A History of Us − Erst auf den zweiten Blick - Jen DeLuca - E-Book

A History of Us − Erst auf den zweiten Blick E-Book

Jen DeLuca

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Beschreibung

Sie träumt sich in vergangene Zeiten. Doch ihre Probleme sind nur allzu modern ... Staceys Leben ist ziemlich durchschnittlich. Ehrlich gesagt, sogar etwas langweilig. Ein Job in einer Zahnarztpraxis, eine kleine Wohnung über der Garage ihrer Eltern, ein paar gute Freunde, aber keine Beziehung. Doch für vier Wochen im Jahr ändert sich alles, für vier Wochen wird ihr Leben aufregend. Jeden Sommer findet in ihrer Heimatstadt Willow Creek ein Mittelalterfestival statt, und Stacey nimmt als Schaustellerin daran teil. Sie schlüpft in eine andere Rolle, fühlt sich frei und glücklich. Bis das Festival wieder vorbei ist. Seufz. In ihrem Leben muss sich etwas ändern. Sie weiß nur nicht, was. Bis sie eine E-Mail an einen Mann schreibt, den sie viel weniger gut kennt, als sie denkt … «E-Mail für Dich» trifft Mittelalterfestival! Band 2 der Willow-Creek-Reihe

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Jen DeLuca

A History of Us − Erst auf den zweiten Blick

Roman

 

 

Aus dem Englischen von Anita Nirschl

 

Über dieses Buch

Sie träumten sich in vergangene Zeiten. Doch ihre Probleme sind nur allzu modern …

Staceys Leben ist ziemlich durchschnittlich. Ehrlich gesagt, sogar etwas langweilig. Ein Job in einer Zahnarztpraxis, eine kleine Wohnung über der Garage ihrer Eltern, ein paar gute Freunde, aber keine Beziehung. Doch für vier Wochen im Jahr ändert sich alles, für vier Wochen wird ihr Leben aufregend. Jeden Sommer findet in ihrer Heimatstadt Willow Creek ein Mittelalterfestival statt, und Stacey nimmt als Schaustellerin daran teil. Sie schlüpft in eine andere Rolle, fühlt sich frei und glücklich. Bis das Festival wieder vorbei ist. Seufz. In ihrem Leben muss sich etwas ändern. Sie weiß nur nicht, was. Bis sie eine E-Mail an einen Mann schreibt, den sie viel weniger gut kennt, als sie denkt …

«E-Mail für Dich» trifft Mittelalterfestival!

Band 2 der Willow-Creek-Reihe

Vita

Jen DeLuca ist in Virginia aufgewachsen, lebt inzwischen aber mit ihrem Mann und einem Haus voller Tiere in Arizona. «A History of Us – Erst auf den zweiten Blick» ist der zweite Band der Willow-Creek-Reihe, die auf einem Mittelalterfestival in Maryland spielt. Jen hat selbst zwei Sommer lang als Schaustellerin auf einem solchen Festival gearbeitet. Ihr Humor und das ungewöhnliche Setting ihrer Romane haben ihr sofort viele Fans eingebracht. Der erste Band «A History of Us – Vom ersten Moment an» war für den Goodreads Choice Award nominiert, und die Entertainment Weekly nannte das Buch «eine göttlich unterhaltsame Achterbahnfahrt». Mehr Informationen über die Autorin sind auf ihrer Homepage www.jendeluca.com zu finden.

Nirschl träumte als Kind davon, alle Sprachen der Welt zu lernen, um jedes Buch lesen zu können, das es gibt. Später studierte sie Englische, Amerikanische und Spanische Literatur an der Ludwig-Maximilians-Universität in München. Seit 2007 arbeitet sie als freie Übersetzerin und hat zahlreiche Romane ins Deutsche übertragen.

Für Morgan

Der mir gezeigt hat, dass man mit jemandem nicht im selben Zimmer – oder auch nur im selben Bundesstaat – sein muss, um sich in ihn zu verlieben. Ich bin so froh, dass du diesen ersten Anruf gemacht hast.

1

Alles begann mit einer Halskette.

Mit einem wunderschönen Anhänger aus schimmernder Bronze in Form eines Schmetterlings, der an einer grünen Seidenkordel befestigt war. Der Körper und die Flügel waren so zart gearbeitet, dass es fast schien, als könnte er jeden Moment losfliegen, und das glänzende Metall fing das Sonnenlicht ein. Ich entdeckte ihn am letzten Tag des Willow Creek Renaissance Faire, als ich mit Emily – oder vielmehr Emma, da wir immer noch unsere Rollen als Tavernendirnen spielten – über das Gelände schlenderte. Wir trugen unsere gewohnten Kostüme und präsentierten dazu passende Persönlichkeiten: ein bisschen lauter, ein bisschen kecker und flirtlustiger, als wir im richtigen Leben waren. Immer mal wieder blieben wir stehen, um uns mit Besuchern zu unterhalten – besonders mit den kleinen, die als Ritter oder Piraten verkleidet waren –, und wir stöberten verstohlen in den Auslagen der Händler, die die letzte Chance nutzten, noch etwas zu verkaufen, bevor sie alles einpackten und zum nächsten Mittelalterfestival weiterzogen. Das war der Moment, als mich der Schmetterling vom Tisch einer Schmuckhändlerin anfunkelte.

«Was hältst du hiervon, liebste Emma?» Ich hielt den Anhänger hoch, damit wir ihn beide sehen konnten. Ich trug den keltischen Knoten aus Zinn, den ich mir vorletzten Sommer gekauft hatte, aber mein Outfit konnte eine Auffrischung vertragen. Während sich der bronzene Schmetterling langsam am Ende seiner Kordel drehte, blitzten seine Edelsteinaugen mich an, als wollten sie sagen: Ja. Du brauchst mich.

«Oh, Stacey, der ist so hübsch!» Erschrocken schlug Emily eine Hand vor den Mund und sah mich mit großen Augen an, als sie ihren Fehler bemerkte. Zum einen hatte sie mich mit dem falschen Namen angesprochen, und zum anderen hatte sie nicht mal versucht, ihren üblichen Festivalakzent zu benutzen. «’tschuldige», sagte sie mit einem Grinsen.

Die Händlerin schnaubte. «Ist doch alles schon so gut wie vorbei. Wird keiner was sagen, wenn ihr mal aus der Rolle fallt.»

«Ich meinte natürlich Beatrice.» Man musste es ihr zugutehalten, Emily schlüpfte augenblicklich wieder zurück in ihre Rolle. «Denn das ist dein Name. Und du verdienst wahrlich etwas Neues. Mich dünkt, die Kette würde dir sehr gut zu Gesicht stehen.»

«Was ist denn hier los?»

Jetzt wurden meine Augen genauso groß wie die von Emily, als wir uns beim Klang der ernsten Stimme hinter uns erschrocken anstarrten. Dann drehten wir uns gleichzeitig zu Simon Graham um, dem Organisator des Festivals und Emilys Freund. Er trug immer noch sein Kostüm als Captain Blackthorne, der Pirat: schwarzes Leder und ein schurkisches Lächeln. Aber sein strenger Tonfall war ganz Simon, der Englischlehrer, als hätte er sich schon den Bart abrasiert und die Haare kurz geschnitten, wie er es am Ende jeder Festivalsaison tat.

Nichtsdestotrotz sah ich ihn spöttisch an, denn ein Pirat und eine Tavernendirne standen in der Hierarchie ungefähr an gleicher Stelle, und hier draußen war er nicht mein Boss. Nicht, solange wir unsere Rollen spielten. «Es ist doch nichts Falsches dran, etwas Tand zu kaufen, Captain. Gewiss werdet Ihr Eurer Liebsten ein wenig Schwelgerei nicht verwehren.»

«Oh, ich brauche nichts.» Emily hob die Hand zu ihrem eigenen Anhänger, den sie um den Hals trug – ein dunkelblauer Kristall an einer silbernen Kette. Simon hatte ihn ihr am Anfang des Sommers bei einem der anderen Händler gekauft. «Warum sollte ich, wenn ich das hier habe?» Ihre Augen leuchteten förmlich, als sie Simon ansah, und es war deutlich zu erkennen, dass sie nicht nur von der Halskette sprach.

Simon zog eine Augenbraue hoch, und seine strenge Miene schmolz dahin, als habe er Mühe, sie vor Emily aufrechtzuerhalten. «Wohl wahr.» Er beugte sich vor, um ihr einen zarten Kuss auf den Mund zu geben.

Ich hüstelte und schaute hinüber zu der Händlerin, die gutmütig die Augen verdrehte. Wir hatten wahrscheinlich beide denselben Ausdruck im Gesicht. «So nehmt Euch doch ein Zimmer», murmelte ich, und die Händlerin prustete amüsiert. Ich fischte in dem Beutel an meinem Gürtel nach Bargeld, um die Schmetterlingskette zu bezahlen. Ich hatte niemanden, der mir Geschenke kaufte, also musste ich mich selbst beschenken. Aber das machte mir nichts aus. So bekam ich immerhin garantiert etwas, das mir gefiel.

