Mirage - Matt Ruff - E-Book

Mirage E-Book

Matt Ruff

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Beschreibung

Jetzt als eBook Das Attentat erschüttert die Vereinigten Arabischen Staaten bis ins Mark: Am 9.11.2001 fliegen zwei Flugzeuge in die Türme des Welthandelszentrums von Bagdad, ein drittes ins arabische Verteidigungsministerium in Riad, ein viertes stürzt in der Wüste ab. Die wirtschaftliche Supermacht sagt dem Terror den Kampf an und besetzt die Ostküste von Amerika – ein Entwicklungsland und die mutmaßliche Heimat der Terroristen. Doch acht Jahre später behauptet ein verhafteter Attentäter Unglaubliches: In Wahrheit seien nicht die Arabischen Staaten die Großmacht, sondern Amerika!  

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Matt Ruff

Mirage

Roman

Deutsch vonGiovanni und Ditte Bandini

Für meine Eltern

Wen Gott bestrafen will,dem erfüllt Er einen Wunsch.

Amerikanisches Sprichwort

Dies ist der Tag, der die Welt verändert.

Es ist der 21. Scha’ban des Jahres 1422 nach der Hijra. Beziehungsweise laut dem internationalen Handelskalender: der 9. November 2001. Sonnenaufgang ist in Bagdad um 6 Uhr 25. Als die ersten Strahlen auf die Tigris-und-Euphrat-Zwillingstürme fallen, steht ein alter Mann im Hauptspeisesaal des Restaurants »Fenster zur Welt« und blickt hinaus auf die Stadt. Der morgendliche Pendlerverkehr ist bereits in vollem Gang, die Schnellstraßen aus Falluja, Samarra, Baquba und Kerbela sind eine einzige Blechlawine. Auf der anderen Seite des Tigris zieht der Basra-Express eine Schleife um das ehemalige Gelände der Weltausstellung und fährt kurzzeitig parallel zur Sadr-Stadt-Hochbahn, bevor beide Züge in den Tunnel zum unterirdischen Hauptbahnhof abtauchen. Auch auf dem Fluss herrscht reger Verkehr: Passagier- und Frachtschiffe, Wassertaxis, Rennboote der Rudermannschaft der Uni Bagdad, die Tragflügelfähre aus Kut. Während er auf all das hinabblickt, befällt den alten Mann ein Schwindel, der jedoch nichts mit Höhenangst zu tun hat. Es muss die Bewegung sein, sagt er sich, die rastlose Bewegung der Großstadt, die durch die Stoßzeit noch intensiviert wird.

Der alte Mann ist im Jemen aufgewachsen. Seine Familie besaß eine Bäckerei, und er und seine Brüder arbeiteten alle dort. Es war schwere Arbeit, mit langen Arbeitszeiten, aber fünfmal am Tag hörte jede Tätigkeit auf, Mitarbeiter wie Kunden verließen den Laden, um zur Moschee zu gehen, und es blieb lediglich ein Christ zurück, der die Öfen im Auge behielt. Und nicht nur die Gewerbebetriebe der Stadt machten dicht: Ein Beobachter aus der Vogelperspektive hätte gesehen, dass dann auch die Straßen wie ausgestorben waren, selbst der Fernverkehr stoppte zu den Gebetszeiten.

Bagdad, die Stadt der Zukunft, stoppt hingegen für nichts und niemanden. Wenn der alte Mann hier zum Morgengebet die Küche verlässt, bleiben nicht nur Christen an ihrem Arbeitsplatz: Der Moscheenbesuch schwankt hier stark, als müsste man sich nach den Forderungen der Welt und nicht nach denen Gottes richten. Hier fließt der Verkehr rund um die Uhr und lässt sich nur von Unfällen und Staus aufhalten. Kein Wunder, dass ihn der Anblick verwirrt und dieses Flattern in seiner Brust und dem inneren Ohr hervorruft, das ihm sagt: Das ist nicht der Ort, für den du geschaffen wurdest. Denn ehrlich, was sonst könnte es bedeuten?

Jemand ruft ihn aus der Küche. Höchste Zeit, wieder an die Arbeit zu gehen. Es muss noch ein Schwung Gebäckteilchen raus, bevor um sieben der Frühstücksdienst beginnt, und anschließend fangen die Vorbereitungen für das Mittagessen an.

Ein Hubschrauber knattert an den Fenstern vorüber. Die Sonne steigt allmählich höher am von Kondensstreifen durchzogenen Himmel. Auch die Himmelssphären sind in Bewegung.

7 Uhr 15. In einem nur wenige Blocks von den Zwillingstürmen entfernten Sendestudio tritt die Bürgermeisterin von Bagdad, Anmar al-Maysani, in der Morgen-Talkshow ›Jazira und Freunde‹ auf. Das heutige Thema ist die in die Höhe schießende Mordrate: Seit Januar sind in Bagdad 463 Menschen getötet worden, und man rechnet damit, dass die Gesamtzahl bis Ende des Jahres die Fünfhundert überschreiten wird. Es ist die schlimmste Welle der Gewalt, die die Stadt seit den Bandenkriegen der frühen Neunzigerjahre erlebt hat, sodass die Bürgermeisterin einige Erklärungen schuldig ist.

Nachdem sie als eine »bekannte Feministin« vorgestellt worden ist, hat Anmar al-Maysani sich darauf gefasst gemacht, die ihr zustehende Redezeit mit Diskussionen darüber zu verbringen, ob man bestimmte Berufe nicht vielleicht doch besser Männern überlassen sollte. Darum ist sie überrascht, dass die erste Frage des Talkmasters ein völlig anderes Thema betrifft.

»Frau Bürgermeisterin, viele sind davon überzeugt, die steigende Gesetzlosigkeit, die wir gegenwärtig erleben, sei die unausweichliche Folge der Säkularisierung unserer Gesellschaft. Was wir bräuchten, sei ein neues Erwachen, eine Abkehr von der Moderne und eine Rückbesinnung auf traditionelle, religiöse Werte. Was sagen Sie dazu?«

»Nun«, erwidert die Bürgermeisterin, »als Erstes könnte ich sagen, dass Gott groß und nichts so wichtig ist wie das Ringen um ein gerechtes Leben. Wenn unsere Bürger dazu inspiriert werden, sich aufs Neue diesem Streben zu widmen, so ist es das Beste, was aus dieser unseligen Situation resultieren könnte. Allerdings sehe ich nicht den Zusammenhang, den Sie zwischen sogenannter Säkularisierung und Gesetzlosigkeit herzustellen versuchen. Wenn Sie die Statistiken aufmerksam durchlesen, werden Sie feststellen, dass die steigende Mordrate mit einer Zunahme des organisierten Verbrechens einhergeht. Wenn Menschen in ihrem Streben nach illegalen Profiten zur Gewalt greifen, besteht das Problem nicht in ihrer mangelnden Hingabe an Gott; das Problem ist die Tatsache, dass sie Gangster sind.«

Ein Räuspern vonseiten des anderen Gastes der Talkshow, des Herausgebers des ›Bagdad-Herolds‹, erregt die Aufmerksamkeit des Talkmasters.

»Herr Aziz? Möchten Sie das kommentieren?«

»Nun, ich bin ja nur ein minderwertiger Christ«, sagt Tariq Aziz, »und ich würde mich nicht im Traum erdreisten, meinen muslimischen Brüdern und Schwestern einen Vortrag über das Ringen um Gerechtigkeit zu halten – aber wenn Menschen sich dazu entschließen, Gangster zu werden, so würde ich das als ein deutliches Zeichen dafür ansehen, dass es mit ihrer Hingabe an Gott nicht allzu weit her ist …«

»Was ist Ihre Meinung dazu, Frau Bürgermeisterin?«

»Wenn Tariq Aziz sich für einen minderwertigen Christen hält, so werde ich ihm nicht widersprechen«, erklärt darauf Anmar al-Maysani. »Aber vielleicht würde es Herrn Aziz nicht schaden, sich auf einen Vers aus den Psalmen Davids zu besinnen: ›Den Bösen will ich nicht kennen.‹ Und auch die dreiundsechzigste Sure des Heiligen Korans enthält mehrere Verse, die ich ihm ebenfalls ans Herz legen könnte …«

»Ich würde der Bürgermeisterin empfehlen, sich anzuschauen, was der Gesetzgeber zum Thema ›üble Nachrede‹ zu sagen hat«, gibt Aziz zurück.

»Es ist mir mehr als recht, wenn wir auf das Gesetz zu sprechen kommen«, entgegnet die Bürgermeisterin. »Nur durch Wahrung des Gesetzes werden wir, so Gott will, dieses Problem lösen.«

»Doch das wirft ein weiteres Problem auf, nicht wahr?«, sagt der Moderator. »Mittlerweile repräsentieren Sie in dieser Stadt nun schon seit mehreren Jahren das Gesetz. Und dennoch ist die Situation nur noch schlimmer geworden.«

»Stimmt, in letzter Zeit hat sie sich verschlimmert, aber …«

»Ja, genau, in letzter Zeit: gerade nachdem der Stadtrat Ihnen weitreichendere Vollmachten eingeräumt hat. Manche könnten dies als Zeichen dafür werten, dass man Ihnen zu viele Vollmachten eingeräumt hat … dass Sie der Verantwortung Ihres Amtes nicht gewachsen sind. Und manche könnten noch weitergehen und erklären, dass Gott dem Maß an Verantwortung, das eine Frau auf sich zu nehmen vermag, eine natürliche Grenze gesetzt hat und dass Sie versucht haben, diese Grenze zu überschreiten – mit vorhersehbaren Folgen. Frau Bürgermeisterin … Wie denken Sie darüber?«

7 Uhr 59. Unten am Fluss ist es Zeit für eine weitere Runde im Krieg gegen die Drogen: Ein junger Bootsführer, der gerade an einem Pier unter der Brücke des 14. Juli festgemacht hat, sieht sich plötzlich nicht von den Schmugglern, die er erwartet hatte, sondern von uniformierten Beamten der Halal-Behörde umzingelt.

Samir, der Einsatzleiter, hat den Körperbau eines Bodybuilders.

