The Ballad of Never After - Stephanie Garber - E-Book

The Ballad of Never After E-Book

Stephanie Garber

0,0
12,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Es war einmal ... ein Mädchen mit einem tödlichen Fluch

Evangeline Fox möchte mit Jacks, dem Prinz der Herzen, nichts mehr zu tun haben. Zu tief sitzt der Schmerz über seinen Verrat. Jetzt, da sie ihre eigenen magischen Kräfte entdeckt hat, will sie ihr Happy End selbst in die Hand nehmen. Doch als sie sich einem neuen Fluch stellen muss, bleibt Evangeline keine andere Wahl, als sich erneut mit Jacks zu verbünden. Denn dieser Fluch ist sehr viel gefährlicher als ein Liebeszauber – um nicht zu sagen ... tödlich. Und in diesem Kampf könnte Jacks sogar der Einzige sein, dem sie vertrauen kann. Gemeinsam stellen sich Evangeline und Jacks alten Freunden, neuen Feinden und einer Magie, die Köpfe und Herzen gleichermaßen durcheinander bringt. Bisher konnte Evangeline immer auf ihr Herz vertrauen, doch jetzt ist sie sich nicht mehr so sicher ...

Von der #1-New-York-Times-Bestsellerautorin der »Caraval«-Reihe: Band zwei der neuen großen Fantasy-Trilogie über Liebe, Flüche und den Kampf um das eigene Happy End. Die BookTok-Sensation erscheint erstmals auf Deutsch!

Alle Bände der »Once Upon a Broken Heart«-Reihe:
Once Upon a Broken Heart (Band 1)
The Ballad of Never After (Band 2)

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 458

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



STEPHANIE GARBER

THE BALLAD OF NEVER AFTER

Aus dem Englischenvon Diana Bürgel

Der Verlag behält sich die Verwertung der urheberrechtlich geschützten Inhalte dieses Werkes für Zwecke des Text- und Dataminings nach § 44 b UrhG ausdrücklich vor. Jegliche unbefugte Nutzung ist hiermit ausgeschlossen.

© 2024 cbj Kinder- und Jugendbuchverlag in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München

Alle deutschsprachigen Rechte vorbehalten

Copyright © 2022 by Stephanie Garber

Published by Arrangement with Stephanie Garber

Die Originalausgabe erschien unter dem Titel »The Ballad of Never After« bei Flatiron Books, New York

Dieses Werk wurde vermittelt durch die Literarische Agentur Thomas Schlück GmbH, 30161 Hannover

Aus dem amerikanischen Englisch von Diana Bürgel

Lektorat: Kerstin Fricke

Karte: Virginia Allyn

Umschlaggestaltung: Geviert, Grafik & Typographie, unter Verwendung eines Designs von Erin Fitzsimmons und mehrerer Motive von © Shutterstock.com (Girls 1 Boy, seksan wangkeeree, AcantStudio, JaySi, pukao)

sh • Herstellung: AW

Satz: Vornehm Mediengestaltung GmbH, München

ISBN 978-3-641-31583-2V001

www.cbj-verlag.de

Für jeden, der je befürchtet hat, niemals wahre Liebe zu finden

Warnende Worte

Liebe Evangeline,

irgendwann wirst Du ihn wiedersehen, doch wenn es so weit ist, darfst Du Dich nicht von ihm täuschen lassen. Fall nicht auf seine charmanten Grübchen oder seine überirdisch blauen Augen herein, und gib auch nichts darauf, dass Dein Magen vielleicht Purzelbäume schlägt, wenn er Dich kleine Füchsin nennt – es ist kein Kosename, sondern nur eine weitere Form der Manipulation.

Jacks’ Herz mag zwar wieder schlagen, aber es ist vollkommen gefühllos. Solltest Du tatsächlich Gefahr laufen, ihm abermals zu vertrauen, dann denk daran, was er alles getan hat.

Denk daran, dass er derjenige war, der Apollo vergiftet hat, um Dich als Mörderin zu brandmarken und eine lange verlorene Prophezeiung in Erfüllung gehen zu lassen – eine Prophezeiung, die Dich in einen Schlüssel verwandeln soll, mit dem der Valorienbogen geöffnet werden kann. Nur darum geht es ihm: Er will den Valorienbogen öffnen. Wahrscheinlich wird er zu einem zukünftigen Zeitpunkt freundlich zu Dir sein, um Dich dazu zu bringen, den Bogen aufzuschließen. Tu es nicht.

Denk daran, was er Dir an jenem Tag in der Kutsche gesagt hat: Er ist eine Schicksalsmacht, und Du bist für ihn nichts weiter als ein Werkzeug. Vergiss nie, was Jacks ist, und hab auch kein Mitgefühl mehr mit ihm.

Wenn Du jemandem vertrauen musst, dann vertraue Apollo, sobald er aufwacht. Denn er wird aufwachen. Du wirst einen Weg finden, ihn zu heilen, und wenn es so weit ist, dann glaube daran, dass ihr beide euer Glück bis ans Ende aller Tage finden werdet und dass Jacks bekommt, was er verdient.

Viel Glück.

Evangeline

Während Evangeline diesen Brief an sich selbst unterzeichnete, atmete sie tief durch. Dann versiegelte sie den Umschlag mit einem dicken Wachstropfen und schrieb »Für den Fall, dass Du jemals vergisst, was der Prinz der Herzen getan hat, und in Erwägung ziehst, ihm wieder zu vertrauen« darauf.

Erst ein Tag war vergangen, seit sie von Jacks’ jüngstem Verrat erfahren hatte – davon, dass er ihren frisch angetrauten Gemahl Apollo in der Hochzeitsnacht vergiftet hatte. Sein falsches Spiel war ihr noch so eindringlich bewusst, dass es ihr unmöglich schien, sie könnte Jacks je wieder glauben, doch gleichzeitig wusste sie, dass sich ihr Herz stets danach sehnte, auf das Beste zu hoffen. Sie glaubte daran, dass man sich verändern konnte. Sie glaubte daran, dass jedes Leben wie eine Geschichte mit einem bisher ungeschriebenen Ende war und dass die Zukunft deshalb für jeden unendlich viele Möglichkeiten bot.

Dennoch konnte sie sich nicht gestatten, auf Jacks zu hoffen oder ihm zu vergeben, was er Apollo und ihr angetan hatte.

Und sie durfte Jacks niemals dabei helfen, den Valorienbogen zu öffnen.

Die Valoren, die erste Königsfamilie des Fantastischen Nordens, hatten den Bogen als Tor zu einem Ort erschaffen, den man die Valorien nannte. Niemand wusste, was sich in den Valorien verbarg, da man den Legenden des Nordens nicht trauen konnte. Schuld daran war der Geschichtenfluch, mit dem sie belegt worden waren. Einige der Sagen gingen in Flammen auf, sobald man versuchte, sie niederzuschreiben, andere konnten den Norden nicht verlassen, und viele veränderten sich jedes Mal, wenn man sie erzählte, wodurch sie mit jedem Bericht noch unzuverlässiger wurden.

Im Fall der Valorien gab es zwei widerstreitende Darstellungen. Der einen zufolge waren die Valorien eine Art Schatztruhe, in der sich die größten magischen Gaben der Valoren befanden. Die andere besagte, die Valorien seien ein verzaubertes Gefängnis, in dem alle möglichen magischen Wesen gefangen waren, darunter auch eine von den Valoren selbst erschaffene Monstrosität.

Evangeline wusste nicht, welche Geschichte sie glauben sollte, doch ob es nun um magische Gaben oder um ein magisches Ungeheuer ging, sie würde nicht zulassen, dass Jacks irgendetwas davon in seine kalten Finger bekam.

Der Prinz der Herzen war auch so schon gefährlich genug. Und sie war wütend auf ihn. Nachdem ihr gestern der Verdacht gekommen war, Jacks könnte derjenige gewesen sein, der Apollo vergiftet hatte, waren es sechs Wörter gewesen, die sie ihm in Gedanken geschickt hatte: Ich weiß, was du getan hast.

Anschließend hatten die Wachen ihn aus Wolf Hall vertrieben. Überraschenderweise war er einfach gegangen, ohne ein Wort, ohne sich zu wehren. Doch Evangeline wusste, dass er zurückkommen würde. Er war noch nicht fertig mit ihr. Sie hingegen war fertig mit ihm.

Sie trug den Brief an sich selbst durch ihre königlichen Gemächer, dann stellte sie den Umschlag mit der versiegelten Seite nach vorn auf das Kaminsims – um sicherzugehen, dass sie die warnenden Worte auch sehen würde, falls sie je nötig werden sollten.

ERSTER TEIL

Wie grausam Flüche sind

1

In den Tiefen der königlichen Bibliothek von Wolf Hall gibt es eine Tür, die seit Jahrhunderten niemand mehr geöffnet hat. Man hat versucht, sie in Brand zu stecken, sie mit Äxten aufzubrechen oder das Schloss mit magischen Schlüsseln aufzuschließen. Doch niemand konnte dieser sturen Tür auch nur einen Kratzer zufügen. Einige sagen, sie würde sich sogar darüber lustig machen. In der Mitte der Holztür prangt ein Wolfskopf mit einer Krone, und es gibt jene, die schwören, der Wolf hätte angesichts der vielen fehlgeschlagenen Versuche gegrinst. Oder die scharfen Zähne gefletscht, wenn jemand auch nur die entfernteste Chance darauf hatte, diese undurchdringliche Tür doch zu öffnen.