Simon richtete seine Aufmerksamkeit wieder auf mich und runzelte erneut die Stirn. «Bist du dir sicher bei der Halskette, Stacey?» Seine Stimme war leise, da er den Akzent und seine Rolle fallengelassen hatte. «Sie kommt mir ein bisschen zu … kunstvoll vor für eine Tavernendirne.»

Plötzlicher Ärger stieg wie Galle in mir hoch, und mit Mühe schluckte ich ihn wieder hinunter. Er hatte natürlich recht; die Kette passte nicht zu meinem Kostüm. Tavernendirnen waren keine hochrangigen Persönlichkeiten, und mein keltischer Knoten aus Zinn war schon so ausgefallen, wie ich es nur wagte. Aber ich spielte nun schon seit sechs Jahren dieselbe Rolle, und sie fing an, unbequem zu werden. Ich hatte das Schlichtsein satt. Hatte es satt, mich zu begnügen.

Die Flügel des Schmetterlings gruben sich in meine Handfläche, als ich die Faust darum schloss. «Vielleicht ist es an der Zeit für eine Veränderung, Captain.» Ich behielt einen lockeren, beinahe schon neckenden Tonfall bei, damit keiner von beiden meine Verärgerung bemerkte. Diese Erkenntnis war noch ganz neu, und ich war noch nicht wirklich bereit, darüber zu reden.

«Damit hat sie nicht ganz unrecht», sagte Emily. «Die Tavernen werden inzwischen größtenteils von freiwilligen Helfern betrieben, und du weißt, dass ich jetzt schon mehr Zeit mit den Kids bei den Shakespeare-Aufführungen verbringe als beim Getränke-Ausschenken. Vielleicht ist die Zeit für Tavernendirnen vorbei, und Stacey und ich können uns für nächsten Sommer andere Rollen überlegen.»

«Mag sein.» Simon trat von einem Fuß auf den anderen, während sein Festivalakzent zurückgekrochen kam. Er mochte keine Veränderungen, besonders wenn sie das Festival betrafen. Aber Emily lenkte ihn erfolgreich ab, indem sie sich bei ihm unterhakte, und das Lächeln kehrte auf sein Gesicht zurück. «Mag sein», sagte er noch mal. Wieder zurück in seiner Rolle, war seine Stimme nun ganz Pirat, und er drückte Emily einen Kuss auf die Schläfe. «Einstweilen allerdings wird auf dem Schachbrett nach mir verlangt. Wollt Ihr Jungfern mich dorthin begleiten?»

«Zum letzten menschlichen Schachspiel des Jahres? Das würde ich nicht missen wollen.» Emilys Hingabe war niedlich, besonders da das Schachspiel genauso durchchoreographiert war wie das Ritterturnier, das wir uns gerade angesehen hatten. Zweimal täglich kämpfte Captain Blackthorne gegen Marcus MacGregor, gespielt von unserem Freund Mitch – einem Riesen von Mann, der wenig mehr als einen Kilt, kniehohe Schnürstiefel und ein gewaltiges Schwert trug. Und zweimal täglich verlor Captain Blackthorne besagten Kampf. Aber Emily feuerte ihn trotzdem an, jedes Mal. Sie war sein größter Fan.

Ich war allerdings nicht in Stimmung für das Schachspiel. «Ich werde noch ein wenig umherspazieren. Wenn Ihr mich entschuldigt.» Ich fühlte mich zu rastlos. Das Letzte, was ich wollte, war, still zu stehen und einer Show beizuwohnen, die ich schon so oft gesehen hatte, dass ich sie wahrscheinlich selbst aufführen könnte.

Emily musterte mich aufmerksam. «Alles in Ordnung, meine Liebe?»

«Ja, sicher», winkte ich ab. «Ich möchte einfach nur noch ein wenig länger die Atmosphäre genießen.»

«Natürlich.» Sie drückte meinen Arm zum Abschied, während Simon den Hut lüpfte und mir eine galante Verbeugung schenkte. «Dann sehen wir uns später beim Tavernenspiel.»

Darüber musste ich lachen. Emily schaffte es nie zur Abschiedsvorstellung des Tages, die auf der vorderen Bühne stattfand. Aber Hoffnung währte ja bekanntlich ewig.

Nachdem ich nun allein war, verstaute ich meine alte Halskette in meinem Gürtelbeutel, band mir die grüne Seidenkordel um den Hals und wanderte weiter den Weg entlang. Meine langen Röcke wirbelten Staub auf – es war ein trockener Sommer gewesen, und die Festivalwege bestanden hauptsächlich aus ungepflasterten Pfaden, die sich durch den Wald schlängelten. Ich nahm die lange Strecke, die einmal um das Gelände herumführte, auf dem wir jedes Jahr unser Mittelalterfestival abhielten. Wobei wir offiziell ein Renaissance Faire waren und uns sehr um historische Genauigkeit bemühten, aber bei so Dingen wie dem mittelalterlichen Ritterturnier drückten wir ein Auge zu.

Es war mitten am Nachmittag, und die Sonne stand noch immer hoch am Himmel, aber mir kam es vor, als neigten sich die letzten Stunden des Sommers dem Ende zu. Der letzte Tag des Festivals hatte etwas Magisches. Monatelanges Proben und wochenlange Auftritte lagen hinter uns, und alles gipfelte in diesem Tag. Ich fand immer, dass die Sonne, die zwischen den Bäumen hindurchschimmerte, an diesem Tag ein bisschen strahlender aussah – schließlich war es der letzte für fast ein ganzes Jahr, an dem ich sie so sehen würde. Ich wollte sie mit den Händen einfangen und mich an ihr festhalten.

Viele der Vorstellungen waren schon beendet, aber ich kam an einer Zaubershow für Kinder vorbei, die erst zur Hälfte rum war, also blieb ich stehen, um den Sprüchen des Magiers ein paar Augenblicke lang zu lauschen. Beim Axtwerfen war noch eine Menge los, und ich machte einen großen Bogen um den Stand. Was dachten wir uns nur dabei, Leute, die keinen Schimmer hatten, was sie da taten, für ein paar Dollar mit einer tödlichen Waffe auf eine Zielscheibe werfen zu lassen? Der Standbetreiber sah allerdings nicht allzu beunruhigt aus, und er winkte mir zu, als ich vorbeiging. Bunte Banner wehten zwischen den Bäumen sanft im Wind, ihre Farben leuchteten im Sonnenlicht. Ein paar Kinder rannten an mir vorbei zum Limonadenstand. Irgendwo in der Nähe spielte jemand auf einer Flöte, und ihr Klang schwebte zu mir herüber.

Ich betrat eine Bude, die handgefertigte Lederwaren anbot, und sog den berauschenden Duft in mich ein. Im Innern waren Maschendrahtwände aufgestellt, die mit Lederwaren aller Art behängt waren – Armschienen und Gürteltaschen sowie etwas gebräuchlichere Accessoires wie Gürtel und Geldbörsen.

«Alles handgemacht», sagte die Händlerin, ohne sich die Mühe mit einem falschen Akzent zu machen. Sie war in meinem Alter, vielleicht ein, zwei Jahre älter, aber definitiv nicht älter als dreißig. Ihr dunkelbraunes Haar war zu einem langen Zopf geflochten, und sie trug einfache bäuerliche Tracht: einen langen dunkelgrünen Rock und eine weite Chemise, die von einem ledernen Taillenmieder gehalten wurde.

«Machst du das alles selbst?» Ich berührte einen pastellblauen Rucksack aus butterweichem Leder, der am Ende eines Aufstellers hing.

«Mit meinem Mann zusammen, ja.» Sie bückte sich, um ein kleines Kind in einer langen Chemise und mit schmutzigen nackten Füßen hochzuheben. Sogar die Kinder waren hier beim Festival der Epoche entsprechend gekleidet.

Ich zeigte auf den Knirps. «Den da auch, nehm ich an.»

Als Antwort grinste sie und wippte den Kleinen auf der Hüfte, dabei strich sie über sein zerzaustes Haar. «Allerdings. Aber mal ganz ehrlich, die Lederarbeit ist viel leichter. Hast du Kinder?»

«Oh, nein.» Heftig schüttelte ich den Kopf. Ich hatte nicht mal einen Freund. Kinder waren überhaupt nicht auf meinem Radar.

Sie zuckte mit den Schultern. «Hat auch keine Eile, glaub mir.» Sie wandte sich ab, um einen weiteren Kunden zu begrüßen, der sich aus der Sonne und in den kühlen Schatten der Bude gewagt hatte. Im Davongehen wandte sie sich noch einmal zu mir um. «Wenn dir etwas gefällt, sag Bescheid. Du bekommst den Schausteller-Rabatt: dreißig Prozent.»