»Ehe du mich anlügst«, sagt er und wedelt mit einem warnenden Finger vor dem Gesicht des Jünglings, »möchte ich, dass du über Folgendes nachdenkst. Wir wissen, dass dein Name Khalil Nufan ist, dass du hier anlegen wirst und worin deine Fracht besteht. Und wir wissen, dass du einen Onkel namens Ziad hast, der bis über beide Ohren in Spielschulden steckt. Das alles wissen wir. Und darum frag dich selbst: Was wissen wir noch?«

Der Junge blinzelt langsam. Sein Gesichtsausdruck verrät, dass mit seinem IQ kein Blumentopf zu gewinnen ist. Darum klingt seine Antwort auch so, als würde er von einem Spickzettel ablesen.

»Ich transportiere Obst.«

»Genau.« Ein anderer Beamter ist ins Boot gestiegen und rüttelt an einem Stapel Kartons, die laut Aufschrift Bananen enthalten. »Heute früh muss es draußen auf dem Wasser ja sehr kalt gewesen sein«, witzelt er, als er ein verräterisches Klirren hört, und reißt dann einen der oberen Kartons auf. Er holt eine Flasche heraus. »Sieh sich das einer an: gefrorenes Obst in Form einer Weinflasche.«

Der Bootsführer blinzelt daraufhin etwas schneller und weicht auf eine Alternativgeschichte aus.

»Der ist für die Juden. Für die Hauptsynagoge.«

Samir lacht. »Hörst du das, Isaak?«, sagt er zu dem Beamten auf dem Boot. »Dein Oberrabbiner schmuggelt mal wieder Wein.«

»Ach, was soll ich sagen, ich finde das ja auch zum Kotzen, wenn er das tut«, erklärt Isaak grinsend.

Der Einsatzleiter richtet seine Aufmerksamkeit wieder auf den Jungen. »Warum sollten Juden Wein schmuggeln, wenn sie ihn ganz legal importieren können?«

»Um … um … Steuern zu sparen …«

»Wie, wegen ein paar Rial riskieren die es, ins Kittchen zu wandern?«

»Sie sind Juden!«

Darauf brechen alle Beamten in Gelächter aus. Isaak zerschneidet die Stanniolkappe der »Wein«-Flasche und entkorkt sie. Er schnüffelt, führt dann den Flaschenhals an den Mund.

»Und?«, fragt Samir.

»Ein guter schottischer Jahrgang.« Isaak tut einen zweiten, noch kräftigeren Zug aus der Flasche. »Um die achtzig Volumenprozent, würde ich sagen.«

»Achtzig was?« Hier lässt der einstudierte Text den Bootsführer im Stich. »Was bedeutet ›Volumenprozent‹?«

»Das ist Schnaps, du Arschloch«, erklärt ihm Samir. »Ein Kapitalverbrechen. Genauer gesagt, ein mehrfaches Kapitalverbrechen, wenn wir jeden Karton als einzelne Lieferung werten. Wie viele Kartons sind’s, Isaak?«

»Mindestens vierzig. Und wie es aussieht, sind in jedem Karton zwei Dutzend Flaschen, wenn du also ein wirklich harter Hund sein willst, könntest du die doppelt zählen.«

Samir stößt einen Pfiff aus. »Achtzig Fälle von Verstoß gegen das Alkoholgesetz … Und das bei einer Mindeststrafe von fünf Jahren pro Verstoß … Du bist wahrscheinlich nicht sonderlich gut in Kopfrechnen, aber hast du eine Ahnung, wie total im Arsch du damit bist?«

»Das ist Wein! Das haben die mir gesagt …«

»Wer ›die‹? Hey!« Samir packt ihn am Kinn. »Sieh mich an! Wer hat dich angeheuert?«

»Niemand … Die Juden.«

»Die Juden!« Samir schnaubt angewidert. Ohne das Kinn des Jungen loszulassen, tritt er dicht an ihn heran. »Achtzig Fälle von Alkoholschmuggel. Das ist so gut wie lebenslänglich, kapiert?«

»Ich … ich …«

»Ja, fang an zu flennen! Das wird dir garantiert helfen, da, wo du hinkommst …« Samir rückt noch näher heran, als wollte er ihn küssen, und dämpft seine Stimme zu einem verführerischen Flüstern. »Du hast schöne Augen, weißt du das? Deine Mithäftlinge in Abu Ghraib – ich wette, die werden ganz verrückt nach diesen Augen sein …«

8 Uhr 23. Auf dem Internationalen Flughafen Bagdad haben sich zwei Agenten des Arabischen Bundesamts für Ermittlung auf dem Dach des Kontrollturms einen Beobachtungsposten eingerichtet. Gegenstand ihres Interesses ist ein palastartiges Anwesen auf einer Insel in einem östlich von ihnen gelegenen künstlichen See. Ein von bescheideneren Villen gesäumter Damm verbindet die Insel mit dem Festland, und vom Kontrollturm aus kann man hervorragend die Nummernschilder der Fahrzeuge auf der Dammstraße erkennen.

Während Rafi das Anwesen durch ein Teleskop mit daran angeschlossener Kamera beobachtet, plaudert Amal mit einem Flughafenmanager, der sie aufs Dach geführt hat. Vorgeblich geht es in dem Gespräch um einen Ring von Gepäckdieben, doch vermutlich ist der Mann lediglich auf die private Telefonnummer der ABE-Agentin aus.

»… Perser mit gefälschten Arbeitsvisa«, erklärt er gerade. »Die schleichen sich durch das Marschland über die Grenze und besorgen sich beim örtlichen Gaunergesindel falsche Papiere.«

»Perser.« Amal versteht den Subtext auf Anhieb. Dem südlichen Akzent nach zu schließen, stammt der Mann von der Golf-Halbinsel, und da Amal und Rafi Bundesagenten sind, geht er offenbar davon aus, dass sie aus Riad kommen und damit Sunniten sind und keine nichtsnutzigen Perser oder Marsch-Iraker, die allesamt Schiiten sind. »Wissen Sie, wir kennen den Obergauner hier recht gut«, sagt sie und zeigt auf das See-Anwesen, »und ich muss Ihnen sagen, dass er sich nicht allzu viel aus Persern macht. Oder den Leuten aus dem Marschland.«

»Das ist nicht der Gauner, von dem ich rede. Er ist ein Halunke, das stimmt. Aber die wirklichen Verbrecher, um die Sie sich kümmern sollten, sitzen im Rathaus.«

Amal gibt sich verblüfft. »Wollen Sie damit sagen, der Stab der Bürgermeisterin von Bagdad sei korrupt?«

»Dieses inkompetente Frauenzimmer stammt doch aus demselben Sumpf, durch den sich die Perser ständig ins Land schleichen! Also, was sagt Ihnen das?« Der Manager hält kurz gebannt inne, da die Brise eine lose Strähne von Amals Haar erfasst. »Wissen Sie«, fährt er dann fort, »irgendwie sehen Sie ihr ein bisschen ähnlich.«

»Na, wenn das kein Kompliment ist!«

Der Manager lächelt. »Ich habe gesagt, dass sie korrupt und inkompetent ist – nicht hässlich! Und zudem sind Sie viel jünger als sie.«

»Stimmt«, entgegnet Amal trocken. »Sogar jung genug, um ihre Tochter zu sein.« Im selben Moment hört sie hinter sich ein Geräusch, das sie im ersten Moment für Rafis Kichern hält, aber tatsächlich das Klicken des Kameraverschlusses ist. Rasch dreht sie sich um. »Tut sich was?«

»Einer der Söhne macht sich vom Acker«, sagt Rafi. »Udai, glaube ich.«

Amal tritt neben ihn. Ein gelber Sportwagen hat gerade das Anwesen verlassen und rast die Dammstraße entlang.

»Ja, das ist Udai. Qusai fährt den roten.« Amal nickt und wendet sich dann wieder zum Flughafenmanager, der noch immer auf eine Weise grinst, die sie wünschen lässt, sie hätte sich ein größeres Kopftuch umgebunden. »Entschuldigen Sie. Wie auch immer …«

»Aber ich bitte Sie«, unterbricht sie der Mann, »ich sehe doch, Sie sind beschäftigt. Vielleicht … könnten wir uns später weiter unterhalten?«

Amal muss sich schwer zusammenreißen, um nicht die Augen zu verdrehen. »Ich sag Ihnen was. Warum geben Sie mir nicht Ihre Karte, und ich sehe dann, ob ich …«

Er greift schon nach seiner Brieftasche, aber im selben Moment klingelt sein Mobiltelefon.

»Ja …?«

Während er zuhört, gefriert nach und nach das Lächeln auf seinen Lippen.

»Was gibt’s?«, fragt Amal neugierig, nachdem er aufgelegt hat. Mit plötzlich tiefernster Miene ignoriert er sie jedoch vollkommen und zerrt an Rafis Ärmel.

»Verzeihung …«

»Was ist?«, fragt Rafi genervt.

»Ich fürchte, es gibt ein Problem.«

»Ja, wissen wir. Geben Sie Amal Ihre Karte, wie sie gesagt hat, und wir werden …«

»Nein«, sagt der Manager. »Es geht um etwas anderes. Etwas Ernstes. Eine von Kuwait-Stadt gestartete Maschine der Al-Arabiya ist …«

Sein Mobiltelefon klingelt noch einmal. Weitere schlechte Nachrichten.

»Was ist los?«, will Amal besorgt wissen. »Ist die Maschine entführt worden?«

Wieder gibt er ihr keine Antwort. Als sei sie plötzlich unsichtbar geworden. Der Manager starrt Rafi an, aber Rafi starrt nur wortlos zurück.

»Zwei«, sagt der Typ endlich. »Zwei Maschinen … Mindestens zwei.«

8 Uhr 41. Als der schmale, drahtige Mann mit Schnurrbart am Fluss eintrifft, haben seine bereits vor Ort befindlichen Halal-Kollegen schon weitere Flaschen von »Beweismitteln« geöffnet, sodass das Ganze jetzt weniger nach einer Festnahme als nach einer Party aussieht, bei der jeder, mit Ausnahme des Ehrengasts in Handschellen, in Hochstimmung ist.

