A Curse for True Love - Stephanie Garber - E-Book

A Curse for True Love E-Book

Stephanie Garber

0,0
12,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Es war einmal … ein Mädchen ohne Erinnerung

Evangeline Fox hat sich auf der Suche nach ihrem Happy End bis in den Fantastischen Norden gewagt. Und es scheint, als hätte sie es gefunden: Sie ist mit einem gut aussehenden Prinzen verheiratet und lebt in einem sagenumwobenen Schloss. Doch Evangeline hat keine Ahnung, welch verheerenden Preis sie für dieses Märchen gezahlt hat. Sie weiß nicht, was sie verloren hat, und ihr Ehmann ist fest entschlossen, dafür zu sorgen, dass sie es auch nie erfährt. Aber zuerst muss er Jacks, den Prinz der Herzen, töten …
Von der #1-New-York-Times-Bestsellerautorin der »Caraval«-Reihe: Das atemberaubende Finale der Fantasy-Trilogie über Liebe, Flüche und den Kampf um das eigene Happy End. Die BookTok-Sensation erscheint erstmals auf Deutsch!

Alle Bände der »Once Upon a Broken Heart«-Reihe:
Once Upon a Broken Heart (Band 1)
The Ballad of Never After (Band 2)
A Curse for True Love (Band 3)

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 432

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



STEPHANIE GARBER

A CURSE FOR TRUE LOVE

Aus dem Englischenvon Diana Bürgel

Der Verlag behält sich die Verwertung der urheberrechtlich geschützten Inhalte dieses Werkes für Zwecke des Text- und Dataminings nach § 44 b UrhG ausdrücklich vor. Jegliche unbefugte Nutzung ist hiermit ausgeschlossen.

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

© 2024 cbj Kinder- und Jugendbuchverlag in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München

Alle deutschsprachigen Rechte vorbehalten

Copyright © 2022 by Stephanie Garber

Published by Arrangement with Stephanie Garber

Die Originalausgabe erschien unter dem Titel »A Curse for True Love« bei Flatiron Books, New York

Dieses Werk wurde vermittelt durch die Literarische Agentur Thomas Schlück GmbH, 30161 Hannover

Aus dem amerikanischen Englisch von Diana Bürgel

Lektorat: Kerstin Fricke

Karte: Virginia Allyn

Umschlaggestaltung: Geviert, Grafik & Typographie, unter Verwendung eines Designs von Erin Fitzsimmons und mehrerer Motive von © Shutterstock.com (AcantStudio, Color Brush, Oleh Svetiukha)

sh • Herstellung: ang

Satz: Vornehm Mediengestaltung GmbH, München

ISBN 978-3-641-31584-9V001

www.cbj-verlag.de

Für jeden, der je auf eine zweite Chance gehofft hat

VIERTER TEIL

Glücklich bis an ihr Lebensende

1

Evangeline

Evangeline Fox hatte immer daran geglaubt, dass sie sich eines Tages in einem Märchen wiederfinden würde. Als sie noch ein kleines Mädchen gewesen war, hatte sie sich jedes Mal, wenn eine neue Kuriositätenlieferung im Geschäft ihres Vaters eintraf, sofort über die Kisten hergemacht. Sie hatte jedes einzelne Stück darin untersucht und sich gefragt: Könnte es vielleicht das hier sein? Konnte es dieser Gegenstand sein, der sie in die Welt ihrer Fantasie bringen würde?

Einmal war eine riesige Kiste angekommen, in der nichts als ein Türknauf gelegen hatte. Der Türknauf war herrlich grün wie ein Edelstein gewesen und hatte im Licht gefunkelt wie verzaubert. Evangeline war überzeugt davon gewesen, dass er ihr eine neue Welt eröffnen und ihr Märchen beginnen lassen konnte, wenn man ihn nur an der richtigen Tür anbrachte.

Leider hatte der Türknauf ihr jedoch nie irgendetwas Ungewöhnliches eröffnet. Dennoch gab Evangeline die Hoffnung nicht auf, sie würde sich irgendwann irgendwo anders wiederfinden.

Hoffnung, Fantasie und der Glaube an Magie waren für Evangeline schon immer so natürlich gewesen wie das Atmen. Und doch fiel ihr das Atmen mit einem Mal sehr schwer, als sie sich schließlich wirklich irgendwo anders wiederfand. Nämlich in den Armen eines schönen jungen Mannes, der behauptete, ihr Ehemann zu sein.

Ehemann. Ihr schwirrte der Kopf bei diesem Wort. Wie? Wie? Wie? Sie war zu überwältigt, um irgendetwas anderes zu denken als dieses eine Wort. Tatsächlich brachte sie es nicht einmal über die Lippen.

Hätte dieser junge Mann sie nicht festgehalten, wäre sie vielleicht einfach zu Boden gesunken. Es war zu viel – zu viel, was sie begreifen musste, und zugleich zu viel, was sie verloren hatte.

Zu ihren letzten Erinnerungen gehörte das Bild, wie sie zu Hause am Bett ihres Vaters gesessen hatte, während er starb. Doch die Erinnerung daran war wie an den Rändern ausgefranst. Als wäre sein Tod Teil eines verblassten Porträts. Nur war es nicht bloß verblasst – ganze Teile waren brutal davon abgerissen worden. Sie konnte sich kaum noch an die Monate vor seinem Tod erinnern oder daran, was danach geschehen war. Sie wusste nicht einmal mehr, wie er sich das Fieber zugezogen hatte, an dem er schließlich gestorben war.

Sie wusste nur, dass er fort war, genau wie ihre Mutter – und das schon seit langer Zeit.

»Ich weiß, wie erschreckend das sein muss, und ich kann mir vorstellen, dass du dich allein fühlst, aber das bist du nicht, Evangeline.« Der Fremde, der angeblich ihr Ehemann war, zog sie noch enger an sich.

Er war groß, so groß, dass sich Evangeline im Vergleich sehr klein vorkam, und er hielt sie so fest, dass sie spürte, wie er zitterte, genau wie sie. So verängstigt wie sie konnte er wohl kaum sein, aber er war ganz eindeutig auch nicht so selbstsicher, wie er aussah. »Du hast mich – und es gibt nichts, was ich nicht für dich tun würde.«

»Aber ich erinnere mich nicht an dich.« Nur widerstrebend löste sie sich aus seiner Umarmung, doch es war alles einfach zu überwältigend. Er war überwältigend.

Zwischen den Brauen des Fremden bildete sich eine Falte, als sie vor ihm zurückwich. Trotzdem blieb er geduldig, und seine Stimme klang tief und tröstlich, als er sagte: »Ich heiße Apollo Acadian.«

Evangeline wartete auf ein Flackern des Wiedererkennens, auch wenn es nur ein winziger Funken war. Sie brauchte etwas Vertrautes, etwas, woran sie sich festhalten konnte, damit sie nicht wieder zusammenbrach, und Apollo sah aus, als wäre er gern ihr Halt. Noch nie hatte jemand sie mit einer solchen Intensität betrachtet.

Er erinnerte sie an einen Märchenhelden. Breite Schultern, kräftiges Kinn und dunkle Augen mit glühendem Blick. Seine Kleidung sprach von der Sorte Reichtum, der Bilder von Schlössern und Schatztruhen heraufbeschwor. Er trug einen dunkelroten Mantel mit hohem Kragen und imposanter Goldstickerei an den Ärmeln und Schultern. Darunter erkannte sie eine Art Wams – wenigstens glaubte sie, dass man es so nannte. Zu Hause in Valenda kleideten sich die Männer ganz anders.

Nur befand sie sich eindeutig nicht mehr in Valenda. Dieser Gedanke brachte eine neue Woge der Panik mit sich, und ihre nächsten Worte sprudelten wie ein Sturzbach aus ihrem Mund.

»Wie komme ich hierher? Wie haben wir uns kennengelernt? Warum erinnere ich mich nicht an dich?«

»Deine Erinnerungen wurden von jemandem gestohlen, der versucht, uns auseinanderzubringen.« Etwas blitzte in Apollos braunen Augen auf, auch wenn sie nicht sagen konnte, ob es Wut oder Schmerz war.