«Oh. Danke.» Ein warmes Gefühl durchströmte mich bei ihren Worten. Nicht wegen des Rabatts, sondern wegen dem, wofür er stand. Sie betrachtete mich als eine von ihnen. Als wäre ich ebenso ein Teil der Truppe wie die, die wie sie von einem Mittelaltermarkt zum nächsten reisten. Obwohl ich jeden Sommer viel Arbeit und Mühe in dieses Festival steckte, hatte ich mich nie auf derselben Stufe mit den Künstlern und Händlern gesehen, die jedes Jahr hier durchkamen. Sie hatten ihre eigene Kultur, fast schon ihre eigene Sprache, diese Rennies, und ich war nur eine Einheimische, die von außen zusah. Nach dem heutigen Tag würde dieser Wald wieder leer und die Händler um mich herum zum nächsten Mittelalterfestival weitergezogen sein, und das versetzte mir einen scharfen Stich ins Herz. Als würde das Leben ohne mich weitergehen und ich zurückgelassen. Manchmal wünschte ich mir, ich wäre diejenige, die zusammenpackte und weiterzog. Manchmal war ich es leid.

Ich stieß einen langen Seufzer aus und versuchte, diese beunruhigenden Gefühle zu vertreiben. Wo kamen die plötzlich her? Dieses Festival war mein Wohlfühlort, seit ich achtzehn war, und was ich jetzt gerade empfand, gefiel mir nicht. War ich aus dem Festival herausgewachsen? Oder war es andersrum?

Ich warf einen letzten Blick auf den blauen Rucksack, bevor ich mich wieder auf den Weg machte. Eine Halskette reichte als Shopping-Therapie eindeutig nicht aus, um diese Melancholie im Zaum zu halten. Und dreißig Prozent Rabatt … Dafür würde ich noch mal zurückkommen.

Ich wanderte weiter ohne ein bestimmtes Ziel die Wege entlang, und während ich versuchte, meine Gedanken zu ordnen, trugen mich meine Füße wie von selbst zur Marlowe-Bühne. Der letzte Auftritt der Dueling Kilts würde gleich beginnen. Perfektes Timing. Ich zwängte mich in den hinteren Teil der Zuschauermenge, zwischen ein paar kostümierte Händler, gerade als die Jungs die Bühne betraten.

Die Dueling Kilts waren ein Brüder-Trio – die MacLeans –, das eine Mischung aus irischen Volksweisen und leicht unanständigen Trinkliedern spielte, alles auf Handtrommel, Gitarre und Geige. Ihre Instrumente waren akustisch, ihre Kilts kniekurz, und sie waren alle sehr, sehr hübsch anzusehen. Meine Augen wanderten wie immer zu dem Gitarristen. Dex MacLean. Die größte Augenweide des Festivals. Sein roter Kilt war von gerade genug Dunkelgrün durchzogen, um zu verhindern, dass er wie ein Stoppschild aussah, aber trotzdem noch leuchtend genug, um Aufmerksamkeit zu erregen. Als würden seine kräftigen Beine nicht schon genug dafür sorgen. Der Saum war ein wenig zerschlissen, und er trug den Kilt so lässig wie Jeans. Dex hatte die Haltung eines Mannes, der mit einem Plaid um die Hüften geboren worden war.

Sein cremeweißes Leinenhemd tat nichts, um die breiten, muskulösen Schultern zu verbergen, und er stampfte mit einem Fuß, der in einem schweren Stiefel steckte, im Takt zur Musik. Als er sich zu seinen Bandkollegen umdrehte und sich dabei das lange dunkle Haar aus den Augen schüttelte, ließ sein Lächeln etwas in meiner Brust beben. Dex MacLean war in den letzten zwei Sommern mein liebster Teil des Festivals gewesen. Der Mann hatte einen Körper wie ein Hemsworth, und ich hatte jeden Zentimeter davon erforscht. Genau wie er meinen erforscht hatte. Er hatte natürlich von Anfang an klargemacht: keine Verpflichtungen. Nur Sex. Und das war okay für mich. Ich war nicht darauf aus, in absehbarer Zeit sesshaft zu werden, und ich mochte Dex nicht wegen seiner Konversationskünste. Wie bereits erwähnt: ein Körper wie ein Hemsworth. Ich wäre schön blöd, wenn ich mir das entgehen ließe.

Nach letztem Sommer hatte ich mich darauf gefreut, unsere sexuellen Akrobatikübungen in diesem Jahr wiederaufzunehmen, aber die Dinge hatten sich anders entwickelt. Er hatte im Winter sein Handy verloren und offenbar auch eine neue Nummer, also waren meine ersten Nachrichten unbeantwortet geblieben. Wir hatten ein, zwei Nächte miteinander verbracht, und es war genauso elektrisierend gewesen wie im Jahr zuvor. Aber es fehlte diese Intensität wie im letzten Sommer, und ich war nicht enttäuscht, als er mich nicht nach meiner Nummer fragte. Ich bot sie ihm auch nicht an.

Keine Verpflichtungen, richtig? Der Mann war nicht für eine Beziehung gemacht.

Also sah ich nun mit einer eigentümlichen Mischung aus Zufriedenheit, Stolz und Bedauern zu, wie Dex seine letzte Show am letzten Tag des Festivals spielte. Ich hatte den da, sagte der zufriedene und stolze Teil meines Gehirns. Aber warum habe ich mir keinen Nachschlag geholt? Den letzten Gedanken verdrängte ich und entschied mich stattdessen, dankbar dafür zu sein, was – und wen – ich gehabt hatte.

Neben mir stieß eine der Händlerinnen ein Seufzen aus. Ich erkannte sie wieder; sie verkaufte Tarotkarten und Kristalle in einer Bude, die wie ein Wahrsagerwagen aussah. Sie lehnte sich zu der Frau neben ihr hinüber. «So viele hübsche Kerle auf einer Bühne.»

Ihre Begleiterin nickte. «Die gehören verboten, diese Beine. Dem Himmel sei Dank für Kilts.»

Die Tarotkartenverkäuferin seufzte wieder. «Schade, dass er so ein Weiberheld ist.»

«Stimmt.» Das Wort schlüpfte mir über die Lippen, bevor ich es verhindern konnte, und die beiden Frauen drehten sich mit einem verschwörerischen Grinsen zu mir um. Da war es wieder, dieses Gefühl – als wäre ich eine richtige Festival-Insiderin, mit Zugang zum besten Klatsch und Tratsch.

Sie beugte sich ein wenig näher zu mir, als würde sie gleich ein Geheimnis mit mir teilen, und ich tat es ihr gleich. «Ich bin mir ziemlich sicher, er hat bei jedem Festival eine andere.»

«Oh, das hat er», sagte die andere Händlerin. «Ich frage mich, wer es hier ist.» Sie schaute sich im Publikum um, als könnte sie Dex’ Willow-Creek-Affäre anhand irgendeines geheimen Zeichens erkennen. Einem wirklich zufriedenen Lächeln vielleicht. Ich biss mir fest auf die Innenseite der Wange. Wenn er diskret genug war, es nicht auszuplaudern, dann würde ich das auch sein.

«Keine Ahnung», sagte ich, erfreut darüber, wie unverbindlich meine Stimme klang.

«Ah, die Glückliche!» Die Tarotkartenverkäuferin legte die Hände auf den Bauch, als wolle sie die Schmetterlinge, die dort flatterten, beruhigen. «Ich wette, sie hatte einen verdammt tollen Sommer.» Sie kicherte, die andere Händlerin stimmte mit ein, und ich zwang mich, es ihnen gleichzutun, obwohl mein Lachen ein wenig hohl klang.

Am Ende des Songs schlüpften die beiden Frauen aus der Menge und gingen wieder zurück zu ihren Buden. Als das nächste Lied anfing, spürte ich eine Berührung am Ellbogen.

«Seid gegrüßt, Mylady Beatrice.»

Meine Aufmerksamkeit flog von Dex zu einem völlig anderen MacLean. Dex’ Cousin Daniel war der Manager der Dueling Kilts. Er hing üblicherweise irgendwo im hinteren Teil der Menge rum, gekleidet in seine Uniform aus schwarzem T-Shirt und schwarzer Jeans. Wie der Mann es schaffte, mitten im August so angezogen nicht an einem Hitzschlag zu sterben, würde mir auf ewig ein Rätsel bleiben.

«Gott zum Gruße, werter Herr.» Ich machte einen kleinen Knicks, noch immer in meiner Rolle. Dann ließ ich den Akzent fallen. «Das Festival ist fast vorbei, weißt du. Du kannst mich jetzt Stacey nennen.»

Daniels Lachen war ein leises Ausatmen. «Ich werd versuchen, dran zu denken.» Er nahm seine schwarze Baseballkappe ab, um sich durchs Haar zu fahren, und ich war wie jedes Mal aufs Neue erstaunt, wie rot es war. Gerade lang genug, um ihm in die Augen zu fallen, wurde es normalerweise von der Kappe verdeckt, die er ständig trug.

«Neue Halskette?», fragte er, bevor er sich die Kappe wieder aufsetzte und den leuchtenden Schopf verdeckte.

«Hmm? Ach so. Ja.» Meine Hand wanderte zu dem Schmetterling um meinen Hals. Das Metall fühlte sich durch den Kontakt mit meiner Haut nun warm an. «Die hab ich heute Nachmittag gefunden.»