»Da bist du ja, Mustafa!«, ruft Samir dem Neuankömmling zu. »Wurde aber auch langsam Zeit!«

»Was haben wir?«

»Mal wieder eine jüdische Weinschmuggel-Verschwörung.« Lachend hält Samir ihm eine offene Flasche hin, aber Mustafa winkt ab.

»Und was ist wirklich drin? Wieder schottischer Whisky?«

»Eine bunte Mischung. Hauptsächlich Whisky, wie es aussieht, aber auch Wodka und irgendein widerliches Kirsch-Gesöff.«

»Das hier schmeckt nach Kaffee!«, ruft Isaak vom Boot aus.

»Und ich persönlich hoffe ja noch auf einen leckeren Arrak«, schickt Samir hinterher.

»Genau das Richtige, jetzt, so kurz vor dem Ramadan«, entgegnet Mustafa, und mehr noch als seine Worte veranlasst sein Ton Samir, eine Augenbraue zu heben. Mustafa deutet mit einer Kopfbewegung auf den schluchzenden Bootsführer. »Das ist unser Schmuggler?«

»Ja«, sagt Samir vorsichtig, noch immer von der Bemerkung über den Ramadan getroffen. »Ein schwerer Fall, wie du siehst.«

»Und ihr habt vermutlich nicht gewartet, um zu sehen, ob jemand zur Übergabe auftaucht.«

»Wozu? Du kannst darauf wetten, dass Saddam weiß, dass wir von dieser Fracht erfahren haben. Die eigentliche Lieferung wird wahrscheinlich gerade flussaufwärts gelöscht, während wir hier mit diesem Ablenkungsmanöver beschäftigt sind.«

»Beschäftigt.« Mustafa schüttelt den Kopf. »Du kannst nur hoffen, dass keiner mit einer Kamera festhält, wie du mit dieser Flasche beschäftigt bist.«

Samir runzelt die Stirn. »Was ist dir denn heute über die Leber gelaufen, Mustafa? Und warum kommst du überhaupt so spät?«

»Mein Auto wollte nicht anspringen.«

»Und deswegen führst du dich wie ein Arschloch auf? Du hast wieder Stress mit deinen Frauen gehabt, stimmt’s? Mit welcher? Nur?«

Mustafa zeigt auf den staubigen Kombi, mit dem er gekommen ist. »Sieht der aus wie einer von Nur?«

»Aha«, entgegnet Samir. »Also Fadwa. Jammerschade. Trotzdem kein Grund, das an mir auszulassen.«

Mustafa nickt. »Lass uns bloß die Party hier abbrechen, bevor der ›Herold‹ einen Enthüllungsbericht über Korruption bei der Halal bringt.«

»Schön, schön«, sagt Samir versöhnt. »Also los, Leute, packen wir zusammen …«

Doch die übrigen Beamten reagieren nicht. Sie starren alle auf etwas am südlichen Himmel. Sogar der Bootsführer hat aufgehört zu schluchzen und schaut nach oben.

»Was …«, sagt Samir und dreht sich um. »He, die fliegt aber verdammt niedrig …«

Mustafa ist der Letzte, der sich umdreht. Er erkennt gerade noch eine Düsenmaschine, bevor sie mit heulenden Motoren über sie hinwegfegt. Die Brücke verbirgt den Aufprall; den werden sie sich später im Fernsehen ansehen, in endloser Wiederholung. In Moment ist es nur ein ohrenbetäubendes Bumm, gefolgt vom Aufschrei der Augenzeugen.

Dann herrscht etwa eine Sekunde lang Stille. Totenstille – während der irgendein Instinkt Mustafa veranlasst, nicht in Richtung der Zwillingstürme zu blicken, sondern auf das Auto, das ihn hierhergefahren hat. »Fadwa«, sagt er tonlos, und dann zieht ihm eine Stoßwelle den Boden unter den Füßen weg und hinterlässt eine von Grund auf veränderte Welt.

Vereinigte Arabische Staaten

Die Vereinigten Arabischen Staaten (kurz VAS) sind eine konstitutionelle Bundesrepublik, die aus 22 Staaten, einem Bundesdistrikt, zwei religiösen Distrikten und mehreren Territorien besteht. Größtenteils in der östlichen Hemisphäre gelegen, umfassen sie die Gesamtheit der Arabischen Halbinsel und des vorderen Orients, den größten Teil Mesopotamiens, Nord- und Nordostafrikas sowie zahlreiche Inseln in den umliegenden Gewässern. Sie grenzen an die Türkei, Kurdistan, Persien und verschiedene afrikanische Staaten.

Mit einer Gesamtfläche von über 14 Millionen Quadratkilometern und einer Bevölkerung von mehr als 360 Millionen Menschen sind die Vereinigten Arabischen Staaten das flächenmäßig zweitgrößte und bevölkerungsmäßig drittgrößte Land der Erde.

Geschichte

Die Geburt einer Nation

Die VAS sind aus der Asche der Arabischen Liga entstanden, eines losen Bundes von Staaten des Nahen und Mittleren Ostens, die sich gegen Ende des 19. Jahrhunderts vom Osmanischen Reich abspalteten. Nachdem sie erfolgreich, wenn auch nur zögerlich ihre Unabhängigkeit vom Reich erklärt hatten, kam es zwischen den in Klans und Sekten gespaltenen Mitgliedern der Liga jedoch schon bald zu blutigen Auseinandersetzungen. Erst der Versuch der Osmanen, die verlorenen Gebiete zurückzuerobern, beendete diesen Bürgerkrieg, da er die Liga dazu zwang, sich gegen den gemeinsamen Feind aufs Neue zu verbünden. Vom seit Kurzem unabhängigen Ägypten und den Streitkräften des Hauses Saud unterstützt, schlug die Liga die osmanische Invasionsarmee in die Flucht.

Nach dem Waffenstillstand versammelten sich die Sieger in Ägypten, um ihre Zukunft zu erörtern. Im Zuge dessen, was als das Wunder von Alexandria in die Geschichte eingehen sollte, gelang es den verschiedenen Parteien, ihre Differenzen zu begraben und sich auf einen Plan zur Bildung einer neuen und dauerhafteren Union zu einigen, »einer Nation unter Gott«.

Bei ihrer Gründung bestanden die VAS aus dreizehn Staaten – Arabien, Bahrain, Ägypten, den Vereinigten Emiraten, dem Irak, Jordanien, Kuwait, dem Libanon, Oman, Palästina, Katar, Syrien und dem Jemen – sowie dem religiösen Distrikt Mekka-Medina. Anfangs war Kairo die Hauptstadt der Union, aber schon nach wenigen Jahren, während der Präsidentschaft Abd al-Aziz ibn Sauds, wurde sie nach Riad verlegt.

Erste Entwicklung

Dank seiner geografischen Lage entwickelte sich die neue Nation bald zu einem Zentrum des internationalen Handels, und trotz eines andauernden Streits zwischen Ägypten und der Bundesregierung um die Kontrolle des Sueskanals wuchs die Wirtschaft stetig. Die Entdeckung bedeutender Erdölvorkommen intensivierte im zweiten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts den Wirtschaftsaufschwung noch weiter. Während das christliche Europa in einem selbstzerstörerischen Krieg versank, starteten die VAS ein ambitioniertes Industrialisierungsprogramm …

Die Welt im Krieg

Gegen Ende der 1930er Jahre brach in Europa und Asien erneut Krieg aus. Die VAS bemühten sich, ihre Neutralität zu wahren, aber die deutsche und italienische Bedrohung der Muslime Nordafrikas sowie die japanische Invasion in Malaysia und Indonesien machten dies unmöglich … 1941 griffen die VAS die Achsenmächte an … 1943 waren Libyen, Tunesien, Algerien, Marokko und Mauretanien befreit und schlossen sich der Union an … Im Juli 1944 landete eine neu bewaffnete und ausgebildete maghrebinische Invasionstruppe an der Küste Südfrankreichs, während alliierte arabische, persische, türkische und kurdische Einheiten Rom eroberten und die Russisch-Orthodoxe Armee mehrere Offensiven gegen die deutsche Ostfront durchführte … Auf dem südostasiatischen Kriegsschauplatz befreiten arabische und indische Marineinfanteristen den Rest des Indonesischen Archipels und marschierten dann nach Norden in die Philippinen ein … Nachdem im August 1945 eine dritte Atombombe auf Tokio abgeworfen worden war, kapitulierte Japan, womit der Krieg endete … Im Dezember 1946 wurde Adolf Hitler in Nürnberg enthauptet …

1948: Israel, die Orthodoxe Union und der Beginn des Kalten Kreuzzugs…

Präsident Nasser und die Arabische Einheitspartei…

»Ein kleiner Schritt für einen Muslim…«

Das Islamische Erwachen und der Krieg in Afghanistan…

»Schwarze Araber«: Somalia und Sudan schließen sich der Union an…

Der Golf-von-Mexiko-Krieg…

Der 9.11. und der Krieg gegen den Terror

Am 9. November 2001 entführten christliche Fundamentalisten vier Passagierflugzeuge. Zwei davon flogen sie in die Tigris-und-Euphrat-Türme des Welthandelszentrums in der Innenstadt von Bagdad (Irak), ein drittes in den Hauptsitz des Arabischen Verteidigungsministeriums im Bundesdistrikt Riad. Die vierte Maschine, deren Ziel vermutlich der Präsidentenpalast in Riad oder möglicherweise Mekka war (siehe Kontroversen und Mythen um den 9.November) stürzte im »Leeren Viertel« Rub al-Khali ab, einer nahezu menschenleeren Wüste im Süden der Arabischen Halbinsel, als die Passagiere versuchten, die Entführer zu überwältigen und die Kontrolle über das Flugzeug zurückzugewinnen.

Die Verantwortung für die Angriffe wurde von der Welt-Christen-Allianz übernommen, einer nordamerikanischen Gruppierung weißer Rassisten mit Sitz in den Unabhängigen Territorien der Rocky Mountains. Zur Vergeltung nahmen Luftlandetruppen der VAS die Stadt Denver ein, während von Kampfflugzeugen unterstützte Sondereinsatztruppen der VAS in das umgebende Land einfielen. Tausende von Kriegern der Allianz wurden gefangen genommen oder getötet, die Führungsspitze konnte indes nicht gefasst werden.

