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Wenn sie ihr Herz verschenkt, wird sie sterben ...
Als Hazel Birds erfährt, dass sie eine Sirene ist, liegen ihre Träume und Hoffnungen plötzlich in Scherben. Denn sie wirkt dadurch nicht nur besonders faszinierend auf andere Menschen - eine Eigenschaft, die die Schauspielstudentin bisher auf ihr Talent zurückgeführt hat -, sondern es lastet auch ein Fluch auf ihr: Wenn sie wahrhaftig liebt, wird sie sterben. Das bedeutet, dass Hazel sich nun von Taro Takahashi fernhalten muss. Dem Mann, in dessen Nähe ihr Herz schon seit Jahren gefährlich schnell schlägt. Um mehr über ihre Kräfte und den Fluch zu erfahren, schreibt sie sich am M.U.S.E. ein, einem College für arkane Wesen. Doch trotz der Distanz, die nun zwischen ihnen liegt, können Hazel und Taro nicht gegen die Gefühle ankämpfen, die sie schon so lange empfinden, auch wenn sie dadurch Hazels Leben in Gefahr bringen ...
»Die MAGIC&MOONLIGHT-Reihe hat mich verzaubert. Euch erwarten authentische Charaktere, große Gefühle, eine Menge Magie und eine Prise Humor. Ich bekomme einfach nicht genug von Yvys Geschichten.« TRAUMWELT.LESEN
Der Spin-off zur MAGIC & MOONLIGHT-Dilogie
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Seitenzahl: 584
Titel
Zu diesem Buch
Leser:innenhinweis
Widmung
Motto
Hazels Schlaflied
Playlist
Prolog
1. Kapitel
2. Kapitel
3. Kapitel
4. Kapitel
5. Kapitel
6. Kapitel
7. Kapitel
8. Kapitel
9. Kapitel
10. Kapitel
11. Kapitel
12. Kapitel
13. Kapitel
14. Kapitel
15. Kapitel
16. Kapitel
17. Kapitel
18. Kapitel
19. Kapitel
20. Kapitel
21. Kapitel
22. Kapitel
23. Kapitel
24. Kapitel
25. Kapitel
26. Kapitel
27. Kapitel
28. Kapitel
29. Kapitel
30. Kapitel
31. Kapitel
32. Kapitel
33. Kapitel
34. Kapitel
35. Kapitel
36. Kapitel
37. Kapitel
38. Kapitel
39. Kapitel
40. Kapitel
41. Kapitel
42. Kapitel
43. Kapitel
44. Kapitel
Epilog
Nach- und Dankesworte
Die Autorin
Die Romane von Yvy Kazi bei LYX
Impressum
Yvy Kazi
A Song Unnamed
Roman
Hazel Birds ist eine Sirene. Eine Enthüllung, die ihr Leben vollkommen auf den Kopf stellt, denn sie wirkt dadurch nicht nur besonders faszinierend auf andere Menschen – eine Eigenschaft, die die Schauspielstudentin bisher auf ihr Talent zurückgeführt hat –, sondern es lastet auch ein Fluch auf ihr: Wenn sie wahrhaftig liebt, wird sie sterben. Plötzlich liegen Hazels Träume und Hoffnungen in Scherben, denn sie muss sich nun von Taro Takahashi fernhalten. Dem Mann, in dessen Nähe ihr Herz schon seit Jahren gefährlich schnell schlägt. Um sich an ihr neues Leben zu gewöhnen, aber auch um mehr über ihre Kräfte und den Fluch zu erfahren, schreibt sie sich am M. U. S.E. ein: einem College für arkane Wesen. Doch trotz der neuen Entfernung zwischen ihnen können Hazel und Taro nicht gegen die Anziehung ankämpfen, die sie schon so lange empfinden, und gegen alle Warnungen suchen sie immer wieder die Nähe, nach der sie sich sehnen. Dabei verbirgt Taro ein Geheimnis vor Hazel, das die Bedrohung für sie noch größer machen könnte …
Liebe Leser:innen,
wir möchten darauf hinweisen, dass dieses Buch folgende Themen enthält:
Erinnerungen an verstorbene Familienmitglieder,
Pandemie (in der Vergangenheit liegend), Todesfälle, Verletzungen und Erkrankungen.
Wir wünschen uns für euch alle das bestmögliche Leseerlebnis.
Eure Yvy und euer LYX-Verlag
Für Lea und alle,
die auf der Suche nach der Magie in ihrem Leben sind.
(Und sie vielleicht in einem Lied entdecken.)
Ich kann nicht dein Todund deine Rettung sein.
Taro Takahashi
In the moonlit ocean, where waves gently sway,
A sailor set sail on his ship one day.
He dreamed of adventure, of treasures untold,
But little did he know, a tale would unfold.
Hush now, my darling, close your eyes tight,
As I sing you a lullaby, this starry night.
Of a sailor and a mermaid, their love so true,
Drifting off to dreamland, I’ll watch over you.
On a distant island, where palm trees did sway,
The sailor met a mermaid, enchanting and fey.
Her voice was like music, her eyes like the sea,
They danced in the moonlight, so wild and so free.
Hush now, my darling, close your eyes tight,
As I sing you a lullaby, this starry night.
Of a sailor and a mermaid, their love so true,
Drifting off to dreamland, I’ll watch over you.
But the sailor had to leave, his ship called him back,
Promising to return, he set off on his track.
The mermaid waited patiently, longing for his return,
Her heart filled with hope, her love forever to yearn.
Fortsetzung folgt …
Die first– Nessa Barrett
The same– mehro
Another Life– Flower Face
It’ll Be Okay– Shawn Mendes
Men On The Moon– Chelsea Cutler
Another Love– Tom Odell
Emails I can’t send– Sabrina Carpenter
Home– Edith Whiskers
Mostly– Voan Izak, Juniper Vale
Infinity– Jaymes Young
Where’s My Love – SYML
Atlantis– Seafret
Lonely Ones – LOVA
Lights Are On– Tom Rosenthal
Dandelions – Ruth B., sped up + slowed, slater
Ophelia – The Lumineers
Hey There Delilah – fenekot
Lilith (feat. SUGAofBTS) (DiabloIVAnthem)– Halsey,SUGA
Love Him I Don’t– Maisie Peters
The Woods– Hollow Coves
Witchcraft– Vian Izak
August
Der Anfang vom Ende
Wahrscheinlich gibt es keinen logischen Grund, dass es mir peinlich ist, Taro nachts im Flur seiner Wohnung über den Weg zu laufen – und trotzdem schießt mir sofort Hitze in die Wangen. Wir kennen uns seit fast einem Jahr und verstehen uns gut. Wirklich richtig gut. Er lacht über meine kläglichen Witze, und wenn ich ihn mal wieder vollkommen geistesabwesend voller Bewunderung anstarre, schenkt er mir ein Lächeln. Eines, das ebenso nachsichtig wie provozierend ist. Wahrscheinlich passen diese zwei Worte nicht zusammen, aber Taro ist ohnehin ziemlich gut darin, Gegensätze in sich zu vereinen. Wie kann er sonst dermaßen athletisch aussehen, obwohl er Stunde um Stunde fast reglos vor seinem Laptop hockt, um Fotos zu bearbeiten? Er wirkt, als wäre er immer auf dem Sprung, und nimmt sich dennoch stets die Zeit, mir aufmerksam zuzuhören. Einfach nur schweigend neben ihm zu sitzen fühlt sich an, als würde die lauteste Melodie durch meinen ganzen Körper summen. Nicht wie ein Bass, der in Clubs aus den Lautsprechern wummert und im Brustkorb mitschwingt, sondern eher so, als wäre er der Ohrwurm meines absoluten Lieblingssongs. Ein Lied, das so mächtig aus einem herausbricht, dass man es einfach laut mitsingen muss. – All das ist Taro für mich. Und noch viel mehr. Leider beinhaltet dieses »viel mehr« auch die Tatsache, dass er als Bruder meiner besten Freundin Gemma für alles tabu sein sollte, das die Grenze des Anhimmelns überschreitet.
Obwohl wir den halben Abend zu dritt verbracht haben, bevor Gemma und ich uns in ihr Zimmer zurückgezogen haben, um dort gemeinsam zu übernachten, fühlt es sich seltsam an, ihm jetzt auf dem Flur zu begegnen. Anders. Vertrauter. Als würden der Mondschein und die Stille irgendetwas zwischen uns verändern. Warum meine Ohrspitzen unter Taros Blick zu glühen anfangen, kann ich mir auch nicht erklären. Es ist Sommer, und mein kurzer Pyjama zeigt definitiv nicht mehr Haut als das Kleid, das ich vorhin noch getragen habe. Es gibt also keinen rationalen Grund dafür, diesen Moment als intim zu empfinden. Und trotzdem kribbelt eine angenehme Aufregung durch meinen Körper. So, als wäre meinen Hormonen gerade wieder eingefallen, dass sie mir Taro schon bei unserer ersten Begegnung als Vater meiner zukünftigen Kinder vorgeschlagen haben.
