, ob er nicht einen Abstecher durch Neuengland machen könnte, um ein paar neue Adressen für den Guide zu testen.

Unter anderem habe ich ihn nach New Hampshire geschickt. Lester Deering, auch ein Schulfreund, ist dort hingezogen und hat ein Hotel aufgemacht. Es sah so aus, als würde der Laden schon laufen, aber er hatte Schwierigkeiten mit den örtlichen Bauunternehmern und musste die Eröffnung verschieben. An dem Tag, als Victor ihn besuchte, war er gerade in einem Nachbarort auf der Suche nach einem Handwerker, der die Elektroinstallation fertig machen sollte. Victor taucht also auf, sieht, dass das Hotel geschlossen ist, niemand anzutreffen, und als er versucht, ein Zimmer in einem Motel am Ende der Straße zu mieten …«

»Ist kein Zimmer frei.«

»Genau. Nicht für ihn. Da sagt er, zum Teufel damit, und beschließt, wieder runter nach Massachusetts zu fahren und in einer Privatunterkunftzu übernachten. Er fährt also Richtung Süden, und als er die Staatsgrenze überquert, muss er pinkeln. Er hätte zu einer Tankstelle fahren und fragen können, ob er die Toilette benützen darf, aber so wie sein Tag gelaufen war, konnte er sich vorstellen, wie das ausgehen würde. Also fuhr er stattdessen rechts ran und schlug sich ins Gebüsch. Kaum war er aus dem Wagen gestiegen, wurde er nervös. Die Sonne ging gerade unter, seit vielen Meilen war ihm kein einziges Auto begegnet, und seit Boston hatte er keinen Farbigen mehr gesehen. Aber es war dringend, und so ging er eben so weit in den Wald, dass er von einem vorbeifahrenden Fahrzeug aus nicht gesehen werden konnte. Er hatte gerade den Reißverschluss geöffnet, als er hörte, wie weiter hinten im Wald etwas rumorte.«

»Schoggoths?«, fragte Atticus.

George musste lächeln. »Ich glaube kaum, dass Victor gewusst hätte, was das ist, aber seine Gedanken gingen tatsächlich in diese Richtung. ›Es war groß, was auch immer es war‹, hat er mir erzählt, ›und ich war nicht scharf darauf, herauszufinden, wie groß.‹ Also machte er hastig seinen Reißverschluss zu und rannte zur Straße zurück, und da wartete allerdings das echte Monster … Der County Sheriff«, sagte George. »Victor war so konzentriert gewesen auf das, was da draußen im Wald Zweige zertrat, dass er nicht einmal den Streifenwagen vorfahren hörte. Der parkte genau hinter Victors Lincoln. Der Sheriff lehnte an der Motorhaube, in der Hand ein Gewehr. Victor erzählte, er wäre beim Anblick des Gesichts, das der Sheriff machte, am liebsten umgekehrt und weggerannt, und das Einzige, was ihn davon abgehalten habe, sei die Gewissheit gewesen, dass man ihn dann von hinten erschossen hätte. Stattdessen nahm er die Hände hoch und sagte: ›Hallo, Officer, was kann ich für Sie tun?‹ Der Sheriff fing gleich an mit der üblichen Fragerei: Wer sind Sie, woher kommen Sie, weshalb halten Sie hier an? Victor antwortete so respektvoll er konnte, bis der Sheriff ihn unterbrach und sagte: ›Sie erzählen mir also, Sie kommen den ganzen weiten Weg von Chicago, um in meinen Wäldern zu pissen wie irgendein Vieh?‹ Und Victor wollte gerade eine Antwort geben, die ihm nicht gleich einen Schuss mitten ins Gesicht eingebracht hätte, als der Sheriff ihm noch eine Frage stellte: ›Wissen Sie, was ein Sonnenuntergang ist?‹ Victor bejahte, der Begriff war ihm vertraut. ›Okay‹, sagte der Sheriff, ›Sie sind hier in Devon, einem Sonnenuntergangs-County. Wenn ich Sie hier nach Einbruch der Dunkelheit erwische, ist es meine verdammte Pflicht und Schuldigkeit, Sie am nächstbesten Baum aufzuhängen.‹ Und Victor – er sagte, er sei so erschrocken, dass er ganz gefasst gewesen sei, kennst du dieses Gefühl? –, Victor schaute zum Himmel, er konnte die Sonne über den Bäumen nicht sehen, aber es war noch hell, und er sagte: ›Die Sonne ist noch nicht untergegangen.‹ Und dann ist er fast in Ohnmacht gefallen, als er hörte, wie diese Worte aus seinem Mund klangen, als habe er was Freches gesagt … Aber der Sheriff kicherte. ›Nein, noch nicht‹, sagte er. ›Sonnenuntergang ist heute um sieben Uhr neun. Sie haben noch sieben Minuten.‹ ›Na dann‹, sagte Victor, ›wenn Sie mich weiterfahren lassen, bin ich in sechs Minuten aus dem County draußen.‹ ›Aber nicht, wenn Sie nach Süden fahren‹, sagte der Sheriff, ›höchstens, wenn Sie Gas geben. Und wenn Sie zu schnell fahren, sind Sie dran …‹ ›Dann fahr ich nach Norden zurück‹, sagte Victor. ›Das könnte unter Umständen gehen‹, sagte der Sheriff, ›warum probieren Sie’s nicht einfach und schauen, was passiert?‹