Noch während die Kampfhandlungen in den Rocky Mountains anhielten, nutzte Präsident Bandar seine Rede zur Lage der Union von 2002 dazu, einen weltweiten Krieg gegen den Terrorismus zu verkünden, der Präventivschläge gegen Regierungen einschloss, »die Terroristen unterstützen, beschützen oder finanzieren«. Insbesondere nannte der Präsident dabei Amerika, das Vereinigte Königreich und Nordkorea, die er als die Achse des Bösen brandmarkte, deren Versuche, Massenvernichtungswaffen zu entwickeln, nicht länger toleriert werden würden …

Im März 2003 starteten Streitkräfte der VAS die erfolgreiche Invasion Amerikas … In der sogenannten »Grünen Zone« in Washington, D.C. wurde eine provisorische Regierung eingesetzt … Alle Hoffnungen auf einen raschen Übergang zu einer stabilen Demokratie wurden jedoch durch Gewalttätigkeiten zwischen rivalisierenden amerikanischen Splittergruppen und den Ausbruch eines anti-arabischen Aufstands zunichtegemacht … Da die Opferzahlen aufseiten der Koalition stiegen und sich kein Ende des Krieges abzeichnete, erlitt die Nationale Gottes-Partei bei den Halbzeitwahlen 2006 herbe Verluste. Kandidaten, die mit dem Haus Saud in enger Beziehung standen, schnitten besonders schlecht ab …

Jetzt, da die Arabische Einheitspartei erneut Kongress und Exekutive beherrscht, besteht die Hoffnung, dass der Amerika-Krieg bald zu einem Ende kommen wird. Während die ersten Soldaten heimkehren, gibt es jedoch Gerüchte von neuen terroristischen Anschlägen gegen das arabische Heimatland und Befürchtungen, dass den VAS die schlimmsten Tage noch bevorstehen …

Er war am frühen Nachmittag in Bagdad eingetroffen und hatte unter dem Namen John Huss im Al-Rashid-Hotel eingecheckt. Zu seinem Gepäck gehörten fünf Kilo vom Armeestützpunkt in Kufa entwendeter Plastiksprengstoff.

Das Arabische Ministerium für Innere Sicherheit wusste alles über ihn – oder glaubte es zumindest. Sein wirklicher Name war James Travis. Aus Texas stammend, war er in die VAS mit einem Studentenvisum eingereist, das allerdings seit neun Monaten abgelaufen war. Während des letzten Jahres seines Medizinstudiums hatte er sich einer Gruppe von radikalen Protestanten angeschlossen, für die er jetzt als Kurier arbeitete – und am nächsten Tag wollte er dem Anführer einer Schläferzelle den Sprengstoff übergeben.

Der Arabische Heimatschutz, kurz AHS, in Riad wollte die ganze Zelle hochgehen lassen, weshalb beschlossen worden war, Travis nicht sofort festzunehmen, sondern ihn zunächst nur zu entwaffnen. Eine als Zimmermädchen verkleidete Agentin sollte im Korridor der elften Etage warten, bis Travis zum Abendessen ging, und dann den echten Plastiksprengstoff gegen eine mit Lehm gefüllte Attrappe austauschen und Travis’ sonstiges Gepäck mit einem Peilsender versehen.

Es war kein schlechter Plan, aber er stand und fiel damit, dass Travis sein Zimmer verließ – was er nicht vorzuhaben schien. Während die Uhr allmählich auf acht zukroch, wurde einem der Männer, die die Hotelhalle überwachten, darum langweilig, sodass er das vermeintliche Zimmermädchen im elften Stock zu necken begann.

»Amal, Zimmer 1169 braucht frische Handtücher.«

»Sehr witzig, Samir.«

»Amal, der Herr auf 1124 möchte, dass seine Kissen aufgeschüttelt werden.«

»Witz komm raus, du bist umzingelt.«

»Amal …«

»Samir!«

Darauf herrschte eine Zeitlang Funkstille. Bis Mustafa um Viertel vor acht fragte: »Ist er überhaupt wach?«

Ein Beamter der Truppe, die das Hotelzimmer von der anderen Straßenseite aus observierte, schaltete sich ein: »Die Jalousien sind noch immer unten, aber es sieht so aus, als ob das Licht an wäre.«

»Und sein Fernseher läuft«, fügte Amal hinzu. »Ich kann ihn von hier aus hören.«

»Wisst ihr, was toll wäre? Wenn wir eine funktionierende Kamera und Abhöranlage im Zimmer hätten.«

»Sehr witzig, Samir«, knurrte der Mann von der Überwachungstruppe. »Ich hab’s dir schon zweimal gesagt: Als wir sie getestet haben, funktionierten die Wanzen einwandfrei.«

»Soll ich bei ihm anklopfen, Mustafa?«, fragte Amal. »Ich könnte behaupten, dass die anderen Gäste sich durch den lauten Fernseher belästigt fühlen.«

»Nein, lass, ich hoffe einfach, dass er bald Hunger kriegt«, entgegnete ihr Chef. »Abdallah? Bei dir irgendwas Auffälliges?«

Abdallah überwachte die Telefonzentrale des Hotels. »Nein. Er hat weder den Etagendienst zu rufen versucht noch sonst irgendeinen Festnetzanruf getätigt. Und die Handyüberwachung ist ebenfalls negativ … Was, wenn er zu nervös ist, um essen zu gehen?«

»Ein nervöser Terrorist! Das ist genau das, was wir jetzt brauchen.«

»Vielleicht macht ihm ja sein Gewissen zu schaffen«, meinte Samir. »Was für ein Christ war er noch mal, Mustafa?«

»Methodist.«

»Sind das die mit den Schlangen? Die …«

»Hey«, unterbrach ihn Amal. »Der Fernseher ist gerade ausgegangen … Er kommt raus.«

»In Ordnung. Alle auf Empfang!«, befahl Mustafa. Theoretisch sollten sie sich nacheinander melden, doch vor lauter Aufregung, dass endlich etwas passierte, sprachen alle auf einmal.

»Er ist gerade in den Fahrstuhl gestiegen«, war Amal schließlich wieder zu hören, als das Stimmengewirr langsam abklang. »Ich bin jetzt im Zimmer … Oh, verdammt!«

»Amal?«

»Verdammt, verdammt, verdammt …« Man hörte sie keuchen, als ob sie rannte. »Er ist gar kein Kurier.«

Im Erdgeschoss stürzten Samir und drei andere Agenten sofort zu den Aufzügen – die sie gerade noch rechtzeitig erreichten, um zu sehen, wie der absteigende Fahrstuhl ohne Zwischenstopp im Parterre weiter nach unten fuhr. Samir hämmerte auf den Rufknopf, allerdings vergebens, denn die übrigen Aufzüge waren alle in höheren Stockwerken unterwegs. Darum brüllte er eine Warnung in sein Funkgerät und hetzte dann mit seinen Kollegen los, um das Treppenhaus zu suchen.

Ohne etwas von dieser hektischen Aktivität zu ahnen, trat der Kreuzzügler unterdessen in die Stille der Tiefgarage hinaus. Obwohl es ein heißer Sommerabend war, trug er eine dicke, übergroße Sportjacke.

Die linke Hand in die Tasche gesteckt, durchquerte er die Tiefgarage und rezitierte dabei flüsternd: »Ich glaube an den einen Gott, den allmächtigen Vater, der alles geschaffen hat, Himmel und Erde, die sichtbare und die unsichtbare Welt … Und an den einen Herrn Jesus Christus, Gottes eingeborenen Sohn, aus dem Vater geboren vor aller Zeit: Gott von Gott, Licht vom Licht, wahrer Gott vom wahren Gott …«

Doch plötzlich ließ ihn ein Funke zu seiner Rechten innehalten. Neben einem schwarzen Lieferwagen versuchte ein schlanker Mann mit Schnurrbart, eine Zigarette zwischen den Lippen, einem uralten Messingfeuerzeug eine Flamme zu entlocken. Als er merkte, wie ihn der Kreuzzügler anstarrte, schaute er auf.

»Hallo«, sagte er, »können Sie mir vielleicht helfen?«

Der Kreuzzügler gab keine Antwort. Die Zigarette schwenkend machte der Mann einen Schritt auf ihn zu.

»Entschuldigen Sie, hätten Sie vielleicht Feuer?«

Da der Kreuzzügler noch immer nicht reagierte, wiederholte er seine Bitte zuerst auf Hebräisch, dann Französisch. Schließlich sogar noch in gebrochenem Englisch. Endlich zog der Kreuzzügler seine Hand aus der Sportjacke, doch kaum hatte er sie in die Hosentasche gesteckt, trat der Schnurrbärtige einen weiteren Schritt vor und verpasste ihm einen Kinnhaken.

Der Kreuzzügler landete bäuchlings auf dem Betonboden. Augenblicklich schwang sich sein Angreifer rittlings auf sein Kreuz und drückte dem nach Luft Schnappenden eine Pistole an den zur Seite gedrehten Kopf.

»Ganz ruhig, Mr Travis«, sagte Mustafa, dessen Englischkenntnisse sich schlagartig verbessert hatten. »Der Einzige, den Sie jetzt noch töten können, sind Sie selbst, und dafür wird Ihr Jesus Sie nicht belohnen.«

Die linke Hand in der Hosentasche gefangen, den rechten Arm schräg nach oben, atmete der Kreuzzügler tief durch, aber anstatt sich zu entspannen, verkrampfte er dann plötzlich, und sein Gesicht nahm einen noch tieferen Rotton an.