Aus dem Wohnzimmer dringen Geräusche des Fernsehers, dessen bläulicher Schimmer über die Dielen flackert. Aber selbst in den Schatten der Nacht sehe ich, dass Taro mich mustert. Auf eine Art und Weise, die mir eine wohlige Gänsehaut beschert. Vielleicht sollte es mich stören, dass sein Blick an meinem Hals entlang nach unten wandert und an meinen Brüsten verharrt. Doch das tut es nicht. Im Gegenteil: Ich spüre, wie sich meine Brustwarzen verhärten. Mir gefällt diese Art von Beachtung. Viel zu sehr.
Wahrscheinlich sollte ich etwas sagen, aber mein Mund fühlt sich vollkommen ausgetrocknet an. Stattdessen nehme ich mir die Zeit, ihn ebenfalls anzusehen, als hätte ich das nicht schon tausendfach getan. Als wüsste ich nicht längst, dass er mit Abstand der attraktivste Typ an der Allbright Akademie ist. Als würden sich nicht ständig Studierende nach ihm umdrehen. Und Taro? Reagiert nie darauf. Manche nennen ihn deswegen arrogant, doch das ist er nicht. Er ist auch nicht schüchtern. Nur Flirtereien jeder Art scheinen stets von ihm abzuperlen. Täglich sitzt er in der Mensa neben mir und hört sich meine Geschichten an. Immer mit diesem Lächeln auf den Lippen, das meine Wangen heiß werden lässt, jedoch nichts zu bedeuten hat. Zumindest dachte ich das bisher, denn nie zuvor hat er mich auf diese Weise betrachtet.
Als wäre ihm das auch gerade bewusst geworden, deutet er auf die Badezimmertür. »Möchtest du zuerst?«
Ich öffne den Mund, weil ich ihm antworten sollte, aber ich kann es nicht. Irgendwo in den Untiefen meines schlaftrunkenen Hirns bildet sich nur ein einziges Wort. Und auch das schafft es nur wispernd über meine Lippen: »Taro.«
Das ist alles. Mehr bringe ich nicht heraus. Ich klinge so abgrundtief verzweifelt, wie ich mich in seiner Nähe öfters fühle. Mir war von unserer ersten Begegnung an klar, dass ich unfassbar auf ihn stehe. Ich habe ihn angesehen und wusste: Hazel Birds, du bist komplett verloren. Dieser Typ ist der Bruder deiner Freundin. Also reiß dich zusammen. Ganz egal, wie schnell dein Herz gerade schlägt und wie sehnsüchtig sich alles in dir zusammenzieht. Du wirst die Finger von ihm lassen.
Seitdem habe ich versucht, diese überwältigenden Gefühle beiseitezuschieben. Weil Gemma meine beste Freundin ist. Und weil ich mir nicht einmal sicher war, ob Taro sich überhaupt auf diese Weise zu anderen Menschen hingezogen fühlt. Aber jetzt – in diesem beinahe magischen Moment aus Mondlicht, nächtlichen Schatten und Stille – ist es, als würde ein Jahr unterdrücktes Verlangen auf einmal an die Oberfläche drängen.
Statt mich dafür auszulachen, dass ich meinen Blick nicht von seinem lösen kann, schluckt Taro hart.
Er nickt. Kaum merklich.
»Ich …« Ich weiß nicht, was ich sagen soll. Oder will. Mein Kopf fühlt sich auf die angenehmste Art und Weise wie leer gefegt an. Das sind nur noch er und ich.
»Haze?«
Er hat mich noch nie so genannt, aber mir gefällt der Spitzname. Er fühlt sich wie ein Funkenregen an, der über meine Haut prickelt und ein Feuer in meinem Inneren entfacht.
Ich sehe aus dem Augenwinkel, wie sich seine Hand zur Faust ballt, bevor ein Ruck durch seinen Körper geht.
Mit einer blitzschnellen Bewegung drängt er mich gegen die Flurwand. Taro stützt seine Hand neben meinem Kopf ab und sieht mir tief in die Augen. Sein Atem kommt so stoßweise, als würde es ihn einige Selbstbeherrschung kosten, den letzten Abstand zwischen uns aufrechtzuerhalten.
Überrascht blinzle ich ihn an. Seine Annäherung kam unerwartet, aber es gefällt mir, seine Wärme auf meiner nackten Haut zu spüren. Seine Brust an meiner. Sein Blick so aufgewühlt wie mein rasendes Herz.
Mir ist bisher nie aufgefallen, dass wir beinahe gleich groß sind. Ich kippe leicht mein Becken nach vorn und bemerke, dass ich nicht die Einzige bin, die diese Situation genießt.
Noch nie hat sich die Nähe zu einem anderen Menschen so gut angefühlt. So richtig. So verheißungsvoll.
Mir entweicht ein Laut zwischen Seufzen und Wimmern. Es ist ein Geräusch tief aus meinem Inneren.
»Was ist los, Hazel Birds?«, schnurrt Taro an meinem Ohr, als wäre er eine Katze und ich ein wehrloses Vögelchen, mit dem er spielt.
Und genau so fühle ich mich: Als wäre seine Annäherung auch irgendwie gefährlich – für mich und meine bröckelnde Selbstbeherrschung. Mit jedem seiner Atemzüge nimmt die Anspannung in meinem Inneren zu.
Er ist der Bruder meiner besten Freundin. Wir verstehen uns gut. Ich sollte das hier wirklich nicht tun. Setz nichts aufs Spiel, das du nicht zu verlieren bereit bist, wiederhole ich in Gedanken immer und immer wieder dieselben Sätze – und dennoch komme ich ihm erneut entgegen, um seine Härte zu spüren. Das sollte sich nicht so verboten gut anfühlen – tut es aber. Wobei die Betonung auf gut liegt. Ich brauche dringend mehr davon.
Pure Hitze schießt durch meinen Körper und lässt den letzten Rest meiner Selbstbeherrschung in Flammen aufgehen.
»Fick mich.« Ich beiße mir selbst auf die Unterlippe, kaum dass die Worte meinen Mund verlassen haben. So zu reden ist normalerweise gar nicht meine Art. Ich habe so etwas noch nie zu jemandem gesagt, aber mein Verlangen nach ihm ist absolut übermächtig.
Taro lacht nicht. Er macht sich nicht über mich lustig; weist mich nicht ab. Stattdessen hebt er einen Mundwinkel. Selbst in der Dunkelheit erkenne ich das provozierende Leuchten in seinen Augen. Seine Antwort bringt mich endgültig um den Verstand.
»Wie du wünschst.« In der nächsten Sekunde spüre ich seine Lippen auf meinen und bin mir sicher, dass das hier nur ein Traum sein kann. Solche Sachen passieren nicht. Nicht wirklich. Nicht mit Taro. Denn dieser Kuss – er ist besser als in all meinen Fantasien.
Als Taros Zunge meine Unterlippe streift, öffne ich den Mund für ihn und vergrabe meine Hand in seinen seidigen Haaren. Wie perfekt sich das anfühlt.
Ihm entfährt ein Stöhnen, das durch mein ganzes Sein vibriert.
Ungeduldig schlinge ich ein Bein um ihn und genieße das Gefühl seiner Erektion, die gegen mich presst. Wir tragen beide nur Boxershorts. Zu viel und zu wenig zugleich.
Kurz spüre ich den Stich eines schlechten Gewissens, weil ich mit dem Bruder meiner besten Freundin herummache, aber das verfliegt, als er eine Hand um eine meiner Brüste schließt und mich zu massieren beginnt. Wir sind beide Single. Das hier ist nichts Verwerfliches. Und es fühlt sich zu perfekt an, um damit aufzuhören.
Ich war Taro noch nie so nahe. Nicht auf diese Weise. Trotzdem spüre ich absolutes Vertrauen. Die Gewissheit, dass er mich fängt, wenn ich springe.
Fordernd reibe ich mich erneut an seiner Härte und entlocke ihm ein Stöhnen. Wir sind uns einig in dem, was wir wollen. Das spüre ich am Einklang unserer ungestümen Bewegungen. Wir wollen beide alles. Jetzt.
Doch als ich meine Hand über seinen perfekten Körper nach unten wandern lasse und nach dem Saum seiner Shorts taste, verharrt er plötzlich.
All wäre ein Bann gebrochen, beendet er schwer atmend unseren Kuss und sieht mich an, als wäre er aus einer Trance erwacht.
Er muss mich nicht abweisen, ich sehe an seinem Blick, dass unser Moment vorbei ist.
Langsam lasse ich meine Hand sinken, während er mein Gesicht mustert und kaum merklich seinen Kopf schüttelt.
»Wir sollten nicht …« Er bricht den Satz ab, und mir läuft es eiskalt den Rücken hinab, als er einen Schritt zurücktritt. Der Abstand zwischen uns fühlt sich viel zu groß und zu kühl an. Als wäre er ein Weltmeer zwischen zwei Kontinenten.