Evangeline wünschte, sie könnte sich an ihn erinnern. Doch je mehr sie es versuchte, desto schlechter ging es ihr. Ihr Kopf tat weh, und ihre Brust fühlte sich hohl und leer an, als hätte sie mehr verloren als nur ihre Erinnerungen. Einen Augenblick lang war die Qual so tief und grausam, dass sie die Hand auf die Stelle über ihrem Herzen drückte und fast erwartete, dort ein klaffendes Loch vorzufinden. Doch da war keine Wunde. Ihr Herz war immer noch da, sie spürte, wie es schlug. Einen verstörenden Moment lang hatte Evangeline jedoch das Gefühl, dass dies nicht richtig war. Dass ihr Herz genauso zerbrochen sein sollte, wie sie sich fühlte.

Dann traf es sie, kein Gefühl, sondern ein Gedanke – ein scharfer, zerbrochener Gedanke.

Sie musste jemandem etwas Wichtiges sagen.

Evangeline wusste nicht mehr, was es war, aber sie hatte das Gefühl, ihre ganze Welt hinge von dieser einen Sache ab, die sie jemandem mitteilen musste. Allein bei dem Gedanken daran rauschte ihr das Blut in den Ohren. Sie versuchte, sich daran zu erinnern, was dieses Etwas war und wem sie es sagen musste – konnte es vielleicht Apollo sein?

Waren ihre Erinnerungen deswegen gestohlen worden?

»Warum versucht jemand, uns voneinander zu trennen?«, fragte sie.

Vielleicht hätte sie noch mehr wissen wollen. Vielleicht hätte sie ein weiteres Mal gefragt, wie sie einander kennengelernt hatten und seit wann sie verheiratet waren, aber auf einmal wirkte Apollo nervös.

Verstohlen warf er einen Blick über ihre Schulter, bevor er leise antwortete: »Das ist kompliziert.«

Sie folgte seinem Blick zu der seltsamen Holztür, vor der sie gekauert hatte. Die Tür wurde von zwei steinernen Kriegerengeln flankiert, die allerdings lebendiger wirkten, als es Steinstatuen tun sollten. Ihre Flügel waren ausgebreitet und mit getrocknetem Blut bespritzt. Bei diesem Anblick krampfte sich ihr erneut die Brust zusammen, als könnte sich ihr Körper noch daran erinnern, was ihr Kopf vergessen hatte.

»Weißt du, was hier passiert ist?«, fragte sie.

Für den Bruchteil einer Sekunde huschte etwas über Apollos Züge, das fast wie Schuldbewusstsein aussah, aber vielleicht war es auch nur Trauer. »Ich verspreche dir, dass ich dir all deine Fragen beantworten werde, aber jetzt müssen wir hier weg, bevor er zurückkehrt.«

»Wer ist er?«

»Der Verbrecher, der deine Erinnerungen ausgelöscht hat.« Apollo griff nach Evangelines Hand und hielt sie fest, während er sie rasch aus dem Raum mit der Holztür und den Kriegerengeln führte.

Verschwommenes spätes Morgenlicht erhellte Regalreihen voller Schriftrollen, die man mit quastenverzierten Kordeln zusammengebunden hatte. Offenbar befanden sie sich in einer uralten Bibliothek, auch wenn die Bücher zunehmend neuer wirkten, je weiter sie gingen.

Der staubige Steinboden wurde zu schimmerndem Marmor, die Decken wölbten sich höher, das Licht wirkte schärfer und die Manuskripte gingen in ledergebundene Bände über. Wieder versuchte Evangeline, irgendetwas Vertrautes zu erkennen. Etwas, das vielleicht eine Erinnerung weckte. Ihr Kopf war nun klarer, aber nichts kam ihr bekannt vor.

Sie befand sich tatsächlich irgendwo anders, und das offenbar schon lange genug, um Helden und Verbrechern begegnet zu sein und sich gefangen im Kampf zwischen ihnen wiederzufinden.

»Wer war er?«, beharrte sie. »Derjenige, der mir meine Erinnerungen gestohlen hat?«

Apollos Schritte gerieten ins Stocken. Dann ging er schneller weiter als zuvor. »Ich verspreche dir, dass ich dir alles erklären werde, aber wir sollten wirklich hier weg …«

»O du meine Güte!«, rief jemand.

Als Evangeline sich umdrehte, erblickte sie eine Frau in einer weißen Robe, die zwischen den Bücherregalen stand. Die Frau – eine Art Bibliothekarin, nahm Evangeline an – hob eine Hand an den Mund und starrte Apollo an. Ihre Miene war ehrfürchtig, ihre Augen groß und ihr Blick unverwandt.

Eine weitere Bibliothekarin trat in den Gang, keuchte auf und fiel dann prompt in Ohnmacht, wobei sie ihren Bücherstapel fallen ließ. »Es ist ein Wunder!«, rief die erste Frau.

Weitere Bibliothekarinnen sowie Gelehrte kamen herbeigeeilt, und sie alle gaben ähnlich ehrfürchtige Ausrufe von sich.

Evangeline wich zurück und trat näher an Apollo heran, als sie rasch eingekreist wurden. Erst von den Bibliothekaren, dann von Dienstboten und Zofen und Höflingen und schließlich auch von Wachsoldaten mit breiter Brust und glänzender Rüstung, die herbeigeeilt kamen, zweifellos angelockt von dem Aufruhr.

Der Saal, in dem sie sich befanden, war mindestens vier Stockwerke hoch, trotzdem fühlte er sich auf einmal sehr klein an, und es kam ihr vor, als müsste sie ersticken, während immer mehr Unbekannte den Kreis um sie enger zogen.

»Er ist zurück …«

»Er lebt …«

»Es ist ein Wunder!«, wiederholten sie alle, ihre Stimmen wurden ehrfürchtig, und immer mehr Tränen glänzten auf Wangen.

Evangeline verstand nicht, was geschah. Sie hatte das Gefühl, etwas zu erleben, das normalerweise in einer Kirche geschah. War es möglich, dass sie einen Heiligen geheiratet hatte?

Als sie zu Apollo aufsah, versuchte sie, sich an seinen Nachnamen zu erinnern. »Acadian«, hatte er gesagt. Sie konnte sich an keine einzige Geschichte über Apollo Acadian erinnern, doch ganz eindeutig gab es Geschichten über ihn. Als sie ihn gerade zum ersten Mal gesehen hatte, war er ihr wie ein Held erschienen, doch die Leute sahen ihn an, als wäre er sogar noch mehr.

»Wer bist du?«, flüsterte sie.

Apollo hob ihre Hand an die Lippen und drückte einen Kuss auf ihre Knöchel, der sie erschauern ließ. »Ich bin derjenige, der nicht zulassen wird, dass dir jemals wieder jemand wehtut.«

Ein paar der Umstehenden seufzten bei diesen Worten.

Dann wandte sich Apollo der Menge zu und hob die freie Hand zu einer Geste, mit der man auf der ganzen Welt um Ruhe bat.

Sofort verstummten die Versammelten, und ein paar von ihnen sanken sogar auf die Knie.

Es war fast unheimlich, so viele Menschen so plötzlich schweigen zu sehen – sie schienen nicht einmal zu atmen, als sich Apollos Stimme über ihre Köpfe erhob.

»Ich verstehe, dass einige von euch kaum glauben können, was sie mit eigenen Augen sehen. Doch was ihr seht, ist die Wahrheit. Ich lebe. Wenn ihr diesen Saal verlasst, dann verkündet allen, denen ihr begegnet, dass Prinz Apollo gestorben ist und die Hölle durchquert hat, um hierher zurückzukehren.«

Prinz. Evangeline blieb keine Zeit, diese Worte und das, was sie bedeuteten, zu verarbeiten – denn sobald Apollo seine Rede beendet hatte, ließ er Evangelines Hand los und zog rasch sein Samtwams aus, gefolgt von seinem Leinenhemd.

Mehrere der Versammelten keuchten erschrocken auf, darunter auch Evangeline.

Apollos Brust war makellos, glatt und muskulös, und über seinem Herzen prangte eine leuchtende Tätowierung zweier Schwerter in Form eines Herzens mit ihrem Namen in der Mitte: Evangeline.

Bis zu diesem Moment hatte sich alles fast wie ein Fiebertraum angefühlt, aus dem sie wieder hätte erwachen können, doch ihr Name auf seiner Brust wirkte auf eine Weise beständig, wie es seine Worte nicht getan hatten. Er war kein Fremder. Er kannte sie innig genug, um sich ihren Namen aufs Herz zu schreiben.