Evangeline Fox hatte es einmal probiert. Sie hatte den eisernen Türknauf gedreht und daran gezogen und gezerrt, aber die Tür hatte nicht nachgegeben. Nicht damals. Davor. Doch Evangeline hoffte, dass es nun anders sein würde.

Sie war sehr gut darin, zu hoffen.

Außerdem war sie ziemlich gut darin, Türen zu öffnen. Mit einem Tropfen ihres bereitwillig gegebenen Bluts konnte sie jedes Schloss entriegeln.

Zuerst aber musste sie sichergehen, dass sie nicht beobachtet, verfolgt oder beschattet wurde, vor allem nicht von diesem doppelzüngigen, apfelessenden Schuft, dessen Namen sie nicht einmal denken wollte.

Sie warf einen Blick über die Schulter. Der ockerfarbene Schein ihrer Laterne verjagte die Schatten in ihrer Nähe, doch der Großteil der königlichen Bibliothek hüllte sich noch immer ins Dunkel der Nacht.

Evangeline war nervös, und das Licht ihrer Laterne flackerte. Bisher hatte sie sich nie vor der Finsternis gefürchtet. Die Dunkelheit war für Sterne und Träume gemacht und für die Magie, die sich zwischen den Tagen ereignete. Bevor Evangeline ihre Eltern verloren hatte, war sie mit ihrem Vater zum Sternbildergucken hinausgegangen und hatte bei Kerzenschein den Geschichten ihrer Mutter gelauscht. Angst hatte sie nie gehabt.

Allerdings war es auch nicht die dunkle Nacht, vor der sie sich nun fürchtete, sondern das spinnenfeine Prickeln, das ihr über die Schulterblätter kroch. Es hatte in dem Moment begonnen, in dem sie ihre königlichen Gemächer verlassen hatte, um diese Tür zu öffnen, in der Hoffnung, dass sie dahinter ein Heilmittel finden und Apollo retten konnte.

Es war eine so subtile Empfindung, dass sie das unheimliche Kribbeln zunächst als bloße Paranoia abgetan hatte.

Sie wurde nicht verfolgt.

Sie hörte keine Schritte.

Bis …

Evangeline spähte in die Finsternis der Bibliothek, und ein Paar unmenschlicher Augen starrte zurück. Silberblau und hell und so strahlend wie zerbrochene Sterne. Es kam ihr vor, als würden sie nur leuchten, um sie zu reizen. Doch inzwischen wusste Evangeline, dass sie diesen Augen – sosehr sie auch funkelten, die Dunkelheit vertrieben und sie dazu verlockten, ihre Laterne sinken zu lassen – nicht trauen konnte. Dass sie ihm nicht trauen konnte.

Jacks. Sie versuchte, seinen Namen nicht zu denken, aber das war unmöglich, als sie nun zusah, wie er aus dem Dämmerlicht trat, träge, aber so selbstbewusst und schön wie immer. Er bewegte sich, als müsste sich die Nacht selbst vor ihm fürchten.

Das Prickeln auf ihren Schulterblättern glitt über ihre Arme, ein verstörendes Streicheln bis hinab zu der letzten verbliebenen Narbe an ihrem Handgelenk in Form eines gebrochenen Herzens. Die Wunde stach und brannte, als hätte Jacks wieder die Zähne in ihre Haut versenkt.

Evangeline umklammerte die Laterne, als wäre sie ein Schwert.

»Geh weg, Jacks.« Erst zwei Tage waren vergangen, seit sie den Wachen aufgetragen hatte, ihn aus Wolf Hall zu verbannen, und sie hatte gehofft, er würde länger fernbleiben. Am besten für immer. »Ich weiß, was du getan hast, und ich will dich nicht sehen.«

Jacks schob die Hände in die Hosentaschen. Sein rauchgraues Hemd war nur locker in den Bund gesteckt, und er hatte die Ärmel über seinen schlanken Unterarmen zurückgerollt. Am Halsausschnitt fehlten ein paar Knöpfe, und mit dem zerzausten Haar, das nun golden und nicht länger von einem verführerischen Mitternachtsblau war, wirkte er eher wie ein verwegener Stallbursche als wie eine berechnende Schicksalsmacht. Evangeline durfte sich jedoch nicht gestatten, auch nur einen Moment lang zu vergessen, was Jacks wirklich war: besessen und getrieben und ohne Moral oder Gewissen.

Den Geschichten zufolge war sein Kuss tödlich für alle außer seiner wahren Liebe, und auf der Suche nach ihr hatte er eine Spur aus Leichen hinterlassen. Früher einmal war Evangeline so naiv gewesen, zu glauben, der Prinz der Herzen wüsste, was ein gebrochenes Herz war, weil sein eigenes Herz auf seiner Suche nach Liebe immer und immer wieder brach. Nun jedoch sah sie die Dinge glasklar: Er war derjenige, der andere Herzen brach, weil er nicht einmal wusste, wie man liebte.

Als Jacks schließlich sprach, tat er es mit leiser Stimme. »Ich könnte es verstehen, falls du wütend bist …«

»Falls?«, schnitt sie ihm das Wort ab. »Du hast meinen Ehemann vergiftet!«

Jacks hob die Schultern zu einem unbekümmerten Achselzucken. »Ich habe ihn nicht getötet.«

»Was nicht gerade ein Verdienst ist.« Sie kämpfte um einen festen Tonfall.

Bis zu diesem Moment war Evangeline nicht einmal bewusst gewesen, dass sie immer noch einen Funken Hoffnung hegte, Jacks könnte unschuldig sein. Er versuchte jedoch nicht einmal, es abzustreiten. Es war ihm gleichgültig, dass Apollo kaum mehr als eine Leiche war, genauso gleichgültig wie damals, als sie sich in Stein verwandelt hatte.

»Du musst damit aufhören, mich nach menschlichen Maßstäben zu beurteilen«, sagte er schleppend. »Ich bin eine Schicksalsmacht.«

»Und genau deshalb will ich dich nicht mehr sehen. Seit ich dir begegnet bin, wurde meine erste Liebe in Stein verwandelt, ich wurde in Stein verwandelt und dann zu einer Flüchtigen, dann haben gleich mehrere Leute versucht, mich umzubringen, und du hast meinen Ehemann vergiftet …«

»Das hast du schon mal gesagt.«

Evangeline funkelte ihn an.

Seufzend lehnte sich Jacks gegen eines der Bücherregale, als kämen ihre Gefühle dem emotionalen Äquivalent eines Niesens gleich – etwas, worüber man ziemlich schnell hinwegkam und dem man mit Leichtigkeit ausweichen konnte, indem man einfach beiseitetrat. »Ich werde mich nicht für das entschuldigen, was ich bin. Und du hast bequemerweise zu erwähnen vergessen, was du warst, bevor wir einander begegnet sind: eine traurige Waise mit gebrochenem Herzen und einer bösen Stiefschwester. Nach meiner Einmischung bist du in Valenda zur Retterin der Liebenden avanciert, hast einen Prinzen geheiratet und bist Prinzessin geworden.«

»Was alles nur so gekommen ist, weil es deinen verdorbenen Interessen gedient hat.« Evangeline kochte vor Wut. Alles, was er für sie getan hatte, war nur geschehen, damit er sie benutzen konnte, um den Valorienbogen zu öffnen. »Jedes Kind behandelt sein Spielzeug besser, als du mich behandelt hast.«

Jacks’ Augen wurden schmal. »Warum hast du mich dann nicht erstochen, kleine Füchsin? In der Nacht in der Krypta habe ich dir einen Dolch zugeworfen, und ich war dir nah genug, dass du ihn hättest benutzen können.« Ein amüsiertes Funkeln trat in seinen Blick, als er ihn auf ihren Hals senkte. Genau dorthin, wo sein Mund sie vor drei Nächten noch berührt hatte.

Bei dieser unwillkommenen Erinnerung an seine Zähne und seine Zunge auf ihrer Haut fühlte sie ihre Wangen heiß werden. Er war mit Vampirgift infiziert gewesen – und sie mit Dummheit.

Sie war in jener Nacht bei ihm geblieben, um ihn abzulenken, damit er kein Menschenblut trinken und sich dadurch in einen Vampir verwandeln würde. Er hatte niemanden gebissen, ihr dafür jedoch das Mitgefühl ausgesaugt. Jacks hatte ihr die Geschichte des Mädchens erzählt, das sein Herz wieder zum Schlagen gebracht hatte: Prinzessin Donatella. Eigentlich hätte sie seine wahre Liebe sein sollen, doch anstatt dieser Rolle zu entsprechen, hatte sich Prinzessin Donatella für einen anderen entschieden und Jacks in die Brust gestochen.