»Sagst du mir, warum?«, frage ich leise.
Taro neigt den Kopf zur Seite und blinzelt. »Kann ich nicht. Ich weiß nicht einmal, was hier gerade passiert ist«, gesteht er und wirkt mit einem Mal vollkommen überfordert – von allem. Als wüsste er nicht einmal mehr, was er in diesem Flur wollte. Oder wohin mit seinen Händen oder sich selbst. Erneut greift er sich in die Haare. »Es tut mir leid. Das hätte nicht … Tut mir leid.« Es wirkt, als wollte er noch etwas sagen, doch er wendet sich zum Gehen. Irritiert sehe ich ihm nach, wie er ins Wohnzimmer hinübergeht und auf die Dachterrasse hinaustritt. Was tut er da? Es sieht aus, als würde er einen stummen Schrei in den Nachthimmel entlassen. Schwer zu sagen, ob er sich tatsächlich darüber ärgert, was eben passiert ist – oder es bereut, mich hier allein stehen gelassen zu haben.
Ich meine: Er ist Taro. Er ist für gewöhnlich niemand, der mit den Gefühlen anderer spielt.
Und obwohl er mich soeben abgewiesen hat, ist genau das der wahnwitzige Moment, in dem ich beginne, mich in Taro Takahashi zu verlieben.
Ja: Unser Zusammentreffen dauerte nur Sekunden. Trotzdem hatte ich kurz das Gefühl, dass er mich einen Blick hinter seine sorgsam errichtete Fassade der Gleichgültigkeit werfen lässt. Und das bedeutet mir mehr, als jeder Kuss es könnte.
Heute
Freitag, 13. Januar
Sei keine Prinzessin. – Das ist einer von Moms typischen Sprüchen. Da Dad kurz nach meiner Geburt verstarb, waren wir beide quasi immer auf uns allein gestellt. Wir sind gut darin, unser Leben selbst in die Hand zu nehmen. Aber es gibt Momente, in denen ich dennoch lieber eine Krone als den Darm eines Hundes zwischen meinen Fingern halten würde.
Tief durchatmend sehe ich durch das Fenster der Praxis hinaus, betrachte abwechselnd die fallenden Schneeflocken und ein im Busch sitzendes Eichhörnchen, lausche dem lauten Ticken der Wanduhr und zähle die Minuten, die Mom braucht, um einem Golden Retriever namens Vicky das Leben zu retten. Darmverschlingung. Es ist nicht die erste OP dieser Art, bei der ich Mom zur Hand gehe, aber auch nach all den Jahren, in denen ich ihr in der Praxis assistiere, gibt es Dinge, die ich nicht gut vertrage. Neben dem Einschläfern von Tieren sind das Operationen am Magen-Darm-Trakt. Es existieren einfach Gerüche, mit denen ich nicht klarkomme. In Momenten wie diesen verfluche ich Mom dafür, die unzuverlässigsten Tierarzthelferinnen New Yorks eingestellt zu haben. Theoretisch ist es gut, dass sie Menschen eine Chance gibt, die es aufgrund von Erkrankungen oder ihrem Alter eher schwer auf dem Arbeitsmarkt haben. Wirklich. Nur jetzt gerade würde ich lieber irgendetwas anderes tun, als darauf zu warten, dass Mom die Prozedur endlich beendet. Dieser Teil des Eingriffs ist der wichtigste und erfordert eine Menge Geduld und Feingefühl. Wenn die Wunde nicht gut verheilt, ist der Hund nicht zu retten. Ich weiß das. Also unterdrücke ich meine Ekelgefühle zuliebe des Tieres, das narkotisiert auf Moms Behandlungstisch liegt.
»Geht es?«, fragt sie, ohne aufzusehen.
»Muss ja«, murmle ich.
Irgendetwas an meiner Antwort bringt sie dazu, kurz den Kopf zu heben und mich zu mustern, bevor sie ihr Werk fortsetzt.
Wenn sie den Grünheitslevel meiner Gesichtsfarbe abchecken wollte: Ich werde mich schon nicht auf den Hund übergeben. Auch wenn diverse Leute behaupten, ich würde wie ein Püppchen aussehen, bin ich nicht aus Porzellan.
Eine halbe Stunde später hat Mom ihre Arbeit beendet und bringt Vicky in den Aufwachraum, wo sie von ihrer Tierarzthelferin Abigail im Auge behalten wird. Ich mag Abigail. Sie ist ein Engel ohne Flügel. Nur leider machen ihr die schmerzenden Gelenke das lange Verharren bei Operationen nahezu unmöglich.
Als Mom wenig später in den Behandlungsraum zurückkommt, schrubbe ich meine Hände. Obwohl meine Haut bereits schmerzt, bilde ich mir ein, dass sie noch immer unangenehm riecht. Fast rechne ich mit einem Kommentar von Mom, aber er bleibt aus. Schweigend geht sie zum Fenster hinüber und lüftet, sieht dabei so interessiert nach draußen, als wollte sie nachvollziehen, was ich dort beobachtet habe.
»Es schneit«, ist alles, was sie sagt. Aber ich weiß, was sie eigentlich meint. Ich kenne die Botschaft zwischen den Zeilen, denn sie hat mir oft genug von Dads Todestag erzählt. Es war ein Wintertag wie dieser. Ich war gerade fünf Wochen alt, als der erste Schnee des Jahres fiel. Jedes Mal, wenn in den vergangenen zwanzig Jahren die ersten Flocken des neuen Winters auf die Erde rieselten, hat sie es erwähnt. Nur beiläufig. So, wie sie immer von Dad spricht – dem Musiker, der nur siebenundzwanzig Jahre alt wurde. Das ist fast alles, was ich über ihn weiß, neben der Tatsache, dass ich seine undefinierbare Augenfarbe geerbt habe. Meistens sehen meine Iriden braun-grün aus, aber in bestimmten Lichtverhältnissen wirken sie dunkelgrau. Hazel Eyes für jemanden namens Hazel, welch Ironie des Lebens. Dad schien also Humor gehabt zu haben. Alles in allem besitze ich nur dürftiges Wissen über den Mann, der zweifellos Moms große Liebe gewesen sein muss. Wieso ich das denke? Solang ich mich erinnere, ist sie nie auf irgendeine Art von Flirtereien eingegangen. Sie hatte keine Verabredungen, auf ihrem Handy ist keine Dating-App installiert, und sie betont bei jeder sich bietenden Gelegenheit, wie stolz sie auf mich ist, weil ich eine unabhängige junge Frau bin. Dass wir keinen Mann in unserem Leben brauchen, um zurechtzukommen. Nein. Sie spricht sich ständig dermaßen entschieden gegen Männer aus, dass ich mir absolut sicher bin, dass Dad wirklich und wahrhaftig sehr besonders gewesen sein muss, um ihr Herz zu erobern. Warum sonst sollte jemand so Unabhängiges wie sie auf die Idee gekommen sein, überhaupt zu heiraten?
»Meinst du, ich könnte morgen einen freien Tag haben?«, durchbreche ich die Stille.
»Willst du Sachen fürs College erledigen?«, fragt Mom und beschert mir sofort ein schlechtes Gewissen. Ich fühle mich, als wäre meine Frage dreist und es verwerflich, am Wochenende einfach mal etwas für mich tun zu wollen. Dabei bin ich keine Angestellte. Das hier ist nicht mein Job. Ich plane auch nicht, jemals in ihre Praxis einzusteigen. Ganz im Gegenteil: Ich studiere darstellendes Spiel an der Allbright Akademie. Mein sonstiger Alltag könnte also gar nicht weiter entfernt von dem sein, was wir hier in der Praxis machen. Und der rationale Teil in mir weiß, dass Mom das durchaus bewusst ist. Allerdings verlässt sie sich auf mich. Wir sind ein eingespieltes Team, weil es immer nur uns beide gab. Und natürlich unseren Hund Bina, der gerade unter dem Empfangstresen schläft. Aber hauptsächlich uns. Wahrscheinlich ist unsere Beziehung deswegen etwas speziell. Während andere Mädchen mit ihren Freundinnen shoppen gegangen sind, habe ich das meist mit Mom unternommen. Wir waren zusammen im Kino oder auf Konzerten – und ich habe es genossen. Ausflüge mit ihr waren immer cool. Sie sind es auch heute noch. Aber ehrlich gesagt, finde ich es ebenso schön, Zeit mit Menschen in meinem Alter zu verbringen. Manchmal ertappe ich mich, dass ich mich deswegen mies fühle. Dabei ist es ja nicht so, als wollte ich Mom ersetzen. Und ich verstehe, dass sie mich nach dem Verlust von Dad davor bewahren möchte, Menschen kennenzulernen, die morgen vielleicht schon kein Teil meines Lebens mehr sind. Freunde kommen und gehen – Familie bleibt. Das ist einer der Sprüche, der auf sämtlichen Familienfeiern wiederholt wird. Wieder. Und wieder. Und wieder. Ich habe es begriffen. Und trotzdem wünsche ich mir eine kleine Auszeit von dem hier. Schon allein deswegen, weil meine Nase gern den Gestank von Desinfektionsmitteln gegen den Duft von frischem Kaffee und warmen Backwaren eintauschen würde.
