A History of Us − Vom ersten Moment an - Jen DeLuca - E-Book
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A History of Us − Vom ersten Moment an E-Book

Jen DeLuca

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Beschreibung

«Ich habe mir das Leben als Taverndirne nicht ausgesucht. Es hat mich ausgesucht!» Ein Mittelalterfestival. Emily hat sich allen Ernstes überreden lassen, bei einem Mittelalterfestival als Schaustellerin mitzumachen. Ihre Nichte will unbedingt daran teilnehmen, ohne erwachsene Aufsichtsperson darf sie nicht, und da ihre Schwester einen Unfall hatte, springt Emily ein. Was tut man nicht alles für die Familie? Tatsächlich könnte das Ganze sogar lustig werden, wenn da nicht Simon wäre. Simon, der Organisator des Festivals. Simon, die Anachronismus-Polizei, Simon, die Spaßbremse. Die beiden können sich vom ersten Moment an nicht leiden. Aber auf dem Festival schlüpfen sie in andere Rollen. Und plötzlich wird aus dem ernsten Simon ein verruchter Pirat. Der ganz eindeutig mit ihr flirtet! Und Emily bekommt genauso plötzlich weiche Knie. Aber wer flirtet da miteinander? Die Tavernendirne und der Pirat? Oder Emily und Simon? Band 1 der Willow-Creek-Reihe «Ein intelligentes, sexy und charmantes Romance-Debüt.» Library Journal «Voller Witz, großartiger Dialoge und Momente zum Dahinschmelzen.» Woman's World

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Seitenzahl: 580

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Jen DeLuca

A History of Us − Vom ersten Moment an

Roman

 

 

Aus dem Englischen von Anita Nirschl

 

Über dieses Buch

«Gilmore Girls» trifft Mittelalterfestival!

 

Ein Mittelalterfestival. Emily hat sich allen Ernstes überreden lassen, bei einem Mittelalterfestival mitzumachen. Ihre Nichte will unbedingt daran teilnehmen, ohne erwachsene Aufsichtsperson darf sie nicht, und da ihre Schwester einen Unfall hatte, springt Emily ein. Was tut man nicht alles für die Familie? Tatsächlich könnte das Ganze sogar lustig werden, wenn da nicht Simon wäre. Simon, der Organisator des Festivals. Simon, die Anachronismus-Polizei. Simon, die Spaßbremse. Die beiden können sich vom ersten Moment an nicht leiden. Aber auf dem Festival schlüpfen sie in andere Rollen. Und plötzlich wird aus dem ernsten Simon ein verruchter Pirat. Der ganz eindeutig mit ihr flirtet! Und Emily bekommt genauso plötzlich weiche Knie. Aber wer flirtet da miteinander? Die Tavernendirne und der Pirat? Oder Emily und Simon?

 

«Ein intelligentes, sexy und charmantes Romance-Debüt.» Library Journal

Band 1 der Willow-Creek-Reihe

Vita

Jen DeLuca ist in Virginia aufgewachsen, lebt inzwischen aber mit ihrem Mann und einem Haus voller Tiere in Arizona. «A History of Us − Vom ersten Moment an» ist ihr Debüt und der Auftakt zur Willow-Creek-Reihe, die auf einem Mittelalterfestival in Maryland spielt. Jen hat selbst zwei Sommer lang als Schaustellerin auf einem solchen Festival gearbeitet. Ihr Humor und das ungewöhnliche Setting ihrer Romane haben ihr sofort viele Fans eingebracht. «A History of Us − Vom ersten Moment an» war für den Goodreads Choice Award nominiert, und die Entertainment Weekly nannte das Buch «eine göttlich unterhaltsame Achterbahnfahrt». Mehr Informationen über die Autorin sind auf ihrer Homepage www.jendeluca.com zu finden.

 

Anita Nirschl träumte als Kind davon, alle Sprachen der Welt zu lernen, um jedes Buch lesen zu können, das es gibt. Später studierte sie Englische, Amerikanische und Spanische Literatur an der Ludwig-Maximilians-Universität in München. Seit 2007 arbeitet sie als freie Übersetzerin und hat zahlreiche Romane ins Deutsche übertragen.

In Erinnerung an meine Mutter Jane M. Galbavy.

 

Danke, dass du die Liebe zu Büchern und Shakespeare in mein Leben gebracht hast. Ich habe «Schlaf» diesmal richtig geschrieben.

1

Es ist nicht so, dass ich das Leben als Dirne gewählt hatte. Vielmehr erwählte das Dirnenleben mich.

Als ich an jenem Morgen im Spätfrühling auf den Parkplatz der Willow Creek High School rollte, hatte ich so gut wie nichts mehr in meinem Terminkalender stehen. Keine Arzttermine meiner großen Schwester, keine Schulveranstaltungen, zu denen ich ihre Tochter kutschieren musste. Das Einzige, was noch anstand, war, meine Nichte zur Anmeldung für das Mittelalterfestival zu bringen. Wir waren fünf Minuten zu spät dran, es lief also bis jetzt großartig.

Caitlin schnaubte auf dem Rücksitz, als ich meinen kleinen weißen Jeep abstellte. «Em, wir kommen zu spät!» Sie brachte es fertig, sowohl meinen Namen als auch das letzte Wort auf mindestens drei Silben auszudehnen. «Was, wenn ich mich nicht mehr eintragen darf? Alle meine Freundinnen sind dabei, und wenn ich nicht mitmachen kann, dann werde ich …»

«Die werden dich bestimmt noch mitmachen lassen.» Aber natürlich war sie schon aus dem Auto gesprungen, bevor ich überhaupt meinen Sicherheitsgurt gelöst hatte. Ich würde sie nicht zurückrufen. Diese Art von Autorität hatte ich nicht bei ihr. Ich war gerade mal zehn Jahren älter als sie und eher eine große Schwester als eine Tante. Anfangs, direkt nachdem ich bei meiner älteren Schwester und ihrer Tochter eingezogen war, hatte April noch versucht, Cait dazu zu bringen, mich «Tante Emily» zu nennen, aber das war nur einen Katzensprung von Tante Em und Witzen über den Zauberer von Oz entfernt, also hatten wir das schnell wieder aufgegeben. Meine Beziehung zu ihr hatte sich eher zu einer Freundschaft entwickelt, mit gelegentlichen Annäherungen an die Rolle als verantwortungsvolle Erwachsene.

Genau diese verantwortungsvolle Erwachsene erwachte in diesem Moment in mir zum Leben. Auf keinen Fall würde ich eine Vierzehnjährige in einer derart seltsamen Situation allein lassen, selbst wenn es ihre eigene Highschool war. Also schnappte ich mir meinen Kaffeebecher aus dem Halter und lief ihr hinterher. Sie konnte noch nicht weit sein.

Auf halber Strecke über den Parkplatz klingelte mein Handy in meiner Handtasche. Ich fischte es im Gehen heraus.

«Seid ihr gut hingekommen?»

«Ja, alles bestens. Hoffentlich wird das nicht allzu lange dauern.»

«Oh Gott, du brauchst doch nicht zu bleiben.» April klang leicht entsetzt bei der Vorstellung. «Du setzt sie nur dort ab und kannst dann wieder heimkommen.»

Ich hielt den Atem an und versuchte, ihren Tonfall trotz des beschissenen Handyempfangs zu analysieren. Die letzten paar Tage waren hart gewesen, da sie angefangen hatte, die Schmerzmittel allmählich abzusetzen. «Alles okay?» Ich versuchte, so beiläufig wie möglich zu klingen. «Brauchst du mich zu Hause?»

«Nein …» Ihre Stimme verstummte, und ich blieb stehen und lauschte angestrengter.

«April?»

«Nein, nein, Emily. Es geht mir gut. Ich bin genau da, wo du mich zurückgelassen hast, auf dem Sofa mit Kaffee und der Fernbedienung. Ich will nicht, dass du das Gefühl hast, du müsstest …»

«Ist schon gut. Wirklich. Genau deswegen bin ich doch hier – um dir zu helfen.»

Eine weitere Pause. Ein weiteres Seufzen. «Ja. Das weiß ich doch …» Ich hörte regelrecht, wie sie mit den Schultern zuckte. «Ich habe ein schlechtes Gewissen. Eigentlich sollte ich mich um diese Sachen kümmern.»

«Ja, nun, das kannst du aber nicht.» Ich bemühte mich, so fröhlich zu klingen, wie ich konnte. «Zumindest noch ein paar Monate lang nicht, schon vergessen? Ärztliche Anweisung. Außerdem bin ich doch für genau diese ‹Sachen› hier, oder nicht?»

«Ja.» Jetzt lag ein Zittern in ihrer Stimme, für das ich die Schmerzmittel verantwortlich machte. Ich würde froh sein, wenn sie von diesem Mist endlich wieder runter war. Es machte sie so weinerlich.

«Trink deinen Kaffee und such dir irgendwas Furchtbares im Fernsehen, okay? Ich mach uns was zum Mittagessen, wenn wir heimkommen.»

Ich legte auf, stopfte mein Handy wieder in die Handtasche und verfluchte erneut den Autofahrer, der in jener Nacht die rote Ampel überfahren hatte. Vor meinem inneren Auge tauchte das Bild von Aprils SUV auf dem Schrottplatz auf, diesem verbogenen Haufen aus silbernem Metall, und ich verdrängte es schnell wieder. Caitlin hatte auf dem Rücksitz geschlafen, und wie durch ein Wunder war sie mit nichts weiter als ein paar blauen Flecken und einem verstauchten Knöchel davongekommen.