Nachdem Evangeline diese Geschichte gehört hatte, war ihr Jacks wieder als der mitfühlende Prinz der Herzen erschienen, den sie damals um Hilfe gebeten hatte. Doch Jacks war einfach nur gebrochen, ganz ohne Herz. Und sie durfte nicht länger hoffen, dass er vielleicht mehr sein konnte.

»Ich habe in dieser Nacht in der Krypta einen Fehler gemacht.« Evangeline verbannte die Röte aus ihren Wangen und sah Jacks direkt in die unmenschlichen Augen. »Aber gib mir noch eine Chance und ich werde ohne Zögern zustechen.«

Er schmunzelte, und die Grübchen, die er nicht verdient hatte, blitzten auf. »Ich bin fast versucht, diese Behauptung zu überprüfen, aber du wirst schon mehr tun müssen, als mich zu verwunden, wenn du mich loswerden willst.« Er zog einen strahlend weißen Apfel aus der Tasche und warf ihn von einer Hand in die andere. »Wenn du wirklich willst, dass ich für immer aus deinem Leben verschwinde, dann hilf mir dabei, die fehlenden Steine zu finden, und öffne den Valorienbogen. Ich verspreche dir, dass du mich danach nie wiedersehen wirst.«

»Sosehr mir das auch gefallen würde, ich werde diesen Bogen niemals für dich öffnen.«

»Was ist mit Apollo?«

Bei dem Gedanken an den Prinzen durchfuhr sie ein scharfer, schmerzhafter Stich, gefolgt von einem weiteren Auflodern ihrer Wut auf Jacks. »Wag es nicht, seinen Namen auszusprechen.«

Jacks’ Grinsen wurde breiter, und ihr Zorn schien ihn seltsam zufriedenzustellen. »Wenn du mir hilfst, dann wecke ich ihn aus seinem Schwebezustand.«

»Wenn du tatsächlich glaubst, ich würde das tun, dann bist du verrückt.« Ihr erster Pakt mit Jacks hatte sie in dieses Chaos gestürzt. Sie würde sich auf keinen weiteren Handel mit ihm einlassen, keine Partnerschaften, nichts mehr. »Ich brauche dich nicht, um Apollo zu retten. Ich habe einen anderen Weg gefunden.« Sie ruckte mit dem Kinn in Richtung der verschlossenen Bibliothekstür. Die Tür lag immer noch im Schatten, trotzdem hätte Evangeline schwören können, dass der gekrönte Wolfskopf grinste, als wüsste er, dass sie diejenige war, die endlich das Schloss öffnen würde.

Jacks warf einen Blick zur Tür und lachte leise und spöttisch. »Du glaubst, du findest da drin ein Heilmittel für Apollo?«

»Ich weiß es.«

Wieder lachte Jacks, dieses Mal noch finsterer, dann biss er gut gelaunt in seinen Apfel. »Sag mir Bescheid, wenn du deine Meinung änderst, kleine Füchsin.«

»Ich werde meine Meinung nicht …«

Doch bevor sie ihren Satz beenden konnte, war er verschwunden. Übrig blieb nur das Echo seines unheilvollen Lachens.

Evangeline ließ sich jedoch nicht ködern. Ein alter Bibliothekar hatte ihr gesagt, diese Tür würde zu jedem vermissten Buch und jeder fehlenden Geschichte über die Valoren führen. Auch wenn die erste Königsfamilie des Nordens zweifelsfrei menschlich gewesen war, galt es als weithin bekannt, dass jedes ihrer Mitglieder über bemerkenswerte Kräfte verfügt hatte. Honora Valor, die erste Königin des Nordens, sollte die größte Heilerin aller Zeiten gewesen sein, und Evangeline hatte guten Grund zu der Annahme, dass sich unter den Geschichten auf der anderen Seite dieser Tür auch Berichte über ihre Heilkräfte fanden und damit hoffentlich eine Möglichkeit, wie man jemanden aus einem todesähnlichen Schlaf zurückholte.

Sie zückte ihren Dolch, an dessen juwelenbesetztem Griff ein paar Edelsteine fehlten. Eigentlich war es Jacks’ Dolch – den er ihr in jener Nacht in der Krypta zugeworfen hatte. Am Morgen hatte er den Dolch zurückgelassen, und Evangeline wusste immer noch nicht, warum sie ihn aufgehoben hatte. Sie wollte ihn nicht behalten – nicht mehr – , aber bisher hatte sie einfach noch keine Gelegenheit gehabt, ihn zu ersetzen, und etwas Spitzeres hatte sie nicht bei sich.

Ein Stich in den Finger, und ein roter Blutstropfen wallte auf. Sie drückte ihn an die Tür und flüsterte: »Bitte öffne dich.«

Sofort gab das Schloss ein Klicken von sich. Der Knauf ließ sich ganz leicht drehen.

Zum ersten Mal seit Jahrhunderten schwang die Tür auf.

Und sofort begriff Evangeline, warum Jacks so gelacht hatte.

2

Evangeline trat durch die Tür, und der Boden unter ihren Füßen zerbröckelte einfach, als würde sie über Kekse und nicht über Stein laufen. Er zerfiel buchstäblich zu Staub – genau wie ihre Hoffnung.

Sie hatte Regalreihen voller Bücher über die Valoren in diesem Raum erwartet, Antworten auf ihre Fragen, ein Heilmittel für Apollo. Doch da war nichts als ein trüber Luftzug, der Nebelschleier um einen mit dramatischen Schnitzereien verzierten Marmorbogen wirbeln ließ.

Evangeline schloss kurz die Augen, als könnte sie den Bogen mit einem Blinzeln verscheuchen und an seiner Stelle die kostbaren Bücher erscheinen lassen. Leider war ihr Blinzeln jedoch nicht magisch.

Trotzdem weigerte sie sich, einfach aufzugeben.

Im Meridianreich, aus dem sie stammte, wäre dieser Bogen nur hübsch gemeißelter Stein gewesen, groß genug, um eine Flügeltür zu überspannen. Dies hier war jedoch der Fantastische Norden, wo Steinbögen etwas ganz anderes waren. Hier waren sie magische, von den Valoren erbaute Portale.

Diesen Bogen zierten mächtige in Rüstungen steckende Engel, die man in die Säulen geschnitzt hatte wie die Krieger zweier feindlicher Kräfte in einer ewigen Schlacht. Ein Engel hatte den Kopf gesenkt, und einer seiner Flügel war gebrochen. Beide hatten ihr Schwert gezogen, und die Klingen kreuzten sich über der Mitte. Eine Warnung, falls es jemand wagen würde, hier eintreten zu wollen.

Doch Evangeline war nicht einfach irgendjemand. Außerdem machte die abschreckende Erscheinung des Bogens sie höchstens noch neugieriger darauf, was sich wohl dahinter verbarg.

Vielleicht war dieser Bogen ein Tor zu den Büchern und dem Heilmittel, das sie für Apollo brauchte. Wenn der alte Bibliothekar recht damit hatte, dass sich in diesem Raum sämtliche Geschichten über die Valoren verbargen, dann beschützten die Engel vielleicht die Bücher vor dem Geschichtenfluch, damit sie unverändert blieben. Vielleicht musste sie nicht mehr tun, als eines der Schwerter mit ihrem Blut zu zeichnen, und schon würden die Engel höflich beiseitetreten und sie vorbeilassen.

Sie machte einen Schritt nach vorn und verspürte ein hoffnungsvolles Prickeln, als sie sich ein weiteres Mal mit dem Dolch in den Finger stach und den hervorquellenden Blutstropfen auf eines der Engelsschwerter drückte. Es leuchtete auf wie eine Kerze. Glühende Goldadern breiteten sich wie Spinnennetze über den Steinklingen, den Engeln und dem gesamten Bogen aus, strahlend, hell und magisch. Evangelines Haut kribbelte, als der Staub auf dem Bogen aufstob und es um sie herum glitzerte und funkelte wie winzige Sterne. Die gerade eben noch kalte Luft war auf einmal warm. Sie hatte gewusst, dass sie dazu bestimmt war, diesen Raum zu betreten, diesen Bogen zu finden und ihn zu öffnen …

Auf einmal stockte ihr der Atem, als dieser Gedanke eine Erinnerung an die warnenden Worte von Apollos jüngerem Bruder Tiberius in ihr wachrief: Du wurdest geboren, um den Bogen zu öffnen. Magische Dinge wollen immer das tun, wozu sie erschaffen wurden.

Und Tiberius glaubte, sie wäre erschaffen worden, um den Valorienbogen zu öffnen.

Sie stolperte zurück und hörte wieder Jacks’ Lachen in ihrem Kopf. Dieses Mal klang es überhaupt nicht unheilvoll, sondern belustigt, amüsiert, fröhlich.

»Nein«, flüsterte sie.

Die Steine schimmerten noch immer, und um die Säulen schienen sich Goldfäden zu winden. Sie sah zu, wie sich das Gold immer weiter nach oben ausbreitete und eine Reihe geschwungener Buchstaben erhellte, die zuvor nicht sichtbar gewesen waren.