»Ich möchte morgen mit Gemma ein neues Café ausprobieren«, gestehe ich. »Ihr Freund lädt uns ein.«
»Tatsächlich?«, fragt Mom und lehnt sich gegen die Fensterbank, während sie mich mustert. Irgendetwas an ihrem Blick gefällt mir nicht. Vielleicht liegt es an der skeptisch hochgezogenen Augenbraue. »Wird denn ihr Bruder auch dabei sein? Dieser Taro?«
Dieser Taro. Wie das klingt. Hoffentlich bilde ich mir den vorwurfsvollen Unterton nur ein. Ich habe Mom nie viel von ihm erzählt. Weder, dass wir uns geküsst haben, noch dass ich spätestens seit jener Nacht in ihn verschossen bin. Aber aufgrund bereits erwähnter spezieller Bindung glaube ich, dass sie es ohnehin weiß. Zumindest seufzt sie immer lautstark, wenn ich ihn auch nur beiläufig erwähne – weswegen ich es meist vermeide. Wie auch jetzt. Ihre Unmutsäußerung klingt, als wäre sie ein Tadel. Und zugleich eine Ermahnung. Die freundliche Erinnerung daran, dass wir ein Zweierteam sind und keine Männer in unseren Leben brauchen, die alles durcheinanderbringen. Blöderweise sind wir uns in dem Punkt nicht einig, denn außer Taro liebe ich auch Männer an sich. Ich kann mir beim besten Willen nicht vorstellen, für den Rest meines Lebens allein zu bleiben und mich mit meinem Vibrator zu begnügen. Und im Gegensatz zu Mom hatte ich in den vergangenen Jahren einige Dates. Von denen manche nicht ganz so jugendfrei endeten, wie Mom es sich wohl wünschen würde. Ich habe nicht viele Geheimnisse vor ihr, doch mein Liebesleben gehört dazu. Ich wünschte, ich könnte auch in dem Punkt die Tochter sein, die sie sich vorstellt, aber es funktioniert nicht. Ich habe es versucht – und bin gescheitert. Und das schon, bevor ich Taro letztes Jahr getroffen habe. Wie es scheint, wird es allerdings auch eine Zeit nach Taro geben. Geben müssen. Denn seit unserem Kuss sind mittlerweile einige Monate vergangen. Monate, in denen mir mehr als einmal schwindelig von Taros abrupten Meinungswechseln war. Er hat mich damals geküsst – und mich abgewiesen. Und trotzdem ist er jedes Mal der Erste, der spürt, wenn ich einen echt miesen Tag habe. Er findet immer die richtigen Worte, um mich wieder aufzurichten. Manchmal glimmt dabei etwas in seinem Blick auf, das ich unterdrückte Sehnsucht nennen würde. Noch immer sitzt er in der Mensa oft neben mir. Letztens hat er mir während des Essens geistesabwesend über den Rücken gestreichelt und ist mit den Fingerspitzen an meiner Wirbelsäule auf und ab gestrichen, bis ich erschaudert bin. Als er es bemerkt hat, ist er mir die folgenden Tage aus dem Weg gegangen. So ist es immer zwischen uns: ein Katz-und-Maus-Spiel. Wahrscheinlich hätte ich ihn längst aufgegeben, wenn ich nicht wüsste, dass er kein Typ ist, der Menschen absichtlich verarscht. Ich bin mir sehr sicher, dass er einen triftigen Grund dafür hat, mich hinzuhalten, obwohl er immer wieder meine Nähe sucht. Klingt das naiv? Vielleicht. Aber ich spüre einfach, dass tief in Taro etwas lauert, das sich nach Freiheit sehnt. Aus irgendeinem egoistischen Grund möchte ich diejenige sein, die es entfesselt. Denn allein wenn ich daran denke, wie gut es sich angefühlt hat, von ihm gegen eine Wand gedrängt zu werden, wird mir noch immer heiß und kalt. – Selbst wenn das nie wieder geschehen sollte, ist und bleibt Taro einer der wichtigsten Menschen in meinem Leben.
Einmal habe ich meinen Mut zusammengenommen und ihn um ein Date gebeten. Er wies mich mit den Worten ab, dass ich als Gemmas beste Freundin wie eine kleine Schwester für ihn sei. Auch wenn ich für ihn mehr als brüderliche Gefühle hege, kann ich ihm deswegen nicht böse sein. Wann immer wir Zeit miteinander verbringen, ist es, als wäre er Teil der Familie, die ich mir von klein auf gewünscht habe. Meine Empfindungen für Taro sind komplex und vor allem eines: mehr als nur körperliche Anziehung.
Glücklicherweise reißt mich Mom aus meinen vollkommen abschweifenden Gedanken.
»Tu, was du willst«, murrt sie.
Aber lass dir nicht das Herz brechen, beende ich im Geiste einen weiteren ihrer typischen Sprüche.
Ich bin keine Prinzessin – und lasse mir nicht das Herz brechen. Doch von der Bettkante würde ich Taro trotzdem nicht stoßen, sollte er sich je dorthin verirren.
Mom schließt energisch das Fenster und sieht auf die Uhr. »Ich habe in einer halben Stunde einen Termin mit einem Vertreter von Animalis.«
»Du meinst diese neue Firma für Tierpharmazeutika?«
»Genau die. Dank des geänderten Tierschutzgesetzes müssen wir hier nach und nach alle Arzneimittel austauschen.« Sie deutet flüchtig auf den Oberschrank, in dem diverse Analgetika und Narkotika auf ihren Einsatz warten.
Ich habe einiges von der Reform gelesen und darüber selbst eine Reihe von Blogbeiträgen verfasst, weil die aus Europa herübergeschwappte Gesetzesänderung heiß diskutiert wird. Es gibt Hinweise darauf, dass zumindest manche Paragrafen eher dem Geldbeutel irgendwelcher Lobbyisten als dem Tierwohl dienen, aber so undurchsichtig, wie die Lage ist, konnte ich noch kein eindeutiges Fazit ziehen.
»Ich könnte mich nebenan hinsetzen, was fürs Studium erledigen und ein Auge auf den Hund haben, dann kann Abigail den Empfang managen, während du im Meeting bist«, biete ich an, denn im Grunde hat Mom recht: Das neue Semester hat gerade erst begonnen, trotzdem schadet es nicht, etwas fürs College zu lesen. Nachdem wir uns letztes Semester schwerpunktmäßig mit Orpheus in der Unterwelt auseinandergesetzt haben, widme ich mich dieses Halbjahr den Werken von Mary Shelley. Nicht unbedingt Frankenstein, obwohl mich noch immer beeindruckt, dass sie gerade mal so alt war wie ich, als sie es geschrieben hat. Viele von Shelleys Werken waren der damaligen Zeit voraus. Laut ihrer Vita war sie eine beeindruckende Frau. Und das trotz der Tatsache, dass sie verheiratet war und Kinder hatte, was bei Mom immer so klingt, als wäre es verwerflich. Irgendwie scheint Mom im Verlauf der letzten zwanzig Jahre vergessen zu haben, dass auch sie sich irgendwann einmal dafür entschieden hat. Neben dem Studium. Weil wir nämlich in einer Zeit leben, in der wir alles haben könnten. Auch getrennte Konten und geteilte Betten. Allerdings nehme ich diese Vision für meine Zukunft lieber mit in den Nebenraum, da sie bei Mom alles andere als gut aufgehoben ist. Ich habe ihre Frage vorhin vielleicht nicht beantwortet, aber: Ja, Taro wird morgen auch dabei sein. Und ich freue mich darauf, ihn zu sehen.
»Sekunde noch«, bittet Mom, gerade als ich die Tür zum Nebenzimmer öffne. »Du denkst daran, dass Aurora morgen nach New York zurückkommt und gern die Schlüssel für ihr Auto wiederhätte?«
Genervt verdrehe ich die Augen. Mir ist absolut schleierhaft, warum meine Cousine überhaupt darauf bestanden hat, mir für die Dauer ihrer Reise ihren Wagen auszuleihen. Er stand die vergangenen Wochen einfach nur nutzlos auf dem Praxisparkplatz, da Fahren in New York für mich zu den Höllenkreisen gehört. Ernsthaft. Wer tut sich das freiwillig an? Außer meiner heißgeliebten Cousine, die ohnehin alles und jedes besser weiß als ich. Jedes Mal, wenn ich ihr bei einer Familienfeier über den Weg laufen muss, habe ich das spontane Bedürfnis, den Raum zu verlassen. So auch jetzt. Ehrlich. Da leiste ich lieber der bewusstlosen Hündin Gesellschaft, als von Mom noch ein Wort über Aurora hören zu müssen. Mit Freuden werde ich meiner Cousine ihren Autoschlüssel wiedergeben – wenn sie dazu bereit ist, ihn sich im Café abholen zu kommen. Andernfalls werfe ich ihn ihr einfach kommentarlos in den Briefkasten. Das erspart mir wenigstens einen ihrer Vorträge darüber, dass ich nichts aus meinem Aussehen mache. Oder darüber, dass mein Schauspielstudium an der Allbright lächerlich ist. Oder ich mich nicht ständig irgendwelchen Typen an den Hals werfen soll, weil das erbärmlich ist. Sagen wir, wie es ist: Sie hat mir während ihrer Abwesenheit so sehr gefehlt, wie ich ihr Auto brauchte. Also echt nicht.