Meine Schwester hatte nicht so viel Glück gehabt. Mom war bei ihr gewesen, während sie auf der Intensivstation lag, und als April eine Woche später aus dem Krankenhaus entlassen worden war, war ich bei ihr eingezogen, damit Mom wieder heim zu Dad nach Indiana konnte. Meine ältere Schwester brauchte eine Pflegerin, und meine Nichte brauchte eine Erwachsene, die mobil war, also würde ich noch eine ganze Weile bleiben.

Und was mich betraf … Ich hatte dringend einen Tapetenwechsel gebraucht. Ein paar Wochen vor dem Unfall hatte ich nicht nur meinen Freund und meine Wohnung verloren, sondern auch all meine Pläne für die Zukunft. Willow Creek, Maryland, war ein ebenso guter Ort wie jeder andere, um meine Wunden zu lecken, während ich mich um April und ihre Verletzungen kümmerte. Wir befanden uns inmitten eines Weinanbaugebiets, und es gab nichts als sanfte grüne Hügel, durchsetzt mit kleinen Städtchen wie diesem hier, mit seinen bezaubernden Läden und freundlichen Bewohnern.

Ich beschleunigte meine Schritte, stieß die Flügeltüren der Highschool auf und holte Caitlin schließlich direkt vor der Aula ein. Sie beachtete mich gar nicht, sondern rannte sofort auf eine Handvoll Kinder in ungefähr ihrem Alter zu, die sich vor der Bühne um einen Typen mit Klemmbrett versammelt hatten, der Formulare aushändigte. Die Aula war voll mit Grüppchen von Kindern, die sich umarmten wie lang verschollene Verwandte, die einander Jahre nicht gesehen hatten, obwohl sie wahrscheinlich tags zuvor noch im Unterricht nebeneinandergesessen hatten. Es waren auch einige wenige Erwachsene da, aber ich konnte nicht sagen, ob sie Aufsichtspersonen oder Festival-Teilnehmer waren. Als sich einer der Erwachsenen umdrehte und auf seinem schwarzen T-Shirt in großen weißen Buchstaben das Wort Hussah! zu lesen war, hatte ich meine Antwort.

Ich nahm einen großen Schluck Kaffee und ließ mich auf einen Stuhl in der hintersten Reihe sinken. Mein Job als Taxidienst war erledigt. Ich schaute auf die Uhr meines Handys. Noch eine Stunde, bis ich sie wieder abholen sollte – nicht genug Zeit, um nach Hause zu fahren. Willow Creek war zwar eine kleine Stadt, aber April wohnte an ihrem einen Ende, und die Highschool lag ganz am anderen. Ich rief meine To-do-App auf. Aprils Medikamente hatte ich am Tag zuvor abgeholt, und dieses Vorsprechen für das Mittelalterfestival war der einzige andere Punkt auf meiner Liste. Gab es sonst noch etwas, das ich erledigen musste, während ich schon mal auf dieser Seite der Stadt war?

«Bist du als Freiwillige hier?»

Eine der Erwachsenen, die ich zuvor gesehen hatte – niedlich, blond, ziemlich klein und eher rundlich – hatte sich von der Menge gelöst und am Ende der Stuhlreihe angehalten, in der ich saß. Bevor ich antworten konnte, zog sie ein Formular von ihrem Klemmbrett und drückte es mir in die Hand.

«Hier. Das kannst du schon mal ausfüllen.»

«Was? Ich?» Ich starrte das Blatt an, als wäre es mit kyrillischer Schrift bedruckt. «Oh. Nein. Ich bin nur hier, weil ich meine Nichte hergebracht habe.» Mit einem Kopfnicken deutete ich nach vorne zu der Gruppe Kinder.

«Welche ist denn deine …» Sie schaute den Gang entlang. «Oh, Caitlin, stimmt’s? Du musst Emily sein.»

Ich sah sie überrascht an. «Ja. Genau. Ich vergesse immer wieder, wie klein diese Stadt ist.» Ich war aus Boston hierhergezogen und etwas außerhalb von Indianapolis aufgewachsen. Kleinstädte waren nicht mein Ding.

Lachend winkte sie ab. «Da gewöhnst du dich dran, glaub mir. Ich bin übrigens Stacey. Und ich fürchte, du wirst dich irgendwie als Freiwillige melden müssen.» Sie zeigte auf das Formular, das ich immer noch in der Hand hielt. «Das ist eine Bedingung, wenn jüngere Schüler beim Festival mitmachen wollen. Jeder unter sechzehn braucht einen Elternteil oder Vormund unter den Darstellern. April hatte vor, zusammen mit ihr mitzumachen, aber …» Ihr Satz brach ab, und sie endete mit einem verlegenen Schulterzucken.

Ich schaute auf das Formular hinunter. «Dann könnt ihr es aber nicht ‹freiwillig melden› nennen, oder? Das klingt doch eher nach Zwang.» Aber ich sah hinüber zu Cait, die bereits mit ihren Freundinnen plauderte und ihr eigenes Formular dabei an die Brust drückte, als wäre es die goldene Eintrittskarte aus Charlie und die Schokoladenfabrik. Ich las mir das Blatt durch. Ab Juni gab es sechs Wochen lang jeden Samstag Proben, dann folgten sechs weitere Wochenenden von Mitte Juli bis Ende August, an denen das eigentliche Festival stattfinden würde. Hm. Ich hatte eh geplant, den ganzen Frühling und Sommer den Chauffeur für Caitlin zu spielen …

Bevor ich noch etwas sagen konnte, gingen die Flügeltüren hinter mir mit einem lauten Knall auf. Ich fuhr herum und sah einen Mann hereinmarschieren, als betrete er einen Saloon im Wilden Westen. Er war … beeindruckend. Anders konnte man ihn nicht beschreiben. Groß, blond, muskulös, mit perfekten Haaren und in einem engen T-Shirt, das wenig bis nichts der Phantasie überließ. Eine Mischung aus Gaston und Captain America, mit einer etwas austauschbaren, aber gleichzeitig faszinierenden Art von Attraktivität.

«Mitch!», begrüßte Stacey ihn wie einen alten Freund – was er zweifellos war. Alle Leute hier waren wahrscheinlich früher zusammen auf diese Highschool gegangen. «Mitch, komm rüber und sag Emily, dass sie beim Festival mitmachen muss.»

Er schnaubte, als wäre das die dämlichste Bitte, die er je gehört hatte. «Na klar macht sie mit! Warum sollte sie sonst hier sein?»

Ich zeigte den Gang hinunter auf Cait. «Ich bin wirklich nur das Taxi.»

Mitch betrachtete meine Nichte, dann drehte er sich wieder zu mir um. «Oh, du bist Emily. Die Tante, stimmt’s? Deine Schwester hatte diesen Autounfall? Wie geht’s ihr?»

Ich blinzelte. Gottverdammte Kleinstadt. «Gut. Sie … ähm … Es geht ihr gut.» Meine Schwester hasste Klatsch und Tratsch in jeder Form, deshalb achtete ich darauf, keine Informationen preiszugeben, die sich verbreiten konnten.

«Schön zu hören.» Ein oder zwei Augenblicke lang lag ein ernster Ausdruck auf seinem Gesicht, doch dann wischte er ihn mit einem heiteren Lächeln beiseite. «Auf jeden Fall solltest du bleiben und bei dem Irrsinn mitmachen. Ich meine, es ist viel Arbeit, aber es macht Spaß. Du wirst es lieben.» Damit verabschiedete er sich und schlenderte weiter den Gang entlang, wobei er Kids mit Ghettofaust begrüßte.

Ich sah ihm eine Sekunde lang nach, denn … verdammt, dieser Mann füllte seine Jeans wirklich gut aus, sowohl vorne als auch hinten. Dann sickerte das, was er gesagt hatte, zu mir durch. «Ich werde es lieben?» Ich drehte mich wieder zu Stacey, der Freiwilligen, um. «Er kennt mich doch gar nicht. Woher will er bitte wissen, was ich liebe?»

«Falls das hilft …» Verschwörerisch beugte sie sich vor, und ich konnte nicht anders, als es ihr nachzumachen. «Er hat ein ziemlich großes Schwert. Also, beim Festival. Und er trägt einen Kilt.»

«Und schon hast du mich überzeugt.» Ich kramte in meiner Handtasche nach einem Stift. Was war schon dabei, den ganzen Sommer über meine Wochenenden zu opfern, wenn ich im Gegenzug dafür einen solchen Hintern bewundern konnte?

Und was sprach überhaupt dagegen? Ich würde Zeit mit Caitlin verbringen. Dafür war ich schließlich hier. Um die coole Tante zu sein. Lustige Sachen mit ihr zu unternehmen. Sie von dem Unfall abzulenken, der ihr Albträume und wöchentliche Therapiesitzungen beschert und ihre Mutter mit einem zertrümmerten rechten Bein zurückgelassen hatte. Als ich in Willow Creek angekommen war, hatte eine düstere Wolke über ihrem Haushalt gehangen, wie Rauch in einem überfüllten Raum. Ich war hergekommen, um ein Fenster aufzureißen und wieder Licht hereinzulassen.

Außerdem half es mir dabei, nicht mehr ständig über meinen eigenen Mist nachzugrübeln. Mich um die Probleme von anderen zu kümmern war immer leichter, als mich mit meinen eigenen auseinanderzusetzen.

Stacey grinste, als ich anfing, das Formular auszufüllen. «Gib es Simon vorne an der Bühne, wenn du fertig bist. Das wird toll werden. Hussah!» Mit diesem letzten Jubelruf war sie fort, wahrscheinlich auf der Suche nach anderen elternähnlichen Gestalten, die sie in diese ganze Geschichte mit reinziehen konnte.

Oh Gott. Würde ich auch ‹Hussah!› rufen müssen? Wie sehr liebte ich meine Nichte?