Victor hatte eine Heidenangst, dass der Sheriff sein Spielchen mit ihm trieb, um ihm dann eine Kugel zu verpassen, aber bevor er die Wagentür öffnete, fiel ihm noch etwas ein, und er sah zur Straße und dann zum Sheriff und sagte: ›Ist es erlaubt, hier zu wenden?‹ Und da lächelte der Sheriff und sagte: ›Gut, dass Sie gefragt haben. Normalerweise betrachte ich das als Vergehen, aber wenn Sie schön bitte sagen, könnte ich ausnahmsweise ein Auge zudrücken.‹ Victor sagt also ›bitte‹, und der Sheriff spielt noch ein bisschen mehr auf Zeit, überlegt noch einmal und gibt schließlich sein Okay. Victor steigt also in den Lincoln und der Sheriff in seinen Streifenwagen, beide wenden, und Victor fährt knapp unter der erlaubten Geschwindigkeit die Straße zurück und hat die ganze Zeit die Stoßstange des Sheriffs dicht hinter sich. Er schafft es über die Grenze nach New Hampshire etwa dreißig Sekunden vor Sonnenuntergang.«

Diese Geschichte löste bei Atticus alle möglichen Gemütsregungen aus, aber am meisten empfand er Verlegenheit. Seine eigene Begegnung mit dem State Trooper in Indiana hatte ihn aufgewühlt, und dabei hatte der ja nicht einmal die Pistole gezogen. »Und hat der Sheriff ihn gehen lassen?«

»Der Sheriff hielt an der Staatsgrenze. Aber die Straße ging noch eine halbe Meile geradeaus, und als Victor in den Rückspiegel blickte, sah er, wie der Sheriff ausstieg und das Gewehr auf ihn richtete. Er konnte sich gerade noch ducken: Der Sheriff zerschoss das Heckfenster, und die Ladung schlug direkt über dem Lenkrad genau in Augenhöhe ein und zerschmetterte die Windschutzscheibe. Victor hielt den Wagen dennoch auf der Straße und den Fuß auf dem Gaspedal. Er durchquerte noch ein ganzes County und ging mit dem Tempo erst runter, als er sicher war, dass der Sheriff ihn nicht mehr verfolgte. Dann aber zitterte er so heftig, dass er den Lincoln beinahe in den Graben fuhr.«

»Wie hat er es nach Hause geschafft?«

»Über Kanada. Die Grenzer in Quebec hatten ein paar Fragen wegen der Einschusslöcher, aber sie ließen ihn ins Land, und in Montreal konnte er die Scheiben austauschen lassen. Und als er schließlich hierher zurückkam, hat er diesen Bericht geschrieben« – George wedelte wieder mit dem Blatt Papier – »und gemeint, er könne Devon County nicht für eine Aufnahme in den Safe Negro Travel Guide empfehlen.«

»Danke für die Warnung, George«, sagte Atticus. »Aber du weißt, diese Geschichte darf ich nicht Dad erzählen. Da würde er erst recht hinfahren wollen.«

»Ja klar, ich weiß. Ich würde ihm auch nichts von den Schoggoths erzählen.«

Atticus’ Vater reagierte nicht auf das Klingeln an seinem Mietshaus. Atticus läutete noch einmal, und Mrs Frazier, die Vermieterin – die mit zweiundachtzig noch immer jede Stecknadel hörte, die auf ihren Grund und Boden fiel –, kam heraus. Wie George begrüßte auch sie Atticus mit einer herzlichen Umarmung, aber als sie mit dem ganzen Theater fertig war, erklärte sie, sein Vater sei seit fast einer Woche nicht nach Hause gekommen. »Er ist mit einem Weißen weggegangen, letzten Samstag, kurz vor Einbruch der Dunkelheit.«