Ich setze mich neben Vicky auf den Linoleumboden im Beobachtungsraum, um ab und an ein Auge auf sie zu haben. Gedankenverloren ziehe ich mein Smartphone hervor und beantworte die neusten Kommentare auf meinem Blog. In meinen letzten Beiträgen ging es öfter um die umstrittene Tierarzneimittelreform. Nicht nur, weil es Mom einiges an Geld gekostet hat (und kosten wird), die lang bewährten Medikamente auszutauschen, sondern weil die Hintergründe der Gesetzesänderung noch immer etwas unklar sind. Die Veterinärpharmafirma Animalis, die die meisten der neuartigen und patentierten Pharmaka vertreibt, gibt es erst seit Kurzem. Sie ist der Hauptgewinner der Neuerung; ein Vorteil für die Tiere ist nicht bekannt. Das allein ist schon ziemlich suspekt, allerdings schlägt es nicht so riesige Wellen, wie es bei Arznei für Menschen geschehen wäre. Umso wichtiger ist es mir, mehr über diese Firma herauszufinden. Das stellt sich jedoch eher schwierig dar. Animalis wird von verschiedenen Institutionen subventioniert. Laut einer im Netz kursierenden Liste ist auch eine Bildungseinrichtung aus dem Staat New York darunter. Allerdings eine namentlich nicht genannte, was das Ganze nur mysteriöser macht. Warum unterstützt eine Schule diese Pharmafirma – möchte dann aber nicht öffentlich dazu stehen? Vielleicht bin ich paranoid, doch irgendwie klingt diese komplette Geschichte so dubios, dass ich sie auf jeden Fall weiterverfolgen will. Die meisten neuen Kommentare meiner Abonnentinnen sind freundlich und harmlos, bis auf einen, an dem meine Aufmerksamkeit hängen bleibt. Er wurde anonym gepostet: Versteckt oder nicht – wir kommen.
Was ist das für ein Unfug? Manchmal bekommt man in den sozialen Medien wirklich seltsame Nachrichten. Ich erinnere mich, dass Gemma in der letzten Zeit auf all ihren Kanälen mehrfach täglich Spamnachrichten von irgendwelchen Verschwörungstheoretikern erhalten hat. Irgendetwas Obskures über einen Realitätsshift in New York, dem sie aufgrund ihrer herausragenden Fähigkeiten als Hexe mal nachspüren sollte. Was sie selbstverständlich nicht tut.
Da ich mein Handy schon in der Hand halte, kann ich ihr auch gleich schreiben, dass das mit unserem morgigen Treffen klappt – solange Mom meine Hilfe nicht braucht. Ich schicke Gemma ein Foto von meiner bewusstlosen Patientin, die ruhig atmend auf ihrer Matte die Narkose ausschläft.
Nur wenige Sekunden später trifft Gemmas Antwort bei mir ein.
Gemma:Jippie! Wir (Darren, Taro und ich) freuen uns. Ich werde bei der weißen Magie gleich ein gutes Wort für die süße Fellnase einlegen. Dann hoffentlich bis morgen. – *fingerscrossed*
Sie sagt es. #fingerscrossed. Auch ich drücke uns die Daumen und freue mich darauf, mal wieder Zeit mit Gemma zu verbringen. In den letzten Wochen hatte ich öfter das Gefühl, dass sich etwas zwischen uns verändert hat. Wann immer sie nicht aufpasst, stiehlt sich ein Funke schlechten Gewissens in ihre Augen. Ich habe nur noch nicht herausgefunden, woran es liegt. Daran, dass sie nun einen Freund und somit automatisch weniger Zeit für mich hat? Daran, dass sie glücklich ist, während ich seit Monaten erfolglos ihren Bruder anschmachte? Gibt es einen anderen Grund für ihre Gewissensbisse? Ich habe keine Ahnung, doch so oder so muss sie die nicht haben. Davon abgesehen, dass ich jedem Menschen sein Glück gönne, bin ich der festen Überzeugung, dass man sein Schicksal selbst in der Hand hält. Wenn ich unzufrieden mit meinem Leben wäre, wäre es meine Aufgabe, etwas daran zu ändern. Nicht ihre.
Apropos Aufgabe: Widerwillig kontaktiere ich meine Cousine mit dem Hinweis, dass sie ihren Schlüssel doch bitte bei mir im Café abholen möge, wenn sie ihn denn morgen sofort zurück braucht.
Ihre Zusage stimmt mich zwar nicht gerade euphorisch, aber zumindest kann ich diesen Punkt von meiner To-do-Liste streichen.
Samstag, 14. Januar
Ich werfe einen flüchtigen Blick auf die ungelesene Mitteilung, die mein Handy anzeigt. Sie stammt von Mom: Unserer Patientin geht es gut.
Erleichtert stecke ich es in die Tasche und atme die nach Kaffee duftende Luft ein. Irgendwie fühlt es sich an, als hätte Mom mir mit dieser Nachricht die Erlaubnis gegeben, einen unbeschwerten Tag zu genießen. Sollte sie in der Praxis Hilfe bei einem dringenden Notfall brauchen, werde ich mich auf den Weg machen, aber jetzt bin ich erst einmal fest entschlossen, diesen Vormittag auszukosten. Im wahrsten Sinne des Wortes, denn auf dem Teller vor mir stapeln sich himmlisch duftende Waffeln mit Zimt-Vanille-Eis.
Obwohl es heute winterlich kühl ist, stiehlt sich gerade die Sonne durch die bleifarbenen Wolken und lässt in ihrem Schein goldene Staubflocken über unseren Tisch im Hazelcup tanzen. Darren und Gemma diskutieren seit gefühlt zehn Minuten darüber, ob es verwerflich ist, seinen Kaffee mit Karamell-Sirup zu trinken – oder nicht. Darren hält es für eine Verschwendung von guten, ehrlichen Kaffeebohnen, wohingegen Gemma von der Vielfalt möglicher Aromen schwärmt, bis sie mitten im Satz verstummt.
»Was?«, fragt sie provozierend und neigt den Kopf zur Seite, während Darren sie mustert.
»Nichts«, behauptet er und kann ein Grinsen dann doch nicht unterdrücken. »Ich liebe nur einfach deine Leidenschaft. Egal, worum es geht.«
Gemma blinzelt ihn an, als hätte er sie vollkommen aus dem Konzept gebracht. »So?« Es wirkt, als wollte sie ihn für seine Äußerung aufziehen, stattdessen küssen die beiden sich dermaßen hingebungsvoll, als hätten sie vergessen, dass sie nicht allein sind. Und dass sie momentan quasi so etwas wie Personen des öffentlichen Lebens sind, da Darren kürzlich von seinem Dad einen enorm erfolgreichen Energiekonzern geerbt hat, der ihn zu einem der reichsten Jungunternehmer des Staates New York gemacht hat. Dass einer der begehrtesten Junggesellen der Stadt sich ausgerechnet in eine Schauspielstudentin und Internethexe verliebt hat, sorgte in den letzten Tagen für einige Schlagzeilen in den lokalen Medien. Aber der empörte Aufschrei enttäuschter Frauen ist von ihm ebenso abgeperlt wie das aktuelle Getuschel am Nachbartisch. Oder auch einfach die Tatsache, dass ich die beiden immer noch anstarre, weil ihr Anblick mich daran erinnert, wie perfekt und absolut heiß sich der Kuss mit Taro angefühlt hat.
Ich fahre erschrocken auf, als dieser mich sacht mit seinem Ellbogen anstößt. Allein seine Anwesenheit reicht aus, um meine Wangen zum Glühen zu bringen. Manchmal, wenn wir uns im selben Raum aufhalten, spüre ich ihn, als wären wir zwei Magnete, die einander anziehen. Wenn wir uns so nahe sind, wie in diesem Moment, habe ich das Gefühl, die Luft zwischen uns würde brennen. Daran hat sich in den letzten Monaten nichts geändert.
Ich habe seine Abfuhr akzeptiert, mich mit anderen getroffen – und trotzdem fühle ich diese unstillbare Sehnsucht tief in meinem Inneren. Einen Hunger, der sich nicht mit zwanglosem Sex stillen lässt.