«Sieht hübsch aus.» Er hob eine Hand, als wollte er den Anhänger berühren, doch dann deutete er nur darauf und schob die Hände anschließend in die Vordertaschen seiner Jeans. «Er bedeutet Veränderung.»

«Was?»

«Der Schmetterling.» Er wies mit einem Nicken auf mein Dekolleté, dem gegenwärtigen Ruheplatz des besagten Tierchens. «In vielen Kulturen symbolisiert der Schmetterling Veränderung.»

«Oh.» Ich hatte das nicht gewusst, und einen Moment lang schämte ich mich ein bisschen dafür. Aber zum Teufel damit. Ich zuckte mit den Schultern. «Für mich symbolisiert er was Hübsches.»

Er lachte, ein lautes Lachen diesmal, und ich musste unwillkürlich an diesen Funken Unzufriedenheit denken, der mich erfasst hatte, als ich die Kette zum ersten Mal in die Hand genommen hatte. Zeit für eine Veränderung,hatte ich zu Simon gesagt. Hm. Vielleicht wusste dieser Schmetterling mehr, als ich ihm zugestehen wollte.

Ich öffnete den Mund, um Daniel davon zu erzählen, aber er hatte seine Aufmerksamkeit schon wieder auf seine Cousins auf der Bühne gerichtet. Nicht zum ersten Mal sann ich über die MacLean-DNA nach. Dex und Daniel waren beide groß, aber da hörten die Gemeinsamkeiten auch schon auf. Dex war dunkel und muskulös, ein Mann, der aussah, als würde er deine Welt auf gefährliche Weise auf den Kopf stellen. Daniel war schlank und hell, mit flaschengrünen Augen zu diesen roten Haaren. Sein Körperbau glich eher einem Schwimmer als einem Bodybuilder. Daniel sah weniger so aus, als würde er deine Welt auf den Kopf stellen, sondern eher so, als würde er genau wissen, wie du deinen Kaffee trinkst, und ihn dir mit einem zärtlichen Lächeln, das ganz allein dir gilt, ans Bett bringen. Während die Band auf dem Festival spielte, blieb Daniel in der Nähe und betrieb ihren Merchandise-Stand. Das schien mir nicht so viel Arbeit zu sein, als dass es ihn ausreichend beschäftigt halten würde, aber vielleicht brauchten Dex und die anderen so viel Beaufsichtigung.

Daniel hatte eine angenehme, umgängliche Art, aber ich fühlte mich ein bisschen verlegen in seiner Nähe, da ich ziemlich sicher war, dass er über Dex und mich Bescheid wusste. Spätestens seit dieser Nacht vor zwei Wochen, in der ich Daniel um zwei Uhr morgens an der Eiswürfelmaschine des Hotels über den Weg gelaufen war … In der Situation gab es wohl kaum eine andere Erklärung für meine Anwesenheit.

Und tatsächlich. «Du … Ähm.» Daniel räusperte sich, und ich sah zu ihm rüber. Seine Augen waren immer noch auf die Bühne gerichtet, aber er verzog den Mund, als er sich auf die Innenseite der Wange biss. «Du weißt, wie Dex drauf ist, oder?»

Ich blinzelte verdutzt. «Na ja, ich kenne ihn vermutlich nicht so gut wie du.» Wenn man von einem bestimmten Bereich absah, aber Daniel war vermutlich nicht auf Details aus.

Er schüttelte den Kopf, die Hände immer noch in die Vordertaschen seiner Jeans geschoben. «Ich meine, du weißt, dass er …» Er seufzte und richtete den Blick seiner grünen Augen nun ganz auf mich. «Du weißt, dass er ein ziemlicher Playboy ist, oder?»

«Bei jedem Festival eine andere Maid?» Ich zog eine Augenbraue hoch, und sein darauf folgendes Lachen war eher ein Schnauben. «Davon hab ich schon gehört.» Ich stieß einen dramatischen Seufzer aus und sah zurück zur Bühne. «Ich bin wohl doch nicht so besonders, wie ich dachte.»

Das war als Scherz gedacht, aber Daniel schwieg. Ich drehte den Kopf und rechnete mit einem wissenden Lächeln auf seinem Gesicht, doch stattdessen stieg Röte an seinem Nacken empor, während er geflissentlich den Boden vor seinen Füßen musterte. «Ich habe nicht gesagt, dass …» Er räusperte sich und versuchte es noch mal. «Ich habe nicht gemeint, dass du … Ich meine, du bist …» Schließlich seufzte er frustriert und schaute wieder zu mir hoch. «Ich will nicht, dass du verletzt wirst, das ist alles.»

Ach so. Unbesorgt winkte ich ab. «Mach dir keine Gedanken. Ich bin ein großes Mädchen. Ich kann damit umgehen.» Jetzt war ich es, die bei meinen eigenen Worten errötete. Großes Mädchen. Meine Hände wanderten zu meiner Taille, die durch das Korsett meines Kostüms ohnehin schon zusammengeschnürt war, als könnte ich mich noch schlanker machen, indem ich meine Rippen zusammendrückte. Ich hasste meinen Körper nicht, aber manchmal war ich mir der Tatsache sehr bewusst, dass ich nicht Model-dünn war. Das war einer der vielen Gründe, warum ich es liebte, auf dem Festival zu sein. Hier war meine Üppigkeit ein Vorteil: Meine Brüste sahen unglaublich aus, wenn sie so hochgeschnürt waren, und das Korsett verlieh mir eine Sanduhrfigur, von der ich während des restlichen Jahres nur träumen konnte.

Angestrengt suchte ich nach etwas anderem, worüber wir reden konnten. Irgendetwas. «Also. Weiter zum nächsten Stopp, stimmt’s? Fahrt ihr zum Maryland Renaissance Festival? Ich glaube, ungefähr jeder hier macht das.»

Er nickte. «Jepp. Es liegt so nah und schließt direkt an, dass sich das fast von selbst versteht. Und es passt auch sonst wirklich gut. Wir können hier, wo das Publikum kleiner ist, neues Material ausprobieren und dann das große Festival als Nächstes angehen.»

«Klar.» Ich kniff die Lippen zusammen. Das wusste ich. Ich wusste, dass unser Festival lächerlich klein war im Vergleich zum Maryland Renaissance Festival, das eines der größten des Landes war. Wir spielten nicht mal in derselben Liga. «Ich wette, du bist jedes Jahr froh, Willow Creek den Rücken zu kehren.» Fest starrte ich hinüber zur Bühne, während Verärgerung in meiner Brust brodelte. Ich liebte unser Festival. Ich liebte diese Stadt. Aber das hieß nicht, dass jeder das tat.

«Überhaupt nicht.» Falls Daniel meine Reaktion bemerkt hatte, so ließ er es sich zumindest nicht anmerken. Als ich wieder zu ihm schaute, sah er ebenfalls in Richtung Bühne, nicht zu mir. «Das hier ist eine meiner Lieblingsstationen. Und wenn man bedenkt, dass ich gut zehn Monate im Jahr unterwegs bin, dann will das was heißen.» Er hielt inne, um einen raschen Blick zu mir zu werfen, bevor er wieder zur Bühne sah. «Es gefällt mir hier.»

Und einfach so löste sich mein Anfall defensiver Verärgerung in Luft auf, und Erleichterung durchfuhr mich wie eine kühle Brise. «Ja. Mir auch.»

Auf der Bühne beendeten die Dueling Kilts ihr Programm, und Dex hob grüßend das Kinn in meine Richtung. Ich war schon dabei, die Hand zu heben, um zu winken, als ich bemerkte, dass Daniel mit einem identischen Heben des Kinns antwortete. Ups. Ich verwandelte das unbeholfene halbe Winken in ein etwas zu beiläufiges Überprüfen meiner Frisur. Natürlich. Eine Maid bei jedem Festival. Und Dex war sowohl mit mir als auch mit Willow Creek fertig. Auf ging’s zur nächsten.

Ich schüttelte den Stich der Enttäuschung ab und drehte mich um, um mich auf den Weg zum Tavernenspiel bei der vorderen Bühne zu machen. Die letzte Stunde des diesjährigen Festivals war angebrochen, und ich würde jede Sekunde davon auskosten. Von meinem gegenwärtigen Gefühl der Frustration einmal abgesehen, waren diese Wochen im Wald so viel lustiger, so viel interessanter als mein echtes Leben.

Erneut spielte ich mit meiner Halskette und erspürte die Flügel des Schmetterlings zwischen meinen Fingern. Veränderung, hm? Viel Glück damit, Schmetterling. Ich lebte schon mein ganzes Leben lang in Willow Creek. Hier veränderte sich nie etwas.

Ich hätte es besser wissen sollen.

Schmetterlinge machen keine halben Sachen.

2

Die Renaissance-Faire-Saison war meine liebste Zeit des Jahres. Vom Vorsprechen im Spätfrühling, wenn wir die komplette Besetzung aus Freiwilligen zusammenstellten, über die Proben an den Wochenenden, bei denen wir Lieder und Tänze einstudierten, Crashkurse in Geschichte und Etikette bekamen und unsere Akzente übten, bis schließlich hin zu den vier Wochenenden draußen im Wald auf dem Festivalgelände im Juli und August, wo wir voll in unseren Rollen aufgingen … die Ren-Faire-Saison gab mir das Gefühl, lebendiger zu sein. Beschwingter. Es war ein Leben voller Farbe, mit Musik und Lachen, in drückender Sommerhitze und engen Kostümen.