»Mit einem Weißen?«, fragte Atticus. »Sie meinen, mit einem Polizisten?«

»Nein, ich glaube nicht«, sagte Mrs Frazier. »Er trug keine Uniform und sah auch ein bisschen zu jung aus für einen Polizisten. Und er fuhr einen sehr schicken Wagen – silberfarben und mit getönten Scheiben. So einen hab ich noch nie gesehen.«

»Hat der Mann seinen Namen genannt?«

»Nein, und dein Vater hat ihn auch nicht vorgestellt. Aber er hat mir gesagt, du kämst bald nach Hause und wüsstest, wo du ihn finden kannst.«

»Mrs Frazier, sah mein Vater … okay aus?«

»Du weißt ja, dein Vater … Ich würde nicht sagen, dass er wirklich guter Laune war, aber so wenig zornig hab ich ihn in Gegenwart eines Weißen noch niegesehen.«

Atticus lieh sich von Mrs Frazier einen Ersatzschlüssel und öffnete die Wohnung im zweiten Stock. Er blieb auf der Schwelle stehen, und wieder fielen ihm die veränderten Größenverhältnisse auf, an die er sich erst noch gewöhnen musste; die Wohnung war noch nie geräumig gewesen, jetzt aber fühlte er sich beengt und bekam beinahe Platzangst. Im vorderen Zimmer stand das zum Bett aufklappbare Wundersofa, in dem Atticus immer geschlafen hatte, und das von Montrose selbst zusammengebastelte Frankenstein-Victrola; in die antike Musiktruhe, die vor den Flammen gerettet worden war, als in Tulsa die Rassenunruhen ausbrachen, hatte er einen modernen Plattenspieler, einen Radioempfänger und Lautsprecher eingebaut. Atticus sah sich mit neuen Augen die Schallplatten seines Vaters an, die die Wandregale füllten. Die Sammlung enthielt nicht nur Musik, sondern auch Sprechplatten: Reden, Vorlesungen, Hörspiele.

Atticus war überrascht, ein Fernsehgerät vorzufinden. Sein Vater hatte sich lange dagegen gewehrt mit dem Argument, er würde sein Geld bis zu dem Tag aufsparen, wenn Neger ihre eigenen Sender hätten. Vielleicht bot Popular Mechanics jetzt einen Bausatz zum Selbermachen an.

Er wendete sich um und betrat den schmalen Gang, der an der winzigen Küche und dem Bad vorbei zum Schlafzimmer der Eltern ganz hinten führte. In zwei schmalen Wandschränken ohne Türen waren zusätzliche Regalbretter eingebaut. Ein paar dieser Bretter waren mit Atticus’ Name beschriftet, aber alles, was ihm gehört hatte, war weg – fortgeworfen. Montrose hatte damit seine Drohung wahrgemacht, ausgesprochen, als Atticus seine Absicht ankündigte, zur Armee zu gehen. Atticus hatte schon vorher seine wenigen kostbaren Habseligkeiten George zur Aufbewahrung gegeben und war locker mit der Drohung umgegangen. Als sein Vater handgreiflich geworden war, hatte Atticus auch das weggesteckt und sich geschworen, dass Montrose sich zum letzten Mal an ihm vergriffen hatte.

Aber zu der großen Auseinandersetzung kam es erst später, im Sommer 1951, als Atticus nach seinem ersten Einsatz auf Urlaub zu Hause war. Es war genug Zeit vergangen, und sowohl Atticus als auch sein Vater bedauerten zumindest einen Teil von dem, was gesagt und getan worden war. Es gab keine förmliche Versöhnung und natürlich keine gegenseitigen Entschuldigungen, aber als Atticus eines Morgens überraschend an der Tür seines Vaters erschien, ließ Montrose ihn herein, und allein dies sprach schon Bände.