Das Formular war ziemlich schlicht, und schon bald folgte ich dem Strom der Freiwilligen (hauptsächlich Kinder – wo waren die ganzen Erwachsenen?) nach vorne zur Bühne, wo der dunkelhaarige Mann mit dem Klemmbrett sie einsammelte. Simon, vermutete ich. Gott sei Dank, ein weiterer Erwachsener. Genau genommen erwachsener als ich. Ich war heute Morgen aus dem Bett gerollt und hatte Leggings und ein T-Shirt übergeworfen. Er hingegen war makellos gekleidet, in Jeans und einem perfekt gebügelten Oxford-Hemd, dessen Ärmel er bis zur Hälfte der Unterarme hochgekrempelt hatte, und einer dunkelblauen Weste darüber.

Trotz seiner supererwachsenen Ausstrahlung sah er nicht viel älter aus als ich. Höchstens Ende zwanzig. Er war schmaler gebaut als Mitch und wahrscheinlich nur knapp eins achtzig groß. Gut frisiert und glattrasiert, mit kurzgeschnittenem dunkelbraunem Haar. Er sah aus, als würde er sauber riechen, nach Waschmittel und Seife. Mitch mit seiner heißen Ausstrahlung sah aus, als würde er nach Axe-Bodyspray riechen.

Als ich an der Reihe war, reichte ich ihm das Formular und wandte mich dann ab, um nachzusehen, wo Cait hinspaziert war. Ich konnte es nicht erwarten, ihr zu sagen, dass ich diese ganze Sache mit ihr zusammen machen würde. Die Kleine war mir was schuldig.

«Das ist nicht richtig.»

Ich drehte mich wieder um. «Wie bitte?»

Simon, der Formulareinsammler, hielt mir meines wieder unter die Nase. «Dein Formular. Du hast es nicht richtig ausgefüllt.»

«Ähm …» Ich nahm es ihm aus der Hand. «Ich denke, dass ich weiß, wie man ein Formular ausfüllt.»

«Genau hier.» Sein Kugelschreiber tippte mit einem Klopf-klopf-klopf auf das Blatt. «Du hast nicht angegeben, für welche Rolle du dich bewirbst.»

«Rolle?» Verständnislos blinzelte ich ihn an. «Oh, richtig.» Ich reichte ihm das Blatt zurück. «Das ist mir egal. Was auch immer ihr braucht.»

Er nahm es nicht. «Du musst eine bestimmte Rolle angeben.»

«Wirklich?» Ich sah mich um in der Hoffnung, die gutgelaunte Freiwillige zu finden, die mich überhaupt erst zu dieser Geschichte genötigt hatte. Aber sie war in einem Meer aus Bewerbern verschwunden. Natürlich.

«Ja, wirklich.» Er schürzte die Lippen, und seine Brauen trafen sich über seinen Augen. Dunkelbraune Brauen, schlammbraune Augen. Er wäre relativ attraktiv, wenn er mich nicht grade so ansehen würde, als hätte er mich während meiner Chemie-Abschlussprüfung beim Schummeln erwischt. «Es ist ziemlich einfach», fuhr er fort. «Adelige, Sänger, Tänzer … du kannst für jede dieser Rollen vorsprechen. Du könntest dich auch für die Schaukämpfe bewerben, falls du Erfahrung hast. Wir machen ein menschliches Schachspiel und Turnierkämpfe.»

«Ich … Ich habe keine Erfahrung. Oder, ähm, irgendein Schauspieltalent.» Je länger diese Unterhaltung dauerte, desto schwerer wurde mir ums Herz. Jetzt sollte ich auch noch irgendwelche Fähigkeiten mitbringen? War das hier nicht eigentlich eine freiwillige Sache? Warum machte dieser Typ es mir so verdammt schwer?

Er sah mich einen Moment lang an, eine kurze Bestandsaufnahme von Kopf bis Fuß. Weniger um mich abzuchecken, sondern als wolle er mich einschätzen. «Bist du über einundzwanzig?»

Echt jetzt? Ich wusste, dass ich eher klein war, aber … Ich richtete mich auf, als würde ein bisschen größer zu sein mich automatisch älter wirken lassen.

«Fünfundzwanzig, danke der Nachfrage.» Na ja, erst im Juli, aber das brauchte er nicht zu wissen. Es war ja nicht so, als würde er meinen Geburtstag mit mir feiern wollen.

«Hmmm. Man muss einundzwanzig sein, um eine Tavernendirne zu spielen. Das könntest du eintragen, falls du in der Taverne aushelfen willst.»

Das hörte sich schon besser an, wenn man den Teil mit der Dirne ignorierte. Aber das hieß hier vermutlich einfach so. Und ein paar Sommerwochenenden in einer Bar rumzuhängen, daran war absolut nichts auszusetzen. Ich hatte schon mal in Bars gearbeitet – verdammt, bis noch vor kurzem hatte ich in gleich zwei Bars gearbeitet. Das hier wäre im Grunde dasselbe, nur in einem hübscheren Kostüm.

«Na schön.» Ich fischte meinen Stift wieder aus der Handtasche und kritzelte das Wort «Dirne» in das Formular, dann drückte ich es ihm wieder in die Hand. «Hier.»

«Danke», antwortete er automatisch, als hätte er mich nicht gerade vor dreißig Sekunden noch getadelt wie ein kleines Kind.

Argh. Was für ein Arsch.

Ich drehte mich um und ging durch den Mittelgang zurück zum hinteren Teil der Aula. Es dauerte nicht lange, bis ich Caitlin entdeckte, die ein paar Reihen entfernt mit ihren Freundinnen quatschte. Ein Schmunzeln legte sich auf mein Gesicht, und ich schob mich an den hochgeklappten Sitzen in der Reihe vor ihr vorbei, bis ich bei ihr angekommen war.

«Hey.» Ich boxte sie spielerisch gegen die Schulter, um ihre Aufmerksamkeit zu bekommen. «Du weißt, dass du einen Erwachsenen brauchst, der sich mit dir bewirbt, oder?»

«Ehrlich?» Sie riss die Augen auf und schaute besorgt zu Simon, als könne er sie jeden Moment aus der Aula werfen. Aber dafür müsste er zuerst an mir vorbei.

«Jepp. Also rate mal, wer einverstanden war, diesen Sommer eine Bedienung in der Taverne zu spielen? Wie sehr hast du mich jetzt lieb?» Ich hielt den Atem an. Die meisten Teenager würden sich nie im Leben mit einem Elternteil sehen lassen wollen, geschweige denn den ganzen Sommer mit einem von ihnen rumhängen. Aber Caitlin war ziemlich entspannt, und wir hatten eine Verbindung zueinander entwickelt, seit ich als ihre Erziehungsberechtigte eingesprungen war. Vielleicht wäre das für sie in Ordnung.

Ihr alarmierter Ausdruck verwandelte sich in überraschte Freude. «Wirklich?» Das Wort kam als schrilles Quietschen aus ihrem Mund. «Dann dürfen wir beide beim Festival mitmachen?»

«Sieht so aus», antwortete ich. «Dafür schuldest du mir was, Kleine.»

Ihre Antwort war mehr Gequietsche als Worte, aber wie sie mir unbeholfen über die Sitzreihe hinweg die Arme um den Hals warf, um mich zu drücken, sagte alles. Vielleicht war das der Vorteil daran, eine coole Tante statt einer Mom zu sein. An diese neue Familiendynamik musste ich mich zwar erst noch gewöhnen, aber sie fing bereits an, mir zu gefallen.

«Wir haben dich überredet, was?» Mitch wartete am Ende der Reihe auf mich, als ich mich wieder zum Mittelgang zurückarbeitete.

Ich zuckte mit den Schultern. «Ist ja nicht so, als hätte ich eine große Wahl gehabt.» Ich schaute über meine Schulter zu Caitlin, die sich nun kichernd mit ihren Freundinnen über ihre Handys beugte. «Es bedeutet ihr viel, hier dabei zu sein, also bin ich es auch.»

«Du bist ein guter Mensch, Emily.» Er kniff leicht die Augen zusammen. «Es war doch Emily, richtig?»

Ich nickte. «Emily Parker.» Ich wollte ihm die Hand reichen, aber er hielt mir schon auffordernd seine Faust entgegen, und was für ein Idiot wäre ich, wenn ich das nicht erwidern würde?

«Schön, dich kennenzulernen, Park. Aber ich mein’s ernst: Du wirst eine Menge Spaß haben beim Festival.»

Bei dem spontanen Spitznamen blinzelte ich, beschloss aber mitzuspielen. «Na ja, man hat mir versprochen, dass es Schottenröcke geben würde, also …» Ich bemühte mich, meinen Blick vielsagend über ihn wandern zu lassen, ohne dabei allzu gruselig rüberzukommen. Aber Mitch schien nicht der Typ zu sein, der etwas dagegen hatte, ein bisschen angegafft zu werden. Genau genommen schien er es zu ermutigen.

«Oh ja.» Ein Grinsen breitete sich auf seinem Gesicht aus, und er ließ seinen Blick ebenfalls ganz ungeniert wandern. Röte kroch mir in den Nacken. Wenn ich gewusst hätte, dass heute ein Tag für gegenseitiges Abchecken sein würde, hätte ich am Morgen mehr getan, als mir nur das Gesicht zu waschen und ein bisschen Lipgloss aufzulegen. «Glaub mir», sagte er. «Du wirst einen tollen Sommer haben. Dafür werde ich sorgen.»

Ich lachte. «Ich nehm dich beim Wort.» Das Versprechen ging mir leicht von den Lippen, da ich jetzt schon Spaß hatte. Ich ging den Gang entlang und ließ mich auf meinen Platz in der letzten Reihe plumpsen. Vorne an der Bühne sammelte Simon weitere Formulare ein und kritisierte dabei wahrscheinlich die Handschrift der Bewerber. Einmal schaute er hoch, als könne er meinen Blick auf sich spüren, und seine Augenbrauen zogen sich missmutig zusammen. Gott, war er wirklich immer noch sauer wegen dieses Formulars?