Im Norden empfangen, im Süden geboren, man wird sie erkennen, weil sie mit Roségold gekrönt ist.

Sie wird sowohl eine Gewöhnliche als auch eine Prinzessin sein, eine fälschlich beschuldigte Flüchtige, und nur ihr Blut, willentlich gegeben, wird den Bogen öffnen.

Evangelines Blut gefror in ihren Adern.

Dies waren nicht nur Worte. Dies war – sie wollte es nicht einmal denken. Nur dass ihr Leugnen nichts rückgängig machen oder verändern würde. Dies war die Prophezeiung des Valorienbogens, die Jacks erfüllen wollte, indem er sie manipulierte. Was wiederum bedeutete, dass dies nicht einfach irgendein Bogen war. Sondern der Valorienbogen.

Panik vertrieb alle anderen Gefühle.

Das war unmöglich. Angeblich war der Bogen zerbrochen. Auch wenn es zwei widersprüchliche Geschichten darüber gab, welche magischen Dinge sich dahinter verbargen, waren sich in einem Punkt doch alle einig gewesen: Der Valorienbogen war in mehrere Stücke zerbrochen, die man im ganzen Norden verteilt und versteckt hatte, damit niemand herausfand, wie die Prophezeiung lautete, und damit niemand den Bogen je wieder zusammensetzte.

»Nein, nein, nein, nein, nein …« Hektisch versuchte Evangeline, ihr Blut vom Stein zu wischen, bevor Jacks oder sonst irgendjemand entdeckte, was sie getan hatte. Die Engel hatten ihre Haltung nicht verändert, doch sie befürchtete, dass gleich hinter ihnen eine Tür erschien oder dass sie zurückweichen würden. Sie spuckte auf das Blut und rieb mit dem Ärmel ihres Mantels darüber, doch das Glühen des Bogens ließ nicht wieder nach.

»Ich wusste doch, dass Ihr den Bogen öffnen könnt.«

Die kratzige Stimme klang zu alt, um Jacks zu gehören. Trotzdem blieb Evangeline vor Schreck beinahe das Herz stehen.

»Ich bitte um Verzeihung, Eure Hoheit. Wie ich sehe, habe ich Euch schon wieder erschreckt.«

»Schon wieder?« Sie drehte sich um.

Der Mann, der dort in der Tür stand, war kaum größer als ein Kind, aber viel älter als Evangeline und hatte einen langen Silberbart, dessen Goldsträhnen zu den schimmernden Zierstreifen seiner weißen Robe passten.

»Ihr …« Einen Moment lang war sie zu aufgebracht, um einen vernünftigen Satz herauszubringen. »Ihr seid der Bibliothekar, der mir damals die Tür zu diesem Raum gezeigt hat.«

»Ihr erinnert Euch daran.« Auch wenn der alte Mann eindeutig zufrieden aussah, wirkte sein Lächeln alles andere als beruhigend auf sie. Wie der Bogen schien er fast zu leuchten, und sein Bart war nicht mehr gewöhnlich grau, sondern von einem irisierenden Silber. »Ich wünschte, uns würde mehr Zeit zum Plaudern bleiben, aber Ihr müsst Euch beeilen und die fehlenden Steine finden.«

Er sah zum Bogen empor, an dessen Mittelteil ganz offensichtlich vier Steine fehlten. Die Löcher mussten jedoch kleiner sein als Evangelines Handfläche – keine gewaltigen herausgebrochenen Felsstücke, wie sie es sich vorgestellt hatte. Dennoch wusste Evangeline sofort, dass dies die Steine waren, die gefunden werden mussten, um den Valorienbogen wirklich öffnen zu können.

Ihr Blut war nicht genug gewesen. Erleichterung durchflutete sie.

»Ihr müsst sie finden«, wiederholte der alte Bibliothekar. »Einer für Glück. Einer für Wahrheit. Einer für Freude. Einer für Jugend. Aber Ihr müsst vorsichtig sein. Die Steine sind mächtig und trügerisch. Und die Überlieferung …«

»Nein!«, fiel Evangeline ihm ins Wort. »Ich werde diese Steine nicht finden. Ich werde diesen Bogen niemals öffnen. Es war ein Fehler, dass ich ihn mit meinem Blut berührt habe.«

Der alte Mann bedachte sie mit einem matten Stirnrunzeln. »Es ist kein Fehler, es ist Euer Schicksal …« Seine Stimme verklang, und anstelle von Worten drang ihm Rauch aus dem Mund.

Seine Miene wurde finster, und er versuchte es noch einmal, doch wieder kamen dabei nur grauweiße Wölkchen heraus. Dieses Mal formte der Rauch die Worte »Verflixt noch mal«, als würde ihm so etwas ständig passieren.

Mittlerweile war der Bart des alten Bibliothekars vollständig in Rauch aufgegangen, genau wie seine Worte. Seine Hände waren auf einmal durchsichtig, ebenso seine Robe und sein faltiges Gesicht, das nun transparent wirkte wie ein hauchzarter Vorhang.

»Was seid Ihr?«, flüsterte Evangeline und versuchte zu begreifen, was sie da sah. Sie war Vampiren und Schicksalsmächten begegnet, und ihre Stiefschwester war eine Hexe, aber was dieses Wesen vor ihr war, wusste sie nicht.

»Ich bin Bibliothekar«, brachte dieser schließlich heraus, doch es klang, als würde seine Antwort von einem Windhauch herangetragen werden, rauschend und fern. »Ich weiß, dass mich das hier recht verdächtig wirken lässt, aber ich versichere Euch, wenn Ihr nur die Wahrheit wüsstet … Wenn ich Euch nur erzählen könnte …«

Bevor er zu Ende sprechen konnte, löste er sich auf und ließ Evangeline mit nichts als ein paar Rauchschwaden und dem beunruhigenden Gefühl zurück, dass der Prinz der Herzen vielleicht nicht die einzige übernatürliche Macht war, vor der sie auf der Hut sein musste.

3

Auch Tage später schlug Evangelines Herz noch zu schnell. Sie wollte nicht darüber nachdenken, was sich hinter dem Valorienbogen versteckte. Sie wollte sich nicht fragen, welche Geheimnisse er barg. Sie wollte sich nicht daran erinnern, wie verzweifelt der Bibliothekar geklungen hatte, als er Wenn Ihr nur die Wahrheit wüsstet gesagt hatte.

»Uns läuft die Zeit davon«, verkündete Havelock rau, während ihre Kutsche eine weitere mit bläulich weißem Schnee bedeckte Kopfsteinpflasterstraße entlangrumpelte.

Havelock war Apollos persönlicher Leibwächter gewesen, doch nun fungierte er als Evangelines Eskorte, während sie beide insgeheim nach einem Heilmittel für Apollos Zustand suchten. Während der vergangenen Woche hatten sie Mystiker und Apotheker, Ärzte und Heiler des Geistes aufgesucht. Sie hatten verriegelte Türen geöffnet und Bibliotheken voller Fabeln durchsucht, doch nichts davon hatte ihnen weitergeholfen. Seit den Tagen von Honora Valor hat sich niemand mehr in einem Schwebezustand befunden, war der allgemeine Tenor, begleitet von neugierigen Blicken, woraufhin Evangeline und Havelock rasch wieder gegangen waren.

Niemand wusste, dass Prinz Apollo noch lebte, und es durfte nicht bekannt werden. In seinem derzeitigen Zustand war Apollo zu verwundbar. Die Öffentlichkeit ging davon aus, dass Apollos jüngerer Bruder Prinz Tiberius ihn umgebracht hatte. Evangeline fühlte einen schuldbewussten Stich, da sie wusste, dass dies nicht stimmte. Da Prinz Tiberius jedoch versucht hatte, sie umzubringen, fühlte sie sich nicht allzu schuldig.

»Das hier könnte unsere letzte Chance sein, ihn zu retten«, erklärte Havelock.

Evangeline wusste, dass er damit nicht ganz richtiglag. Sie konnte immer noch einwilligen, für Jacks den Valorienbogen zu öffnen – was sie Havelock aber verschwiegen hatte. Sie hoffte weiterhin, dass es noch eine andere Möglichkeit gab, Apollo zu retten.

»Habt Ihr schon den neuesten Artikel gelesen?«, fragte Havelock.

»Ich versuche, die Skandalpresse zu meiden«, gab Evangeline zurück. Trotzdem nahm sie die zusammengerollte Zeitung entgegen, die Havelock ihr durch die kalte Kabine der Kutsche reichte.

Das Gerücht des Tages

HEILSEILUCIENJARETHACADIAN

Von Kristof Knightlinger

Der neueste Thronerbe Lucien Jareth aus dem Hause Acadian soll morgen in Valorfell eintreffen, und bereits jetzt kursieren mehr Gerüchte über ihn, als ich zählen kann. Wie mir zu Ohren gekommen ist, bringt er Waisenkindern persönlich das Lesen bei, wenn er nicht gerade damit beschäftigt ist, Häuser für die Armen zu bauen oder Familien zu suchen, die streunende Hunde und Katzen aufnehmen. Darüber hinaus hat unser Kontakt zum Königshaus in Wolf Hall bestätigt, dass die Vorbereitungen für die nächste Nimmer Endende Nacht bereits angelaufen sind.