Also war es nur logisch, dass ich diese ersten paar Wochen nach dem Festival am wenigsten mochte. Das Leben verlor seine Farbe, wenn ich mein Kostüm zur Reinigung brachte und Beatrice, die Tavernendirne, buchstäblich für ein weiteres Jahr weggepackt wurde. Anstatt mich mit leicht wunden Füßen auf jedes Wochenende zu freuen, war alles, worauf ich mich nun freuen konnte, eine weitere Arbeitswoche. Doch es gab auch eine positive Seite: Rezeptionistin in einer Zahnarztpraxis zu sein, war im Vergleich zu einer Tavernendirne zwar weitaus weniger aufregend, aber die Kleidung war auf jeden Fall viel bequemer. Ich würde wahrscheinlich nie verstehen, warum diejenigen von uns, die für die Büroarbeiten zuständig waren, dieselben Praxisklamotten anziehen mussten wie das medizinische Personal, aber die Farben waren süß, und es war, als würde man einen Schlafanzug zur Arbeit tragen, also beklagte ich mich nicht.

Aber es war alles so … langweilig. Erst vor zwei kurzen Wochen noch war ich in meinem Kostüm im Wald herumgelaufen, hatte mit Besuchern derbe Witze gemacht und zu Musik geklatscht, die ich nur einmal im Jahr hörte. Karaoke im Jackson’s konnte schmutzigen Trinkliedern nicht das Wasser reichen. Aber Karaoke war alles, was ich zurzeit hatte, also stand ich am Freitagabend zu Hause im Bad und machte mich ausgehfertig, wie üblich. Nur machte ich diesmal den Fehler, davor noch schnell meine Social-Media-Kanäle zu checken.

Wir sind überglücklich!

Willkommen, kleine Charlotte Abigail Hawthorne!

3256 g schwer und einfach perfekt.

Mutter und Kind geht es großartig!

Meine beste Freundin Candace sah definitiv großartig aus. Ein bisschen verschwitzt, aber sie hatte ja auch gerade ein winziges menschliches Wesen aus sich herausgepresst, also war das verzeihlich. Charlotte sah vor allem rot und runzlig aus, wie eine mürrische Kartoffel mit Haaren. Aber ich klickte trotzdem auf ‹Like› bei dem Foto und fügte einen Kommentar hinzu:

Wie wunderschön! Herzlichen Glückwunsch, BFF!

Dazu noch ein Herzaugen-Emoji.

Aber war sie wirklich meine BFF? Candace Stojkovic und ich waren in dieselbe Klasse gegangen, wir waren zusammen Cheerleader gewesen, wir hatten zusammen den Highschool-Abschluss gemacht. Aber nach dem College hatten wir uns aus den Augen verloren, da ich in Willow Creek geblieben war und sie ihre College-Liebe geheiratet hatte und nach Colorado gezogen war. Dank Internet und Social Media nahmen wir weiter Anteil am Leben der anderen, so gut wir eben konnten, indem wir bei Fotos ‹Like› klickten und witzige Kommentare hinterließen. Aber das war eigentlich kein BFF-Status mehr, oder? Ich war zu nichts weiter als einer Facebook-Freundin meiner besten Freundin geworden. Das … fühlte sich nicht gut an.

Aber genug davon. Es war Zeit, auszugehen.

Ich legte mir die Schmetterlingskette um den Hals – das einzige Stück Festival, das ich als Teil meines täglichen Lebens beibehalten hatte. Nun, da ich ausgehfertig war, machte ich ein Selfie und postete es auf Instagram:

Jemand hat mir neulich gesagt, Schmetterlinge bedeuten Veränderung. Also mache ich heute mal etwas anderes! Ha, war nur Spaß, ich geh wie immer ins Jackson’s. #FridayNight

Es poppten ziemlich schnell ein paar Likes auf, dennoch musterte ich das Bild mit kritischem Blick. Mein Ansatz musste nachgefärbt werden: Das Braun kam schon ganz schön durch, fast so dunkel wie meine Augen. Meine Augenbrauen machten zwar klar, dass ich keine echte Blondine war, aber so offensichtlich musste es auch nicht sein. Doch die Halskette sah hübsch aus, und mein Lächeln auch. Ich war schon immer für mein Lächeln bekannt gewesen, breit und freundlich und fröhlich, zuerst in der Highschool und dann später am College. Es war ein Teil von mir, etwas, das ich trug wie eine Lieblingsjeans. Obwohl es mir manchmal so gefakt vorkam wie ein Push-up-BH. Heute Abend fühlte es sich besonders aufgepolstert an, aber ich behielt es trotzdem bei. Schließlich war das die Stacey, die jeder sehen wollte. Die deprimierte, missgelaunte Stacey machte keinen Spaß, also ließ ich sie zu Hause.

Das Jackson’s war unser hiesiger Bierschuppen/Lieblingstummelplatz, im Grunde die einzige richtige Bar in Willow Creek, also würde ich dort garantiert ein paar Freunde treffen. Und tatsächlich fand ich mich bald in einer Nische mit meinen Ren-Faire-Kollegen wieder, um das Ende einer weiteren erfolgreichen Saison zu feiern.

«Na schön.» Simon hob eine Flasche Bier an die Lippen. «Ich geb’s zu. Das Festival von sechs Wochen auf vier zu verkürzen, war eine gute Idee.»

«Hab ich dir doch gesagt.» Emily schmiegte sich an seine Seite und trank einen Schluck von ihrem eigenen Bier. «Wir haben weniger Arbeit und sparen auch noch bei den Künstlern, und das gesparte Geld kommt direkt der Schule und wohltätigen Zwecken zugute. Darum geht es doch schließlich, schon vergessen?»

Er zog die Augenbrauen zusammen. «Ich mache dieses Festival schon vom ersten Tag an. Ich denke, ich weiß, worum es geht.»

Ich hielt den Atem an. Das war ein heikles Thema. Simon Graham hatte dieses Festival vor über einem Jahrzehnt ins Leben gerufen, zusammen mit seinem älteren Bruder Sean. Wir hatten Sean vor ein paar Jahren an den Krebs verloren, und seitdem war Simon immer rigoroser geworden, wenn es darum ging, das Festival in seiner ursprünglichen Form zu schützen. Emily hatte ihn da rausgerissen, als sie sich letztes Jahr kennengelernt hatten. Doch auch wenn er dieses Jahr endlich ein wenig offener für Veränderungen geworden war … Simon einen Kontrollfreak zu nennen, war noch untertrieben.

Also schaute ich rasch von Simon zu Mitch Malone, der neben mir saß. Er erwiderte meinen Blick und beantwortete ihn mit einem Augenrollen. Mitch hatte noch nie Geduld für Simon und seine dunkleren Stimmungen gehabt, nicht mal, als wir noch Kinder gewesen waren. Er und Simon waren nicht die engsten Freunde, trotz all der Jahre, die sie schon zusammenarbeiteten, um dieses Festival auf die Beine zu stellen. Genau genommen stellten wir vier den Hauptteil des Festivalorganisationskomitees dar.

Ich entschied, eine Erwiderung zu wagen. «Ich glaube, was Emily gemeint hat, war –»

Aber Emily übernahm ihre Verteidigung selbst, indem sie Simon mit dem Handrücken einen Klaps gegen die Brust versetzte und mich dann angrinste. «Er weiß genau, was ich gemeint habe.»

«Moooment mal.» Ich stellte mein Weinglas ab – ich war die Einzige am Tisch, die kein Bier trank, was für eine Rebellin! – und griff über den Tisch hinweg nach Emilys Hand. Als sie Simon den Klaps gegeben hatte, hatte im Licht ein Diamantring aufgeblitzt, den ich an ihr noch nie gesehen hatte. Ein Diamantring an ihrer linken Hand. «Was zum Teufel ist das?»

Meine Stimme kam ein wenig schriller heraus als beabsichtigt, und mehr als nur ein paar Köpfe drehten sich zu uns um. Aber das war mir egal. Finster starrte ich zuerst Emily, dann Simon an. Wahrscheinlich sollte ich in Anbetracht der Tatsache, dass zwei meiner engsten Freunde sich verlobt hatten, nicht finster starren, aber Pech gehabt. «Ist das etwa das, was ich denke?»

Emilys einzige Antwort war ein Kichern, und Simons strenge Miene schmolz zu einem Lächeln, als er Emilys Hand in meiner betrachtete. «Ist es», bestätigte er, und sein Lächeln wurde noch breiter, etwas, das ich physikalisch nicht für möglich gehalten hätte. Simon lächelte nicht so, wenn er kein Pirat war. «Emily hat eingewilligt, mich zu heiraten.»

Ich kreischte, und nur die Tatsache, dass ich innen in der Nische saß, hinderte mich daran, um den Tisch zu sprinten und sie beide zu umarmen. Kurz dachte ich darüber nach, über den Tisch zu hechten, aber ich konnte mich gerade noch zurückhalten.