Da drehte er sich um und bot den Versammelten einen Anblick dar, der nicht nur Evangeline, sondern auch alle anderen erstarren ließ. Apollos schöner, stolzer, gerader Rücken war überzogen von einem Netz brutaler Narben.

»Dies war der Preis für meine Rückkehr!«, rief er. »Als ich gesagt habe, ich wäre durch die Hölle gegangen, habe ich es ernst gemeint. Trotzdem musste ich zurückkommen. Ich musste das Unrecht sühnen, das in meiner Abwesenheit begangen wurde. Ich weiß, dass viele glauben, mein Bruder Tiberius hätte mich umgebracht, aber er war es nicht.«

Schockiertes Flüstern lief durch die Menge.

»Ich wurde von einem Mann vergiftet, den ich für einen Freund gehalten habe«, rief Apollo laut. »Lord Jacks ist derjenige, der mich umgebracht hat. Dann hat er die Erinnerungen meiner Gemahlin Evangeline gestohlen. Ich werde nicht ruhen, bis Jacks gefunden wurde und für seine Verbrechen mit dem Leben bezahlt hat!«

2

Evangeline

Stimmen hallten von den regalgesäumten Wänden wider, als in der Bibliothek ein Tumult losbrach. Wachen in Rüstungen schworen, den Verbrecher Lord Jacks zu finden, während elegante Höflinge und Gelehrte in Roben Fragen wie einen Pfeilregen niederprasseln ließen.

»Wie lange seid Ihr schon wieder am Leben, Eure Hoheit?«

»Wie seid Ihr aus der Hölle entkommen, mein Prinz?«

»Warum hat Lord Jacks Eure Erinnerungen gestohlen?« Die letzte Frage kam, begleitet von einem schmaläugigen Blick, von einem älteren Höfling und war an Evangeline gerichtet.

»Genug«, warf Apollo ein. »Ich habe euch nicht von den Schrecken berichtet, die meine Frau erleiden musste, damit ihr sie mit Fragen attackiert, auf die sie keine Antwort hat. Ich habe euch diese Informationen gegeben, weil ich will, dass Lord Jacks gefunden wird, tot oder lebendig. Auch wenn mir tot im Augenblick lieber wäre.«

»Wir werden Euch nicht enttäuschen!«, riefen die Wachen.

Darauf ließen weitere Verkündungen über Gerechtigkeit und Lord Jacks die alte Bibliothek erbeben. Sie pochten in Evangelines Kopf, und auf einmal war alles zu viel. Der Lärm, die Fragen, die Flut fremder Gesichter, Apollos Geschichte darüber, dass er durch die Hölle gegangen war.

Es wurde noch mehr gesagt, doch die Worte wurden zu einem Schrillen in ihren Ohren.

Sie wollte sich an Apollo klammern – er war alles, was sie in dieser neuen Wirklichkeit hatte, aber er war auch ein mächtiger Prinz, was ihr das Gefühl gab, er würde weniger ihr und mehr allen anderen gehören. Sie scheute davor zurück, ihn mit weiteren Fragen zu belästigen, obwohl sie so viele davon hatte. Sie wusste bislang noch nicht einmal, wo sie sich befand.

Von ihrem Standpunkt aus konnte sie einen ovalen Fenstersitz unter einem Bogen aus Bücherregalen sehen. Das Fensterglas wies ein sanftes Hellblau auf, und dahinter erhoben sich üppige grüne Nadelbäume, die hoch wie Türme emporragten und von malerischen Schneehauben gekrönt wurden. In Valenda schneite es nur sehr selten, und der Schnee lag nie so hoch wie hier, als wäre die Welt ein Kuchen und der Schnee eine dicke weiße Glasur.

Wie ihr zuvor schon aufgefallen war, wirkte auch die Mode anders. Die Wachsoldaten sahen aus wie Ritter aus alten Sagen, und die Höflinge waren ähnlich formell wie Apollo gekleidet. Die Männer trugen Wämser, die Frauen dagegen kunstvolle schulterfreie Samtkleider mit tief angesetzter Hüfte und Brokatgürteln oder Perlenschnüren.

Noch nie hatte Evangeline Leute gesehen, die so angezogen waren. Aber sie hatte Geschichten darüber gehört.

Ihre Mutter war im Fantastischen Norden geboren worden, und sie hatte Evangeline zahllose Sagen über dieses Land erzählt, Märchen, die es so klingen ließen, als wäre es der zauberhafteste Ort der ganzen Welt.

Leider fühlte sich Evangeline in diesem Moment alles andere als verzaubert.

Da sah Apollo sie an und wandte sich von der allmählich wieder kleiner werdenden Menge um sie herum ab. Offenbar waren die Zuhörer bereits losgezogen, um die Kunde zu verbreiten, dass Prinz Apollo von den Toten zurückgekehrt war. Und warum auch nicht? Evangeline hatte noch nie davon gehört, dass jemand von den Toten zurückkehrte. Ein Gedanke, bei dem sie sich neben ihm auf einmal sehr klein vorkam.

Nur wenige waren geblieben, doch Apollo ignorierte sie alle, während er Evangeline in die Augen sah. »Hier gibt es nichts, vor dem du dich fürchten müsstest.«

»Ich fürchte mich nicht«, log sie.

»Du siehst mich nicht mehr so an wie gerade eben noch.« Da lächelte er, und es war ein so charmantes Lächeln, dass sie sich fragte, warum sie nicht sofort begriffen hatte, was er war.

»Du bist ein Prinz.« Es kam fast wie ein Piepsen heraus.

Apollos Lächeln wurde breiter. »Ist das ein Problem?«

»Nein, ich … Es ist nur …« Beinahe hätte sie gesagt, dass sie sich nie hätte träumen lassen, einmal mit einem Prinzen verheiratet zu sein.

Aber natürlich hatte sie durchaus davon geträumt. Nur war das Ergebnis ihrer Vorstellungskraft nie so kompliziert gewesen wie dies hier. Dies hier ging weit über jeden pastellfarbenen Traum hinaus, den sie jemals von Prinzen und Schlössern und weit entfernten Orten gehabt hatte. Trotzdem hätte sie all das dafür eingetauscht, sich nur daran erinnern zu können, wie sie hierhergekommen war. Wie sie sich in diesen Mann verliebt und ihn geheiratet und wie sie etwas verloren hatte, das sich wie ein Teil ihres Herzens anfühlte.

Da kam ihr ein Gedanke. In Märchen gab es immer einen Preis, den man für Magie zu zahlen hatte. Nichts war umsonst. Einfache Mädchen, die zu Prinzessinnen wurden, mussten immer dafür bezahlen. Und auf einmal fragte sie sich, ob ihre verlorenen Erinnerungen der Preis waren, den sie hatte zahlen müssen.

Hatte sie ihre Erinnerungen mitsamt einem Teil ihres Herzens eingetauscht, um mit Apollo zusammen zu sein? Konnte sie wirklich so dumm gewesen sein?

Apollos Lächeln wurde weicher und wirkte nicht mehr neckend, sondern ermutigend. Als er sprach, klangen auch seine Worte sanfter, als würde er spüren, was sie empfand. Oder vielleicht kannte er sie auch einfach gut, auch wenn sie ihn nicht kannte. Immerhin trug er ihren Namen über dem Herzen.

»Das wird schon wieder«, sagte er leise, aber fest. »Ich weiß, es ist viel, und ich verlasse dich nur sehr ungern, aber da gibt es ein paar Dinge, um die ich mich kümmern muss. In der Zwischenzeit werden dich meine Wachen in deine Gemächer bringen. Aber ich versuche, dich nicht zu lange allein zu lassen. Ich verspreche dir, dass es für mich nichts Wichtigeres gibt als dich.«

Wieder küsste er ihre Hand, dann sah er sie ein letztes Mal an, bevor er gefolgt von seiner Leibgarde davonging.