Ihr inoffizieller Waffenstillstand hielt nicht einmal einen Tag. Am selben Abend bekam Atticus einen Anruf von einem Reporter des Chicago Defender, der ihn für eine Reihe von Kurzporträts schwarzer Soldaten interviewen wollte. Atticus fühlte sich geschmeichelt, aber Montrose ging an die Decke, als er das hörte. »Was ist los mit dir?«, sagte er. »Schlimm genug, dass du dein Leben für ein Land aufs Spiel setzt, das dich hasst, und jetzt willst du auch noch andere junge Männer dazu anstiften, die gleiche Dummheit zu begehen?«

Diesmal kam es schneller zu Schlägen, und Atticus war ausnahmsweise einmal entschlossen gewesen, Paroli zu bieten. Atticus sah im hinteren Schlafzimmer immer noch die Schrammen im Verputz, wo er und sein Vater bei der Schlägerei gegen die Wand gekracht waren. Erstaunlicherweise war es Montrose gewesen, der den Kampf abgebrochen hatte, genau in dem Moment, bevor sie einander ernstlich verletzen konnten. Atticus war fortgegangen und hatte sich geschworen, nie wieder zurückzukommen, hatte aber als Geste der Beschwichtigung die Telefonnummer des Reporters zurückgelassen und war weder damals noch später zu einem Interview über seinen Militärdienst bereit gewesen.

»Ach, Papa«, sagte Atticus jetzt und seufzte. Er strich sich mit der Hand über den Kopf und schaute auf das Bett. Er war versucht, sich hinzulegen, ging aber stattdessen in die Küche, um ein Glas Wasser zu trinken. Da erst bemerkte er einen Zettel an der Kühlschranktür. Auf den Papierschnipsel war nur ein einziges Wort gekritzelt. Inzwischen erkannte Atticus das D, aber im Geist hörte er immer noch den Namen dieser anderen Stadt, die nur in Lovecraft Country existierte.

Er rief George an. »Fährst du ihm hinterher?«, fragte George.

»Ich glaube, ich muss.«

»Gut, ich komme mit.«

»Bist du sicher?«

»Na klar. Wir können Woody nehmen.« Woody war Georges Kombiwagen, ein 22er Packard mit Birkenholzausstattung und -seitenverkleidung. »Gib mir fünf Stunden, um jemanden zu finden, der auf Horace aufpasst und sich noch um ein paar Sachen kümmert.«

»In Ordnung«, sagte Atticus, »aber hör zu, George, weißt du, wen ich in der Zwischenzeit fragen könnte, der mir vielleicht etwas zu dem weißen Typ sagen kann, mit dem Papa weggegangen ist?«

»Du kannst es mal drüben bei den Brothers versuchen. Wenn er tatsächlich seit Sonntag weg ist, muss er sich dort freigenommen haben, sonst hätten sie mich angerufen und gefragt, wo er ist.«

Der Garvey Brothers Print Shop, der eigentlich den Garfields, einem jüdischen Ehepaar, gehörte, besorgte alle Druckarbeiten für Georges Reiseagentur, einschließlich der Ausgaben des Safe Negro Travel Guide. Montrose arbeitete für die Brothers als Techniker, war für Wartung und Betrieb der Pressen zuständig und brachte gelegentlich die beiden Lieferwagen der Druckerei auf Vordermann.

Atticus fuhr hinüber und sprach mit dem Mann, der am Wochenende die Aufsicht hatte. Der bestätigte, dass Montrose vorzeitig seinen zweiwöchigen Urlaub genommen und erklärt hatte, es gehe um eine dringende Familienangelegenheit. Von einem Weißen wusste der Mann allerdings nichts.

Mehr Glück hatte Atticus im Denmark Vesey’s, der Bar, in die sein Vater manchmal nach der Arbeit ging. Charlie Boyd, der diensttuende Barmann, hatte zehn Tage zuvor Spätschicht gehabt, als ein Weißer in die Bar gekommen war – ein seltenes Ereignis, denn Vesey’s war die Sorte Lokal, in das die meisten Weißen nur gingen, wenn sie auf Ärger oder Schutzgeld aus waren.

»Der Typ war Anfang zwanzig«, sagte Charlie, »braunes Haar, blaue Augen, schick angezogen. Ich glaube nicht, dass er ein Bulle war, aber er benahm sich so, als könnte er ganz einfach hier hereinschneien. Und er hatte keine Angst vor Tree.« Tree war der Türsteher, fast zwei Meter groß und so schwarz, dass selbst andere Neger manchmal wie Weiße zweimal hingucken mussten.