Auf der anderen Seite der Aula gab Mitch einem Schüler gerade ein High five und hielt Caitlin seine Faust hin, woraufhin die ihn ansah, als wäre er der Messias. Ich freute mich schon darauf, einen dieser beiden Typen den Sommer über besser kennenzulernen, und es war ganz sicher nicht die Spaßbremse des Willow Creek Renaissance Faire.

***

Ich hatte meine ältere Schwester schon immer ein bisschen bewundert. April hatte jung geheiratet und sich ebenso jung scheiden lassen von einem Mann, der kein Interesse daran hatte, Vater zu sein. Also hatte sie Caitlin allein großgezogen, mit einer Unabhängigkeit, die geradezu einschüchternd war. Wir hatten uns nie besonders nahegestanden – dank der zwölf Jahre Altersunterschied ging April ungefähr zu dem Zeitpunkt aufs College, als ich anfing, interessant zu werden – , aber sie war in meinen Augen immer jemand gewesen, dem ich nacheifern wollte.

Und genau aus diesem Grund fiel es mir jetzt so schwer, sie in ihrem gegenwärtigen Zustand zu sehen.

Bei unserer Rückkehr von der Festivalanmeldung begrüßte uns eine einzelne Krücke auf dem Fußboden, mitten im Wohnzimmer. Ich folgte der Richtung, in die die Krücke zeigte, zu meiner großen Schwester auf dem Sofa. Sie sah aus wie ein Hund, den man beim Plündern des Mülleimers erwischt hatte.

«Du hast versucht aufzustehen, als wir weg waren, nicht wahr?» Mit verschränkten Armen starrte ich sie an. Es ist nicht leicht, bedrohlich auszusehen, wenn man gerade mal eins sechzig groß ist, aber es gelang mir ziemlich gut.

«Ja.» April seufzte. «Ist nicht so gut gelaufen.»

Caitlin bemerkte unsere kleine Konfrontation nicht. «Hey, Mom!» Sie drückte April einen Kuss auf die Wange, bevor sie in ihr Zimmer rannte. Wahrscheinlich konnte sie von dort aus effizienter Textnachrichten tippen.

Ich hob die heruntergefallene Krücke auf und lehnte sie zu der zweiten an die Armlehne des Sofas. «Sind Sandwiches zum Mittagessen okay?»

«Klar. Ist alles glattgegangen?» April verrenkte sich den Hals und stellte die Frage über ihre Schulter hinweg, da ich schon auf dem Weg in die Küche war, um den Schinken aus dem Kühlschrank zu nehmen. «Konnte Caitlin sich für das Festival anmelden?» Raschelnde Geräusche vom Sofa, unterstrichen von leisem Fluchen. Ja, sie hatte eindeutig die Schmerzmittel reduziert. Die nächsten paar Tage würden holprig werden.

«Alles hat prima geklappt. Sie meinten zwar, sie könnten nicht alle nehmen, aber sie schicken nächste Woche eine E-Mail an alle raus, die dabei sind.»

«Nächste Woche? Uff. Ich weiß nicht, ob ich es so lange mit ihr aushalte, bis sie weiß, ob sie mitmachen darf.»

«Sie ist bestimmt dabei.» Ich versenkte das Brot im Toaster und begann, Tomaten in Scheiben zu schneiden. «Wenn sie Cait nicht nehmen, dann kriegen sie mich auch nicht. Übrigens danke dafür. Du hast mich total auflaufen lassen.»

«Was? Nein, hab ich nicht. Ich hab dir doch gesagt, dass du nicht reingehen sollst. Du solltest sie nur dort absetzen.»

«Ja, nun.» Ich nahm drei Teller aus dem Schrank und begann, die Sandwiches zu belegen. «Caitlin kann nicht mitmachen ohne einen Elternteil als Begleitung. Sie meinten, du wolltest dich freiwillig melden, du weißt schon, bevor …» Es gab keine gute Möglichkeit, diesen Satz zu beenden.

«Was?» Jetzt wiederholte April sich, und das hatte nichts mit den Medikamenten zu tun. «Ich … Oh.» Jepp. Da war es. Sie erinnerte sich. «Shit.» Ich warf einen Blick durch die Durchreiche und sah, wie sie sich gegen die Rückenlehne des Sofas zurücksinken ließ. «Du hast recht. Ich hab dich auflaufen lassen. Das hatte ich völlig vergessen.»

«Mach dir deswegen keine Sorgen. Ich weiß aus sicherer Quelle, dass man dort eine gute Zeit hat.» Während ich die Teller auf die Durchreiche stellte und noch eine Tüte Chips danebenwarf, dachte ich an Mitch und seinen versprochenen Kilt. Damit würde ich ganz sicher eine gute Zeit haben. Dann dachte ich an Simon und seine missbilligende Miene. Eindeutig weniger gut. Ich trug das Mittagessen hinaus ins Wohnzimmer, und wir aßen von Tabletts, damit April nicht aufstehen musste. Den dritten Teller ließ ich auf der Durchreiche stehen; Caitlin würde ihn sich irgendwann holen.

«Eine gute Zeit, hm?», wiederholte April, während sie nach ihrem Sandwich griff. Sie klang nicht überzeugt. Sie aß einen Bissen und zuckte dann mit den Schultern. «Vermutlich hast du recht. Ich meine, was hättest du auch sonst vor, stimmt’s?»

Ich steckte mir einen knusprigen Kartoffelchip in den Mund und sah sie mit halb zusammengekniffenen Augen an. Das konnte sie nicht ernst meinen. Ich hatte mir eine To-do-App aufs Handy geladen, nur damit ich ihre ganzen Termine im Auge behalten konnte. Sicher hatte sie nicht vergessen, was für ein Nonstop-Leben sie und ihre Tochter geführt hatten, bevor so ein dämlicher Typ eine rote Ampel überfahren und ihr Leben auf den Kopf gestellt hatte.

Sie erwiderte meinen Blick und kniff mit übertriebener Miene ebenfalls die Augen zusammen. Okay, sie hatte es nicht ernst gemeint. Ich war es nicht gewohnt, eine Schwester zu haben, die mit mir scherzte. Aber sie gab sich Mühe, also spielte ich mit und warf mit einem Kartoffelchip nach ihr. «Ganz genau. Ich habe sogar extra eine Schachtel Pralinen gekauft, weil wir das ganze Wochenende lang faul rumliegen und Fernsehen gucken können.»

«Guter Plan.» Sie lehnte sich vor und schnappte sich die Tüte Chips, bevor sie mich kopfschüttelnd musterte. «Du musst dich mir gegenüber übrigens für nichts rechtfertigen. Und tut mir leid, dass ich das anspreche, aber dieser Jake hat dir echt übel mitgespielt, oder? Weißt du, als Mom mir von ihm erzählt hat, da hab ich gleich zu ihr gesagt, dass er nichts taugt. Ihr habt wann Schluss gemacht, vor zwei Monaten?»

«Ja.» Ich seufzte. Natürlich hatte Mom es ihr erzählt. April und ich hatten uns immer gut verstanden, aber der Altersunterschied, nicht zu vergessen das Ausziehen und der Start in unsere eigenen Leben hatten uns daran gehindert, uns so nahezustehen, wie Schwestern es eigentlich taten. Mom fungierte schon immer als eine Art Verbindung zwischen uns und hielt uns über das Leben der anderen auf dem Laufenden. Es war ein eigenartiges System, aber es funktionierte für uns. «Ja, das war ungefähr eine Woche vor deinem Unfall. Also … super Timing.»

«Immerhin hat es dich davor bewahrt, obdachlos zu sein.»

«Ich war nicht obdachlos.» Dennoch starrte ich finster auf mein Sandwich – weil sie recht hatte. Als Jake seinen schicken Anwaltsjob angetreten hatte, hatte er mich nicht nur stehenlassen wie eine unangenehme Altlast (die ich vermutlich war), sondern auch noch auf seinem Weg zur Tür hinaus unseren Mietvertrag gekündigt. Ich war gerade panisch dabei gewesen, eine andere Wohnung zu suchen, die ich mir von meinen zwei Teilzeitjobs leisten konnte, als Mom wegen Aprils Unfall aus dem Krankenhaus anrief. Im Nu hatte ich meine Sachen eingelagert, war die vierhundertirgendwas Meilen von Boston nach Maryland gefahren und hatte meine panischen Bemühungen von mir auf sie verlagert.

Aber ich wollte nicht über Jake reden. Diese Wunde war immer noch zu frisch. Zeit, das Thema zu wechseln. «Stacey lässt übrigens grüßen.»

«Wer?»

«Stacey?» Hatte ich den Namen falsch verstanden? «Blonde Haare, ungefähr so groß wie ich, breites Lächeln? Sie hat so getan, als ob sie dich kennen würde. Oder zumindest kannte sie Caitlin und wusste, wer ich bin.»

«Argh.» April verdrehte die Augen und trank einen Schluck von ihrer Cola light. «Das hat man davon, wenn man in einer Kleinstadt lebt. Jeder weiß alles über dich. Sogar Leute, die du gar nicht wirklich kennst.»

«Das heißt, du kennst Stacey nicht?»

«Doch, schon. Sie arbeitet bei unserem Zahnarzt, und wir grüßen uns jedes Mal, wenn Cait oder ich einen Termin haben. Nett, aber …» Sie zuckte mit den Schultern.

Ich verstand. «Aber niemand, der so viel über dich wissen sollte.»

«Genau.»