Evangeline stand da und fühlte sich auf einmal sehr allein. Sie platzte fast vor lauter Fragen, auf die sie keine Antwort hatte. Wenn Apollo gerade erst von den Toten auferstanden war, wie konnte er dann schon darüber Bescheid wissen, was ihr zugestoßen war? Vielleicht irrte er sich, was diesen Lord Jacks betraf. Vielleicht hatte er ihre Erinnerungen doch nicht gestohlen und sie hatte sie stattdessen tatsächlich törichterweise eingetauscht – was die Frage aufwarf, ob sie diesen Handel rückgängig machen konnte.

Der Gedanke ließ ihr keine Ruhe, während sie den Wachen, die Apollo ihr zugeteilt hatte, durch das Schloss folgte. Sie sagten nicht viel, doch sie erklärten ihr immerhin, dass Apollos Schloss Wolf Hall genannt wurde. Es war vom ersten König des Fantastischen Nordens, dem berühmten Wolfric Valor, erbaut worden, was sie wieder an die Geschichten ihrer Mutter denken ließ.

Im Vergleich zu dem Land, in dem Evangeline aufgewachsen war, musste der Norden unfassbar alt sein. Es war, als würde jeder Stein unter ihren Füßen die Geheimnisse einer vergangenen Ära wahren.

Einer der Korridore wurde von Türen gesäumt, die allesamt über erstaunlich aufwendige Knäufe verfügten. Einer sah aus wie ein kleiner Drache, ein anderer schien Feenflügel zu haben, und dann war da noch ein Wolfskopf mit einer hübschen Blumenkrone. Dies waren Knäufe, die Evangeline nur zu gern gedreht hätte und die ihr fast ein bisschen lebendig vorkamen, so wie die Glocke, die einst vor dem Kuriositätenladen ihres Vaters hing.

Bei dem Gedanken daran durchbohrte sie ein Pfeil der Trauer – was nicht nur an der Glocke lag, sondern auch an dem Laden und ihren Eltern und allem, was sie verloren hatte. Es war eine schwindelerregende Flut, die so plötzlich über sie hereinbrach, dass sie nicht einmal merkte, wie sie stehen blieb, bis sich einer der Wachsoldaten, der einen dichten roten Schnauzbart trug, vorbeugte und fragte: »Geht es Euch gut, Eure Hoheit? Soll einer von uns Euch tragen?«

»Oh, nein«, versicherte Evangeline peinlich berührt. »Mit meinen Füßen ist alles in Ordnung. Es ist nur ein bisschen viel auf einmal. Was ist das hier für ein Gang?«

»Das hier ist der Flügel der Valoren. Die meisten glauben, dass diese Räume den Kindern der Valoren gehört haben, auch wenn es niemand mit Sicherheit weiß. Diese Türen sind seit ihrem Tod verschlossen geblieben.«

Aber du könntest uns öffnen.

Die seltsame Stimme klang, als wäre sie von einer der Türen gekommen. Evangeline sah die Wachsoldaten einen nach dem anderen an, doch keiner von ihnen schien die Stimme gehört zu haben. Also tat sie so, als hätte auch sie nichts gehört. Ihre Lage war auch so schon verzwickt genug. Sie musste es sich nicht noch schwerer machen, indem sie verkündete, leblose Gegenstände würden zu ihr sprechen.

Glücklicherweise geschah dies kein zweites Mal, und als die Wachen endlich vor einer mit kunstvollen Schnitzereien verzierten Flügeltür stehen blieben, funkelten die edelsteinbesetzten Türknäufe zwar, blieben jedoch stumm. Es gab nur einen leisen Luftzug, als sich die Türflügel zu einer der opulentesten Zimmerfluchten öffneten, die Evangeline jemals gesehen hatte.

Die Räume waren so schön, dass sie das Gefühl hatte, es müssten Harfen erklingen und Vögel ihr Lied anstimmen. Alles glitzerte oder war vergoldet oder mit Blumen verziert. Ein Kranz aus Harlekinlilien zierte den gewaltigen Kamin, und weiße Sternmieren wanden sich um die Bettpfosten. Sogar die große Kupferwanne, die sie durch die Tür in den nächsten Raum erspähen konnte, war voller Blumen – das dampfende Wasser war violett, und weiche weiße und rosa Blütenblätter trieben darauf.

Evangeline trat zu der Wanne und tauchte die Finger ins Wasser. Alles war perfekt.

Sogar die Zofen, die hereinkamen, um ihr beim Baden und Umziehen zu helfen, waren einfach bezaubernd. Außerdem waren es erstaunlich viele, fast ein Dutzend.

Ihre Stimmen waren lieblich und ihre Hände sanft, als sie ihr in ein Kleid halfen, das so zart wie ein Flüstern wirkte.

Das Kleid war schulterfrei, aus rosarotem Tüll und mit durchsichtigen Ärmeln, die dunkelrosa Schmuckbänder zierten. Die gleichen Bänder säumten auch den tiefen Ausschnitt des Kleids und bedeckten zu kleinen Rosenknospen gedreht den oberen Teil der eng anliegenden Korsage. Der Rock floss und flatterte hinab bis zu ihren Zehen. Eine der Zofen vervollständigte das Bild, indem sie Evangelines roségoldenes Haar zu einer Krone flocht und es mit einem Reif aus goldenen Blumen zierte.

»Ihr seht wunderschön aus, Eure Hoheit, wenn ich das sagen darf.«

»Danke …«

»Martine«, sagte die Zofe, bevor Evangeline versuchen musste, sich an ihren Namen zu erinnern. »Ich stamme auch aus dem Meridianreich. Seine Hoheit, der Prinz, dachte, meine Gesellschaft könnte Euch vielleicht helfen, Euch etwas besser einzuleben.«

»Das klingt, als wäre der Prinz sehr umsichtig.«

»Ich glaube, wenn es um Euch geht … versucht er, an einfach alles zu denken.«

Martine lächelte, aber ihr kurzes Zögern ließ Evangeline innehalten. Ein Gefühl flackerte in ihr auf, der Gedanke, dass Apollo einfach zu gut war, um wahr zu sein. So wie alles hier.

Als Evangeline allein war und in den Spiegel blickte, sah sie dort die Reflexion einer Prinzessin. Es war alles, was sie sich je hätte wünschen können.

Trotzdem fühlte sie sich nicht wie eine Prinzessin.

Sie fühlte sich so, wie man sich eine Prinzessin vorstellen mochte, mit dem Kleid und dem Prinzen und dem Schloss, und doch kam es ihr gleichzeitig so vor, als würde etwas fehlen. Als würde sie nur ein Kostüm tragen und wäre in eine Rolle geschlüpft, die sie auch einfach wieder abstreifen konnte, wenn es nur etwas anderes gäbe, dem sie sich stattdessen zuwenden könnte. Denn sie fühlte sich auch nicht mehr wie das Mädchen, das sie vorher gewesen war, die ewig hoffnungsvolle junge Frau, die an Märchen, Liebe auf den ersten Blick und glückliche Enden glaubte.

Wenn sie noch dieses Mädchen gewesen wäre, dann hätte sie dies hier vielleicht leichter annehmen können, ohne so viele Fragen stellen zu wollen.

Doch irgendetwas war mit diesem Mädchen – mit ihr – geschehen, und Evangeline konnte das Gefühl nicht abschütteln, dass es über ihre verlorenen Erinnerungen hinausging.

Ihr Herz tat immer noch weh, als wäre es gebrochen und übrig wären nur noch die gezackten Scherben. Sie legte eine Hand darauf, damit nicht noch weitere Teile davon abbrachen. Abermals überkam sie die Ahnung, dass unter all dem, was sie vergessen hatte, etwas besonders Wichtiges war. Wichtiger als der Rest, wichtiger als alles andere.

Es gab etwas absolut Lebensnotwendiges, das sie jemandem sagen musste. Doch so sehr sie es auch versuchte, sie konnte sich einfach nicht daran erinnern, was es war oder wem sie es sagen musste.

3

Evangeline

Evangeline bemerkte kaum, dass die Sonne unterging und es langsam dunkler im Raum wurde, während sie über die Teppiche schritt, immer hin und her lief und verzweifelt versuchte, sich an irgendetwas zu erinnern. Sie hoffte, Apollo könnte ihr vielleicht weitere Antworten geben, wenn er zurückkam. Doch als die Tür endlich aufschwang, stand dort nicht der Prinz, sondern ein in die Jahre gekommener Arzt mit zwei jungen Assistenten.