Evangeline las nicht weiter, weil sie noch mehr davon einfach nicht ertragen könnte. So ging es bereits seit einer Woche. Sobald man alle Mordvorwürfe gegen sie fallengelassen hatte, waren die Zeitungen dazu übergegangen, Artikel über den neuen Thronerben zu drucken, einen entfernten Cousin von Apollo namens Lucien Jareth Acadian. Die Geschichten waren stets zuckersüß und ließen diesen Lucien eher wie einen Heiligen als wie einen normalen Menschen dastehen.

»Ich frage mich, wie viel davon wirklich stimmt«, überlegte sie laut.

»Keine Ahnung«, brummte Havelock. »Ich glaube, das Einzige, worauf wir uns verlassen können, ist, dass er morgen eintrifft.«

Morgen.

Wie bedrohlich dieses Wort mit einem Mal klang. Selbst wenn dieser Lucien tatsächlich ein Ausbund an Tugend war, selbst wenn er Waisenkinder liebte und seine Zeit damit verbrachte, Hundewelpen zu retten, würde er morgen trotzdem Apollos Thron einnehmen. Es sei denn, Evangeline fand noch heute einen Weg, ihren Prinzen zu retten.

»Keine Sorge«, verkündete sie zuversichtlicher, als sie sich fühlte. »LaLa kann uns sicher helfen.«

Die Kutsche hielt an, als sie das Turmviertel erreichten. Auf Evangeline machten die gewundenen Türme voller Wohnungen und Geschäfte immer den Eindruck übereinandergestapelter, schneebestäubter Märchenbücher.

Hier wohnte Ariel »LaLa« Lagrimas, auch bekannt als die Unvermählte Braut. LaLa war ebenso wie Jacks eine Schicksalsmacht – nur dass sie außerdem auch Evangelines Freundin war. Nachdem Tiberius sie vergiftet hatte, war Evangelines Heilung allein LaLa zu verdanken gewesen, und Evangeline hoffte verzweifelt, dass LaLa dasselbe auch für Apollo tun konnte.

Tatsächlich war Evangeline zuallererst zu LaLa gefahren, aber an ihrer Wohnungstür hatte eine Nachricht gehangen, auf der Bin auf Abenteuerjagd! gestanden hatte. Evangeline wusste nicht, wo ihre Freundin Abenteuer jagte, aber sie hatte königliche Soldaten hier postiert, um auf ihre Rückkehr zu warten, und den Soldaten zufolge war es an diesem Morgen so weit gewesen.

Evangelines Atem bildete bauschige weiße Wölkchen vor ihrem Mund, während sie die Treppen zu LaLas Wohnung erklomm. Es war ihr zuvor nie aufgefallen, aber in das Treppengeländer waren Zeilen aus Geschichten eingraviert. Dinge wie:

Es war einmal vor langer Zeit ein Mädchen mit einem flauschigen Schwanz, der zuckte, wenn es schneien würde.

Oder: Es war einmal ein Haus, aus dessen Schornstein kein Rauch, sondern Gelächter aufstieg.

Tatsächlich fühlte sich LaLas Wohnung genau wie die Sorte von Zuhause an, aus dem Gelächter dringen könnte. Die Front war in einem fröhlichen marmorierten Gelb gestrichen, mit einer runden weißen Tür, deren Klopfer einen Drachenkopf darstellte.

»Oh, meine liebe Freundin!« Noch bevor Evangeline anklopfen konnte, öffnete LaLa ihr schon die Tür. Ein Wirbelwind aus Lächeln und Wärme, während sie Evangeline in eine Umarmung zog, die sich anfühlte, als würden sie einander schon ein Leben lang kennen, nicht erst ein paar Wochen. »Dein Besuch kommt zur perfekten Zeit. Ich habe dir ja so viel zu erzählen.«

Während Havelock draußen Wache stand, scheuchte LaLa sie hinein, wobei sie mehr hopste, als dass sie ging. Allerdings wirkte ihre Wohnung völlig verändert. Sobald Evangeline die Schwelle überschritten hatte, sah sie, dass dies nicht mehr das einladende, warme Zuhause wie zuvor war. Der Kamin war leer. Die farbenfrohen Möbel waren noch da, die Wände waren jedoch kahl und nichts lag mehr auf den Tischen. Sogar LaLas kleine Vogelkäfiglaternen waren verschwunden, bis auf eine einzige, die auf einem Haufen gepackter Koffer neben der Tür stand.

»Du ziehst aus?« Evangeline verspürte einen Stich der Enttäuschung. Sie hoffte, dass sie sich irrte, doch selbst LaLas Kleidung schien ihre Annahme zu bestätigen. Normalerweise trug ihre Freundin Pailletten, Federn oder schimmernde Nixenröcke, an diesem Tag jedoch wies ihr Kleid die gedeckte Farbe frischer Sahne auf, und die langen Ärmel verbargen die Drachenflammen, die auf ihre braunen Arme tätowiert waren. Der Rock reichte bis zum Boden, was der Mode des Fantastischen Nordens entsprach, als LaLa jedoch auf das Sofa zuging, entdeckte Evangeline ein Paar hochhackige Reisestiefel, die unter dem Saum hervorlugten.

»Ich platze gleich, wenn ich es dir nicht erzähle: Ich bin verlobt!« LaLa streckte den Arm aus und zeigte ihr einen dicken Verlobungsarmreif – golden glänzend und so hübsch wie das verzückte Lächeln auf LaLas Lippen. »Er heißt Lord Robin Slaughterwood. Ein ziemlich schauriger Nachname, ich weiß, klingt nach einem Massaker im Wald, aber immerhin werde ich ihn ja nie wirklich tragen. Weil, du weißt ja …« Lachend ließ LaLa den Satz verklingen, was Evangeline nicht erwartet hätte.

Ihre Freundin hatte ihr einmal gestanden, dass Schicksalsmächte immerzu gegen den Drang ankämpfen mussten, die Rolle zu erfüllen, zu der sie bestimmt waren. LaLa war die Unvermählte Braut, weshalb sie sich mehr als alles andere nach jemandem sehnte, der sie liebte, obwohl es ihr Schicksal war, immer wieder vor dem Altar verlassen zu werden und so machtvolle Tränen zu weinen, dass jeder Mensch, der sie trank, an gebrochenem Herzen starb. Dennoch stand LaLa nun mit einem neuen Verlobungsarmreif vor ihr, die hübschen Augen voller Hoffnung.

»Ich freue mich ja so für dich!« Überrascht stellte Evangeline fest, dass sie es ernst meinte. Vor ein paar Monaten hätte sie LaLa vielleicht gefragt, ob sie wirklich glaubte, dieses kurze Glück wäre es wert, dass ihr unausweichlich ein weiteres Mal das Herz gebrochen wurde. Immer sprach man von einem gebrochenen Herzen, auch wenn Evangeline der Meinung war, dass mehr zerbrach als nur das Herz, wenn man jemanden verlor, den man liebte. Als sie ihre erste große Liebe verloren hatte, war ihre ganze Welt in tausend Scherben zersprungen. Und doch war sie trotz all des Schmerzes nun hier und hoffte nicht nur, Apollos Leben retten zu können, sondern auch, mit ihm zusammen eine weitere Chance auf die Liebe zu finden.

»Hoffentlich ist Slaughterwood Castle nicht weit weg«, sagte sie. »Ich würde dich gern dort besuchen können.«

»Das wäre wunderbar.« LaLa strahlte. »Slaughterwood Castle ist nur eine Tagesreise entfernt, und ich habe um eine lange Verlobungszeit gebeten, also werde ich hoffentlich eine Menge Feste ausrichten können.«

LaLas Absätze klackerten über den Holzboden, als sie zu einem ihrer Koffer lief und einen Bienenstockkuchen daraus hervorzauberte – denn natürlich hatte LaLa auch einen Kuchen eingepackt – , gefolgt von Besteck und goldenen Tellern in Herzform.

Evangeline wusste, dass sie ihre Freundin nach einem Heilmittel für Apollo fragen musste. Wie Havelock ihr in Erinnerung gerufen hatte, blieb ihr nicht mehr viel Zeit. Doch das Glück einer anderen Person zu feiern, war wichtig, und LaLa war hier im Norden ihre einzige Freundin.

Also gestattete sich Evangeline ein paar Minuten, um den Kuchen und die Freude ihrer Freundin zu genießen, während LaLa ihr erzählte, wie Robin und sie einander begegnet waren und sich nur wenige Tage später verlobt hatten. »Solltest du je wieder heiraten wollen, dann spiel einfach die Jungfer in Nöten. Das hat für mich hier im Norden immer gut funktioniert.«

Evangeline lachte, aber es musste nicht sehr überzeugend geklungen haben.