»Blonder Typ, Nachbartisch«, flüstert Taro und nickt in Richtung der Sitznische uns gegenüber.
Irritiert folge ich seinem Hinweis und ertappe einen jungen Mann dabei, wie er mich mustert, dann angrinst.
»Er sieht dich schon die ganze Zeit sehr interessiert an«, sagt Taro leise und nippt schmunzelnd an seinem laktosefreien Erdbeermilchshake.
Obwohl ich gerade kein Interesse an unbedeutenden Flirtereien habe, schenke ich dem Fremden ein flüchtiges Lächeln und widme mich lieber wieder meinen Waffeln. Das warme, unbeschwerte Gefühl von eben ist augenblicklich verflogen, weil ich bereits eine dunkle Vorahnung habe, was Taro als Nächstes sagen wird. Missmutig zerteile ich das Gebäck in kleine Häppchen und zähle insgeheim die Sekunden. Eins. Zwei. Drei.
»Vielleicht solltest du …«, beginnt Taro und bringt mich dazu, abfällig zu schnauben.
Ganze drei Sekunden hat er es ausgehalten, bis er wieder damit anfängt. Ständig ermutigt er mich, auf andere Männer zuzugehen, als könnte mir das dabei helfen, meine Schwärmerei für ihn zu überwinden. Aber das tut es nicht.
»Ist es wirklich das, was du willst?« Gereizt sehe ich zu ihm auf und versuche, das Brodeln in meinem Inneren zu unterdrücken. Es gelingt mir nicht. Ich hasse das Gefühl, das Taros Vorschlag in mir auslöst. Diese Mischung aus Eifersucht, Wut und Ohnmacht, die nur er innerhalb von Sekunden in mir hervorrufen kann. Rational betrachtet klingt es albern, wenn Taros Vorschlag, dass ich mich mit einem anderen Mann unterhalten könnte, mich eifersüchtig macht. Aber so ist es, weil es bei mir den Eindruck erweckt, als wäre ich ihm egal. Ich weiß nicht, wie ich ihm jemals beschreiben soll, was ich für ihn empfinde. Dass es mir fremd ist und mir Angst macht, weil es so anders ist als die Verliebtheit, die ich in der Highschool für die Jungs vor ihm verspürt habe. Vielleicht will ich auch einfach nur zu sehr, dass meine Schwärmerei auf Gegenseitigkeit beruht, und dieses nagende Gefühl in mir ist gar keine Eifersucht, sondern verletzter Stolz. Manchmal fühle ich in Taros Nähe zu viel, um es einordnen zu können. Oder aber mein chaotisches Gefühlsleben weigert sich einfach, sich in Schubladen drängen zu lassen. Ich bekomme oft gesagt, was für eine überaus talentierte Schauspielerin ich bin, weil ich immer die Emotionen abrufen kann, die es gerade für meine Rolle braucht. Aber die Wahrheit ist: Ich fühle alles. Immer. Nur die meiste Zeit unterdrücke ich es, um eine Version von mir zu sein, mit der mein Umfeld hoffentlich zurechtkommt. Doch ab und zu, in Augenblicken wie diesen, kann ich mich nicht zusammenreißen. Ich will wissen – muss wissen –, was Taro wirklich denkt. Seine tadellose Fassade macht mich innerlich so wütend, dass ich eine emotionale Nadel brauche, um ihn zu piksen. Bloß ein wenig, um herauszufinden, ob er tatsächlich so schmerzresistent ist, wie er mich glauben lässt.
»Du möchtest also, dass ich zu dem jungen Mann hinübergehe und ihn auf einen Kaffee einlade?«, frage ich provozierend, da Taro noch immer nicht geantwortet hat.
In Seelenruhe nimmt er einen weiteren Schluck von seinem Shake, bevor er sich aufrichtet und mich mustert. In seinen hellgrauen Augen spiegeln sich so viele Emotionen wider, dass es mir unmöglich ist, sie zu greifen. Am Ende zuckt er mit einer Schulter. »Was ich will, spielt hier keine Rolle.«
Ich spüre, wie sich mein Puls beschleunigt. Vor Wut. Weil ich es hasse, wenn er solche Sachen sagt. »Was du willst, würde eine Rolle spielen, wenn du endlich mal mit der Sprache herausrücken würdest, was genau das ist.«
»Dass du tust, was dich glücklich macht«, entgegnet er leichthin. Doch die Weise, wie er die Zähne zusammenbeißt, bis ein Muskel in seiner Wange hervortritt, straft ihn Lügen. Seine ganze Körperhaltung wirkt sehr viel verkrampfter, als er mich glauben lassen will.
Mit einem resignierten Seufzen widme ich mich wieder meiner Waffel. Ich höre, dass Taro erleichtert ausatmet, und sehe aus dem Augenwinkel, wie er sich entspannt. Es war die richtige Entscheidung, sitzen zu bleiben. Das weiß ich spätestens, als er seinen Arm um meine Taille legt, als wollte er mir danken. Mein Körper honoriert die Geste mit einem Schwarm Schmetterlinge, der nicht nur durch meinen Bauch, sondern meinen ganzen Körper flattert. Für den Bruchteil einer Sekunde fühle ich mich wohl und geborgen. Ich wünschte wirklich, Taro würde mir einfach mal direkt sagen, warum er sich so widersprüchlich verhält. Ich musste für das Schauspielstudium bereits diverse Dramen lesen, doch nicht einmal deren Analyse hilft mir bei Taro weiter. Es ist ja nicht so, als hätte er mich geküsst und mir dann gesagt: Sorry, Hazel. Ich mag dich, aber ich bin einfach nicht gut für dich. – Oder was auch immer die Bad Boys in den Büchern für gewöhnlich von sich geben, um ja nicht mit ihrer schwierigen, wenngleich alles erklärenden Vergangenheit rauszurücken. Frei nach dem Motto: Ich will, dass du zu mir gehörst, doch ich bin nicht gut für dich, also stoße ich dich von mir und begründe mein widersprüchliches Verhalten erst dann, wenn uns meine finstere Vergangenheit in gewaltige Schwierigkeiten gebracht hat.
Es könnte sein, dass ich einige Geschichten dieser Art gelesen habe, weil Dark Romance mein Guilty Pleasure ist.
Ich glaube allerdings nicht, dass Taro als Love Interest für eine davon taugen würde. Soweit ich weiß, ist der dunkelste Punkt seiner Vergangenheit, dass seine Mom ihn als Säugling bei seinem Dad in New York abgegeben hat, weil sie ihre Freiheit brauchte. Woher ich das weiß? Von Gemma. Ich kenne Taro jetzt seit fast anderthalb Jahren, und er selbst hat seine Mom nie erwähnt. Kein. Einziges. Mal. Er hat nie mit ihr telefoniert. Mir nie Fotos von ihr gezeigt. Ich habe mich schon diverse Male bei dem Gedanken ertappt, dass es vielleicht an dem nicht vorhandenen Verhältnis zu seiner Mom liegen könnte, dass er keine Frau wirklich an sich heranlässt. Selbst Gemma nicht. Obwohl die beiden sich gut verstehen, lässt er sich von ihr nicht umarmen und wirkt immer, als wäre er auf dem Sprung, wenn sie Anstalten macht, ihn zu berühren. Rational betrachtet wäre es vielleicht leichter, Taro einfach Taro sein zu lassen und in sein Verhalten nicht allzu viel hineinzuinterpretieren, es ändert allerdings nichts daran, dass mein Herz einen anderen Takt anschlägt, sobald er mir in die Augen sieht.
Als ich ihn flüchtig anlächele und mich wieder meinen Waffeln widme, spüre ich seinen warmen Atem an meiner Wange, während er mir ein Wort zuflüstert.
»Danke.«
All meine Sinne richten sich auf die Stelle, an der seine Lippen beinahe mein Ohr berühren. Ein warmer Schauer durchläuft meinen Körper. Wahrscheinlich hat er ihn bemerkt, denn als ich den Kopf hebe und zu ihm aufsehe, liegt ein Funkeln in seinem Blick, das mich neugierig macht.
»Wofür bedankst du dich?«
»Dafür, dass du mich erträgst, obwohl du es nicht müsstest«, erwidert er so leise, dass Gemma und Darren es mit Sicherheit nicht hören.
Die Augenbrauen zusammenziehend schüttle ich den Kopf. Ist es das, was er denkt? Dass ich ihn gerade so ertrage, obwohl verlockendere Alternativen in Reichweite sind? Dass Gemma ihn nur deswegen erträgt, weil sie seine Schwester ist und sich quasi dazu verpflichtet fühlt? Wie ich seine Worte auch drehe und wende: Sie klingen vollkommen falsch.
»Ich verbringe gern Zeit mit dir«, ist alles, was mir spontan dazu einfällt. »Sehr gern sogar.«
Er öffnet den Mund, als wollte er etwas erwidern und belässt es dann doch bei einem unverbindlichen Lächeln. Es wäre ja auch zu schön gewesen, hätte er mir seine Gedanken anvertraut.