«Wahnsinn! Das ist toll, ihr zwei!» Mitch stellte seine Bierflasche ab und bot Simon den ausgestreckten Arm über den Tisch hinweg für einen Fist Bump an. Simon war zwar nicht der Typ dafür, aber er erwiderte die Geste trotzdem.

Ich hingegen war noch lange nicht fertig mit dem Thema. «Wann ist das denn passiert?» Ich nahm ihren Ring unter die Lupe. Es war ein hübscher, perfekter Diamant, nichts Protziges. Genau wie der Mann, der ihn ihr geschenkt hatte.

«Ähm …» Emily kaute auf ihrer Unterlippe. «Montagnachmittag.»

«Montag?!» Meine Antwort war praktisch ein Quietschen. «Das war vor vier Tagen!» Ich ließ ihre Hand fallen und lehnte mich in der Nische zurück. «Wann bitte hattet ihr vor, es uns zu erzählen?» Es war geradezu lästig, dass ich mich so freute, da ich eigentlich sauer auf sie sein wollte, weil sie mir diese Nachricht vorenthalten hatte. Uns allen.

Emily verzog das Gesicht. «Genau genommen wollten wir es euch allen heute Abend sagen. Wir … na ja …» Sie schaute zu Simon hoch, und sie machten diese Sache, die Pärchen tun: ohne Worte miteinander kommunizieren, nur über Gesichtsausdrücke und eine hochgezogene Augenbraue. Sie sahen schon richtig verheiratet aus.

«Wir wollten euch beide um einen großen Gefallen bitten.» Simon räusperte sich, und Emily übernahm.

«Wir wünschen uns eine kleine Hochzeit, und meine große Schwester April wird meine Trauzeugin. Aber Stacey, du bist meine beste Freundin fast seit dem Tag, an dem ich hierher nach Willow Creek gekommen bin. Würdest du meine Brautjungfer sein?»

«Natürlich!» Ich schlug ergriffen die Hände vor den Mund, und in ihren Augen glänzten Tränen, so sehr freuten wir uns gegenseitig über die Freude der anderen. «Oh Em, ich könnte nicht glücklicher sein! Das wird so großartig!»

«Und. Ähm.» Simon räusperte sich erneut und schaute hinüber zur Bar, dann hoch zur Decke, und schließlich wieder zurück zu Mitch und mir. «Na ja, wie du weißt, Mitch, habe ich keinen Bruder mehr …» Seine Stimme versagte, und Emily legte ihre Hand auf seine und verschränkte ihre Finger miteinander. Ihre Berührung schien ihm Kraft zu geben, obwohl sein Lächeln dünner geworden war. «Also wollte ich dich fragen, ob du bei unserer Hochzeit als mein Trauzeuge neben mir stehen würdest.»

Mitchs Augen wurden kugelrund. «Alter. Soll das ein Scherz sein?» Das war alles, was er zuerst sagte, und in der Stille, die darauf folgte, sank Simon ein wenig in sich zusammen.

«Nein. Ich meine, das sollte kein Scherz sein. Aber …»

«Alter.» Mitch streckte erneut die Hand aus, aber statt einer geschlossenen Faust war sie diesmal geöffnet. Simon ergriff sie, und dann schüttelten sich die beiden Männer die Hände, und Mitch legte seine andere Hand über ihre verschränkten. «Natürlich mache ich das», sagte er schließlich mit untypisch ernster Stimme. «Es wäre mir eine Ehre.»

Die beiden lächelten einander an, und ich wünschte, ich könnte in der Zeit zurückreisen zu unseren Highschool-Tagen. Mitch war immer ein überlebensgroßer blonder Sportler-Typ gewesen, und seine Muskeln gab er inzwischen jeden Sommer mit seinem Kilt und seinem Claymore mit großer Wirkung zum Besten. Simon war der Intellektuelle gewesen, kleiner und schlanker, mit dunklen Haaren und scharfsichtigen Augen. Er war ein stiller, bodenständiger Mann, der während des Festivals seine wilde Seite als Pirat herausließ und sich in einen in schwarzes Leder gekleideten Schurken mit frechem und forschem Gebaren verwandelte, das er im echten Leben so nie zeigen würde. In der Highschool waren die beiden keine Freunde gewesen. Wenn ich Simon und Mitch, den Teenagern, sagen könnte, dass sie jetzt diese Unterhaltung führen würden, dass sie miteinander ein Bier trinken und darüber reden würden, der Trauzeuge des anderen zu sein … nun ja. Keiner von beiden hätte mir geglaubt, und ebenso wenig die jüngere Stacey in ihrer Cheerleader-Uniform und mit dem langen blonden Pferdeschwanz.

Ich wickelte eine Haarlocke – immer noch blond, aber nicht mehr in einem Pferdeschwanz – um meine Finger und richtete meine Aufmerksamkeit wieder auf Emily. «Also», sagte ich. «Habt ihr schon ein Datum festgelegt? Nächsten Sommer vielleicht? Wir könnten es beim Festival machen.»

Emilys Augen fingen an zu strahlen. «Ja!»

Aber Simon schüttelte den Kopf. «Nein.»

Sie sah ihn an, und ein überraschtes Lachen sprudelte aus ihr heraus. «Nein? Ich dachte, eine Hochzeit mit Festivalthema wäre selbstverständlich. Du willst nicht …?»

Sein Kopfschütteln wurde noch energischer. «Nein. Ich will dich nicht in meiner Rolle heiraten. Das ist kein Spiel. Es ist nicht …»

«Hey.» Sie legte ihre Hand auf seine. «Nein. Das ist kein Spiel.»

«Und es muss ja auch nicht in der Rolle sein», meinte Mitch.

«Stimmt», griff ich seinen Gedankengang auf. «Wir können die Kostüme weglassen. Aber das Schachbrett wäre ein großartiger Ort für eine Hochzeit. Draußen im Wald, das wäre total … Keine Ahnung, hübsch. Malerisch.» Ich machte eine hilflose Handbewegung; mit Worten war ich nicht besonders gut.

«Pastoral», kam Mitch mir zu Hilfe, und drei weit aufgerissene Augenpaare wandten sich in seine Richtung. Schulterzuckend trank er einen weiteren Schluck Bier. «Was denn, ich hab auch einen Wortschatz.»

«Offensichtlich.» Ein Lächeln spielte um Simons Mund, aber er neigte seine Flasche in einer Art Salut in Mitchs Richtung. «Damit habt ihr wirklich nicht ganz unrecht. Und wir dachten tatsächlich an eine Location im Freien.»

«Ganz zu schweigen davon, dass sie kostenlos wäre», sagte Emily. «Kostenlos ist gut. Geschäftsführerinnen von Buchläden verdienen nicht gerade Millionen.»

Simons Nicken war ernst. «Genauso wenig wie Englischlehrer.»

«Aber ich heirate dich trotzdem.» Sie küsste ihn, und ihr Lächeln übertrug sich auf sein Gesicht.

«Ja!» Ich fand die Idee immer besser. «Wir könnten es am Abend machen. Dann könnten wir nach dem letzten Schachspiel damit anfangen, alles aufzubauen. Und die Feier abhalten, während die Sonne untergeht. Das wäre so schön!»

«Bis auf die Mücken», warf Simon mit hochgezogenen Augenbrauen ein.

Ich winkte ab. «Dafür gibt es doch diese Citronella-Gartenfackeln.»

«Und ihr solltet am Sonntagabend heiraten», meinte Mitch. «Dann können wir länger feiern und müssen am nächsten Tag nicht verkatert aufs Festival.»

«Interessante Prioritäten.» Emily schnaubte. «Ich werde es in Betracht ziehen.»

«Sag Bescheid, womit ich dir helfen kann», bot ich an.

«Na ja, jetzt wo du’s erwähnst, wie wär’s mit Brunch am Sonntag? April kommt auch. Ich dachte da an Waffeln, Mimosas und eine irrsinnige Menge Fotos von Hochzeitskleidern?»

Darüber musste ich lachen. «Du hast schon eine Pinterest-Pinnwand erstellt, nicht wahr?»

«Schuldig.» Aber ihr Grinsen verriet, dass sie sich alles andere als schuldig fühlte. Und wer könnte es ihr verübeln? Ich wäre wahrscheinlich genauso aufgeregt, wenn ich heiraten würde.

Danach bewegte sich das Gespräch in eine andere Richtung, und wir unterhielten uns über das kommende Schuljahr (Simon und Mitch unterrichteten beide an der Willow Creek High, also war das ein beliebtes Thema) und über anderen Klatsch und Tratsch (wir lebten in einer Kleinstadt; da war Tratschen an der Tagesordnung). Aber immer mal wieder bewegte Emily ihre Hand, und der Diamant blitzte im Licht auf. Immer mal wieder schaute Simon mit einem Lächeln in den Augen zu ihr hinüber. Und jedes Mal ging mir dabei das Herz über vor Liebe für die beiden, was absolut Sinn ergab. Wer würde sich nicht für seine Freunde freuen, wenn sie die große Liebe gefunden hatten?