LaLas Miene verdüsterte sich, und ihr Blick huschte über Evangelines Trauerkleid, das unter dem Mantel zum Vorschein gekommen war – reinweiße Seide, überspannt mit einem kunstvollen schwarzen Samtnetz. »Oh, meine liebe Freundin, es tut mir so leid – ich habe vergessen, dass du immer noch um Apollo trauerst. Das alles war sehr unsensibel von mir, nicht wahr?«

Die Gefühlswelt der Schicksalsmächte entsprach nicht der eines Menschen, doch genau dies gehörte zu den Dingen, die Evangeline an ihrer Freundin so mochte. Während Jacks’ fehlende Menschlichkeit ihn kaltblütig und reuelos und zum Fluch ihres Lebens machte, wirkte LaLa dadurch nur authentischer und unverblümter.

»Bitte, das muss dir nicht leidtun, eigentlich trauere ich gar nicht«, gestand Evangeline, und dann sprudelte alles andere auf einmal hervor. »Apollo lebt. Die Geschichten, die du darüber gehört hast, dass sein Bruder ihn vergiftet hätte, stimmen nicht ganz. Eigentlich war es Jacks – er hat Apollo in einen Schwebezustand versetzt, um mich zu manipulieren.« Evangeline war nicht sicher, wie viel LaLa über den Valorienbogen wusste. Apollo hatte ihr einmal gesagt, die Nordländer würden diese Geschichte eher für ein Märchen als für einen Tatsachenbericht halten, und nur sehr wenige wussten, was die Prophezeiung besagte. Also erklärte sie beinahe alles. »Jacks glaubt, dass ich der prophezeite Schlüssel bin, der den Bogen öffnen kann, und er sagt, dass er Apollo nur dann heilen wird, wenn ich die fehlenden Steine des Bogens finde und ihn für ihn öffne.«

»Ach, du meine Güte.« LaLas Haut wurde aschfahl. Der Schrecken stand ihr in die großen Rehaugen geschrieben.

Noch nie zuvor hatte Evangeline sie so gesehen, sie wirkte beinahe ängstlich.

»Keine Sorge«, versicherte sie ihr rasch. »Ich habe nicht vor, den Bogen für Jacks zu öffnen. Ich bin hergekommen, um dich zu fragen, ob du Apollo vielleicht heilen kannst.«

»Es tut mir so leid, meine Freundin. Mit Zaubertränken und Zaubersprüchen kenne ich mich zwar ein bisschen aus, aber diejenigen, die ich verwendet habe, waren normalerweise nicht für gute Zwecke gedacht, und ich habe nie jemanden in einen Schwebezustand versetzt. Das ist sehr alte Magie. Ich glaube, Honora Valor hat sie zu Kriegszeiten eingesetzt, wenn es zu viele Verletzte gab, um sie alle auf einmal zu versorgen. Diejenigen, um die sie und ihre Heiler sich nicht sofort kümmern konnten, hat sie in einen Schwebezustand versetzt.«

Evangeline versuchte, nicht enttäuscht zu sein. Dies war mehr oder weniger das, was ihr auch andere Heiler bereits berichtet hatten. »Bist du sicher, dass du nicht mehr darüber weißt? Ich bin für jede Information dankbar. Der neue Erbe trifft morgen ein, und …«

»Du solltest den Bogen für Jacks öffnen«, fiel LaLa ihr ins Wort.

»Was?« Evangeline glaubte, sich vielleicht verhört zu haben. Gerade eben noch hätte sie schwören können, dass LaLa zutiefst verstört ausgesehen hatte. Nun hingegen war ihr Blick klar.

Hatte Evangeline sie vorhin missverstanden? Oder missverstand sie LaLa jetzt?

»Willst du Apollo denn nicht retten?«, fragte ihre Freundin.

Ein schuldbewusster Schauer überlief Evangeline. Es gab Momente, in denen sie sich diese Frage selbst stellte. Natürlich wollte sie ihn retten, aber manchmal fürchtete sie, es nicht genug zu wollen. Sie konnte nicht behaupten, dass Apollo und sie ineinander verliebt waren. Trotzdem war da etwas zwischen ihnen. Sie waren verbunden. Evangeline wusste nicht, ob es nur ein Überrest von Jacks’ Liebeszauber war, ob es an ihren Hochzeitsschwüren lag oder ob das Schicksal dafür gesorgt hatte, dass sich ihre Wege kreuzten, aber sie wusste, dass ihre Zukunft an seine geknüpft war.

Sie dachte an den Brief, den sie in ihrer Tasche mit sich herumtrug. Mittlerweile konnte sie ihn auswendig, weil sie ihn so oft gelesen hatte.

Liebe Evangeline,

ich wünschte, Du hättest meine Eltern kennenlernen können. Ich glaube, sie hätten Dich geliebt, und vermutlich hätten sie mir außerdem gesagt, dass ich Dich nicht verdient habe.

Wir beide kennen einander eigentlich gar nicht. Das weiß ich. Aber ich möchte Dich glücklich machen.

In dieser Woche habe ich es damit vielleicht ein bisschen übertrieben. Aber ich habe so etwas noch nie gemacht, und ich will es nicht vermasseln. Ganz bestimmt werde ich genau das irgendwann in unserer Zukunft einmal tun, aber ich verspreche Dir eines, Evangeline Fox: Was auch immer geschieht, ich werde mir immer Mühe geben. Und ich bitte Dich nur darum, dasselbe zu tun.

Meine Mutter hat gesagt: »Das Geheimnis, wie man die Liebe aufrechterhält, ist, jemanden zu haben, der einen auffängt, wenn man der Liebe zu entgleiten beginnt.« Und ich verspreche, dass ich Dich immer auffangen werde.

Ich verbleibe auf ewig der Deine.

Apollo

Evangeline hatte diese Nachricht in Apollos Gemächern gefunden, nachdem sie von allen Mordvorwürfen freigesprochen worden war. Erst hatten seine Worte sie zum Weinen gebracht. Dann hatten sie ihr Hoffnung geschenkt.

Apollo hatte während der gesamten Zeit ihrer Verlobung unter einem Liebeszauber gestanden, aber sie war sicher, dass sich die Zuneigung in manchen Augenblicken auch echt angefühlt hatte. Dieser Brief kam ihr wie eine Bestätigung vor. Er fühlte sich echt an, und er ließ sie glauben, dass Apollo zwischenzeitlich nicht unter einem Bann gestanden hatte. Dieser Brief fühlte sich nicht an wie das, was ein junger Mann unter Einfluss eines Zaubers geschrieben hatte, sondern wie ein unverfälschter kurzer Blick auf den Prinzen – einen Prinzen, der sich genauso fühlte wie sie.

»Ich bin bereit zu tun, was immer nötig ist, um Apollo zu retten, mit einer Ausnahme: Ich werde den Valorienbogen nicht für Jacks öffnen. Du kannst doch nicht ernsthaft der Meinung sein, dass ich das tun sollte?«

LaLa schürzte die Lippen, und kurz wirkte sie hin- und hergerissen. Als sie dann jedoch wieder sprach, war ihre Stimme resolut und klar und zutiefst verstörend. »Der Valorienbogen verbirgt nicht, was du glaubst. Ich an deiner Stelle würde ihn öffnen.«

»Du weißt, was dahinter ist?«

»Die Valorien sind entweder eine Schatztruhe, in der die größten magischen Gaben der Valoren aufbewahrt werden, oder ein Gefängnis, in dem alle möglichen Zauberwesen eingesperrt wurden, darunter auch eine Abscheulichkeit, ein Ungeheuer, das die Valoren erschaffen haben …« LaLa runzelte die Stirn und verstummte. »Ich hasse diesen Geschichtenfluch.«

Sie legte ihr halb aufgegessenes Kuchenstück auf dem Teller ab und griff nach Evangelines Händen, dann schien sie sich sehr zu konzentrieren. Als sie jedoch ein weiteres Mal versuchte, ihr zu sagen, was sich hinter dem Bogen verbarg, war das, was aus ihrem Mund kam, nur unverständliches Kauderwelsch.

4

Evangelines Mutter Liana war jeden Morgen bereits vor Sonnenaufgang erwacht. Sie hatte sich eines ihrer hübschen geblümten Kleider angezogen, die Evangeline immer für sehr romantisch gehalten hatte. Dann war sie auf Zehenspitzen die Treppe hinunter und ins Arbeitszimmer geschlichen, wo sie sich vor das knisternde Kaminfeuer gesetzt und gelesen hatte.

Liana Fox glaubte daran, dass jeder Tag mit einer Geschichte beginnen sollte.

Als kleines Mädchen war Evangeline oft ebenfalls früh aufgewacht. Da sie nichts von dem Zauber verpassen wollte, der ihre Mutter stets zu umgeben schien, folgte sie ihr ins Arbeitszimmer und kuschelte sich auf ihren Schoß, wo sie prompt wieder einschlief.