»Keine …« Mustafa stockte, als er etwas roch. Rauch? Mit einem Schrei bäumte sich der Kreuzzügler unter ihm auf. Instinktiv drückte Mustafa ab, doch die Pistole versagte, und er wurde abgeworfen. Schnell rappelte er sich auf, aber der Kreuzzügler war ebenfalls schon auf den Beinen, etwas Blankes, Glänzendes in seiner Hand, und als Mustafa mit seiner Waffe ausholte, stieß er damit zu. Der Schmerz war scharf, gleichzeitig brennend und eisig, und Mustafas Schlüsselbein war plötzlich nass. Er ließ seine Pistole fallen und griff mit beiden Händen nach seinem Hals. Seine Knie gaben nach, und er fiel auf den Rücken. Nun stand der Kreuzzügler mit erhobenen Armen über ihm, ein Kabel führte von der linken Hand in seine Jacke. Dann nahm er seine Litanei wieder auf, jetzt mit lauterer Stimme, um die sich nähernden Schreie – »Halt! Fallen lassen!« – zu übertönen: »Und ich glaube an den Heiligen Geist, der Herr ist und lebendig macht, der aus dem Vater und dem Sohn hervorgeht, der mit dem Vater und dem Sohn angebetet und verherrlicht wird, der gesprochen hat durch die Propheten, und ich glaube an die eine, heilige, katholische und apostolische Kirche. Ich bekenne die eine Taufe zur Vergebung der Sünden, und ich erwarte die Auferstehung der To…«

In diesem Moment fielen zwei Schüsse. Mustafa, dessen Gesichtsfeld sich bereits einzuengen begann, schaute noch gebannt zu, wie Travis einen Augenblick schwankte, während sein linker Daumen krampfhaft zuckte, bevor die Knie einknickten und die Leiche vornüber auf ihn fiel.

»So Gott will«, flüsterte Mustafa noch, dann wurde es Nacht vor seinen Augen – doch nicht ganz, denn eine Frau in Zimmermädchenuniform, eine noch rauchende Pistole in der Hand, beugte sich über ihn und rief ihn bei seinem Namen.

Das Nächste, woran sich Mustafa erinnerte, war, dass er in einem Krankenhausbett lag und seine Augen mit der Hand gegen das durchs Fenster hereinfallende Licht abschirmen musste, da gerade die Vorhänge aufgezogen worden waren. Während er geblendet die am Fußende des Bettes stehende dunkle Gestalt zu erkennen versuchte, durchfuhr ihn kurz der Gedanke, es könnte der Satan sein, doch das war natürlich Unsinn, denn der Satan war keine Lichtgestalt und schlich sich zudem von hinten an und flüsterte einem ins Ohr.

»Hast du al-Jazira geschaut?«, fragte die Gestalt.

Nein, es war definitiv nicht der Satan, nur sein Chef.

»Hallo, Faruk«, krächzte Mustafa mit so heiserer Stimme, sodass er instinktiv nach seinem Hals tastete, an dem ein dicker Verband die Schnittwunde bedeckte.

»Ich frage deswegen«, fuhr Faruk fort, »weil diese Fernsehjournaillen von al-Jazira sich in letzter Zeit angewöhnt haben, unsere Kreuzzügler als ›Mordattentäter‹ zu titulieren.« Er schüttelte den Kopf. »Mord-Attentäter … was soll das überhaupt sein? Wenn einer eine Bombe bastelt, dann doch, um zu morden. Es ist der Selbstmord-Aspekt, der die Typen zu etwas Besonderem macht.«

Auf dem Nachttisch standen ein Krug Wasser und zwei Gläser. Mustafa griff danach und goss sich langsam etwas ein.

»Ich dachte, ich könnte ihn lebendig fassen«, sagte er schließlich.

»Du sagst das so, als sei das eine ganz vernünftige Idee gewesen.«

»Er lag auf dem Boden mit meiner entsicherten Pistole am Kopf, Faruk. Er hätte sich ergeben müssen.«

»Ja, ein rational denkender Verbrecher hätte sicher so reagiert.« Faruk zog einen kleinen Gegenstand aus der Tasche seiner Anzugjacke und reichte ihn Mustafa. »Hier. Ein Andenken.«

Mustafa musste das schlanke Stück Stahl ein paarmal hin und her drehen, bevor er es als Feuerzeug identifizieren konnte.

»Haben wir in seiner Hosentasche gefunden«, sagte Faruk.

»Woher wusstest du …?«

»Dass du ihn um Feuer gebeten hast? Ich weiß alles, Mustafa. Schätze mal, dein Plan war, seine Hand vom Zünder zu bekommen. Wäre ein echt kluger Einfall gewesen – wenn du ihm anschließend gleich das Hirn weggepustet hättest.«

Mustafa fand den Zündknopf, worauf sofort eine blaue Stichflamme aus dem Feuerzeug schoss. »Er hat versucht, den Sprengstoff in Brand zu setzen?«

»Nein, sich selbst. Bei der Autopsie wurden Verbrennungen an der Innenseite des Oberschenkels und den Genitalien festgestellt.« Mustafa sah seinen Chef scharf an, der zuckte jedoch nur die Achseln. »Vielleicht kämpfte er so gegen die Versuchung an, sich zu ergeben. Vielleicht war er aber auch bloß auf einen Adrenalinkick aus. Tatsache ist jedenfalls, dass du versucht hast, einen Mann zur Vernunft zu bringen, der sich eher den Schwanz absengt, als sich lebendig festnehmen zu lassen … Sag mir, dass es nicht wegen Fadwa war.«

»Faruk …«

»Da ich alles weiß, weiß ich auch, dass sie letzten Monat endlich offiziell für tot erklärt worden ist. In Anbetracht dessen sehe ich dir ja noch ein gewisses Quantum an Idiotie nach. Dass einer meiner Männer sich aber im Dienst das Leben nehmen will, werde ich definitiv nicht dulden.«

»Ich will mich nicht wegen Fadwa umbringen, Faruk.«

»Ach nein? Wegen wem dann? Der anderen?«

»Du hast Nur angerufen.«

»Natürlich habe ich Nur angerufen. Und weißt du, was sie antwortete, als ich ihr mitteilte, dass du im Krankenhaus liegst?«

»Sie wollte wissen, ob ich im Sterben liege, nachdem du diese Frage aber mit Nein beantwortet hattest, meinte sie, du bräuchtest dich erst wieder melden, wenn es so weit wäre.«

»Fast wortwörtlich. Was für eine Frau redet so bloß über ihren Mann?«

»Du hast es selbst gesagt: die andere.«

Faruk schüttelte wieder den Kopf. »Je mehr ich über Mehrfachehen erfahre, desto mehr danke ich Gott dafür, dass ich Christ bin.«

Mustafa lächelte tapfer über den Witz, aber die Erinnerung daran, dass Faruk der verdächtigen Minderheit angehörte, bereitete ihm Sorgen.

»Macht dir Riad Druck wegen der Mission?«

»Das würden sie nur zu gern«, antwortete Faruk. »Leider lag es aber an ihnen und ihren mangelhaften Informationen, dass die Sache hier in die Hose gegangen ist. Und in Anbetracht dessen war kein besseres Resultat zu erwarten. Natürlich habe ich in meinem Bericht ein paar Details beschönigt.«

»Wenn du einen Sündenbock brauchst …«

»Was ich brauche, Mustafa, sind die restlichen Mitglieder der Terrorzelle. Und keine schwachsinnigen Aktionen mehr.« Mustafas Chef seufzte. »Zumindest hattest du mit Amal recht.«

Amal war erst vor Kurzem zum Heimatschutz versetzt worden. Eine Frau und eine Politikertochter: Da sprachen gleich zwei Gründe gegen sie. Faruk hatte sie nur unter Protest in sein Team übernommen und sie mit Schreibtischjobs abspeisen wollen, aber nach Durchsicht ihrer Personalakte hatte Mustafa erklärt, sie verdiene eine Chance.

»Wie geht es ihr?«, fragte Mustafa. Da er ihre Akte kannte, wusste er, dass sie bis dato noch nie jemanden töten musste.

»Schwebt zwei Handbreit über dem Boden«, sagte Faruk. »Wozu sie auch allen Grund hat. Zwei Kopfschüsse aus fünfzehn Metern Entfernung sind eine reife Leistung.« Er musterte Mustafas Gesichtsausdruck, und was er sah, gefiel ihm nicht. »Wär’s dir lieber, wenn sie ihn bloß verwundet hätte? Ihm vielleicht den Zünder aus der Hand geschossen hätte, wie im Fernsehen?«

»Ich bin nur glücklich, noch am Leben zu sein.«

»Du hast Glück, noch am Leben zu sein! Das gilt übrigens auch für Amal. Fünfzehn Meter sind noch locker im Todesradius eines Sprengstoffgürtels. Und solltest du zu sehr mit bluten beschäftigt gewesen sein, um es zu bemerken: Es befanden sich noch vier weitere Beamte in Reichweite der Druckwelle.«

»Ich hab’s kapiert, Faruk. Nächstes Mal schieße ich ihm ins Gesicht.«

Faruk schien dadurch jedoch nur noch mehr verärgert, denn nun holte er noch ein weiteres Andenken hervor: Mustafas Pistole.

»Nächstes Mal«, sagte er und warf die Waffe aufs Bett, »denkst du vielleicht auch daran, das Scheißding zu laden.«

Bagdad

Mit einer Bevölkerung von 6,5 Millionen ist Bagdad die größte Stadt des Irak und (nach Kairo) die zweitgrößte Stadt der Vereinigten Arabischen Staaten. Im Jahr 762 von Abu Jafar al-Mansur gegründet, war es bis zur Eroberung durch die Mongolen unter Hülegü Khan im Jahr 1258 die Hauptstadt des abbasidischen Kalifats. Unter den türkischen Osmanen, die die Stadt vom 16. bis zum 19. Jahrhundert beherrschten, verfiel Bagdad, doch seine Rolle bei der Gründung der VAS trug zur Wiederherstellung seiner Bedeutung bei. Heute ist es wieder ein wichtiges Wirtschafts- und Kulturzentrum.

Bagdad hat viele Beinamen, darunter »die Stadt des Friedens«, »die Stadt der Zukunft« und »die Stadt, die niemals schläft«. Zu den weniger schmeichelhaften Beinamen gehören »Mesopotamische Hauptstadt des Verbrechens« und »das moderne Babylon«.