»Und der Typ hat mit meinem Vater geredet?«

Charlie nickte. »Ist direkt auf ihn zugegangen. Und du kennst ja deinen Vater, der fragt ja sonst: ›Wer zum Teufel bist denn du?‹, aber dieser Typ sagt ›Mr Turner? Wir haben miteinander telefoniert‹, und reicht ihm eine Visitenkarte.« Charlie zuckte die Achseln. »War vielleicht ein Anwalt. Vielleicht konnte er sich deshalb dieses Auto leisten.«

»Du hast gesehen, was für ein Auto er fuhr?«

»Tree hat’s gesehen. Silberner Sedan-Viertürer mit getönten Scheiben. Tree konnte nicht das Fabrikat erkennen, vermutet aber, es war ein ausländischer Wagen. Und richtig teuer.«

»Worüber haben die beiden gesprochen?«

»Das weiß ich nicht. Nachdem er deinem Dad seine Karte gegeben hatte, haben sich beide in eine Nische gesetzt. Sie haben sich etwa eine Viertelstunde unterhalten, dann ist der Weiße aufgestanden und weggegangen. Dein Dad blieb noch eine Weile sitzen, trank aus und ging dann auch. Das war das letzte Mal, dass ich ihn hier gesehen habe.«

»Und wann war das?«

»Vorletzten Mittwochabend.«

Montrose’ Brief an Atticus war am darauffolgenden Tag abgestempelt worden. Aber irgendwann zwischen Donnerstag und Sonntag hatte Atticus’ Vater beschlossen, nicht auf eine Antwort zu warten, und war mit dem Fremden weggegangen.

Immer noch darüber rätselnd, ging Atticus in die Wohnung zurück. Wieder übermannte ihn Erschöpfung, und diesmal gab er ihr nach, ließ sich auf das Bett im Zimmer seines Vaters fallen und döste bis zum Nachmittag.

Das Telefon weckte ihn auf. Es war George, der ihm mitteilte, er habe noch etliche Besorgungen zu machen, sei aber gegen sechs startbereit. Atticus legte den Hörer auf und untersuchte den Kühlschrank, fand jedoch unter den wochenalten Resten nichts, was zu essen er Lust gehabt oder sich getraut hätte; dann schlenderte er gähnend ins Wohnzimmer, trat gemächlich ans Fenster und zog die Vorhänge auf.

Die Bewohner dieses Blocks gehörten überwiegend zur Mittelschicht und strebten eifrig danach, am amerikanischen Traum vom guten Leben teilzuhaben. Bei der Verfolgung dieses Ziels waren sie oft enttäuscht worden und gaben deshalb ihre hartverdienten Dollar aus, wo und wie sie konnten: für Möbel und allerlei Schnickschnack für ihre allzu kleinen Wohnungen; für feine Klamotten und für die Theater und Nachtclubs, die ihnen Zutritt gewährten; und für Luxusautos, die, wenn man damit schon nicht gefahrlos durch die Gegend fahren konnte, zumindest ein am Bordstein geparktes Statement waren.

Aber selbst in dieser Straße voller Cadillacs fiel der an der Ecke geparkte Wagen auf, der eine ganz andere Liga des Wohlstands erkennen ließ. Schnittig, flach und irgendwie unheimlich, ein Wagen, der bestimmt nach einem Raubtier benannt worden war. Die silbrige Außenhaut und die Chromleisten warfen das Licht der Nachmittagssonne winterlich kühl zurück. Die Scheiben wirkten nicht einfach getönt, sondern abgedunkelt – ein scheinbar kompaktes Schwarz, das keinerlei Hinweis darauf gab, wer oder was sich in seinem Inneren befinden mochte.

Atticus war nicht der Einzige, dem der Wagen auffiel. Ein paar Jungen auf dem Gehsteig blieben mit offenem Mund daneben stehen. Einer von ihnen streckte die Hand aus, um darüberzustreichen, doch als seine Finger die Karosserie berührten, jaulte er auf und zog die Hand ruckartig zurück. Die anderen lachten. Nach ein paar weiteren kühnen Versuchen wagte sich ein anderer Junge vor, legte die flache Hand auf die Motorhaube … und sprang schreiend zurück. Die Jungen rannten lachend, aber doch von Panik erfüllt, davon.

Auch Atticus setzte sich in Bewegung. Rasch zog er Hemd, Hose und Schuhe an und rannte die Treppe hinab. Es konnten nicht mehr als zwei Minuten vergangen sein, aber als er auf dem Gehweg anlangte, war der silberne Wagen verschwunden. Vergeblich schaute er sich auf der Straße um, dann starrte er auf die leere Stelle, wo der Wagen gestanden hatte, und fragte sich, ob er das nur geträumt hatte.

Als Atticus bei George eintraf, stand da eine kleine, schlanke Frau in einem leichten Sommerkleid und hielt an dem Packard Wache.