Irgendwann war sie für den Schoß zu groß, aber dafür wurde sie besser darin, wach zu bleiben. Und so begann ihre Mutter damit, ihr vorzulesen. Einige der Geschichten waren kurz, für andere brauchten sie hingegen Tage oder Wochen. Für ein Buch – ein großer mit Goldlettern geschmückter Foliant, der den ganzen weiten Weg von den Südlichen Inseln hinter sich gebracht hatte – brauchten sie sogar volle sechs Monate, bis sie es durchgelesen hatten. Und wenn Liana auf der letzten Seite einer Geschichte angekommen war, sagte sie niemals Ende. Stattdessen wandte sie sich jedes Mal an Evangeline und fragte: Was, glaubst du, passiert als Nächstes?

Und sie lebten glücklich und zufrieden, verkündete Evangeline üblicherweise. Die meisten Charaktere hatten dies ihrer Meinung nach verdient, nach allem, was sie durchgemacht hatten.

Ihre Mutter war da jedoch anderer Meinung. Sie glaubte, dass die meisten Charaktere zwar durchaus im Augenblick glücklich waren, aber nicht für immer. Dann wies sie auf Geschehnisse hin, die mit Sicherheit irgendwann in Zukunft für einigen Aufruhr sorgen würden – der Lehrling des Bösewichts, der überlebt hatte, die böse Stiefschwester, der zwar vergeben worden war, die aber immer noch irgendwo dort draußen auf ihre Chance lauerte, ein weiteres Mal anzugreifen, der Wunsch, der sich zwar erfüllte, für den man jedoch noch nicht bezahlt hatte, das Samenkorn, das zwar gesät war, aber erst noch wachsen musste.

Dann glaubst du also, dass sie alle verdammt sind?, fragte Evangeline.

Und dann lächelte ihre Mutter, warm und liebevoll wie frischer Zuckerkuchen. Nicht alle, meine süße Kleine. Ich glaube, dass es für jeden ein glückliches Ende gibt. Aber ich glaube nicht, dass dieses Ende immer gleich hinter der letzten Buchseite steht oder dass es jedem garantiert ist, sein Glück bis ans Ende aller Tage zu finden. Glück kann man fangen, aber nur schwer festhalten. Es ist ein Traum, der aus der Nacht entfliehen will. Ein Schatz mit Flügeln. Ein wildes, ungezähmtes, verwegenes Ding, dem man ständig hinterherjagen muss, sonst entwischt es einem.

Damals hatte Evangeline ihrer Mutter nicht glauben wollen, doch sie glaubte ihr jetzt.

Als sie LaLas Wohnung verließ, war ihr, als würde sie die leisen, trappelnden Schritte ihres glücklichen Endes hören, das vor ihr davonlief.

Sie wollte ihm nachjagen, stattdessen stand sie einen Moment lang einfach nur da, atmete die kalte Luft des Nordens ein und wünschte sich, sie könnte sich wieder auf dem Schoß ihrer Mutter zusammenrollen. Sie fehlte ihr immer noch schrecklich, und sie fragte sich, wozu ihre Mutter ihr wohl geraten hätte.

Evangeline hatte geschworen, den Valorienbogen niemals für Jacks zu öffnen, doch LaLas Worte brachten sie dazu, an sich zu zweifeln. Der Valorienbogen verbirgt nicht, was du glaubst. Ich an deiner Stelle würde ihn öffnen.

Für Evangeline lag es auf der Hand, dass ihre Freundin vermutlich die Version der Geschichte glaubte, der Valorienbogen sei eine magische Schatztruhe. Doch auch Schätze konnten gefährlich sein.

Und was, wenn LaLa sich irrte? Es gab andere, wie Apollos Bruder Tiberius, die so entschlossen waren, den Valorienbogen verschlossen zu halten, dass sie versucht hatten, Evangeline zu töten … Tiberius hatte es sogar gleich zweimal versucht! Aber wusste Tiberius überhaupt, was sich auf der anderen Seite des Bogens verbarg? Oder fürchtete er sich nur davor, weil er sich entschieden hatte, an die Version der Geschichte zu glauben, nach der hinter dem Bogen ein Ungeheuer gefangen war?

Wahrscheinlich sollte sich auch Evangeline davor fürchten, doch wenn sie ehrlich zu sich selbst war, dann jagte ihr nicht mehr die Vorstellung dessen, was der Bogen verbarg, die größte Angst ein, sondern der Gedanke, sich erneut mit Jacks zusammenzutun, um Apollo zu retten.

Das konnte und würde Evangeline nicht tun.

Sie hatte den Prinzen der Herzen nie geküsst, aber sie hatte am eigenen Leib erfahren, dass ein Pakt mit ihm fast genauso schlimm war wie sein tödlicher Kuss – magisch und ganz und gar zerstörerisch. Sie würde sich mit jedem anderen eher einlassen, als noch einmal einen Handel mit Jacks zu schließen.

»Ist etwas dabei herausgekommen?«, fragte Havelock, sobald Evangeline wieder in der sicheren Kutsche saß.

Sie schüttelte den Kopf. »Vielleicht sollten wir darüber nachdenken, dem neuen Erben zu erzählen, wie es um Apollo steht, um uns mehr Zeit zu erkaufen. Wenn auch nur die Hälfte der Geschichten über Lucien wahr sind, dann wird er vielleicht noch etwas abwarten, bevor er Apollos Platz einnimmt.«

Havelock schnaubte. »Niemand ist so gut, wie es dieser Lucien sein soll. Wenn wir ihm die Wahrheit sagen, wird er Apollo bestenfalls zu seiner eigenen Sicherheit einsperren, und dann werdet Ihr ihn nie wiedersehen. Schlimmstenfalls – und das ist viel wahrscheinlicher – wird der neue Erbe Apollo heimlich beseitigen lassen und danach dasselbe mit Euch tun.«

Evangeline wollte widersprechen, aber sie fürchtete, dass Havelock recht damit hatte. Der einzige sichere Weg, Apollo zu retten, bestand darin, noch vor morgen ein Heilmittel zu finden und ihn zu wecken.

Tick. Tack. Tick. Tack. In der Kutsche gab es keine Uhr, doch Evangeline hörte trotzdem, wie ihr die Zeit entglitt. Oder vielleicht hatte sich die Zeit auch mit Jacks zusammengetan und verhöhnte sie nun ebenfalls.

Wolf Hall, die berühmte Königsburg des Fantastischen Nordens, war eine Mischung aus Märchenschloss und Festung, so als hätten sich der erste König und die erste Königin des Nordens nicht entscheiden können, was genau sie sein sollte.

Es gab jede Menge dicke Steinmauern, aber auch dekorative Malereien über Türdurchgängen, und in einige der Mauersteine waren Abbildungen von Pflanzen gemeißelt, begleitet von der Beschreibung dessen, wofür man sie einsetzen konnte:

Pegasus-Klee – um zu vergessen

Engelskraut – für einen guten Schlaf

Graues Seidenkraut – gegen Kummer

Geisterhibiskus – gegen Trauer

Einhorn-Stechpalme – für festliche Zeiten

Winterbeeren – um jemanden willkommen zu heißen

Als Evangeline das Schloss an diesem Morgen verlassen hatte, war alles voller Girlanden aus Grauem Seidenkraut und Sträußen aus Geisterhibiskus gewesen, nun jedoch hatte man sie durch strahlend rote Kränze aus Einhorn-Stechpalme ersetzt.

Bei diesem Anblick sank Evangeline das Herz. Im Fantastischen Norden endete die Trauerzeit, sobald ein neuer Erbe offiziell verkündet worden war, was am folgenden Tag geschehen sollte. Auch wenn Wolf Hall auf einmal aussah, als wäre es schon jetzt so weit.

Evangeline hörte, wie Spielleute von »Lucien dem Großen« sangen, und die Dienstmädchen hatten ihre Trauerkleidung abgelegt und sich frische weiße Schürzen umgebunden. Ein paar von ihnen, die etwa in Evangeline Alter waren, hatten sich Winterbeerenzweige ins Haar geflochten und sich die Wangen und Lippen rot bemalt. Und alle schienen zu tuscheln:

»Ich habe gehört, dass er jung ist …«

»Ich habe gehört, dass er groß ist …«

»Ich habe gehört, dass er noch besser aussieht als Prinz Apollo.«

Mit jedem Wort verknotete sich Evangelines Magen noch mehr. Sie wusste, dass sie diesen jungen Leuten keine Vorwürfe machen konnte – die Menschen brauchten etwas, das sie feiern konnten. Trauer war wichtig, doch sie konnte nicht ewig währen.

Sie wünschte nur, sie hätte mehr Zeit. Immerhin blieb ihr noch ein Tag, bis Lucien tatsächlich eintraf, was jedoch nicht einmal annähernd genug für sie war.

Bebend atmete Evangeline durch, als der Korridor, den Havelock und sie gerade durchschritten, allmählich immer dunkler und kälter wurde. Kurz darauf erreichten sie eine splittrige Falltür, die sie zu Apollo führen würde.

Es beunruhigte Evangeline jedes Mal, dass niemand vor dieser Tür Wache stand, doch ein einsamer Soldat mitten in einem leeren Korridor wäre zu verdächtig gewesen. Stattdessen wartete ein vertrauenswürdiges Mitglied der königlichen Garde im Raum am Fuß der Treppe.