Nach den Anschlägen vom 9.11. sind Bagdad und seine Bürger zu Symbolen des arabischen Widerstands gegen den westlichen Terrorismus geworden …

Bagdad in der Populärkultur

Die kulturelle Vielfalt seiner Bevölkerung hat Bagdad zu einem beliebten Schauplatz für Filme und TV-Serien gemacht, die sich – wie zum Beispiel das Kinderprogramm ›Sesam, öffne dich!‹ – um die Propagierung von mehr religiöser und ethnischer Toleranz bemühen. Ein Glanzpunkt solchen TV-Ökumenismus war zweifellos ›Brennpunkt Bagdad‹, das seit seiner Pilotfolge im Jahre 1971 mit den Worten eingeführt wurde: »Shafiq: Er ist Sunnit. Hassan: Er ist Schiit. Sie kämpfen gegen das Verbrechen.« Teils Polizeikrimi, teils Seifenoper, teils Moralität, handelte die Serie vom Leben zweier verdeckter Ermittler im äußersten Ostteil von Bagdad. Zu den immer wiederkehrenden Figuren gehörten auch Sufis, Christen und Juden; es gab sogar einen Zoroastrier, einen persischen Fälscher namens Qaisar. Jede Folge vermittelte in der Regel eine oder mehrere lehrreiche Nutzanwendungen, deren häufigste lautete: »Achte die anderen Menschen des Buches – auch wenn du sie nicht sonderlich magst.«

Ein davon sehr verschiedenes Bagdad – eines, das die Post-9.11.-Stimmung leider realistischer wiedergibt – wird in der gegenwärtig äußerst erfolgreichen Serie ›24/7 Jihad‹ porträtiert, deren einzelne Staffeln jeweils einen Tag im Leben des Antiterror-Kämpfers Jafar Bashir schildern. Bashir ist ein wahhabitischer Sunnit, dessen Charakterisierung von religiösen Autoritäten, die seine bedenkenlose Anwendung von Gewalt und Folter als unislamisch ansehen, kritisiert worden ist. Eine noch größere Kontroverse hat das tendenziöse Bild entfacht, das ›24/7 Jihad‹ vom Schiismus zeichnet. Zwar sind die Hauptschurken der Serie christliche Fundamentalisten, doch Bashir hat auch mit Doppelagenten innerhalb seiner eigenen Organisation zu kämpfen. Von den sechs als Schiiten identifizierbaren Figuren, die bis dato in der Serie aufgetreten sind, waren alle Verräter (und sind eines grässlichen Todes gestorben). In einer Befragung im ›Al-Manar‹ beteuerte ›Jihad‹-Produzent Jamal Sur2007, dies sei reiner Zufall und die Serie wolle keineswegs unterstellen, schiitische Muslime seien per se, als Gruppe, staatsfeindlich gesinnt. Er fügte hinzu: »Ich glaube, gewisse Leute sind ein bisschen zu sehr in die Vorstellung verliebt, Märtyrer zu sein.« Dies veranlasste Omar Karim von der Antidiffamierungsgruppe Die Schia in den Medien zu der Replik: »Die 25. Sure, Vers 64, des Heiligen Koran weist uns an, auf die spöttischen Bemerkungen der Unwissenden nur mit einem Friedensgruß zu antworten. Also, Herr Sur: Friede sei mit Ihnen.«

Mustafa wohnte zusammen mit seinem Vater, Abu Mustafa, in einer Dreizimmerwohnung im östlich des Tigris gelegenen Bagdader Stadtbezirk ar-Rusafa.

Abu Mustafa war ein emeritierter Geschichtsprofessor der Uni Bagdad. Nach dem Tod von Mustafas Mutter hatte er lange Zeit allein gelebt, um, wie er sagte, den reichen Bagdader Witwen, die ältere Junggesellen unwiderstehlich finden, besser zu Diensten sein zu können. Das mit den Witwen war gar nicht so unernst gemeint – Abu Mustafa hatte schon immer die Gesellschaft von Frauen genossen –, aber Mustafa wusste, dass er es auch genoss, selbstständig zu sein, wenn und falls er Lust dazu hatte, unter Leute zu gehen, Verwandte und Freunde zu besuchen und den Tag dann mit seinen Büchern und seinen eigenen Gedanken in Ruhe ausklingen zu lassen.

Mustafa hatte ihm geholfen, die Wohnung – die in einem Altbau war, in bequemer Nähe zur Flusspromenade und den Läden und Cafés auf der Sadun-Straße – zu finden und zu bezahlen. Das Viertel war religiös gemischt, was zum Zeitpunkt seines Einzugs noch kein Problem darstellte. Seit dem 9.11. allerdings waren Hassdelikte in der ganzen Stadt an der Tagesordnung, und man brauchte kein Christ zu sein, um in Schwierigkeiten zu geraten. Mustafas Vater war Sunnit; seine Mutter war Schiitin gewesen. Auf die Frage, was er selbst also sei, hatte Mustafa von jeher geantwortet: »Ein Muslim natürlich.« Aber für manche Bagdader, die im Einsturz der Türme eine Strafe Gottes gesehen hatten, war diese Antwort nicht mehr gut genug. Fast jeden Tag erfuhr man jetzt in den Nachrichten, dass ein Muslim verprügelt worden war – oder schlimmer, weil er der »falschen« Konfession angehörte.

Mustafa machte sich Sorgen, sein Vater könnte zur Zielscheibe irgendeines Idioten werden, der glaubte, »Gott, der Allbarmherzige« legitimiere ihn zu allem. Hinzu kam, dass sein Vater merklich abbaute. In letzter Zeit kam es gelegentlich vor, dass Abu Mustafa, wenn er aus dem Haus ging, später Schwierigkeiten damit hatte, wieder zurückzufinden. Für seine Orientierungslosigkeit machte er geheimnisvolle Veränderungen in der Stadt verantwortlich – altvertraute Wahrzeichen sähen jetzt anders aus oder stünden nicht mehr da, wo sie hingehörten. Zum Teil lag das zweifellos daran, dass tatsächlich viel gebaut wurde, aber als Abu Mustafa anfing zu behaupten, auch der Verlauf der Straßen habe sich geändert, wusste Mustafa, dass mehr dahintersteckte.

Abu Mustafa lehnte jeden Vorschlag, in ein ruhigeres, »weniger verwirrendes« Viertel umzuziehen, rundheraus ab, also musste ein Alternativplan her. Mustafas Onkel Tamir und Tante Rana mieteten sich eine Wohnung im selben Gebäude. Sie hatten acht Kinder, so war immer irgendeine Nichte oder ein Neffe verfügbar, um Abu Mustafa im Auge zu behalten. Mustafa selbst zog nach längeren Verhandlungen ins Gästezimmer seines Vaters. Die offizielle, das Gesicht wahrende Erklärung lautete, dies sei zu Mustafas Bequemlichkeit, weil er dadurch eine kürzere Anfahrt zu seinem Arbeitsplatz habe.

Mustafa und sein Vater kamen recht gut miteinander aus, solange Mustafa darauf achtete, ihn nicht zu sehr zu bemuttern. Das war nicht immer einfach. In letzter Zeit hatte Abu Mustafa eine heftige Abneigung gegen die Klimaanlage entwickelt. Anfangs dachte Mustafa, es sei das Geräusch, das ihn störte, und er bot an, die Wohnung auf eigene Kosten mit einer leiseren Anlage ausstatten zu lassen. Doch Abu Mustafa sagte, es sei nicht das Geräusch; das Problem sei, dass eine Klimaanlage falsch war.

»Was soll das heißen, ›falsch‹? Du hältst es für eine Sünde, sich wohlzufühlen?«

»Von Sünde habe ich nichts gesagt!« Abu Mustafa wurde ärgerlich. »Es ist nicht unmoralisch, es ist einfach … falsch.«

Inzwischen wachte Mustafa zwei-, dreimal die Woche – unweigerlich in den heißesten Nächten – schweißgebadet auf, weil sein Vater die Klimaanlage ausgeschaltet hatte. Dann hatte es, letzte Woche, eine neue Entwicklung gegeben: Mustafa war aufgewacht, um festzustellen, dass die Klimaanlage noch lief, das Schlafzimmer seines Vaters aber leer war. Nach einer panischen Suche sah er, dass Abu Mustafa eine dünne Matratze mitgenommen hatte und auf die Dachterrasse gegangen war, um im Freien zu schlafen – wie das die Bagdader früher, bevor es Elektrizität in der Stadt gab, immer getan hatten.

»Was ist los?«, fragte Abu Mustafa, über Mustafas Sorge verblüfft. »Glaubst du vielleicht, ich fall runter?«

»Im Schlaf kann alles Mögliche passieren«, sagte Mustafa. »Es ist gefährlich hier oben.«

»So Gott will, ist es nicht gefährlicher als sonst wo in der Stadt. Selbst mit den Lichtern der Stadt kann man die Sterne sehen. Die Sterne sind noch so, wie es sich gehört.«

Als er vom Krankenhausbett aus mit Faruk gesprochen hatte, war Mustafa verlegen gewesen, aber richtige Scham empfand er erst, als er seinen Vater im Wartezimmer des Krankenhauses sah. Als Abu Mustafa ihn umarmte und auf beide Wangen küsste, stiegen Mustafa die Tränen in die Augen, und er entschuldigte sich zerknirscht dafür, dass er sein Leben so leichtfertig aufs Spiel gesetzt hatte. Natürlich verzieh ihm sein Vater; aber Mustafa wusste, dass Abu Mustafa ihm die Sache, wenn er ihn das nächste Mal ermahnte, vorsichtig zu sein, unter die Nase reiben würde. Und so war es durchaus auch Eigennutz, wenn er sich vornahm, künftig weniger leichtsinnig zu sein.

Es war nicht das erste Mal in seinem Leben, dass er diesen guten Vorsatz fasste.

Mustafa blieb am nächsten Tag zu Hause, um sich auszuruhen, aber er bat Samir und Amal, vorbeizuschauen und ihn auf den neusten Stand der Ermittlungen zu bringen.