»Mein Name ist Dr. Irvis Stillgrass«, stellte sich der Arzt vor, ein bärtiger Mann, auf dessen spitzer Nase eine Brille klemmte. »Dies hier sind Telma und Yrell, sie gehen mir zur Hand.« Er deutete auf die beiden anderen. »Seine Hoheit wünscht, dass wir Euch ein paar Fragen stellen, um herauszufinden, wie viele Eurer Erinnerungen gestohlen wurden.«

»Gibt es eine Möglichkeit, sie zurückzuholen?«, fragte Evangeline.

Dr. Stillgrass, Telma und Yrell schürzten alle gleichzeitig die Lippen, was Evangeline als »Nein« deutete. Sie war nicht überrascht, was beinahe genauso verstörend war. Evangeline war praktisch immer hoffnungsvoll, doch heute schien sie diese Hoffnung einfach nicht heraufbeschwören zu können. Wieder fragte sie sich, was ihr zugestoßen sein mochte.

»Setzt Euch doch, Prinzessin.« Dr. Stillgrass deutete auf einen quastenverzierten Sessel vor dem Kamin, und pflichtschuldig nahm Evangeline Platz.

Der Arzt blieb stehen und ragte über ihr auf, während er seine Fragen stellte.

»Wie alt seid Ihr?«

»Ich bin …« Sie musste innehalten, um darüber nachzudenken. Eine ihrer letzten klaren Erinnerungen stammte aus einer Zeit, als sie sechzehn gewesen war. Ihr Vater hatte damals noch gelebt, und sie sah vor sich, wie er lächelnd eine neue Truhe voller Kuriositäten öffnete. Doch das war alles.

Der Rest der Erinnerungen war verschwommen, wie eine schmutzige Glasscheibe, hinter der man ein Bild erahnte, aber nicht richtig erkennen konnte. Evangeline war sicher, dass ihr Vater ein paar Monate nach dieser schwachen Erinnerung gestorben war, doch sie wusste nichts Genaueres mehr darüber. Sie wusste nur tief in ihrem Herzen, dass er fort und dass seither bereits einige Zeit verstrichen war. »Ich glaube, ich bin siebzehn.«

Telma und Yrell schienen sich Notizen zu ihrer Antwort zu machen, während Dr. Stillgrass die nächste Frage stellte. »Wann seid Ihr Apollo Eurer Erinnerung nach zum ersten Mal begegnet?«

»Heute.« Evangeline zögerte. »Wisst Ihr, wann wir einander tatsächlich kennengelernt haben?«

»Ich bin hier, um Fragen zu stellen, nicht um Antworten zu geben«, verkündete Dr. Stillgrass brüsk, bevor er mit seiner Befragung fortfuhr: Erinnerte sie sich an ihre Verlobung mit Apollo? An die Hochzeit? An die Nacht, in der er gestorben war?

»Nein.«

»Nein.«

»Nein.«

Dies war die einzige Antwort, die Evangeline hatte, und wann immer sie versuchte, ebenfalls eine Frage zu stellen, weigerte sich Dr. Stillgrass, ihr Auskunft zu geben.

Irgendwann während dieser Untersuchung betrat ein weiterer Gentleman den Raum. Evangeline hatte ihn nicht hereinkommen sehen, aber auf einmal war er da und stand direkt hinter Telma und Yrell. Er war genau wie sie in eine lange braune Ledertunika über einer engen schwarzen Hose gekleidet, die mit zwei Lederriemen gegürtet war, an denen auf einer Seite seiner Hüfte eine Reihe Messer und Phiolen und auf der anderen Seite eine Art Holster für ein Buch hingen. Besagtes Buch schien er gerade in der Hand zu halten, doch irgendetwas an der Art, wie er seine Notizen hineinschrieb, war anders als bei den anderen beiden.

Dieser junge Mann schrieb schwungvoller, und sein Federkiel sauste über das Papier. Unwillkürlich wurde Evangelines Aufmerksamkeit davon angezogen, und als der junge Mann ihren Blick auffing, zwinkerte er ihr zu und legte sich einen Finger an die Lippen, als wollte er sie bitten, ihn nicht zu verraten.

Was sie aus irgendeinem Grund auch nicht tat.

Sie hatte das Gefühl, dieser Mann sollte trotz seiner passenden Kleidung eigentlich nicht hier sein. Doch er war der Einzige in dieser Gruppe, der so etwas wie Mitgefühl für sie zu haben schien, während sie um Antworten rang. Er nickte ermutigend, lächelte sie freundlich an, und wann immer Dr. Stillgrass etwas besonders Unfreundliches sagte, rollte er mit den Augen.

»Ich kann bestätigen, dass Eure Erinnerungen an das vergangene Jahr vollständig verschwunden sind«, erklärte Dr. Stillgrass wichtigtuerisch und ziemlich gefühlskalt. »Wir werden Seiner Hoheit davon berichten, und jeden Tag wird einer von uns Euch aufsuchen, um herauszufinden, ob vielleicht eine Erinnerung zurückgekehrt ist.«

Das Ärztetrio wandte sich zum Gehen, und Dr. Stillgrass marschierte einfach an dem jungen Mann vorbei, ohne ihn auch nur anzusehen. Yrell und Telma schienen ihn jedoch endlich zu bemerken.

»Doktor …«, setzte Telma an.

Doch Yrell schien von dem Eindringling wie geblendet zu sein und zog Telma am Ärmel ihrer Tunika, um sie zum Schweigen zu bringen. Dann verließ das Trio Evangelines Gemächer.

Nur der namenlose junge Mann war noch da.

Er kam auf Evangeline zugeschlendert und zog eine viereckige Karte aus der Tasche.

»Wenn ich es nicht mit eigenen Augen gesehen hätte, würde ich es nicht glauben«, sagte er leise. »Es tut mir leid, dass Ihr Eure Erinnerungen verloren habt. Falls Ihr mal mit jemandem reden oder ein paar Antworten haben möchtet, dann bin ich vielleicht in der Lage, einige Lücken zu füllen.«

Er reichte ihr die Karte.

Kristof Knightlinger

Südlicher Morgenwachturm

Turmviertel

»Was für Fragen …?«, setzte Evangeline an, nachdem sie die merkwürdige Karte gelesen hatte.

Aber der Gentleman war bereits fort.

Das Feuer knisterte.

Mit einem Ruck wachte Evangeline auf, obwohl sie eigentlich gar nicht hatte einschlafen wollen. Sie hatte sich in dem Sessel vor dem Kamin zusammengerollt und über die kleine rote Karte von Kristof Knightlinger gerätselt. Sie konnte sie immer noch in ihrer Hand fühlen.

Sie konnte auch noch etwas anderes fühlen. Die Arme eines Mannes, die sich vorsichtig unter sie schoben, sie hochhoben und an eine Brust drückten, die nach Balsam und etwas Holzigem roch.

Apollo.

Ihr Magen zog sich zusammen.

Sie konnte nicht vollkommen sicher sein, dass es wirklich Apollo war, der sie in den Armen hielt. Ihre Augen waren immer noch geschlossen, und am liebsten wollte sie es dabei belassen. Sie wusste nicht, warum sie sich schlafend stellen wollte oder warum ihr Herz schneller schlug, während er sie trug. Auf wenigstens ein paar ihrer Fragen musste Apollo eine Antwort haben. Trotzdem zögerte sie unerklärlicherweise, sich noch einmal an ihn zu wenden.

Ob es daran lag, dass er ein Prinz oder ihr immer noch vollkommen fremd war, wusste sie nicht.

Seine Arme schlossen sich fester um sie, und Evangeline spannte sich an. Doch dann hatte sie auf einmal das Gefühl, sich an etwas zu erinnern. Viel war es nicht, nur eine vage Ahnung davon, von jemandem getragen zu werden, gefolgt von einem Gedanken.

Er würde sie nicht nur durch eiskaltes Wasser tragen. Er würde sie durch Feuer ziehen, wenn es sein musste, er würde sie den Klauen eines Krieges entreißen, sie aus einstürzenden Städten und untergehenden Welten retten …

Etwas löste sich in ihr, und für den Bruchteil eines Augenblicks fühlte sie sich sicher. Sogar mehr als sicher. Doch ihr fehlte der richtige Begriff für das, was sie empfand. Sie wusste nur, dass sie so etwas noch nie zuvor verspürt hatte – diese tiefe Geborgenheit.