Für ein paar Minuten fühlt sich dieser Vormittag dennoch nahezu perfekt an. Die Waffeln sind ebenso lecker wie der Kaffee, Darren und Taro beschließen, demnächst gemeinsam zum Sport zu gehen, und Gemma und ich tauschen uns darüber aus, welche Kurse wir dieses Semester belegen wollen. Obwohl ich Darren kaum kenne, ist es ein entspannter Ausflug unter Freunden. Zumindest bis mir Taro eine Hand auf den Oberschenkel legt und aus »entspannt« »aufregend« wird. Es ist nur eine winzige Geste, die all meine Sinne erweckt. Sein Daumen reibt über meine Jeans, bevor er seine Hand langsam höher wandern lässt. Wie kann eine so harmlose Berührung sich dermaßen intensiv anfühlen? Ich erschaudere, als seine Hand auf die Innenseite meines Oberschenkels gleitet. Mir wird beinahe schwindelig vor Glück. Obwohl er mich nie auf eine ähnliche Weise berührt hat, überkommt mich ein vertrautes Gefühl.
»Déjà-vu«, murmle ich.
Als wäre dadurch ein Bann gebrochen, zieht Taro seine Hand zurück.
Gemma sieht mich fragend an, doch ich habe nur ein Schulterzucken für sie.
»Keine Ahnung, was mit mir nicht stimmt, aber ich habe momentan häufiger Déjà-vus. Vielleicht sollte ich mich mal durchchecken lassen.« Eigentlich soll es nur ein Scherz sein, doch Gemma wirkt aufrichtig besorgt.
Sie sieht Darren an, bevor sie mir ein Lächeln schenkt, das mich nicht überzeugt. »Man sagt, dass Déjà-vus Botschaften des Unterbewussten sind.«
»Und was sollen sie bedeuten? Dass ich Taro aus einem früheren Leben kenne?« Wieso sonst sollen mir Berührungen wie diese vertraut sein?
Ich bekomme keine Antwort mehr, denn just in der Sekunde betritt meine Cousine Aurora den Raum. Da in dem gut besuchten Café ständig Menschen ein- und ausgehen, wäre ihre Ankunft eigentlich keine Bemerkung wert, würden nicht sofort alle Blicke zu ihr gleiten. Es liegt nicht allein an ihrer makellosen Erscheinung oder der Tatsache, dass sie trotz Schneefalls High Heels trägt. Auch nicht an ihren perfekt frisierten Haaren, deren Volumen wirkt, als wären Schnee und Wind nur ein Mythos. Oh nein. Aurora hat einfach eine besondere Ausstrahlung. Jeder bemerkt ihre Anwesenheit, sobald sie sich nähert. Es ist schlichtweg unmöglich, sie zu ignorieren.
Aurora sieht sich so suchend um, dass ich mich dazu gezwungen fühle, ihr zuzuwinken. Als sie mich schließlich entdeckt, schenkt sie mir ein strahlendes Lächeln. Zumindest bis ihr Blick zu Taro gleitet, der sich sofort gerader hinsetzt. Ihre erhobenen Mundwinkel gefrieren zu einer grotesk emotionslosen Grimasse, während sie ihn mustert.
Zögerlich zieht er sich noch weiter von mir zurück. Wie gesagt: Es ist absolut ausgeschlossen, Aurora und ihren stummen Tadel nicht zu bemerken. Ich bereue es fast, meine Cousine hierher eingeladen zu haben, statt ihr einfach den dummen Schlüssel in den Briefkasten zu werfen.
Entschiedenen Schrittes kommt sie an unseren Tisch, stemmt eine Hand in ihre schmale Taille und macht mit der anderen eine auffordernde Handbewegung. Begrüßung? Fehlanzeige. Stattdessen zieht sie abfällig die Nase kraus, während sie zwischen Taro und mir hin und her sieht.
Instinktiv richte ich mich auf, hebe den Kopf und rolle die Schultern zurück, als könnte mich eine selbstbewusstere Haltung vor Auroras Unmut schützen. Ich weiß nicht, woran es liegt, dass allein ihre Präsenz dafür sorgt, dass ich mich klein und unbedeutend fühle.
»Du bist mehr als pünktlich«, ist alles, was mir zu ihrem Auftreten einfällt.
»Tatsächlich?« Sie schnaubt verächtlich und zieht eine Augenbraue hoch, während sie demonstrativ zwischen Taro und mir hin und her sieht. »Wenn du mich fragst, komme ich gerade noch rechtzeitig. Wenn nicht sogar schon zu spät.« Sie wiederholt ihre herrische Geste.
Ich habe keine Ahnung, was sie mir sagen möchte, aber jede Sekunde in ihrer Nähe erinnert mich daran, warum ich es vorziehe, ihr lieber aus dem Weg zu gehen. In der stillen Hoffnung, dass sie uns schnell wieder verlässt, suche ich ihren Schlüssel in meiner Tasche und höre im Geiste, wie Mom mich für meine Gedanken tadelt: Aurora ist deine Cousine. Ihre Mom ist die Schwester deines verstorbenen Dads. Sei nett zu ihr. Wir haben deiner Tante so viel zu verdanken.
Obwohl es das Letzte ist, was ich möchte, fühle ich mich dazu gezwungen, höflich zu Aurora zu sein.
»Möchtest du dich vielleicht kurz zu uns setzen?«, biete ich an. Wobei die Betonung auf kurz liegt.
»Nein«, sagt Aurora kalt.
Es soll mir recht sein, doch gerade als ich ihr den Schlüssel überreichen will, greift sie stattdessen unsanft nach meinem Handgelenk und zieht mich energisch auf die Füße. Vollkommen überrumpelt starre ich sie an.
»Wir gehen jetzt«, verkündet sie in einem Tonfall, der keinen Widerspruch zulässt.
»Wir? Warum?«, frage ich, statt mich zu erkundigen, was das eigentlich soll – ihr Auftritt, ihre befehlende Attitüde, diese Art, die Finger in meinen Unterarm zu bohren, als wäre ihre Hand ein Schraubstock. Doch zu meiner Schande klinge ich sehr viel weniger trotzig, als ich möchte. Im Gegenteil: Mein Tonfall ist eher unterwürfig, obwohl es Aurora ist, die gerade das Treffen mit meinen Freunden zerstört. Wieso fühle ich mich, als müsste ich ihrer Forderung Folge leisten? Ich hasse es, wie sie mir bei jeder Begegnung wieder das Gefühl gibt, ihre kleine, unbedeutende Cousine zu sein. Jemand, den man herumkommandieren kann, wie es einem beliebt.
»Wir zwei gehen jetzt, weil dein Dad bereits viel zu früh starb und ich die Ignoranz deiner Mom keine Sekunde länger hinnehme«, sagt Aurora ebenso entschieden wie kryptisch.
Was soll das für eine seltsame Antwort sein? Was haben denn bitte meine Eltern damit zu tun, dass sie mir keine Zeit mit meinen Freunden gönnt?
Als würde Gemma es genauso sehen, richtet sie sich auf und öffnet den Mund, um etwas zu sagen, doch verstummt unter Auroras zornfunkelndem Blick. Ich kann es verstehen. Auroras ganze Körpersprache signalisiert, dass sie keinen Widerspruch duldet. Also schiebe ich mir nur noch schnell ein Stückchen der köstlichen Waffel in den Mund, bevor ich meine Sachen greife.
»Wie du meinst, aber ich verstehe kein Wort«, murre ich und hoffe sehr darauf, dass sie mir erklären wird, was das alles bedeuten soll.
Meine missgelaunte Cousine macht auf dem Absatz kehrt und stürmt bereits zum Ausgang, während ich in meinen Mantel schlüpfe und meine Tasche schultere.
»Tut mir leid. Es war schön mit euch«, verabschiede ich mich rasch und zucke zusammen, als Aurora kurz vor der Tür meinen Namen ruft. Ihr Tonfall klingt, als wäre ich ein ungehorsamer Hund, der getadelt gehört. Auf dem Weg nach draußen gebe ich meinen Freunden zu verstehen, dass ich Darren sehr mag und Gemma nachher noch einmal schreiben werde. Für Taro habe ich aktuell nur ein hilfloses Schulterzucken übrig. Ich weiß beim besten Willen nicht, was Auroras Missbilligung soll.
Gemma schenkt mir einen Luftkuss. Er reicht mir, um sicher zu sein, dass sie mir meinen überstürzten Aufbruch nicht übel nimmt. Ich hingegen hätte von Aurora gern eine wirklich gute Erklärung für ihr Verhalten.
Ich versuche, meine Wut herunterzuschlucken, doch kaum stehe ich mit meiner Cousine auf der Straße vor dem Café, brechen die Worte einfach aus mir heraus.
»Was ist los mit dir? Was soll das?«, frage ich irgendwo zwischen verwirrt, enttäuscht und empört.