Aber was keinen Sinn ergab, war der Gedanke, der mir dabei auch durch den Kopf zuckte: Sie wird mir fehlen. Es gab keinen Grund für den Hauch von Panik, der mein Herz rasen ließ. Emily war hier, mir am Tisch direkt gegenüber. Sie würde nirgendwo hingehen. Genau genommen würde sie sich durch die Hochzeit mit Simon endgültig in Willow Creek niederlassen. Es gab keinen Grund, warum sie mir fehlen sollte.

Aber mein Herz raste trotzdem auf der ganzen Fahrt nach Hause, bis ich in meine Auffahrt bog – dieselbe Auffahrt, in die ich schon bog seit dem Tag, an dem ich meinen Führerschein bekommen hatte. Meine Eltern lebten in einem großen zweistöckigen Haus, das viel zu groß für uns drei war. Na ja, für die beiden, da ich inzwischen nicht mehr bei ihnen wohnte. Technisch gesehen.

Meine kleine Wohnung war ein gemütliches Zuhause. Sie erstreckte sich über die Länge und Breite der Doppelgarage, auf die sie gebaut war, mit einer kleinen Küche in der einen Ecke und einem abgetrennten kleinen Badezimmer mit Toilette und Dusche (leider keine Schaumbäder für mich) in der anderen. Meine Kleider wohnten in zwei frei stehenden Schränken, und mein breites Bett mit der gemütlichen Matratze schmiegte sich in die Mansarde. Ich hatte eine Lichterkette an der Dachschräge über dem Bett drapiert, und ihr sanfter Schein gab mir das Gefühl, in einer Kuscheldeckenburg zu schlafen. Zwei Oberlichter im Küchenbereich ließen jede Menge natürliches Licht herein, und ich liebte es, bei Regen zum Prasseln der Tropfen auf den Scheiben einzuschlafen.

Es war ein großartiger kleiner Ort, und er gehörte mir. Ich liebte ihn. Das sagte ich mir oft, und meistens glaubte ich es sogar.

Ich hatte kaum die Tür hinter mir geschlossen und die Schlüssel in die kleine Schale neben der Tür geworfen, als mein Telefon klingelte. Nicht mein Handy, das stumm in meiner Handtasche lag, sondern der altmodische Festnetzanschluss an der Küchenwand. Es gab zwar keine Anrufer-Anzeige, aber ich wusste auch so, wer es war. Es gab nur einen einzigen Menschen in meinem Leben, der diese Nummer hatte.

«Hey, Mom.»

«Hi, Liebes, ich habe dein Auto gehört. Hast du schon was gegessen? Wir sind gerade mit dem Abendessen fertig, aber ich kann dir schnell einen Teller zurechtmachen.»

«Nein. Nein, nicht nötig. Ich habe unterwegs was gegessen.» Ich streifte meinen kleinen Lederrucksack von den Schultern, den butterweichen blauen Lederrucksack, den ich mir am Ende des Festivals gekauft hatte – das mit der Shopping-Therapie war kein Scherz gewesen –, und ließ ihn auf den Küchentisch fallen. «Ich bin ziemlich müde, es war ein langer Tag. Ich glaube, ich werde noch ein bisschen fernsehen und dann ins Bett gehen.»

Na bitte: Semi-Unabhängigkeit. Mom rief nicht jeden Abend an, aber oft genug, um mich daran zu erinnern, dass ich in mancherlei Hinsicht – okay, in meister Hinsicht – immer noch zu Hause wohnte. Ich liebte meine Eltern, aber die Nummer wurde langsam alt. Verdammt, ich wurde alt. Ich war fast siebenundzwanzig, um Himmels willen.

Dieses Gefühl, älter zu werden, ohne wirklich erwachsen werden zu dürfen, hielt sich hartnäckig, und es verband sich jetzt mit dem Anblick von Emilys Verlobungsring. Sie wird mir fehlen. Auf einmal ergab dieser verirrte Gedanke einen Sinn. Sie würde heiraten, Ehefrau werden. Und was tat ich? Jeden Freitagabend ins Jackson’s gehen und dieselben Selfies auf Instagram posten.

Ich brauchte ein Leben.

Ich brauchte noch ein Glas Wein.

*

Zehn Minuten später hatte ich meinen Pyjama an und mich mit einem zweiten Glas Wein auf meine bequeme alte Couch fallen lassen. Ich fuhr meinen Laptop hoch und hatte mich noch nicht mal bei Facebook eingeloggt, als Benedick auch schon schnurrend auf meinem Schoß lag.

Benedick. Der wichtigste Mann in meinem Leben. Meine einzig wahre Liebe. Unsere Lieblingsbeschäftigung an einem faulen Sonntag war es, miteinander zu kuscheln und einen Film zu gucken. Superheldenfilme mochte er am liebsten, aber er duldete auch romantische Komödien, weil ich hier schließlich diejenige mit dem Dosenöffner war.

Und nein, das machte mich noch nicht zu einer verrückten Katzenlady. Man braucht mindestens drei, um sich für den Verrückt-Status zu qualifizieren, und ich war eine Ein-Katzen-Frau, seit dem Tag vor drei Jahren, an dem ich den kleinen Kerl mit der Smoking-ähnlichen schwarz-weißen Fellzeichnung nach dem Festival auf dem Parkplatz gefunden hatte. Ich nannte ihn Benedick, nach der Hauptfigur aus Shakespeares Viel Lärm um nichts, und ich war seine Beatrice. Und reichte das etwa nicht? Wer brauchte schon einen Diamantring? Oder einen Mann, der einen unter der schlechten Beleuchtung im Jackson’s über Mozzarellasticks hinweg anhimmelte?

«Ach, halt die Klappe», sagte ich zu mir selbst, gerade laut genug, um Benedick aufzuwecken, der mich vorwurfsvoll anblinzelte. Als Entschuldigung kraulte ich ihn hinter den Ohren, während ich mit der anderen Hand durch Facebook scrollte. Aber je mehr ich scrollte, desto düsterer wurde meine Stimmung. In den letzten sechs Monaten hatten zwei Freundinnen aus meiner Studentinnenverbindung geheiratet, und drei Mädchen, mit denen ich aufgewachsen war, hatten Babys bekommen. Wann war das passiert? Wie konnte es sein, dass für uns alle gleich viele Jahre vergangen waren, und sie hatten diese Zeit genutzt und sich ein Leben aufgebaut. Familien gegründet. Währenddessen wohnte ich auf dem Dachboden meiner Eltern, arbeitete in einem Job, bei dem ich innerhalb von fünf Minuten ersetzt werden könnte, falls ich vom Bus überfahren würde, und hatte nichts weiter vorzuweisen als einen fetten schwarzen Kater – sorry, Benedick – und eine halbe Flasche Wein. Emilys kleiner Diamantring blitzte in meinem Geist auf wie ein Leuchtfeuer, und ich ertappte mich dabei, dass ich wieder mit meinem Schmetterlingsanhänger spielte. Veränderung. Pah.

«Du kannst mich mal, Schmetterling.» Ich löste die Kordel und warf die Kette auf dem Weg, mein Weinglas aufzufüllen, auf den Couchtisch. Wie es aussah, passierte Veränderung allen anderen, nur nicht mir. Wann war das letzte Mal gewesen, dass sich in meinem Leben etwas verändert hatte? Ganz sicher nicht seit dem College, und ich wollte nicht darüber nachdenken, wie lange das schon her war.

Wieder zurück auf der Couch, nahm ich einen kräftigen Schluck Wein und klickte mich zur Seite unserer privaten Festivalgruppe durch, die voll war mit Fotos nicht nur von dem Festival, das gerade zu Ende gegangen war, sondern auch aus vergangenen Jahren. Ein warmes Glühen erfüllte meine Brust, das nur zum Teil vom Wein herrührte. Diese wenigen Festivalwochen im Jahr waren einfach der beste Teil meines Lebens in Willow Creek. Ich hatte gerade erst mein Schankmaid-Kostüm eingemottet und war jetzt schon voller Vorfreude darauf, es wieder hervorzuholen.

In einem der Online-Alben grinsten Emily und ich auf einem Foto in die Kamera, das letzten Sommer aufgenommen worden war; wir in unseren Dirnenkostümen, die Arme umeinandergelegt. Sie war damals ein absoluter Neuling, aber mit Feuereifer bei der Sache gewesen, und am Ende des Sommers war sie zu einer echten Freundin geworden. Sie wird mir fehlen.

«Hör auf damit», sagte ich. «Sie geht nirgendwohin.»

Ein paar weitere Klicks, und ich landete auf einem Foto der Dueling Kilts. Eines, das eindeutig beim Tavernenspiel aufgenommen worden war; Dex wurde von der späten Nachmittagssonne eingerahmt, die durch die Bäume fiel. Gott, sah er gut aus. Ich vermisste ihn.