Ich dachte darüber nach und überlegte, wie ich meine nächste Frage am besten stellen sollte. «Du kennst nicht zufällig einen Kerl namens Mitch, oder?» Bei ihm hätte ich nichts dagegen, ihn ein bisschen besser kennenzulernen.

«Mitch …» Nachdenklich klopfte sich April mit einem Kartoffelchip gegen die Unterlippe. «Nein … Oh. Warte. Ziemlich großer Typ? Muskeln? Superman-Kinn?»

«Sieht aus, als könnte er einen Volkswagen stemmen.» Ich nickte. «Das ist er.»

«Ja, den hab ich schon gesehen. Netter Kerl. Ich glaube, er unterrichtet Sport? Hey, Cait?», rief April über die Rückenlehne des Sofas in Richtung Flur. Als ich mich umdrehte, sah ich meine Nichte, die offenbar auf der Suche nach Mittagessen aus ihrem Zimmer gekommen war.

«Ooh, Sandwiches. Danke, Emily.» Caitlin schnappte sich ihren Teller und setzte sich auf einen Hocker. Während sie kaute, sah sie ihre Mutter mit hochgezogenen Augenbrauen an. «Was gibt’s?»

«Dieser Mitch … gibt der nicht Sportunterricht an deiner Schule?»

«Mr. Malone?» Sie schluckte ihren Bissen hinunter. «Ja. Und er ist Coach von irgendwas. Baseball vielleicht?» Caitlin hatte nicht viel für Sport übrig. Keine von uns hatte das, da war sie also erblich vorbelastet. «Er hat Emily heute angebaggert.» Sie langte zur Chipstüte rüber und kramte eine Handvoll heraus.

«Nein, hat er nicht.» Oder doch? Vielleicht ein bisschen. Hitze kribbelte in meinem Nacken.

«Freu dich nicht zu früh», warnte April. «Soweit ich gehört habe, baggert er jede an.»

«Verdammt. Also bin ich gar nichts Besonderes?» Ich versuchte, verärgert auszusehen, aber von meiner großen Schwester wegen einem Typen aufgezogen zu werden, war etwas, das noch nie vorgekommen war, und ich musste einfach grinsen. «Ist schon okay. Ich hab nicht vor, den Kerl zu heiraten. Ich werde ihn höchstens ein bisschen angaffen, wenn er seinen Kilt trägt.»

Je mehr ich darüber nachdachte, desto mehr klang dieser Sommer so, als könne es wirklich spaßig werden. Und ich brauchte ein wenig Spaß in meinem Leben. Es war Zeit, Jake hinter mir zu lassen. Ich erinnerte mich noch an den Ausdruck auf seinem Gesicht, als er mir sagte, dass er ohne mich weiterkommen würde. Er hatte ausgesehen wie … Nun, tatsächlich hatte mich seine Miene an die von Simon erinnert, den Formular-Polizisten von heute Morgen. Sein Stirnrunzeln hatte mir ernsthafte Jake-Flashbacks beschert, und mir gefiel nicht, wie ich mich dabei fühlte. Beschämt und klein.

Im Moment waren Typen wie Mitch viel besser für meine geistige Gesundheit. Typen wie Mitch boten die Möglichkeit einer kurzen, unterhaltsamen Sommeraffäre, ohne dass ernsthafte Gefühle oder persönliche Unzulänglichkeiten dazwischenkamen. Ich konnte so jemanden in meinem Leben gerade gut gebrauchen.

Nachdem ich die Küche aufgeräumt hatte, öffnete ich erneut meine Kalender-App. Mein Nachmittag und der Rest des Wochenendes waren komplett leer. Ungefähr so wie meine Zukunft. Das gefiel mir nicht. Ich mochte Pläne.

Mit Jake hatte ich einen Plan gehabt. Wir hatten uns in meinem zweiten Jahr am College auf einer Studentenverbindungsparty kennengelernt, zwei Gleichgesinnte, die sich als zu intellektuell für Bier-Pong empfanden. Wir redeten die ganze Nacht, und ich glaubte, meinen Seelenverwandten gefunden zu haben. Er war klug, konzentriert, zielstrebig. Mir gefiel dieser ehrgeizige Zug an ihm, der meinem eigenen Wesen entsprach. Jahrelang hatte ich an ihm festgehalten, genauso wie an unserem Plan: ihn durch das Jurastudium zu bringen. Sobald er anfing, Karriere zu machen, würden wir ein unaufhaltsames Team sein. Wir gegen den Rest der Welt. Jake und Emily. Das war der Plan.

Aber Jake war fort. Ich hatte nicht erkannt, dass, während mein Ehrgeiz uns beiden gegolten hatte, seiner nur ihm selbst diente. Sobald er diesen hochkarätigen Job bekam, auf den er hingearbeitet hatte, ließ er alles Alte hinter sich. Zum Beispiel unsere kleine Wohnung, die er gegen ein Apartment in einem Hochhaus in der Innenstadt eintauschte. Und mich, die zukünftige Verlobte, die er nun nicht mehr brauchte. «Das sieht nicht gut aus», sagte er. «Ich kann keine Frau haben, die in einer Bar arbeitet. Du hast noch nicht mal einen Abschluss.» Es war, als hätte er unseren Plan völlig vergessen. Und vielleicht hatte er das auch. Oder vielleicht hatte er bekommen, was er wollte, und brauchte mich nicht mehr.

Also war ich nun hier in Maryland. Ich war ohne Plan angekommen, aber meine Schwester brauchte mich. Das reichte fürs Erste. Denn die Sache war die: Ich brauchte sie auch. Ich brauchte das Gefühl, helfen zu können. Etwas im Leben eines anderen zu bewirken. Dinge in Ordnung zu bringen, dafür war ich da.

2

Und so einfach wurde ich eine Tavernendirne. Die E-Mail kam am Mittwochnachmittag und sorgte dafür, dass Caitlin nach der Schule aufgeregt ins Haus stürmte.

«Hast du die E-Mail bekommen, Em? Hast du sie? Ich bin dabei – du auch? Bist du auch reingekommen?»

Endlich holte sie Luft – war sie etwa den ganzen Weg von der Bushaltestelle bis nach Hause gerannt? – , während ich meine E-Mails auf dem Handy aufrief. Und tatsächlich, da war eine Nachricht vom Willow Creek Renaissance Faire, die mich in der diesjährigen Teilnehmerschar willkommen hieß. Aufgeregt umarmte Caitlin mich kurz, schnappte sich eine Limo aus dem Kühlschrank und sauste dann in ihr Zimmer, während ich zurück zum Auto ging, um die letzte Tüte mit Einkäufen zu holen.

Ich räumte all meine Besorgungen weg, sah nach dem Hühnchen, das langsam im Ofen brutzelte – jepp, war immer noch da – , und schaute dann nach April. Sie war in ihr Zimmer gegangen, um ein Nickerchen zu machen, bevor ich einkaufen gefahren war. Jepp, auch sie war immer noch da und regte sich gerade verschlafen.

«Hab ich Cait gerade heimkommen hören?»

«Ich glaube, die ganze Nachbarschaft hat sie heimkommen hören.» Ich reichte April die Wasserflasche auf ihrem Nachttisch und setzte mich auf ihre Bettkante. «Sieht so aus, als würden wir Parker-Mädels beim Mittelalterfestival mitmachen. Bist du sicher, dass du dich nicht auch noch anmelden willst? Ich möchte nicht, dass du dich ausgeschlossen fühlst. Krücken gab’s damals auch schon. Du könntest eine alte Bettlerin spielen.»

«Witzig.» Sie trank einen Schluck Wasser und kämpfte darum, sich aufzusetzen. Ich nahm ihr die Flasche ab und bot ihr eine Hand als Stütze an, aber die ignorierte sie geflissentlich.

«Ach ja, Marjorie ist gerade vorbeigekommen.» Unsere Nachbarin hatte mir eher aus dem Hinterhalt aufgelauert, als ich in die Einfahrt gebogen war, aber das brauchte April nicht zu wissen.

Sie stöhnte. «Oh Gott. Hat sie schon wieder einen Auflauf vorbeigebracht?»

Ich nickte. «Makkaroni mit Käse diesmal. Die passen zum Hühnchen, das erspart mir Arbeit. Ich mach dann noch einen Salat dazu.»

«Danke.»

«Keine Ursache.» Ich zuckte mit den Schultern. «Caitlin braucht ein bisschen Gemüse in ihrem Leben.»

April lächelte dünn. «Nein, ich meinte dafür, dass du Marjorie abgefangen hast.»

«Sie scheint ganz nett zu sein», erwiderte ich zögerlich.

«Das ist sie. Es ist nur …» Sie seufzte. «In diesem Viertel wohnen viele Familien, und das ist toll. Kinder, mit denen Caitlin spielen kann, weißt du? Aber die Mütter machen so Dinge wie dienstags miteinander Kaffeetrinken.»

«Hmmm.» Ich nickte ernst. «Die hören sich an wie Monster.»

April verpasste mir einen Klaps auf den Arm. «Sie trinken ihren Kaffee dienstags um zehn Uhr vormittags.» Bedeutungsvoll zog sie die Augenbrauen hoch, und dann fiel bei mir der Groschen.

«Wenn du bei der Arbeit bist.»

«Wenn ich bei der Arbeit bin. Ich glaube nicht, dass sie das absichtlich machen, aber …» Sie zuckte mit den Schultern. «Ich bin die einzige Alleinerziehende in dieser Nachbarschaft. Marjorie ist bestimmt total nett, aber ich bin sicher, dass sie auch deshalb wissen will, wie es mir geht, damit sie es den anderen Müttern erzählen kann. Es ist, als wolle die ganze Stadt an jedem Detail meiner Genesung teilhaben. Sie will Klatsch und bezahlt dafür mit Aufläufen.»