Amal war zum ersten Mal in der Wohnung, und so zog es sie wie viele andere vor ihr zu den Bücherregalen, die jeden freien Zentimeter Wand bedeckten. Während Samir in die Küche ging, um Abu Mustafa beim Teemachen zu helfen, und Mustafa sich auf dem Sofa entspannte, schritt Amal die Regale ab.

»Wie viele Sprachen kann dein Vater denn?«, fragte sie.

»Ein halbes Dutzend gut, und ein weiteres halbes Dutzend gut genug, um sich durchschlagen zu können. Was eindrucksvoll klingt – für jeden, der meine Mutter nicht kannte.«

»Was war sie, Übersetzerin?«

»Rastlos«, sagte Mustafa. »Sie hatte sich immer gewünscht, um die Welt zu reisen, aber zu mehr als Ferien in Nordafrika hat es nie gereicht. Also lernte sie stattdessen Fremdsprachen, und zwar Dutzende. Als Junge habe ich zusammen mit ihr gelernt.«

Amal hatte ein Regal erreicht, das statt mit Büchern mit Fotos gefüllt war. »Ist sie das?«

Er sah auf das Bild, auf das sie zeigte. »Ja. Das ist von der Hochzeitsreise. Sie und mein Vater haben eine Kreuzfahrt auf dem Nil gemacht.«

»Sie ist schön«, sagte Amal.

»Das war sie«, pflichtete Mustafa ihr bei. »Auf dem nächsten Bild, dem im Silberrahmen, das sind mein Onkel Fayyad und meine Schwestern, Nawra, Qamar und Latifa.«

»Wohnen deine Schwestern in Bagdad?«

»Nawra und Qamar wohnen in Falluja. Latifa lebt in Palästina; ihr Mann ist Leiter einer Ferienwohnanlage in Haifa.«

Als Nächstes kamen Mustafas Hochzeitsbilder. Amal warf einen Blick darauf, sagte aber nichts.

»Ja«, sagte Mustafa, damit sie die Frage nicht zu stellen brauchte. »Meine zwei Frauen. Links ist Fadwa, rechts Nur. Bei all dem Klatsch und Tratsch im Büro weißt du mittlerweile bestimmt alles über die beiden.«

»Es steht mir nicht zu, über meine Kollegen zu tratschen.«

»Wie nett von dir, aber schon gut. Ich bin daran gewöhnt … Weißt du, ich habe die Rede gehört, die deine Mutter letzten Monat im Senat gehalten hat, über das Ehereformgesetz. Ich fand es sehr mutig von ihr, dem Haus Saud so, wie sie es getan hat, die Stirn zu bieten.«

»›Mutig‹ ist nicht das Wort, das ihre eigenen Kollegen benutzen würden«, sagte Amal. Dann fuhr sie mit sorgsam gewählten Worten fort: »Meine Mutter ist der festen Überzeugung, dass die Polygamie, sosehr die Tradition sie auch verteidigen mag, eine Beschneidung der Rechte der beteiligten Frauen darstellt.«

»Deine Mutter hat recht«, sagte Mustafa.

Das berühmteste Foto von Amals Mutter war am frühen Morgen des 10. November 2001 aufgenommen worden. Bürgermeisterin al-Maysani war die ganze Nacht auf den Beinen gewesen, hatte die Notfallmaßnahmen koordiniert, war durch die ganze Stadt von Krisenherd zu Krisenherd gefahren und zweimal am NullPunkt gewesen. Als die Sonne aufging, war sie ein weiteres Mal aufgebrochen, um sich einen ersten klaren Eindruck von der Katastrophenstätte bei Tageslicht zu verschaffen.

Sie verließ ihre Kommandozentrale im Rathaus und trat hinaus auf die Haifastraße. Sie verzichtete auf ihren Dienstwagen und machte sich, anfangs nur mit einem kleinen Gefolge von Beratern und Sicherheitsleuten, zu Fuß auf in Richtung Norden. Schon einen Block weiter begannen sich ihr andere anzuschließen: erschöpfte Polizisten und Feuerwehrmänner, Notärzte und Rettungssanitäter sowie Dutzende ganz gewöhnlicher Bagdader Bürger, die aus Sturheit oder unter Schock den Evakuierungsbefehl ignoriert hatten.

Als hinter einer Biegung der Straße die Ruine der Türme in Sicht kam, ging die Prozession schon in die Hunderte. Als die Bürgermeisterin eine trotzige Faust in den Himmel reckte, tat es ihr die Menschenmenge hinter ihr nach, und es ertönte der Ruf: »Gott ist groß!« Dieser Augenblick, der mit der Kamera eingefangen und überall im Land veröffentlicht wurde, ging als »der Moment« in die Geschichte ein: Der Moment, in dem wir aufstanden. Der Moment, in dem wir anfingen, uns zu wehren. Der Moment, in dem wir sagten: Wir werden uns niemals kleinkriegen lassen. Und ebenso der Moment, in dem Anmar al-Maysani von einer Bürgermeisterin ohne Aussicht auf Wiederwahl zu einer Politikerin von nationalem Ansehen wurde.

Amal hatte das Foto natürlich schon zahllose Male gesehen. Die Leute konnten es nicht lassen, es ihr zu zeigen und, oft unter Tränen, zu schildern, was es für sie bedeutete. Solche Gefühlsergüsse waren mitunter etwas schwer zu ertragen, und während Amal sich alle Mühe gab, höflich zu bleiben, war sie bei neuen Bekanntschaften doch immer etwas auf der Hut, da sie nie wusste, wann sie von ihnen wieder einmal mit »dem Moment« konfrontiert werden würde.

Heute wurde ihr das erspart. Beim Tee konzentrierte sich das Gespräch auf ihren Heldenmut, und als Abu Mustafa sich nach ihrer Familie erkundigte, zeigte er mehr Interesse an ihrem Vater als an ihrer berühmten Mutter. Amals Vater war Funktionär bei der Polizeigewerkschaft gewesen und in Ausübung seiner Pflichten ermordet worden, also war das Thema für sie durchaus schmerzlich, aber Amal war jedem dankbar, der sich daran erinnerte, dass auch ihr Papa einst ein Held gewesen war.

»Er wäre bestimmt sehr stolz auf Sie«, sagte Abu Mustafa.

»Das würde ich gerne glauben«, sagte Amal. »Haben Sie ihn je persönlich getroffen, Abu Mustafa?«

»Ein Mal«, sagte Abu Mustafa. »Auf einer Baath-Veranstaltung, einer Spendensammlung, die auf dem Universitätsgelände abgehalten wurde. Ein gelungener Abend war das nicht – es waren leider ein paar recht unangenehme Gestalten dabei –, aber Ihr Vater beeindruckte mich. Ein guter und anständiger Mann … Wir können uns glücklich schätzen, dass Sie in seine Fußstapfen treten.«

Amal errötete.

»Nun«, sagte Abu Mustafa. »Ich möchte Ihnen noch einmal dafür danken, dass Sie meinem Sohn das Leben gerettet haben. Sie wissen hoffentlich, dass Sie in meinem Haus jederzeit willkommen sind.«

»Du gehst aus?«, sagte Mustafa, als sein Vater aufstand.

»Nur die Treppe runter, zu deinem Onkel Tamir. Sei unbesorgt.«

»Bin ich auch«, log Mustafa.

Mit einem Lächeln und einem Nicken in Amals Richtung wandte sich Abu Mustafa ab und ging. Nachdem die Wohnungstür hinter ihm ins Schloss gefallen war, blieb Mustafa für einen Moment stumm sitzen. Amal ebenso, in Gedanken an ihren Vater versunken. Samir schenkte Tee nach.

»Also schön«, sagte Mustafa. »Dann lasst mal hören, wie die Sache steht.«

»Die Durchsuchung von James Travis’ Hotelzimmer«, begann Amal, »hat nichts Relevantes ergeben, abgesehen von dem Werkzeug, das er verwendet hat, um den Sprengstoffgürtel zusammenzubasteln. Die Jungs von der Kampfmittelbeseitigung meinten, es wäre eine ganz ordentliche Arbeit gewesen. Irgendjemand hatte ihn gut ausgebildet.«

»Das Ding wäre also mit Sicherheit losgegangen?«

»Oh ja.«

»Haben wir eine Ahnung, was sein Ziel war?«

»Die Einkaufspassage an der Abu-Nuwas-Straße«, sagte Samir. »Travis hatte einen Stadtplan vom Flussufer-Distrikt. Der Einkaufskomplex war eingekreist.«

»Und was sagt Riad? Haben die Leute neue Infos für uns? Vorzugsweise welche, die mehr mit den Tatsachen übereinstimmen?«

»Sie sind dabei, ›ihre Quellen im Lichte der jüngsten Ereignisse neu zu bewerten‹«, sagte Amal. »Die gute Nachricht ist, dass wir in Kufa einen Durchbruch geschafft haben könnten …« Die letzten paar Wochen hatte Travis in einer Gastarbeiterunterkunft unweit der Militärbasis Kufa gewohnt. »Mein früherer Partner im ›Büro‹ hatte wegen einer anderen Sache dort unten ermittelt, also habe ich ihn gebeten, bei der gestrigen ABE-Razzia im Wohnheim dabei sein zu dürfen. Das Zimmer war sauber – Travis hatte alles rausgeworfen, was er nicht mitgenommen hatte –, und laut dem Geschäftsführer war die Müllabfuhr schon gestern früh vorbeigekommen. Also sah es zunächst nach einer Sackgasse aus …«

»Was haben sie gemacht, die Mülldeponie durchsucht?«

»Es war tatsächlich davon die Rede, das zu tun. Aber dann ist Rafi argwöhnisch geworden und hat kurz mal telefoniert.«

»Wie sich herausstellte, hatte der Geschäftsführer gelogen«, sagte Samir. »In diesem Stadtteil von Kufa wird der Müll tatsächlich montags abgeholt – falls man die Müllrechnung bezahlt hat. Aber der Geschäftsführer hatte die Müllabfuhr, ohne seinem Chef was zu sagen, vor einem Jahr abbestellt. Er steckte das Geld selbst ein und zwang jeden Heimbewohner, der mit der Miete im Rückstand war, ihm zu helfen, den Abfall zu den Mülltonnen anderer Leute zu schleppen. Langer Rede kurzer Sinn: Das ABE hat den Kerl die ganze Nacht Mülltonnen durchwühlen lassen.«