Dieser Gedanke ließ mich stutzen. Tat ich das wirklich? Oder vermisste ich diese ganze ‹Freunde mit gewissen Vorzügen›-Situation? Das konnte es nicht sein … Wir waren keine Freunde. Wir hatten in den letzten beiden Sommern ein paarmal etwas gehabt, was man grob als Date bezeichnen könnte, und waren öfter als das miteinander in die Kiste gegangen, aber wir waren keine Freunde. Diesen Sommer hatten wir sogar kaum miteinander geredet. Also eher ‹Bekannte mit gewissen Vorzügen›? Ich sollte mir einen Kerl suchen, der eine richtige Unterhaltung mit mir führen wollte. Der mich kennenlernen wollte. Richtiges Beziehungsmaterial. Dex war Beziehungsteflon.

Außerdem hatte er bei jedem Festival eine andere. Nach allem, was ich wusste, war er genau in diesem Moment schon mit der Nächsten zusammen. Ich schaute wieder auf meinen Laptop, auf das Foto, das ich auf Bildschirmgröße vergrößert hatte. Dex hielt seine Gitarre im Arm und grinste irgendetwas abseits der Kamera an, dabei kräuselten sich seine dunklen Augen an den Augenwinkeln auf diese Art, die bei Männern irgendwie irre sexy war. So hatte er mich auch angelächelt, und jedes Mal, wenn er das tat, war ich verloren gewesen. Egal ob Freunde, Bekannte, wie-auch-immer-man-es-nennen-wollte mit gewissen Vorzügen – er war der Typ Mann, der dir seine volle Aufmerksamkeit schenkte, wenn er mit dir zusammen war. Ich hatte nie um mehr gebeten … Aber was, wenn ich es täte? Würde ich genug aus der Menge hervorstechen? Immerhin war ich ihm hier in Willow Creek unter all den anderen aufgefallen.

Das Foto war es, das schließlich den Ausschlag gab. Dieses Grinsen. Diese gekräuselten Augenwinkel. Was lächelte er an? Ich hatte mit dem Kerl geschlafen, aber keine Ahnung, was ihn zum Lachen brachte. Und plötzlich wollte ich es wirklich, wirklich wissen.

Nun, es gab nur eine Möglichkeit, das zu ändern.

Das Foto war mit seinem Namen getaggt, also war es nur eine Frage weniger Klicks, um auf die Eingabemaske für private Nachrichten zu kommen. Ich stellte meinen Wein ab und fing an zu tippen.

Ja. Das war eine tolle Idee.

3

Am nächsten Morgen wachte ich mit hämmerndem Schädel auf und zog mir prompt die Decke über den Kopf. Normalerweise war ich eine Frühaufsteherin, und obwohl die Oberlichter toll waren, wenn es darum ging, natürliches Licht in meine Wohnung zu lassen, waren sie die Hölle bei einem Kater. Behutsam bettete ich den Kopf auf meinem Kissen – so gut ich eben konnte, da Benedick den meisten Platz für sich beanspruchte – und versuchte, das Hämmern mit bloßer Willenskraft dazu zu bringen aufzuhören. Das war letzte Nacht eindeutig zu viel Wein gewesen.

Irgendwann rappelte ich mich auf, rollte aus dem Bett und setzte Kaffee auf. Alles war so hell. Blinzelnd kniff ich die Augen gegen die frühe Morgensonne zusammen, die durch das Oberlicht über meinem weiß gestrichenen Küchentisch hereinfiel, und überlegte kurz, ob ich meine Sonnenbrille suchen sollte. Benedick verließ mein Kissen, um sich um meine Beine zu schlängeln, was mich daran erinnerte, ihn zu füttern.

Nach dem Füttern der Katze und dem Einwerfen einer Advil trug ich meinen Kaffee rüber zum Sofa und räumte die größtenteils leere Weinflasche weg, die ich auf dem Couchtisch stehen gelassen hatte. Wenigstens hatte die Stacey von gestern so viel Geistesgegenwart besessen, das Ding zu verkorken. Besonders, da sie ihren Laptop daneben offen gelassen hatte und Benedick nachts gerne herumstromerte. Eine umgestoßene Weinflasche neben einem aufgeklappten Laptop wäre eine Katastro…

Der Laptop.

Unvermittelt überfiel mich die Erinnerung. Das dritte – vierte? – Glas Wein. Ein offenes Nachrichtenfenster. Oh, nein.

Ich stürzte praktisch auf die Couch und weckte meinen Laptop auf, so schnell ich konnte. «Nein. Neinneinneinneinneinnein …» Das Wort war ein geflüstertes Gebet, während der Bildschirm zum Leben erwachte. Vielleicht hatte ich in meiner betrunkenen Benebeltheit vergessen, auf Senden zu klicken. Vielleicht war mein WLAN ausgefallen, und die Nachricht war nicht durchgegangen. Vielleicht hatte er sie noch nicht gesehen, und ich konnte sie löschen, bevor er es tat.

Fehlanzeige. Der Bildschirm leuchtete auf, und da war es. WLAN vollständig verbunden, Nachricht gesendet. Schlimmer noch, sie war als gelesen markiert. Scheiße. Wer hätte gedacht, dass Dex so ein Frühaufsteher war? Ganz sicher nicht ich, aber unsere gemeinsamen Nächte hatten sich auch nie zu Übernachtungsdates entwickelt.

Ich zog meinen Kaffeebecher zu mir heran und nahm einen großen Schluck, dabei spürte ich den heißen Kaffee kaum. Mein ganzer Körper fühlte sich taub an. Ich bewegte mich nicht, ich blinzelte nicht einmal. Alles, was ich tun konnte, war, die Nachricht zu lesen, die ich meiner jährlichen Affäre gestern zu später, weinseliger Stunde geschickt hatte.

Hey!

Hier ist Stacey Lindholm. Na ja, das kannst du ja offensichtlich sehen, weil mein Name direkt über der Nachricht steht. Weißt du überhaupt, wie ich mit Nachnamen heiße? Nun, jetzt weißt du’s. Das ist auch irgendwie der Grund, warum ich schreibe. Nicht wegen meinem Namen, wen interessiert das. Aber mir ist klargeworden, dass ich dich gar nicht kenne. Ich meine, klar kenne ich dich, ich kenne dich jetzt schon seit ein paar Jahren, richtig? Und ich schätze, ich weiß mehr über dich als du über mich, weil du grad erst meinen Nachnamen erfahren hast und ich deinen schon weiß.

Also, fangen wir mit den einfachen Sachen an.

Was bringt dich zum Lachen?

Wie magst du deinen Kaffee?

Magst du Katzen?

Vermisst du mich?

Das Letzte sollte ich löschen. Aber ich lass es einfach mal so stehen. Wegen dem Merlot. Wenn man genug Wein trinkt, sagt man die Wahrheit.

Also hier kommt die Wahrheit. Ich vermisse dich. Ich weiß, das sollte ich nicht, ich weiß, ich habe keinen wirklichen Grund dafür. Aber ich freue mich schon drauf, dich nächstes Jahr wiederzusehen, und das ist noch elf Monate hin. Ich erwarte nicht, dass du irgendetwas mit dieser Infor-mation machst, außer dass du es einfach weißt. Weißt, dass ich dich vermisse und mir wünsche, wir hätten mehr als diese paar Wochenenden im Jahr miteinander.

Ich hoffe, es läuft alles toll für dich in Maryland und für den Rest der Saison. Du reist so viel rum, nicht wahr? Reist du gern so viel rum? Siehst du, noch was, das ich gern über dich wissen würde.

Pass auf dich auf,

Stacey

Ich stöhnte und lehnte mich zurück in die Polster. Okay. Das war ziemlich übel, aber nach all dem Wein hätte es noch so viel schlimmer sein können. Kurz überlegte ich, noch eine Nachricht zu schicken. Vielleicht konnte ich mich für die Stacey von gestern entschuldigen. Für die betrunkene Stacey. Aber nein. Das würde die Peinlichkeit nur noch vergrößern. Stattdessen klappte ich meinen Laptop zu und trank meinen Kaffee aus. Jetzt konnte ich nichts anderes mehr tun, als auf seine Antwort zu warten.

Natürlich kam es mir erst am nächsten Tag in den Sinn, dass er vielleicht überhaupt nicht antworten würde.

Zwischen Samstagmorgen und Sonntagvormittag, als ich mich für den Brunch mit Emily und April zurechtmachte, schaute ich ungefähr hundert Mal auf mein Handy. Es war über vierundzwanzig Stunden her, seit ich diese dumme Nachricht geschickt hatte, und er hatte nicht geantwortet. Erleichterung mischte sich mit Enttäuschung, und ich konnte mich nicht entscheiden, welche Emotion stärker war. Keine Antwort bedeutete, meine betrunkenen Worte nicht eingestehen zu müssen, und ich war in diesem Fall sehr dafür, nicht für meine Taten verantwortlich gemacht zu werden. Aber keine Antwort bedeutete auch, dass er kein Interesse hatte, was, ehrlich gesagt, ziemlich beschissen war.

Ich stieß einen langen Seufzer aus, band meine Haare zurück und legte ein wenig rosa Lipgloss auf. Das hier war kein großer Liebeskummer. Nichts, was ein kleiner Brunch nicht heilen konnte.

*