Ich dachte einen Moment darüber nach. «Möchtest du, dass ich die Makkaroni zurückgebe? Ich könnte stattdessen Kartoffelbrei kochen.»

«Nein, schon okay. Ich meine, es sind schließlich Makkaroni mit Käse.»

«Die mit der knusprigen Kruste obendrauf», fügte ich hinzu. «Ich hab nachgesehen.»

«Oh, dann behalten wir sie definitiv.»

«Genau.» Ich stand auf. «Mach dir keine Sorgen», sagte ich. «Ich kümmere mich drum. Caitlin, Marjorie, die Stadt. Alles.» Ich stellte die Wasserflasche auf den Nachttisch. «Licht an oder aus?»

«An, bitte. Ich glaube, ich werde ein wenig lesen.» Sie ließ sich zurück in die Kissen sinken. Ich blieb noch einen Moment stehen, aber sie war bereits in ihren E-Reader vertieft, deshalb ging ich wieder in die Küche und las mir die E-Mail auf meinem Handy noch einmal durch. Die erste Probe war am Samstagvormittag, in bequemer Kleidung. Ich machte mir eine Notiz in meiner Kalender-App, dann ging ich nachsehen, ob Caitlin schon mit ihren Hausaufgaben angefangen hatte.

«Hey.» Ich klopfte an ihre Zimmertür, bevor ich sie mit der Hüfte aufstieß. «Abendessen ist fertig um sechs.» Ich lehnte mich an den Türrahmen. «Hast du viele Hausaufgaben?»

«Eigentlich nicht.» Sie schaute von ihrem mit Schulbüchern übersäten Schreibtisch auf. «Ich glaube, sie sind grade nett zu uns, weil in ein paar Wochen die Abschlussprüfungen sind.»

«Die Zeit vermisse ich überhaupt nicht. Sag Bescheid, falls du Hilfe beim Lernen brauchst, okay?»

«Hmm …» Sie sah hinunter auf ihre Bücher, dann wieder zu mir hoch. «Wie gut bist du in Geometrie?»

Ich verzog das Gesicht. «Nicht besonders. Okay, lass mich das anders formulieren: Sag Bescheid, falls du Hilfe bei, sagen wir, Englisch oder Geschichte brauchst, okay?» Diese Fächer waren eher mein Ding, und Caits breites Grinsen verriet, dass sie das ganz genau wusste.

«Hey, Em?» Ihre Stimme hielt mich auf, als ich gerade wieder zurück in die Küche gehen wollte. «Danke.»

Ich zuckte mit den Schultern. «Kein Problem. Tut mir leid, dass ich dir nicht bei Geometrie helfen kann, aber ich weiß mehr über …»

«Nein.» Sie drehte sich auf ihrem Stuhl, sodass sie mich direkt ansah. «Ich meine, danke, dass du dich mit mir für das Mittelalterfestival angemeldet hast. Damit ich mitmachen kann.» Ihr Gesicht nahm einen seltsamen Ausdruck an, und sie warf einen unsicheren Blick in Richtung Flur. «Mom hätte das nicht getan.»

«Sicher hätte sie das. Sie kann nur nicht wegen des Unfalls.»

Caitlin schüttelte den Kopf, sodass ihre braunen Locken – so sehr wie die ihrer Mom, so sehr wie meine – um ihr Gesicht wippten. «Ich glaube nicht, dass sie das wusste. Dass sich jemand mit mir zusammen anmelden muss. Und wenn sie es gewusst hätte, dann hätte sie nein gesagt.»

«Ich weiß nicht.» Ich kam ins Zimmer, schloss leise die Tür hinter mir und setzte mich auf den Rand von Caits Bett. «Stacey hat mir bei der Anmeldung gesagt, dass deine Mom sich freiwillig melden wollte. Also denke ich, dass sie es wirklich vorhatte, bevor das alles passiert ist.»

Aber Caitlin sah skeptisch aus. «Sie hätte ihre Meinung geändert.» Schuldbewusst sah sie zur Tür und senkte die Stimme. «Mom macht nicht gern Sachen, weißt du? Sie meldet sich nicht freiwillig.»

Ich versuchte, mir etwas Tröstendes einfallen zu lassen, doch um die Wahrheit zu sagen, hatte sie recht. April war nicht gesellig. Ich hatte keine Aktivitäten in Vereinen oder in der Nachbarschaft oder sonstwo für sie übernehmen müssen, während sie bettlägerig war, und sie war nicht besonders involviert in Caitlins Schule. So wie sie nicht wollte, dass Leute etwas über sie wussten, so interessierte sie sich auch nicht wirklich für andere. Meine Schwester schien ein ziemlich einsames Leben zu führen. Aber sie wirkte meistens ganz glücklich damit, also wer war ich, darüber zu urteilen?

Ich nahm Caits Hand und drückte sie tröstend. «Na, jetzt bin ich ja da, und wie es scheint, bin ich jemand, der sich freiwillig für Sachen meldet. Also hoffe ich, du bist bereit dafür.» Auf dem Weg zu ihrer Zimmertür drehte ich mich noch einmal zu ihr um. «Kommst du so um Viertel vor sechs und hilfst mir, den Tisch zu decken?»

«Jepp.» Aber sie beugte sich schon wieder stirnrunzelnd über ihr Geometriebuch, und ich beeilte mich, aus dem Zimmer zu kommen, bevor sie mich noch mal um Hilfe bitten konnte.

***

Der nächste Samstag war in vielerlei Hinsicht eine Wiederholung des Anmeldevormittags. Wir fuhren fünf Minuten zu spät auf den Parkplatz. Caitlin flitzte voraus, um ihre Freundinnen zu suchen, die es ebenfalls auf die Liste der Darsteller geschafft hatten. Ich drückte mich im hinteren Teil der Aula herum, weil ich keine Freunde zu suchen hatte. Und nein, das fühlte sich kein Stück unbehaglich an. Überhaupt nicht.

Aber zu meiner Überraschung hielt mein Außenseiterstatus nicht lange an.

«Hey, da bist du ja!» Die fröhliche Stimme ließ mich von meinem Handy aufblicken, und ich lächelte Stacey an, die Freiwillige, die mich überhaupt erst in diesen Schlamassel hineingeritten hatte. «Warum bist du denn hier hinten?» Sie hakte sich bei mir unter und zog an meinem Arm. «Komm schon, du musst den Rest der Gruppe kennenlernen.»

Ich war diese Art von aggressiver Freundlichkeit nicht gewohnt, aber ich ließ mich von ihr hinunter zur Bühne schleifen, um mich unter den Rest der Mitwirkenden zu mischen.

«Ich bin übrigens für die Taverne verantwortlich», sagte Stacey. «Und da du die Einzige andere bist, die sich als Schankmaid gemeldet hat, wird das dieses Jahr eine leichte Aufgabe für mich.»

«Nur wir zwei?» Ich erinnerte mich an meine Zeit hinter der Bar, an die Panik, wenn Kollegen ihre Schicht platzenließen und ich die Arbeit von zwei oder drei Leuten gleichzeitig machen musste. Schon bei der Erinnerung daran taten mir die Füße weh. «Schaffen wir das denn?»

Sie wischte meine Sorge mit einer Handbewegung beiseite. «Ach, locker. Wir arbeiten ja nicht wirklich als Schankmaiden. Ich meine, wir servieren natürlich schon Getränke und flirten mit den Gästen und reden mit dem passenden Akzent. Aber da werden auch unkostümierte Freiwillige sein, die den größten Teil der Arbeit machen. Wir sind da, um dem Ganzen noch etwas mehr Farbe zu verleihen. Du weißt schon, um hübsch auszusehen.»

Ich war nicht ganz überzeugt, aber ich ließ mich von Stacey zu einem Platz in der dritten Reihe führen und auf dem Weg dorthin allen möglichen Leuten vorstellen. Ich hatte nicht den Hauch einer Chance, mir all die Namen zu merken, aber ich gab mein Bestes. Wir hatten es uns kaum in der dritten Reihe bequem gemacht, als wir auch schon wieder aufstehen und uns auf der Bühne in einem großen Kreis auf den Boden setzen sollten.

Meine Nervosität schnellte wieder in die Höhe. Ich hatte auf dem College zwar ein paar Theaterkurse belegt, war aber von meinem Lampenfieber rasch wieder von der Bühne runter und zurück zu Büchern und meinem Hauptfach Englisch zurückgescheucht worden. Dass ich in der Rolle als Schankmaid mit anderen Menschen Gespräche führen würde, darüber machte ich mir keine Gedanken. Das war einfach. Aber sobald man mich darum bitten würde, in die Mitte des Kreises zu treten und etwas zu sagen oder zu tun, während ein Haufen Leute mich dabei anstarrte, würde die Sache hässlich werden. Kotzen-im-Strahl-hässlich.

Es milderte meine Nervosität nicht, dass beinahe sofort eine Frau in die Mitte des Kreises trat. Sie war definitiv eine der älteren Erwachsenen der Gruppe. Ihr Haar war entweder hellbraun, dunkelblond oder grau meliert oder eine Kombination aus allen drei. Sie hatte es zu einem langen Zopf geflochten, der ihr über den Rücken fiel, und trug abgewetzte Jeans und ein ausgewaschenes T-Shirt, war dabei jedoch umgeben von einer Aura von Autorität. Sie hatte das Aussehen von jemandem, der alles sein könnte, von siebenundzwanzig bis fünfundfünfzig.