Langsam schlug sie die Augen auf. Draußen war es mittlerweile vollkommen dunkel, und in ihren Gemächern leuchtete nur noch der Kamin, was bedeutete, dass der Großteil des Raums in Schatten getaucht war. Nur der Prinz nicht, der sie in den Armen hielt. Das Licht schien sich an ihm festzuklammern, vergoldete die Spitzen seines dunklen Haars und sein kräftiges Kinn, während er sie zum Bett trug.

»Entschuldige«, murmelte Apollo. »Ich wollte dich nicht wecken, aber es hat ausgesehen, als wäre dir in dem Sessel unbequem.«

Sanft legte er Evangeline auf einer Daunendecke ab, bevor er ihr einen raschen Kuss auf die Wange hauchte, so zart, dass sie es vielleicht nicht einmal wahrgenommen hätte, wenn sie sich seiner Bewegungen und des warmen Gleitens seiner Hände, als er sie losließ, nicht so überdeutlich bewusst gewesen wäre. »Süße Träume, Evangeline.«

»Warte.« Rasch griff sie nach seiner Hand.

Kurz huschte ein Ausdruck der Überraschung über seine Züge. »Möchtest du, dass ich bleibe?«

Ja wäre vermutlich die richtige Antwort darauf gewesen.

Sie waren verheiratet.

Er war ein Prinz.

Ein eindrucksvoller Prinz.

Ein sehr attraktiver Prinz.

Ein Prinz, für den sie vielleicht eine Menge geopfert hatte, nur um mit ihm zusammen zu sein.

Mit dem Daumen strich er über ihre Hand, während er geduldig auf ihre Antwort wartete.

»Es tut mir leid, dass ich mich nicht an dich erinnere – ich versuche es wirklich«, flüsterte sie.

»Evangeline.« Apollo drückte ihr leicht die Hand. »Das Letzte, was ich möchte, ist, dass du leidest, und ich sehe, wie weh es dir tut, dass du so viel vergessen hast. Doch selbst wenn du dich niemals erinnerst, ist alles in Ordnung. Wir werden zusammen neue Erinnerungen erschaffen.«

»Aber ich möchte mich erinnern.« Und mehr als das, sie hatte das Gefühl, sich erinnern zu müssen. Sie musste immer noch jemandem unbedingt etwas Entscheidendes sagen, doch sie wusste weder, was es war, noch, wem sie es sagen musste. »Was, wenn es eine Möglichkeit gibt, meine Erinnerungen zurückzubekommen?«, fragte sie. »Vielleicht können wir mit dem Mann verhandeln, der sie mir weggenommen hat.«

»Nein.« Vehement schüttelte Apollo den Kopf. »Das wäre das Risiko nicht wert, selbst wenn es möglich wäre. Lord Jacks ist ein Ungeheuer«, fügte er barsch hinzu. »Er hat mich in unserer Hochzeitsnacht vergiftet und dich des Mordes beschuldigt. Während ich tot war, wärst du um ein Haar hingerichtet worden. Jacks hat kein Gewissen, und er kennt keine Reue. Wenn ich auch nur für einen Moment glauben könnte, er würde dir helfen, dann würde ich alles tun, um ihn zu dir zu bringen. Doch ich fürchte, dich nie wiederzusehen, falls er dich jemals findet.«

Apollo holte tief Luft, und als er weitersprach, klang seine Stimme weicher. »Ich kann mir kaum vorstellen, wie schwer es ist, einfach loszulassen, aber ich glaube wirklich, dass es das Beste ist, Evangeline. Jacks hat dir grässliche, unverzeihliche Dinge angetan, und ich bin davon überzeugt, dass du glücklicher sein könntest, wenn diese Dinge für immer vergessen bleiben.«

4

Apollo

Der verstorbene König Roland Titus Acadian hatte immer eine Abneigung gegen das Wort »nett« gehegt. Nett war etwas für Dienstboten, Bauern und andere Leute, denen es an Persönlichkeit mangelte. Ein Prinz sollte klug, eindrucksvoll, weise, gerissen, sogar grausam sein, wenn es sein musste – aber niemals nett.

König Roland hatte oft zu seinem Sohn Apollo gesagt: »Wenn du nett bist, dann bedeutet das, dass es für alles andere nicht reicht. Die Leute sind nett, wenn es sein muss, aber als Prinz musst du mehr sein.«

Als er noch ein Junge gewesen war, hatte Apollo diesen Ratschlag als Freibrief betrachtet, um rücksichtslos mit dem Leben anderer umzugehen. Er war nicht grausam, aber genauso wenig verfügte er über die anderen Werte, die sein Vater aufgezählt hatte. Apollo hatte immer geglaubt, ihm würde noch genug Zeit bleiben, um klug, eindrucksvoll, weise oder gerissen zu werden. Nie war ihm in den Sinn gekommen, dass er in der Zwischenzeit etwas ganz anderes werden würde.

Sobald Apollo aus dem Schwebezustand erwacht war, in den ihn sein früherer Freund Lord Jacks versetzt hatte, war ihm die erschreckende Wahrheit bewusst geworden. Nachdem er herausgefunden hatte, dass ihn der gesamte Fantastische Norden für tot hielt, hatte Apollo erwartet, Monumente aus Blumen und Bastionen von Trauernden vorzufinden, die immer noch um ihn weinten, obwohl die offizielle Trauerzeit verstrichen war.

Stattdessen hatte er feststellen müssen, dass sein Königreich bereits über ihn hinweggekommen war. Nach nur zwei Wochen war er zu einer Fußnote verkommen, in Erinnerung behalten durch ein einziges, unscheinbares Wort in einem Skandalblatt.

Während er unter dem Fluch des Bogenschützen gestanden hatte, war er auf diese bestimmte Ausgabe des Skandalblatts gestoßen, die am Tag nach dem angeblichen Mord an ihm veröffentlicht worden war. In der Zeitung hatte nur gestanden, dass er gestorben war. Nur ein Wort – geliebt – war verwendet worden, um ihn zu beschreiben, mehr nicht. In der Zeitung hatte nichts über seine großen Taten oder seine Tapferkeitsbeweise gestanden. Wie auch, wenn er sein ganzes Leben hauptsächlich damit verbracht hatte, für Porträts Modell zu sitzen?

Nun konnte Apollo den Anblick dieser Bilder kaum noch ertragen, während er Wolf Hall durchquerte, unterwegs zu seinem Treffen mit Mr Kristof Knightlinger vom »Gerücht des Tages«.

Dies war seine zweite Chance darauf, endlich mehr aus sich zu machen, so wie sein Vater es gewollt hatte. Nach seiner schockierenden Rückkehr von den Toten gestern war Apollo aufgefallen, dass die Menschen ihn anders ansahen. Stimmen wurden noch gedämpfter, Köpfe rascher gesenkt, und die Augen waren voller Bewunderung, als wäre er nicht mehr nur ein Sterblicher.

Dabei hatte er sich nie menschlicher, verletzlicher oder elender gefühlt.

Es war alles eine Lüge. Er war nie von den Toten zurückgekehrt. Er war nur verflucht worden, und das wieder und wieder. Nun, zum ersten Mal seit fast drei Monaten, stand er nicht mehr unter einem Zauber, und dennoch kam er sich verflucht vor wegen dem, was er Evangeline angetan hatte.

Apollo hatte geglaubt, er würde nicht mehr so oft an sie denken müssen, wenn der Fluch des Bogenschützen erst einmal von ihm genommen wäre. Der Fluch hatte ihn dazu gezwungen, sie zu jagen. Unter seinem Einfluss hatte er in jeder Sekunde nur an sie gedacht. In jedem Moment hatte er sich gefragt, wo sie war und was sie tat. Unablässig hatte er ihr engelsgleiches Gesicht vor sich gesehen. Er wollte nichts anderes mehr als sie – und sobald er sie gefunden hatte, wollte er sie nur noch vernichten.

Nun wollte er sie noch immer, aber auf eine andere Art. Wenn er sie sah, wollte er sie nicht töten. Er wollte sie beschützen. Dafür sorgen, dass sie sicher war.

Deshalb hatte er ihre Erinnerungen ausgelöscht.