»Travis’ Müll haben sie heute Morgen gegen drei gefunden«, sagte Amal. »Sie sind noch immer auf der Suche nach Spuren, aber eines der ersten Dinge, die sie gefunden haben, war eine Kamera …«

»Eine kaputte Kamera«, sagte Samir. »Zertrümmert, als wäre Travis mit einem Hammer darauf losgegangen. Nur muss er an dem Tag, an dem in der Terroristenschule Beweise zerstören drankam, gefehlt haben, denn er hat es versiebt und die Speicherkarte intakt gelassen …«

Amal schaltete ihr Mobiltelefon ein. »Rafi hat mir die Fotos geschickt. Schaut euch das an.«

Das Bild zeigte vier Männer, die in einem engen und schlecht beleuchteten Raum an einem langen Holztisch saßen. Travis, der das Foto geschossen hatte, war im Vordergrund, die Kamera mit ausgestrecktem Arm haltend, und das Blitzlicht unterstrich noch die Röte seiner Wangen. Er hatte offensichtlich eine große Menge Alkohol konsumiert – Mustafa konnte die schaumbefleckten Ränder mehrerer Gläser vor ihm auf dem Tisch ausmachen. Hinter Travis saßen zwei blonde Männer mit weiteren Gläsern in der Hand; ihre Gesichtszüge waren auf dem kleinen Bildschirm schlecht zu erkennen, aber eine Vergrößerung würde vielleicht genügend Details für eine elektronische Identifizierung liefern. Der vierte Mann, ein mürrisch aussehender rothaariger Bursche, war im Profil aufgenommen worden, wie er Travis einen Finger entgegenreckte und dabei offenbar eine Zurechtweisung ausstieß.

»Was meinst du?«, fragte Amal.

»Ich glaube, dieser Rotschopf könnte derjenige sein, der die Kamera zertrümmert hat. Und wenn ich die leeren Gläser richtig gezählt habe, glaube ich auch zu wissen, warum er nicht an die Speicherkarte gedacht hat.«

»Aber glaubst du, das sind unsere Leute? Der Rest der Zelle?«

»Möglich«, sagte Mustafa. »Obwohl ich ganz ehrlich nur staunen kann, dass selbst betrunkene Kreuzzügler so dumm sein können. Dieses Zimmer, in dem sie sitzen …«

»Ein Rattenkeller«, sagte Amal. »Rafi hat bei der Halal nachgefragt, ob die den vielleicht identifizieren können.«

Ein Rattenkeller: eine illegale Bar, die ausländische – meist europäische – Gastarbeiter mit Stoff versorgte. Da gab es selbstgebrautes Bier, unterschlagenen Sabbat- und Messwein und wahrscheinlich auch Hochprozentiges, wenngleich nichts von der guten Sorte. Was die Lokalität anging, konnte es sich dabei um einen echten Keller oder auch um eine überirdische Räumlichkeit wie etwa ein Lagerhaus handeln – praktisch alles, was die für den jeweiligen Distrikt zuständige Polizei, entsprechend geschmiert, übersehen würde.

»Die blonden Typen im Hintergrund«, sagte Samir. »Sehen die nicht wie Deutsche aus?«

Mustafa lächelte. »Die könnten wohl Deutsche sein oder auch Österreicher. Aber ich weiß nicht, Samir – es könnten genauso gut Skandinavier sein.«

»Skandinavische Terroristen? Mustafa, bitte!«

»Solange ihre Gesichter deutlich genug für einen EDV-Abgleich sind, was spielt’s für eine Rolle, ob sie Deutsche oder Skandinavier sind?«, fragte Amal. »Sollte die Einwanderungsbehörde sie nicht so oder so erfasst haben?«

»Sollte sie, was leider nicht bedeutet, dass sie auch hat«, sagte Mustafa. »Aber wenn es Deutsche sind, hat Samir eine Ausrede, um unseren Freund Sindbad hinzuzuziehen.«

»Und wer ist Sindbad? Marineaufklärung?«

»Mossad«, antwortete ihr Samir.

»Ein Israeli, der Sindbad heißt?«

»Sobald du ihn kennenlernst, wirst du dich nicht mehr wundern«, sagte Mustafa.

Israel

Das heutige Israel ist ein Staat in Mitteleuropa. Israel grenzt im Norden an die Nordsee, Dänemark und die Ostsee, im Osten an Polen und die Tschechische Republik und im Westen zum Teil an die Niederlande. Den Rest seiner West- und Südgrenze bilden offiziell die Flüsse Rhein und Main, doch seit dem Sechstagekrieg von 1967 hält Israel den größten Teil Bayerns und Schwabens sowie das Westrheinland besetzt. Die Hauptstadt Israels ist Berlin …

Geschichte

Nach dem Sieg über das Dritte Reich initiierten die VAS den Plan, Deutschland in zwei Staaten, einen jüdischen und einen christlichen, zu teilen … Dasselbe Bundesgesetz von1948, das Israels Souveränität anerkannte, legte auch die Einrichtung eines neuen religiösen Distrikts in Jerusalem (Palästina) fest und garantierte israelischen Staatsbürgern den freien Zugang zur Heiligen Stadt mittels besonderer Besuchervisa. (Infolge der Anschläge vom 9. November unterliegen diese Visa neuen Sicherheitsbeschränkungen; siehe Arafat-Abbas-Änderung von 2002 des Heimkehrgesetzes …)

Sowohl die Existenz Israels als auch dessen geografische Lage bleiben umstritten … Der britische Premierminister David Irving ist lediglich das bis dato letzte europäische Staatsoberhaupt, das zur Vernichtung des jüdischen Staates aufruft … Gleichzeitig sähen es viele nordamerikanische evangelikale Christen gern, wenn die Juden endgültig in das historische Land Israel umgesiedelt werden würden, da sie dies als eine der notwendigen Vorbedingungen des Eintritts der Endzeit ansehen …

Trotz gewisser Spannungen in jüngerer Zeit sind die VAS nach wie vor Israels engste politische und militärische Verbündete, vor allem auch im Krieg gegen den Terror …

Sindbads wirklicher Name war David Cohen. Der neunundzwanzigjährige Mossad-Agent hatte zwei Kommandoeinsätze bei den israelischen Streitkräften absolviert. Der ideale Begleiter, scherzte Samir, wenn man ein Zimmer voller Schurken unter ausschließlicher Verwendung einer zusammengerollten Zeitung zu killen oder ein Zimmer voller Frauen zu verführen hatte, denn zusätzlich zu seinen Nahkampffertigkeiten war David Cohen mit dem Aussehen und dem Charisma beschenkt worden, die Gott für gewöhnlich Idolen der populären Musikindustrie vorbehielt.

Mustafa und Samir hatten ihn einige Jahre zuvor auf einer internationalen Sicherheitskonferenz in Kairo kennengelernt. Samir, der damals gerade mitten in einer Scheidung steckte, war mit Cohen jede Nacht um die Häuser gezogen in der Hoffnung, mittelbar von seinem guten Aussehen zu profitieren; Mustafa hatte zwar die Discos ausgelassen, lauschte aber anschließend pflichtbewusst Samirs Berichten von den Abenteuern der beiden.

Am letzten Tag der Konferenz wurden Mustafa und Samir zu einem terroristischen Zwischenfall abberufen, der sich gerade nur wenige Blocks vom Konferenzzentrum entfernt abspielte. Cohen kam mit.

Der »terroristische Zwischenfall« entpuppte sich als ein schiefgelaufener Raubüberfall. Fünf maskierte Männer hatten eine Bank ausgeraubt, nur um – als sie zu entkommen versuchten – in einem Verkehrsstau steckenzubleiben. Als die Polizei ihr eingekeiltes Fahrzeug umstellte, hatten die Männer das Feuer eröffnet, und in der darauf folgenden Schießerei waren ein Polizist und zwei Bankräuber getötet worden. Die drei überlebenden Banditen hatten sich zu Fuß in ein kleines Kino geflüchtet und die Zuschauer als Geiseln genommen. Sindbad hatte die Situation mit einem spektakulären Einsatz gerettet und war als Held gefeiert worden.

Während sie vor der israelischen Botschaft auf Sindbad warteten, bekam Mustafa einen Schwindelanfall. Er konnte sich nicht erinnern, wann diese Zustände angefangen hatten, aber sie traten seit wenigstens ein paar Jahren in Abständen immer wieder auf. Sie kamen meist in Augenblicken der Untätigkeit: Er starrte etwa auf die Silhouette der Stadt oder betrachtete eine vollkommen normale Straßenszene und wurde plötzlich von einem starken Gefühl der Entrückung befallen. Das letzte Mal war er in Riad gewesen, im Begriff, über eine Kreuzung zu gehen, als er zufällig erkannt hatte, dass in allen Autos, die an der roten Ampel standen, Frauen am Steuer saßen.

Diesmal war der Auslöser die Fahne vor der Botschaft. Er hörte sie über sich in der Brise knattern und schaute nach oben. Der Davidsstern, der stolz über der Al-Kindi-Straße wehte, brachte ihm irgendwie die Rotation der Erde unter seinen Füßen zu Bewusstsein. Er taumelte zurück und wäre möglicherweise gefallen, hätte ihn nicht eine Betonabsperrung gestützt.

»Was nicht in Ordnung?«, fragte Amal.

Mustafa fasste sich an den Halsverband. »Ich brauche wahrscheinlich noch ein bisschen Ruhe.«

»Da kommt er!«, sagte Samir.

Amal drehte sich um, und Mustafa, der etwas in ihrer Miene zu entdecken glaubte, sagte: »Ah, du hast mit Umm Dabir gesprochen!« Umm Dabir war Faruks Sekretärin. Sie hatte Sindbad anlässlich eines seiner Besuche kennengelernt und schwärmte seitdem ziemlich unverhohlen für ihn.

»Ich habe keine Ahnung, was du meinst«, sagte Amal.

»Nach dem, was ich gehört habe, sind viele Frauen im Büro in ihn verliebt.«