Die kleine Geheimkammer wirkte freundlicher als bei Evangelines erstem Besuch. Sie wusste zwar nicht, ob Apollo seine Umgebung wahrnahm, doch für den Fall, dass es so war, hatte sie seine Wachen gebeten, den kleinen Raum etwas lebendiger zu gestalten. Der kalte Steinboden war nun mit dicken burgunderroten Teppichen bedeckt, und Gemälde, die leuchtende Waldszenen zeigten, hingen an den Wänden. Außerdem hatte man ein hohes Himmelbett mit Samtvorhängen hereingeschafft.

Noch lieber wäre es Evangeline gewesen, wenn Apollo in seinen eigenen Gemächern hätte verweilen können, wo ein Feuer die Kälte vertrieb und wo es Fenster gab, um frische Luft hereinzulassen. Doch dies war zu riskant, wie Havelock ihr in Erinnerung gerufen hatte.

Am Fuß der Treppe begrüßte der Wachmann Evangeline mit einer Verbeugung und unterhielt sich dann leise mit Havelock, um ihr etwas Privatsphäre zu gönnen, während sie sich ihrem Prinzen näherte.

Schmetterlinge flatterten in ihrer Brust umher. Sie hoffte, dass sich heute irgendetwas verändert hatte, doch bisher schien alles genau wie immer zu sein.

Reglos lag Apollo da und sah aus wie das tragische Ende einer Ballade des Nordens. Sein Herz schlug so langsam, und seine olivfarbene Haut fühlte sich kalt an. Die braunen Augen waren offen, doch sein früher so glühender Blick wirkte vollkommen leblos, leer und matt wie Meeresglas.

Sie beugte sich über ihn und strich ihm das dunkle Haar aus der Stirn, wobei sie sich aus ganzem Herzen wünschte, er würde sich bewegen oder blinzeln oder auch nur atmen. Sie wollte nur ein kleines Zeichen, dass er ins Leben zurückkehren würde. »In deinem Brief hast du mir versprochen, dass du dir immer Mühe geben wirst«, flüsterte sie. »Bitte versuch, zu mir zurückzukommen.«

Es gefiel ihr nicht, ihn zu berühren, während er so leblos war, aber sie erinnerte sich daran, wie verzweifelt sie sich nach der Berührung eines anderen gesehnt hatte, als sie eine Steinstatue gewesen war. Und dies immerhin konnte sie Apollo geben.

Sie legte die Hände auf seine wächsernen Wangen und küsste ihn auf die starren Lippen. Sein Mund war weich, aber er schmeckte falsch, nach einem unglücklichen Ende und nach Flüchen. Und wie immer regte er sich nicht.

»Ich verstehe wirklich nicht, warum du das jeden Tag wieder tust.« Jacks’ träge Stimme drang durch die Kammer.

Evangeline spürte, wie der Klang über ihre Haut strich wie glimmendes Feuer, das ihre Herznarbe am Handgelenk versengte wie ein Brandmal. Sie versuchte, sowohl die Narbe als auch Jacks zu ignorieren. Sie versuchte, sich nicht umzudrehen, sein Erscheinen nicht zur Kenntnis zu nehmen, aber wahrscheinlich hätte es noch verdächtiger gewirkt, wenn sie stattdessen wieder Apollos starren Mund geküsst hätte.

Langsam richtete sie sich auf und tat so, als würde sie das Prickeln, das sich von der Narbe in ihrem ganzen Körper ausbreitete, nicht fühlen, während Jacks auf sie zugeschlendert kam.

Er hatte sich mit etwas mehr Sorgfalt als sonst gekleidet. Sein mitternachtsblaues Cape war mit Silberspangen an seinen Schultern befestigt. Seine Samtweste wies dasselbe dunkle Blau auf, abgesehen von den rauchgrauen Stickereien, passend zu seiner maßgeschneiderten Hose, die ordentlich in polierten Lederstiefeln steckte.

Sie sah an ihm vorbei zu Havelock und dem Wachmann am Fuß der Treppe, die sich jedoch nicht rührten. Jacks musste sie verzaubert haben. Die meisten Leute glaubten, die Macht des Prinzen der Herzen beschränke sich auf seinen tödlichen Kuss, doch Jacks besaß außerdem die Fähigkeit, Menschen zu Marionetten seines Willens zu machen. Seine Macht mochte hier im Norden zwar begrenzt sein, doch er konnte immer noch die Gefühle und die Herzen mehrerer Menschen gleichzeitig manipulieren.

Glücklicherweise war Evangeline dagegen immun. Er hatte einmal versucht, sie seinem Willen zu unterwerfen, aber sie hatte nur seine Gedanken gehört. Genauso konnte er ihre Gedanken hören, wenn sie sich ganz auf ihn konzentrierte, aber im Augenblick schien es ihr nicht sonderlich verlockend, Jacks daran teilhaben zu lassen, was ihr durch den Kopf ging.

»Küsst du den Prinzen, weil es dir wirklich gefällt?«, fragte Jacks. »Oder weil du vielleicht glaubst, dass ihn das auf magische Weise zum Leben erwecken wird?«

»Vielleicht tue ich es ja, weil ich weiß, dass es dich ärgert«, schoss Evangeline zurück.

Jacks’ aufblitzendes Lächeln wirkte eher gefährlich als freundlich. »Freut mich, dass du sogar dann an mich denkst, wenn du deinen Ehemann küsst.«

Hitze schoss ihr in die Wangen. »Ich denke keine netten Dinge.«

»Noch besser.« Seine Augen schienen Funken zu sprühen. Sie waren von einem klaren, silberdurchwirkten Juwelenblau und viel zu schön, um zu einem solchen Ungeheuer zu gehören. Ungeheuer sollten eher aussehen wie … Ungeheuer. Nicht wie Jacks.

»Bist du nur hergekommen, um mich zu ärgern?«

Jacks seufzte, langsam und theatralisch. »Ich bin nicht dein Feind, kleine Füchsin. Ich weiß, dass du immer noch wütend auf mich bist, aber du hast immer gewusst, was ich bin. Ich habe nie versucht, dir etwas vorzumachen, aber du hast dir selbst eingeredet, ich wäre etwas, das ich nicht bin.« Seine Augen wurden metallisch und vollkommen gefühllos. »Ich bin nicht dein Freund. Ich bin kein Mensch, der dir hübsche Lügen erzählt oder dir Blumen bringt und Juwelen schenkt.«

»Das habe ich auch nie geglaubt«, gab sie zurück. Aber vielleicht hatte es ein kleiner Teil von ihr doch getan. Sie hatte sich zwar nicht vorgestellt, wie er ihr Blumen und Geschenke brachte, aber sie hatte tatsächlich angefangen, ihn für einen Freund zu halten. Ein Fehler, den sie nicht wiederholen würde.

»Warum bist du hier?«, fragte sie.

»Um dich daran zu erinnern, dass du ihn ganz leicht retten kannst.« Jacks schob die Hände in die Taschen, als wäre an einem weiteren Pakt mit ihm nicht mehr dran, als einem Bäcker ein paar Münzen für einen Laib Brot zu geben.

Es mochte einem am Anfang vielleicht tatsächlich so vorkommen. Wenn sie Jacks sagte, sie würde den Valorienbogen öffnen, dann würde Apollo noch heute Nacht erwachen. Die Sorgen wegen des neuen Erben wären vorbei. Doch Jacks wäre dann noch da – und er würde bleiben, bis er die fehlenden Steine des Bogens gefunden hatte. Vielleicht wollte sie Jacks ebenso verzweifelt loswerden, wie sie ihren Prinzen aufwecken wollte. Solange Jacks in ihrem Leben war, würde er es immer weiter zerstören.

Sie versuchte, ein Heilmittel für Apollo zu finden, aber möglicherweise war es viel wichtiger, Jacks loszuwerden.

»Die Antwort ist Nein, und sie wird immer Nein sein.«

Jacks verschränkte die Arme und lehnte sich gegen den Bettpfosten. »Wenn du das wirklich glaubst, dann fehlt es dir an Fantasie.«

Das ärgerte sie. »Mir fehlt es nicht an Fantasie, ich bin nur fest entschlossen.«

»Genau wie ich.« Etwas Boshaftes flackerte in seinem Blick. »Das ist deine letzte Chance, deine Meinung zu ändern.«

»Sonst?«

»Sonst wirst du mich bald wirklich hassen.«

»Vielleicht freue ich mich ja darauf.«

Jacks’ vergifteter Mund zuckte, als würde ihn diese Vorstellung vage amüsieren. Dann erklang von irgendwoher das Schlagen einer Uhr. Sieben laute Gongschläge.

»Ticktack, kleine Füchsin. Ich versuche nur, nett zu sein und dir Zeit zu geben, über das Angebot nachzudenken, das ich dir in der Bibliothek gemacht habe, allerdings habe ich das Warten langsam satt. Ich gebe dir noch bis heute Nacht, um deine Meinung zu ändern.«

Sie versuchte, das ungute Ziehen im Bauch zu ignorieren. Wenn Jacks’