Er wusste, dass es so am besten war. Jacks hatte sie hereingelegt, genau wie er Apollo vorgegaukelt hatte, er wäre sein Freund. Wenn Evangeline ein weiteres Mal Jacks’ Willen erlag, würde er sie zerstören. Apollo dagegen würde sie glücklich machen. Er würde dafür sorgen, dass eine geliebte und verehrte Königin aus ihr wurde. Er würde alles, was er ihr in der Vergangenheit angetan hatte, mehr als wiedergutmachen, solange sie es nur niemals herausfand.

Sollte sie jemals dahinterkommen, dass er es gewesen war, der ihr die Erinnerungen genommen hatte, dann würde alles zusammenbrechen.

Nur eine andere Person wusste, was Apollo getan hatte. Wenn dieser Tag nach Plan verlief, würde er sich wegen dieser Person jedoch keine Sorgen machen müssen. Und was die Suche nach Jacks anging, hoffte Apollo, dass ihm das Gespräch an diesem Morgen dabei helfen würde.

Endlich erreichte er das kleine Turmzimmer, in dem das Treffen stattfinden sollte. Normalerweise bevorzugte er einen großzügigeren Hintergrund: gewaltige Säle mit viel Licht und Fenstern und Dekorationen, die es unmöglich machten, zu vergessen, dass Apollo ein Prinz war. Heute jedoch hatte er sich für ein schmuckloses Turmzimmer entschieden, um sicherzustellen, dass niemand die Unterhaltung, die er dort führen würde, mithörte.

Kristof Knightlinger erhob und verbeugte sich, sobald Apollo den Raum betrat. »Schön, Euch lebendig zu sehen, Eure Hoheit. Ihr seht blendend aus.«

»Und meine Rückkehr ist sicher auch hilfreich, was die Verkaufszahlen der Zeitung betrifft«, gab der Prinz zurück. Vielleicht war er immer noch ein wenig verbittert über den Mangel an Dramatik, der ihm in den Artikeln nach seinem Tod zuteilgeworden war.

Was dem Reporter natürlich nicht aufzufallen schien.

Kristof lächelte enthusiastisch. Er schien immer gute Laune zu haben. Seine Zähne waren ebenso strahlend weiß wie das Spitzenjabot an seiner Kehle. »Da wird dieses Gespräch durchaus auch hilfreich sein. Danke, dass Ihr Euch heute Morgen die Zeit dafür nehmt. Ich weiß, dass meine Leser viele Fragen darüber haben, wie Ihr von den Toten zurückkehren konntet, wie es ist, tot zu sein, und ob Ihr uns Lebende sehen konntet.«

»Ich werde heute keine dieser Fragen beantworten«, gab Apollo brüsk zurück.

Das Lächeln des Reporters verblasste.

»Ich möchte, dass sich Euer Artikel auf die unehrenhaften Taten von Lord Jacks konzentriert und darauf, wie wichtig es ist, dass er umgehend gefangen genommen wird.«

»Eure Hoheit, ich bin nicht sicher, ob Euch bewusst ist, dass ich seine Missetaten bereits in der Ausgabe des heutigen Morgens erwähnt habe.«

»Dann erwähnt sie noch mal, und lasst sie dieses Mal noch hässlicher erscheinen. Bis dieser Verbrecher gefasst wurde, will ich, dass täglich über seine Taten berichtet wird. Ich will, dass sein Name zum Synonym für Bosheit wird. Hier geht es nicht nur um mich, sondern auch um Prinzessin Evangeline und den ganzen Fantastischen Norden. Sobald er gefasst wurde, können wir uns noch einmal unterhalten, und ich werde all Eure Fragen beantworten, aber bis dahin verlange ich, dass gedruckt wird, was ich sage.«

»Natürlich, Eure Hoheit«, gab Kristof Knightlinger mit einem freundlichen Lächeln zurück.

Doch es war nicht mehr das gleiche Lächeln wie gerade eben noch. Dies hier war nicht seine übliche gute Laune. Dies war ein nettes Lächeln, das nur deshalb zustande kam, weil Apollo ein Prinz war und weil Kristof nichts anderes übrig blieb, als zu lächeln.

So etwas wie ein schlechtes Gewissen regte sich in Apollo bei diesem Anblick, und einen Moment lang dachte er darüber nach, seine Forderung abzumildern. Dann rief er sich in Erinnerung, was sein Vater davon gehalten hatte, wenn man nett war.

Nach seinem Treffen mit Kristof wollte Apollo nach Evangeline sehen. Selbstverständlich informierten ihn die Dienstboten regelmäßig über ihren Zustand, und bisher hatte man ihm mitgeteilt, dass sie gesund und zufrieden und immer noch erinnerungslos war.

Apollo hoffte, dass sie es nach seiner Warnung in der vergangenen Nacht aufgegeben hatte, ihren Erinnerungen nachzujagen, aber die Evangeline, die er kannte, gab nicht so leicht auf. Sie hatte einen Weg gefunden, ihn vom Fluch des Bogenschützen zu befreien, und er konnte sich durchaus vorstellen, dass es ihr auch gelingen würde, ihre verlorenen Erinnerungen wiederzufinden, falls sie jemals die Chance dazu bekam. Weshalb Apollo nicht vorhatte, ihr diese Chance zu geben.

Er hatte bereits Vorkehrungen getroffen, damit sie an diesem Morgen beschäftigt blieb. Es wäre ihm lieber gewesen, wenn er selbst ihre Zeit für sich beanspruchen könnte, aber dazu würde es später noch genug Gelegenheit geben.

Zuerst gab es eine andere Sache, um die er sich kümmern musste.

Der Rat der Großen Häuser.

Gestern schon hatte er sich mit einigen Mitgliedern getroffen, um zu beweisen, dass er kein Hochstapler, sondern wirklich von den Toten zurückgekehrt war. Danach hatte es eine lange Diskussion darüber gegeben, wie man mit dem tatsächlichen Hochstapler verfahren sollte, der versucht hatte, ihm seinen Thron zu stehlen. Was sich jedoch als vollkommen überflüssig erwiesen hatte, da dieser Welpe anscheinend irgendwann im Laufe der Unterredung die Flucht ergriffen hatte.

Offenbar war er von ein paar verliebten Bediensteten gewarnt worden.

Apollo hatte ihm einige seiner Soldaten hinterhergeschickt, doch im Augenblick hatte er andere Prioritäten als den Hochstapler.

Als er sich der Tür näherte, die zu dem Raum führte, in dem die Ratsversammlung abgehalten werden sollte, verlangsamte Apollo seine Schritte. Das Zimmer auf der anderen Seite hatte ihn schon immer an einen gewaltigen Zinnkelch erinnert. Die Wände waren leicht abgerundet, und die Luft flirrte fast silbern, was allem eine gewisse metallische, fast schwertartige Schärfe verlieh. In der Mitte des Raums stand ein uralter weißer Eichentisch, der sich angeblich schon seit den Tagen von Wolfric Valor, dem ersten König des Fantastischen Nordens, hier befand, ein rauer Mann aus einer anderen Zeit, der nun am gegenüberliegenden Ende des Tisches saß.

Sobald Apollo eintrat, verstummten sämtliche Gespräche. Aus der Szenerie war jedoch ersichtlich, dass sich die Unterhaltungen bis zu diesem Moment ausschließlich um das neueste Mitglied des Rats gedreht hatten: besagten Wolfric Valor. Obwohl nur Apollo wusste, wer er wirklich war. Niemand sonst aus dem Rat ahnte, dass Wolfric bis gestern zusammen mit seiner ganzen Familie in den Valorien gefangen gewesen war.

Wolfric nannte sich nun Lord Vale. Trotzdem schienen sich die Männer und Frauen im Raum allesamt ihm zuzuneigen. Was gut war – es erleichterte Apollos Aufgabe. Dennoch war es auch ein wenig irritierend zu sehen, wie der Rat auf den legendären ersten König des Nordens reagierte, obwohl niemand wusste, wer er war.

»Da ist er ja, zurückgekehrt von den Toten!«, donnerte Wolfric, und sein darauffolgendes Klatschen breitete sich wie ein Feuer im Raum aus, bis sämtliche Ratsmitglieder aufgestanden waren und Prinz Apollo applaudierten, der an den Eichentisch trat.

Wolfric zwinkerte ihm zu. Wir sind Verbündete, sagte diese Geste. Wir stecken zusammen hier drin. Freunde.