»Letitia? Letitia Dandridge?«

»Atticus Turner«, sagte Letitia mit gespielter Enttäuschung angesichts seiner Unsicherheit, denn sie selbst hatte ihn schon von weitem gesehen und sofort wiedererkannt. Doch dann lachte sie und breitete die Arme aus.

Die Geschwister Dandridge waren in einem ärmeren Teil des Viertels aufgewachsen, westlich der State Street. Ruby, Letitias ältere Schwester, hatte oft auf den kleinen Atticus aufgepasst, und ihr Bruder Marvin hatte einen Teilzeitjob in der Reiseagentur gehabt. Letitia, ein Jahr jünger als Atticus, war eine Zeitlang das einzige weibliche Mitglied im South-Side-Science-Fiction-Club, der sich nach der Schule in Georges guter Stube traf. Nach einer Weile hatte Mrs Dandridge dem ein Ende gemacht und darauf bestanden, dass Letitia damit aufhörte und wie ihre Geschwister ihren Lebensunterhalt verdiente; danach hatte Atticus sie nur noch selten gesehen.

»Titia Dandridge«, staunte er. »Was hast du denn so getrieben?«

»Ach, weißt du, das Gleiche wie du. Hab mich in der Welt rumgetrieben und allerhand erlebt.«

»Wirklich?« Er lächelte. »Hoffentlich war’s nicht so schlimm wie bei mir.«

Sie zuckte mit den Achseln. »Ich könnte dir so manche Geschichte erzählen.«

»Und jetzt bist du also wieder hier?«

Letitia nickte. »Hast du gehört, dass Mama letztes Jahr gestorben ist?«

»Ja, ich glaube, Onkel George hat es in einem Brief erwähnt. Mein Beileid.«

»Ja, ich habe ihre Beerdigung versäumt«, sagte sie in einem Ton, als hätte sie einen Bus verpasst, so jedenfalls kam es Atticus vor. »Ich glaube, Mama war ziemlich wütend auf mich deswegen. Ich hatte da eine echt schlimme Pechsträhne.«

Atticus ließ sich nichts anmerken. Mrs Dandridge hatte in einem Schönheitssalon gearbeitet, aber ihr eigentliches Geschäft hatte darin bestanden, die Zukunft vorherzusagen und Menschen mit ihren toten Verwandten in Verbindung zu bringen – Talente, die ihr durch ein ominöses Pfingstler-Abkommen mit Jesus beschert worden waren. Atticus war sich nicht sicher, was er von alldem halten sollte, aber er wusste, dass Letitia fest daran glaubte. »Du bist also zurückgekommen, um … deinen Frieden mit ihr zu machen?«

»Eher deshalb, weil ich kaum eine andere Wahl hatte«, sagte Letitia. »Ich wohne mit Ruby zusammen, bis mir etwas Neues einfällt. Sie meint, ich soll eine Stelle als Dienstmädchen in der North Side annehmen, aber das kommt überhaupt nicht in Frage …«

»Und was machst du dann hier? Hat George dich gebeten, auf Horace aufzupassen?«

»Nein, Ruby kümmert sich um Horace. Ich komme mit euch mit.«

»Ach ja?«

»Nur für einen Teil des Wegs«, sagte George. Er kam mit einer schweren Einkaufstüte und einem Pack Wasserflaschen aus dem Gebäude und steuerte auf den offenen Kofferraum des Packard zu. »Wir bringen Letitia zu ihrem Bruder nach Springfield, Massachusetts. Von dort sind es nur noch fünfzig Meilen bis Ardham. Da verschnaufen wir ein wenig und suchen dann Montrose.«

»Wissen wir, wie man nach Ardham kommt?«, fragte Atticus.

»Auch deshalb halten wir bei Marvin. Er arbeitet jetzt für die Springfield Afro-American, und ich habe ihn gebeten, ein paar Erkundigungen für uns einzuziehen. Er besorgt uns eine Karte von Devon County und schaut, was er sonst auftreiben kann.«

Nachdem er Lebensmittel und Wasser verstaut hatte, schaute George auf seine Checkliste und hakte die Posten ab: Matratzen, Kissen, Decken; Ersatzreifen und Montiereisen; Ersatzkanister Benzin; Warnleuchten; Verbandskasten; Taschenlampen; etwas zum Lesen … »Sieht aus, als hätten wir alles beisammen«, sagte er abschließend. »Ich fahre die erste Etappe. Wer will sonst noch vorne sitzen?«