«Einen guten Morgen wünsche ich euch allen! Und Gott zum Gruße!» Ihre Stimme hatte einen fröhlichen Klang, und als sie sprach, erhellte ein Lächeln ihr Gesicht wie Sonnenschein. Ein Chor aus Gott zum Gruße antwortete ihr, meine Stimme mit eingeschlossen. «Wunderbar, alle kennen schon diese erste Begrüßungsformel. Aber es gibt auch noch andere Begrüßungen, die wir beim Festival oft verwenden werden. Da wäre zum Beispiel ‹Seid gegrüßt› oder auch ‹Seid mir willkommen›, was auch einfach bedeutet ‹Schön dich zu sehen›, weil es einem willkommen ist, dieser Person zu genau diesem Zeitpunkt zu begegnen. Alles klar?» Ihr Lächeln blieb während dieser ganzen Rede an Ort und Stelle, was an sich schon eine beeindruckende Leistung war.

«Ich freue mich so, euch alle hier zu sehen», fuhr sie fort. «Willkommen zur zehnten Saison des Willow Creek Renaissance Faire. Zehn Jahre! Ist das zu glauben?» Das entfachte eine kleine Runde Applaus, und ich klatschte auch, schließlich war ich keine Spielverderberin. «Ich weiß, das sage ich jedes Jahr, aber ich freue mich unheimlich auf das diesjährige Festival. Für diejenigen von euch, die neu hier sind oder mich vielleicht nicht kennen …» Bei ihren letzten Worten sah sie mich direkt an, und, du lieber Gott, war ich etwa die einzige Fremde in dieser Stadt? «Ich bin Christine Donovan. Die meisten Leute nennen mich Chris, oder Miss Chris, oder Eure Majestät.» Bei dem freundlichen Gelächter zuckte sie mit den Schultern. «Was meine subtile Art und Weise ist, euch wissen zu lassen, dass ich, ja, auch dieses Jahr wieder eure Königin sein werde. Wir schreiben das Jahr 1601, und Elizabeth sitzt immer noch auf dem Thron.»

Ich rechnete kurz im Kopf und lehnte mich dann zu Stacey hinüber, während Ihre Majestät mit ihrer Begrüßungsrede fortfuhr. «Da war Elizabeth aber schon ziemlich alt, oder? Chris sieht ganz schön jung aus für jemanden, der auf die siebzig zugeht.»

Grinsend brachte sie mich mit einem Pssst zum Schweigen. «Wir erlauben uns hier ein bisschen künstlerische Freiheit. Wenn man es genau nimmt, zählt das Elisabethanische Zeitalter ja zur Renaissance, aber wir sagen trotzdem auch Mittelalterfestival – vor allem, weil niemand auf das mittelalterliche Ritterturnier verzichten will.»

Ich nickte zum Zeichen, dass ich verstanden hatte, und lehnte mich wieder zurück, die Beine im Schneidersitz vor mir, während Chris den Terminplan der Proben erklärte und betonte, wie wichtig es war, dass wir nicht zu viele davon versäumten. Wir würden etwas über die Geschichte der Epoche lernen, denn offenbar machten sich die besserwisserisch Veranlagten unter den Besuchern ein Vergnügen daraus, die Mitwirkenden – also uns – über ihre religiösen Präferenzen und Hygienegewohnheiten auszufragen. Wir würden außerdem Zeit mit der Arbeit an unseren Kostümen und in unseren verschiedenen Gruppen verbringen. Die Sänger hatten Lieder zu proben, die Tänzer Tanzschritte zu lernen. Und die Kämpfer mussten, na ja, lernen, wie man kämpft.

Chris trat aus dem Kreis zurück, und auf sie folgte … Ich stöhnte, vertuschte den Laut jedoch durch einen weiteren Schluck von meinem Eiskaffee. Simon. Der Formular-Polizist. Der einzige trübe Fleck in dieser ganzen Erfahrung. Als er seinen Platz in der Mitte des Kreises einnahm, fiel mir auf, dass er genauso geschniegelt und gebügelt aussah wie beim letzten Mal. Wie früh stand er auf, um sich so zurechtzumachen? Ich war mir nur ansatzweise sicher, dass ich saubere Sachen anhatte, während er so aussah, als wären sowohl seine Jeans als auch sein hellblaues Hemd frisch gebügelt. Er gab der Person neben ihm im Kreis einen Stapel Blätter, der herumgereicht wurde, und ich unterdrückte ein Seufzen. Na toll. Hausaufgaben. Das verbesserte meine Meinung über ihn kein Stück.

«Chris hat euch alle schon begrüßt, also werde ich das nicht auch noch mal machen.» Er lächelte leicht, und ein paar Leute lachten. «Für diejenigen von euch, die mich nicht kennen, ich bin Simon Graham, und ich bin bei diesem Festival schon dabei seit … na ja, seit Anfang an, genau wie Chris. Sie und mein älterer Bruder Sean haben das Willow Creek Renaissance Faire vor zehn Jahren gegründet.» Er lächelte wieder, doch diesmal erreichte es seine Augen nicht mehr. «Und ja, ich bin auch dieses Jahr wieder mit von der Partie und gebe mein Bestes, in Seans Fußstapfen zu treten.» Sein Lächeln verschwand schnell, und er fuhr sich mit der Hand durch das kurzgeschnittene braune Haar. «Wenn ihr irgendwelche Fragen habt darüber, wie es hier läuft oder was ihr machen sollt, dann könnt ihr jederzeit zu mir kommen. Ich helfe euch sehr gerne.»

Ha. Wohl kaum. Ich vermutete eher, dass er mir sehr gerne sagen würde, was ich alles falsch machte.

«Heute Vormittag sprechen wir über Namen.»

Namen? Ich neigte den Kopf zur Seite wie ein Cockerspaniel.

«Eines der ersten Dinge, die ihr als Mitglieder des Ensembles tun werdet, ist, euch euren Festival-Namen auszusuchen. Das ist eine sehr wichtige Entscheidung für jeden Einzelnen von euch.» Er drehte sich langsam im Kreis, während er sprach, um flüchtig mit jedem in der Gruppe Augenkontakt aufzunehmen. Dieser Typ würde vor einer Menschenmenge nicht im Strahl kotzen. Er war es ganz offensichtlich gewohnt, vor Leuten zu sprechen. «Ihr wisst bereits, welche Rolle ihr spielen werdet: Adelige, Kaufleute, Tänzer. Aber euer Name ist eure Identität. Namen sind wichtig. Namen haben Macht. Namen sind eins der Dinge, die euch sagen, wer ihr seid.» Dabei klopfte er sich mit den Fingerknöcheln der geschlossenen Faust auf die Brust.

Ich mochte diesen Kerl immer noch nicht, aber das ergab auf merkwürdige Weise Sinn. Ich hatte nicht bemerkt, dass ich mich vorgebeugt hatte, um zuzuhören, die Ellbogen auf meinen gekreuzten Knien, bis Stacey mich anstupste und mir den geschrumpften Stapel Blätter reichte. Ich nahm mir eines und gab den Rest weiter an den Teenager links von mir.

«Nun, Shakespeare ist anderer Meinung», fuhr Simon fort. «In Romeo und Julia schrieb er ‹Was uns Rose heißt, wie es auch hieße, würde lieblich duften›, was so viel bedeutet wie: Das Wesentliche einer Sache ändert sich nicht, nur weil es anders genannt wird.» Er zuckte mit den Schultern. «Damit hat er nicht ganz unrecht. Aber wir Menschen lassen uns leicht überreden. Wir sehen ständig Werbung. Wir kaufen lieber Marken- statt No-Name-Produkte, weil wir glauben, die Qualität wäre besser, richtig?»

Etwas an der Melodie seiner Stimme war sowohl vertraut als auch tröstend. Er hatte eine Stimme, der ich weiter zuhören wollte. Das, kombiniert mit seiner offensichtlichen Entspanntheit, wenn es darum ging, vor einer Menge Teenager als auch Erwachsener zu sprechen, ganz zu schweigen von dem beiläufig an einem Samstagmorgen eingestreuten Stückchen elisabethanischer Literaturkritik, ließ eine Glühbirne in meinem Kopf angehen.

Erneut stupste ich Stacey an und nickte in Simons Richtung. «Englischlehrer?» Ich dämpfte meine Stimme zu einem leisen Murmeln; ich wollte ihn nicht ablenken.

Sie schenkte mir ein schiefes Lächeln und ein bestätigendes Nicken. «Wie hast du das erraten? Das Shakespeare-Zitat?»

«War schon ein guter Hinweis.»

«Gibt es eine Frage? Emily, richtig?»

Oh, scheiße. Ich sah mit unschuldigem Blick zu Simon auf, der die Arme vor der Brust verschränkt hatte und mich ansah. «Sorry», sagte ich. «Ich wollte nicht …»

«Nein, bitte.» Oh ja, er war definitiv ein Lehrer. Er hatte diese Warum-lässt-du-nicht-auch-den-Rest-der-Klasse-daran-teilhaben-Haltung, als wäre ich eine seiner Schülerinnen, die er gerade beim Zettelchen-Zustecken erwischt hatte. «Was hast du für eine Frage?»

«Oh.» Ich überlegte schnell. «Ich habe mich gefragt, wer Shakespeare spielt. Du?»

Ein paar Leute in der Gruppe kicherten, doch Simon sah aus, als wäre er kurz davor, eine finstere Miene zu ziehen. «Nein. Wir haben keinen Shakespeare im Ensemble.»

«Aber das könnten wir», argumentierte ich. Ich wusste nicht, warum ich zuließ, dass mir dieser Kerl dermaßen unter die Haut ging. Noch vor dreißig Sekunden war es mir völlig egal gewesen, ob wir den Barden von Avon herumlaufen hatten oder nicht, aber die Vorstellung schien Simon zu ärgern, also war ich ganz dafür. «Ihr habt gesagt, 1601, richtig? Zu der Zeit hat er Sondervorstellungen seiner Stücke für die Königin bei Hofe aufgeführt. Elizabeth war ein großer Fan von ihm, also wäre es nur folgerichtig …»

«Wir haben keinen Shakespeare im Ensemble.» Und das Thema war beendet. Ich war beeindruckt; er hatte wirklich eine 1-a-Lehrerstimme. Aber anstatt mir Nachsitzen aufzubrummen, ging er wieder dazu über, sich an den Rest der Gruppe zu wenden, als wäre unsere Unterhaltung nie passiert.