Doch Apollos Erinnerungen daran, wie sein letzter Freund ihn betrogen hatte, waren noch zu frisch. Falls sich Wolfric entschließen sollte, dasselbe zu tun, hätte Apollo ihm und seiner mächtigen Familie nichts entgegenzusetzen. Apollo konnte nicht mehr tun, als zu seinem Wort zu stehen und zu hoffen, dass Wolfric dasselbe tat.

»Wie ich sehe, habt ihr unser neuestes Ratsmitglied bereits kennengelernt«, sagte Apollo und formulierte dies mit voller Absicht wie eine Aussage, nicht wie eine Frage.

Obwohl Apollo noch kein gekrönter König war, besaß er doch mehr Macht als der Rat. Im Fantastischen Norden konnte ein Prinz erst König werden, nachdem er geheiratet hatte. Dieses Gesetz war genau wie seine bevorstehende Krönung jedoch hauptsächlich Theater. Königliche Ereignisse wie Krönungen oder die Nimmer Endende Nacht sorgten dafür, dass ein Prinz seinem Volk ans Herz wuchs. Sie sorgten für Hoffnung und Liebe im Königreich.

Dessen ungeachtet war der Rat der Großen Häuser durchaus nicht machtlos. Die Ratsmitglieder konnten zwar nicht verhindern, dass Apollo ein neues Großes Haus ernannte, aber sie konnten Widerstand leisten und dabei auch gleich gefährliche Wahrheiten zutage fördern. Apollo wollte nicht riskieren, dass irgendjemand von diesen Wahrheiten erfuhr.

Wenn es nach ihm ging, sollte sein Königreich auf keinen Fall erfahren, dass die legendären Valoren von den Toten zurückgekehrt waren und sich nun Haus Vale nannten.

Er selbst hatte nur ein paar Wochen lang nicht unter den Lebenden geweilt, doch die Valoren waren jahrhundertelang für tot gehalten worden.

Apollo kämpfte immer noch mit der Tatsache, dass die Sagen über die Valorien der Wahrheit entsprachen und dass die Valoren darin eingeschlossen gewesen waren. Er wollte sich nicht einmal vorstellen, welchen Wirbel es im Königreich geben würde, sollte jemals jemand dahinterkommen. Genauso unerträglich fand er die Vorstellung, welche Fragen Evangeline wohl stellen mochte, wenn sie herausfand, dass sie selbst es gewesen war, die den Valorienbogen geöffnet hatte.

Offenbar hatte sein Bruder Tiberius die ganze Zeit recht gehabt, was sie anging.

Apollo konnte nur hoffen, dass Tiberius sich in dem Punkt irrte, was nach der Öffnung des Bogens geschehen würde.

»Lord Vale und seine Familie waren für mich da, als ich von den Toten zurückgekehrt bin«, erklärte Apollo glatt, da dies immerhin ein Teil der Wahrheit war. Wolfrics Frau Honora Valor hatte ihn vom Fluch des Bogenschützen und vom Spiegelfluch befreit. Er fühlte sich ihr tatsächlich tief verpflichtet, was es ihm leicht machte, voller Ernst fortzufahren. »Ohne diese Familie stünde ich heute vielleicht nicht hier. Zur Belohnung habe ich beschlossen, sie zu einem Großen Haus zu ernennen und ihnen Ländereien zu geben, auf denen sie sich um andere kümmern können, genauso wie sie sich um mich gekümmert haben.«

Einen Moment lang schwieg der gesamte Rat. Apollo erkannte, dass sich die Mitglieder zwar gerade eben noch zu Wolfric hingezogen gefühlt haben mochten, dass sie sich, was diesen Bären von einem Mann anging, jedoch nicht sicher waren, und noch nervöser machte sie Apollos Verkündung.

Apollo hatte noch keiner Familie die Würde eines Großen Hauses verliehen, genauso wenig wie sein Vater vor ihm oder der Vater seines Vaters zuvor. Es war eine ziemlich simple Aufgabe, aber sobald es einmal geschehen war, konnte man es nicht so leicht wieder rückgängig machen. Jemandem Macht zu verleihen, war wesentlich leichter, als sie ihm wieder zu nehmen.

Apollo spürte, dass die Ratsglieder fürchteten, mit dieser Verkündung könnte ihnen ein Teil ihrer Macht abhandengekommen sein.

Fast konnte er die Fragen sehen, die ihnen auf der Zunge lagen: Ihr seid gerade erst von den Toten zurückgekehrt. Seid Ihr sicher, dass dies eine kluge Entscheidung ist? Habt Ihr vor, noch weitere Große Häuser zu ernennen? Woher wollt Ihr wissen, dass es dieses Haus wirklich verdient hat, ein Großes Haus zu werden? So wie wir?

»Meine Familie ist Euch sehr dankbar für Eure Großzügigkeit, Eure Hoheit. Es ist mir wirklich eine Ehre, zu diesem Rat aus so vielen hervorragenden Männern und Frauen zu gehören.« Wolfrics Stimme klang mild, doch sein Blick war fest und unerschütterlich, als er sich umsah. Einem nach dem anderen blickte er den Ratsmitgliedern in die Augen, und mehr als einer schien dabei den Atem anzuhalten.

Als Apollo noch ein Junge gewesen war, hatte er zahllose Geschichten über diesen Mann zu hören bekommen. Man sagte, dass Wolfric Valor mit einem einzigen Kampfschrei ganze Armeen zu Fall bringen und seinen Feinden mit bloßen Händen den Kopf abreißen konnte. Er hatte die verfeindeten Clans des Nordens zu einem Königreich vereint und Wolf Hall als Hochzeitsgeschenk für seine Frau erbaut, nachdem er sie einem anderen gestohlen hatte.

Rein äußerlich schien der Mann vor ihm bei Weitem nicht so Furcht einflößend zu sein, wie die Geschichten behaupteten. Apollo war größer und feiner gekleidet. Dennoch besaß Wolfric dieses undefinierbare Mehr, von dem sein Vater immer gesprochen hatte. Wolfric verkörperte alles, was Apollo zu sein versuchte.

Die Ratsmitglieder sagten kein Wort, bis Wolfric sie endlich aus seinem Blick entließ.

Es war Lord Byron Belleflower, der sich schließlich zu Wort meldete. »Willkommen im Rat, Lord Vale. Ich hoffe, Ihr seid bereits über alle derzeitigen Belange des Königreichs in Kenntnis gesetzt worden. Heute gibt es ein paar andere wichtige Angelegenheiten, die besprochen werden müssen.«

Belleflower wandte sich an Apollo. Im Gegensatz zu allen anderen im Schloss, die den Prinzen seit seiner dramatischen Rückkehr von den Toten angesehen hatten, betrachtete Byron Belleflower ihn weder mit Bewunderung noch mit Ehrfurcht.

Apollo und er kamen schon seit Jahren nicht gut miteinander aus, und aus Belleflowers spöttischem Blick schloss Apollo, dass der junge Mann während seiner Abwesenheit nicht gerade angenehmer geworden war. Es gab Gerüchte, denen zufolge Belleflowers Geliebte gestorben war, auch wenn Apollo nicht überrascht gewesen wäre, wenn sie ihren Tod nur vorgetäuscht hätte, um von ihm wegzukommen.

»Nun«, fuhr Belleflower laut und dröhnend fort, bevor er eine dramatische Pause einlegte, um sicherzustellen, dass sämtliche Ratsmitglieder am großen Tisch in seine Richtung blickten.

Die meisten der anderen waren schon betagter, doch Lord Belleflower war etwa in Apollos Alter. Als Jungen waren sie Freunde gewesen, bis Belleflower schließlich alt genug gewesen war, um zu begreifen, dass Apollo einmal ein ganzes Königreich erben würde, wohingegen für ihn nur ein Schloss auf einem kalten, öden Berg abfallen würde. Apollo hätte Byron schon vor Jahren gern aus dem Rat entfernt, doch leider gehörte zu Belleflowers Schloss eine ansehnliche Privatarmee, die der Prinz nicht auf der falschen Seite sehen wollte.

Es war wie bei den meisten Ratsmitgliedern. Eines von ihnen zu entfernen, würde Konsequenzen nach sich ziehen, die Apollo lieber vermeiden wollte.