«Die meisten von uns, die Wiederholungstäter sind, haben ihre Namen und Identitäten schon ziemlich gut etabliert. Aber für diejenigen von euch, die in dieser Saison zum ersten Mal dabei sind, oder wenn euch euer Name vom letzten Mal nicht mehr gefällt, dann schaut auf das Blatt in eurer Hand. Da habt ihr eine Liste mit Namen, die in diese Epoche passen. Seht sie euch an, ob etwas gut aussieht. Sich richtig anfühlt.»

Meine Güte. Das nahm ja eine ziemlich jähe Wendung ins Sektenhafte. Mein Plan war eigentlich gewesen, das Ganze locker anzugehen: ein hübsches Kostüm zu tragen und in einer Bar rumzuhängen, damit Caitlin dabei sein konnte. Ich hatte nicht vorgehabt, die nächsten Monate in einer Art Live-Action-Method-Acting-Übung zu verbringen. Ich unterdrückte ein Seufzen und schaute hinunter auf das Blatt Papier in meinen Händen.

Zum Glück rief Simon niemanden in die Mitte. Stattdessen stellten wir uns reihum mit unserem richtigen Namen sowie unserem ausgewählten Festivalnamen vor. Der Zweck der Übung war vermutlich, dass alle einander besser kennenlernen konnten. Dennoch stieg mein Blutdruck mit jeder neuen Stimme, die sprach, während mein Einsatz immer näher rückte und ich keine Ahnung hatte, wer meine Rolle war, abgesehen davon, dass sie Bier servierte. Das Blatt knitterte in meiner Hand, während ich mich auf Caitlin auf der gegenüberliegenden Seite des Kreises konzentrierte. Sie kicherte über irgendetwas, das eine ihrer Freundinnen gesagt hatte, und sie so entspannt zu sehen, sorgte dafür, dass sich irgendetwas in mir ebenfalls entspannte. Ich konnte das schaffen.

Neben mir ergriff Stacey das Wort. «Hey, alle zusammen! Ich bin Stacey Lindholm, und das ist mein … oh, Gott, mein achtes Jahr beim Ren Faire. Stimmt das? Kann das stimmen?» Sie stöhnte theatralisch. «Jedenfalls, ich habe angefangen, als ich noch auf der Highschool war, als Sängerin, aber jetzt, wo ich erwachsen bin …» Ein paar Leute links von mir schnaubten belustigt, und Stacey antwortete mit einem Zungenschnalzen in ihre Richtung. «Halt die Klappe, Mitch. Jetzt, wo ich erwachsen bin, oder jedenfalls über einundzwanzig, hab ich zur Schankmaid gewechselt. Dieses Jahr sind wir zu zweit.» Sie stupste mich mit der Schulter an, und, oh scheiße, jetzt war ich an der Reihe.

Aber sie war noch nicht fertig. Simon räusperte sich. «Ich nehme an, du behältst denselben Namen?»

«Oh! Ja. Natürlich.» Unvermittelt nahm Stacey eine aufrechtere Haltung ein und wechselte in einen ziemlich guten englischen Akzent. Vor meinen Augen wurde sie zu einer völlig anderen Person. «So Ihr mich in der Taverne zu finden begehrt, dann fraget nur nach Beatrice. Das werde ich sein.»

Brauchte ich etwa auch einen englischen Akzent? Aber ich hatte keine Zeit, mir deswegen Sorgen zu machen, denn nun war ich an der Reihe.

«Hi!» Ich versuchte zu lächeln, freundlich auszusehen und zu winken, alles zur selben Zeit. Mein Lächeln war nur eher eine Art nervöses Ausatmen, das zu viele Zähne zeigte, und mein Winken sah vermutlich aus wie ein trotteliges Muskelzucken. «Ich bin Emily. Emily Parker. Ich bin neu in der Stadt, deshalb hab ich das hier noch nie gemacht.»

«Keine Sorge, Park. Wir werden sanft zu dir sein.» Mitch lachte über seinen eigenen Witz, und ich kicherte auch ein bisschen, aber mein Lachen wurde von einem unfreundlich dreinblickenden Simon erstickt.

«Wie Beatrice sagte, bist du dieses Jahr auch eine Schankmaid, richtig?», dirigierte er mich mit seiner Frage weiter, und ich verstand die Botschaft. Bleib beim Thema. Ich hatte ihn schon mit der Shakespeare-Sache verärgert, jetzt musste ich mich zusammenreißen.

«Richtig. Sorry. Ja. Ja, ich bin eine Schankmaid, zusammen mit Stacey.»

«Beatrice», wiederholte er den Namen, als wäre ich schwer von Begriff, und gütiger Gott, ich hatte keine Ahnung, dass schlichte braune Augen wie Laser aussehen konnten. Aber Simons Blick war kurz davor, mir ein Loch in die Stirn zu brennen.

«Ja», sagte ich. «Beatrice. Sorry. Noch mal.» Was war los mit diesem Typ?

«Und dein Name?»

«Emily.»

Er seufzte. «Ja. Aber dein Festivalname.»

«Oh … Der ist …» Ich glättete das zerknitterte Blatt in meinen Händen, um Zeit zu schinden. «Ich schätze, Shakespeare fällt flach, was?» Vorsichtig riskierte ich einen Blick zu ihm hoch, aber seine finstere Miene verriet mir, dass meine Scherze hier nicht willkommen waren. «Na schön, okay. Dann bin ich … ähm …» Mein Blick landete auf einem Namen. Oh, das war easy. «Emma.»

«Emma.» Seine Stimme war ausdruckslos.

«Der passt in die Zeit.» Ich zeigte auf das Blatt. «Er steht auf der Liste. Und so werde ich auch eher drauf reagieren.»

Ein weiteres kurzes Seufzen. «Freut mich zu sehen, dass du dir so viele Gedanken darüber gemacht hast.»

Ich öffnete den Mund, um etwas zu erwidern, doch Simon wandte sich schon dem Teenager links von mir zu und machte deutlich, dass ich für ihn aufgehört hatte zu existieren.

Ich lehnte mich auf meine Hände zurück und schnaubte leise. Arsch.

Stacey stupste mich an. «Mach dir seinetwegen keine Sorgen», flüsterte sie. «Dein Name ist völlig okay.»

«Bist du sicher?»

Sie nickte. «Lass dich von ihm nicht ärgern.»

Ich stieß den Atem aus. «Ich werd’s versuchen.» Ich richtete meine Aufmerksamkeit wieder auf den Kreis, wo Mitch als Nächster an der Reihe war.

«Mitch Malone.» Seine Stimme klang selbstbewusst, und warum auch nicht? Man brauchte sich den Kerl doch nur mal ansehen. Er konnte sich was auf sich einbilden, und nach allem, was ich bisher von ihm gesehen hatte, tat er das auch. Aber die Art, wie er nicht nur mich, sondern auch die Kinder im Kreis anlächelte, verriet mir, dass es mehr über ihn herauszufinden gab als nur die Menge an Gewichten, die er stemmen konnte. «Und ich mache schon beim Ren Faire mit seit, wie lange, ungefähr so lange wie du, Simon, stimmt’s?»

Simon nickte. «Du hast ein Jahr nach mir angefangen. Also im zweiten Jahr des Festivals.»

«Ja, das kommt hin. Dein großer Bruder hat mich auf der Highschool praktisch das halbe Abschlussjahr lang damit genervt mitzumachen. Sagte, er brauche mehr große starke Typen und keine dürren kleinen Jungs wie dich.»

«Ich war nicht dürr», widersprach Simon, doch dabei spielte ein Lächeln um seine Lippen. Das hier war eindeutig ein altes, zahnloses Geplänkel.

Herablassend winkte Mitch ab. «‹Dürr› ist relativ, nicht wahr?» Ich war mir nicht sicher, ob er an der Stelle bewusst seine Brustmuskeln spielen ließ, aber da war definitiv Bewegung unter seinem engen grauen T-Shirt, und das war wirklich hübsch anzusehen.

Simon seufzte schon wieder, aber anders als bei dem Gespräch mit mir kam dieses Seufzen eher als ein Lachen heraus. «Okay, wie auch immer. Ich nehme an, du trägst dieses Jahr wieder den Kilt?»

«Aye. Marcus MacGregor reitet wieder!» Mitchs Wechsel in einen breiten schottischen Akzent ließ meine Augenbrauen hochschnellen. Ich hatte ihn wegen seines engen Shirts und des trainingsintensiven Körperbaus für einfach gestrickt gehalten. Aber der Mann hatte verborgene Tiefen. Er war mit einem verklemmten Intellektuellen wie Simon befreundet und konnte auf Kommando einen Akzent imitieren.

Während wir uns weiter den Kreis entlangarbeiteten, wanderte meine Aufmerksamkeit zurück zu Mitch und seinem engen T-Shirt. Zu meinem Entsetzen ertappte Mitch mich dabei und zwinkerte mir zu, begleitet von einer Finger-Pistolen-Geste. Ach, na ja, er war also doch irgendwie einfach gestrickt. Ich schnaubte, was ich mit einem Husten zu tarnen versuchte, aber Mitch lachte trotzdem. Mit einem Räuspern warf Simon uns beiden einen finsteren Blick zu, und ich schaute mit brennenden Wangen weg.