»Mit mir ist gar nichts los!«, antwortet sie entschieden. »Und mit dir bald noch viel weniger, wenn du dich nicht von diesem Kerl fernhältst. Ich fasse es nicht, dass deine Mom dir immer noch nicht die Wahrheit gesagt hat!«
»Die Wahrheit worüber?«, frage ich – jetzt eindeutig verwirrt. Was hat ihr Verhalten mit Taro zu tun? Was hätte Mom mir sagen sollen? Und noch viel wichtiger: Was ist mit meiner sonst so beherrschten Cousine los? Sie ist dermaßen in Rage, dass sie mitten in ihrer Schimpftirade nach Luft schnappen muss. Ich habe sie noch nie so aufgewühlt erlebt. Arrogant, überheblich, herrisch – das kenne ich alles von ihr. Aber wenn ich es nicht besser wüsste, würde ich sagen, dass unter all der Wut und der Aufregung so etwas wie Sorge in ihrem Blick aufblitzt.
Aurora atmet tief durch und streicht mit einer Hand durch ihre perfekt frisierten Haare. Sie sieht sich flüchtig um, bevor sie so nah an mich herantritt, dass ich die goldenen Sprenkel in ihren bernsteinfarbenen Augen zählen könnte. Erneut atmet sie tief ein und stößt die Luft durch die Nase aus. »Hazel, es tut mir leid, dir das mitteilen zu müssen, aber wir machen es wie bei einem Pflaster: kurz und schmerzlos. Du bist eine Sirene«, lautet ihre Erklärung für diese Szene.
»Eine was?« Ist das die neuste Art von Beleidigung? So etwas wie ein Pick-me-Girl? Jemand, der viel Geheul um nichts macht? Oder was soll das bedeuten?
»Eine Sirene. Deine Mom hätte dir das längst sagen sollen, und es ist mir absolut schleierhaft, warum sie es noch immer nicht getan hat, aber … Ich sehe bestimmt nicht weiterhin mit an, wie du dich vollkommen ahnungslos mit irgendwelchen Typen triffst und dein Leben ruinierst, nur weil sie nicht dazu in der Lage ist, die Wahrheit zu akzeptieren.«
»Die Wahrheit?«, wiederhole ich stumpf, weil ihre Worte mein Gehirn überfordern. Was meint sie damit, dass ich eine Sirene bin? Wie die in den Schauermärchen über Seefahrende, die von gruseligen Meerjungfrauen in ihr Verderben gestürzt werden? Ich meine, ich weiß mittlerweile, dass es Hexende gibt. Sicher. Gemma ist immerhin eine Hexe, daran besteht gar kein Zweifel. Aber Sirenen? Und warum sollte ich eine sein? Ich hatte nie das Bedürfnis danach, irgendwelche Menschen unter Wasser zu ziehen. Mir wachsen bei Wasserkontakt keine Fischflossen. Das Meer fand ich schon immer gruselig. Und wenn ich ehrlich sein soll, kann ich auch nicht besonders gut singen. Kurz: Alles, was sie sagt, ist absolut grotesk. Inklusive des Parts, in dem es mein Leben ruiniert, wenn ich auf Dates gehe.
»Es gibt Menschen, die alles leugnen, was sie nicht zunächst mikroskopiert, dokumentiert und katalogisiert haben. Deine Mom ist einer von ihnen. Aber ich kann dir versichern, dass auf dieser Welt mehr existiert, als du ahnst. Sehr viel mehr. Und manches davon könnte dich das Leben kosten. Obwohl ich bedaure, dass es so ist, doch der junge Mann in deiner Gesellschaft gehört dazu.«
Taro? Inwiefern sollte er mir gefährlich werden? Es ist egal, wie viele Wörter Aurora aneinanderreiht, ich bleibe bei meiner Behauptung: Keines davon ergibt für mich auch nur annähernd Sinn.
»Warum sollte Taro mich umbringen?« Während ich versuche, ihren Ausführungen zu folgen und sie irgendwie zu sortieren, ziehe ich den Mantel enger um mich.
In meinen Ohren redet Aurora ziemlich abstruse Sachen. Ich höre immer wieder die Worte Sirene, Gen, Mutation, Biochemie, sterben, Liebe aus ihrem Mund. Irgendetwas darüber, dass mein verstorbener Dad ein Triton war und ich mein Leben riskiere, wenn ich weiterhin dermaßen achtlos mit Menschen flirte. Dass ich Abstand zu Taro halten muss und akzeptieren soll, dass monogame Beziehungen mein sicherer Tod sind.
Am Ende ihres Vortrags habe ich nur eine Frage: »Hast du Drogen genommen?«
»Bitte, was? Hast du mir überhaupt zugehört?«, erwidert sie, statt mir zu antworten.
»Ich habe es versucht, aber genau das hat dazu geführt, dass ich mir gerade Sorgen um dich mache.« Ein Teil von mir zweifelt arg an ihrem Verstand. Sie kann das schlichtweg nicht ernst meinen.
Sie darf das nicht ernst meinen, korrigiere ich. Denn wenn irgendetwas davon wahr wäre … Wenn ich sterben würde, sobald ich mich verliebe … Ich müsste den Großteil meiner Zukunftswünsche begraben. Meine Gedanken zucken zu einem Journal in meiner Nachttischschublade. Es ist rot mit goldenen Monden darauf und beinhaltet meine Träume. All das, was ich für mein Leben manifestieren will: Ein liebevoller Mann, Kinder, Karriere, Sicherheit. Ich lasse mir meinen seit der Kindheit gehüteten Schatz nicht von Aurora aus der Hand reißen. Nicht einmal metaphorisch!
»Du redest Unsinn«, sage ich entschieden.
Aurora atmet ein weiteres Mal tief durch und sieht kurz strafend in den Himmel hinauf, als es zu schneien beginnt. Vermutlich weil das kühle Nass ihre Frisur ruiniert, aber mir könnte das Winterwetter gerade nicht egaler sein. Mehr als nur ein Passant hat uns einen sehr zweifelnden Blick zugeworfen, weil meine Cousine aufgebracht – und nicht unbedingt leise – ihre Verschwörungstheorien von sich gegeben hat.
Aurora spielt mit dem Autoschlüssel in ihrer Hand und mustert mich abfällig. »Hör auf, dich so hektisch umzusehen, als wäre es dir wichtig, was irgendwelche dahergelaufenen Leute von dir denken.«
»Vielleicht ist es mir aber wichtig? Ich ziehe es definitiv vor, für normal gehalten zu werden.«
»Hazel, du bist nicht normal. Nichts an dir ist es. Und das war es auch nie. Obwohl es eine Zeit in meinem Leben gab, in der ich es mir gewünscht hätte. Ich stehe nicht auf Konkurrenz – und je mehr es von uns gibt, umso größer ist die Gefahr, irgendwann entdeckt zu werden und aufzufliegen.«
Ungläubig starre ich sie an. Ist das ihr Ernst? Wütend öffne ich den Mund, doch mir fällt keine passende Erwiderung ein, die ich hinterher nicht bereuen würde, weil ich sie vor meiner Mom rechtfertigen müsste. Aurora hat leider die unschöne Eigenschaft, mit allem sofort zu meiner Mom zu rennen. Dass ich ihre vergangenen Gemeinheiten eventuell der Tatsache zu verdanken habe, dass sie irgendeine Art von Konkurrenz in mir sieht, macht es kein Stückchen besser.
»Lass uns dieses Gespräch woanders fortsetzen«, schlägt sie vor und klingt beinahe versöhnlich, während ich die Worte auf meiner Zunge herunterschlucke.
Ein letztes Mal schaue ich durch das Schaufenster ins Café und sehe meinen Freunden dabei zu, wie sie lachend den Rest meiner Waffeln essen. Es hätte ein so schöner Tag werden können. Und jetzt? Stehe ich stattdessen im Schnee auf dem zugigen Gehweg, lasse mich beleidigen und spüre fast so etwas wie einen Stich der Enttäuschung, weil die drei mich nicht zu vermissen scheinen.
Aurora folgt meinem Blick und schenkt mir ein bitteres Lachen, als würde die sich bietende Szene ihr irgendeine Art von Genugtuung verschaffen. »Sieh sie dir an. Glaubst du, sie vermissen dich? Auf mich wirkt es nicht so. Denkst du, dass sie dich überhaupt mögen? Aufrichtig und um deinetwillen? Oder ist der einzige Grund dafür, dass sie dich in ihrer Nähe wollen, dass du es dir so wünschst? Dass du sie manipulierst, um ihre Aufmerksamkeit und Zuneigung zu bekommen? Denn das ist es, was Sirenen tun: Wir suchen aus, wer uns Gesellschaft leisten darf. Wir sind die Hüterinnen des heiligen Vitamin B. Wer uns gefällt, dem öffnen wir Türen. So ungelernt wie du bist, musst du die drei nicht einmal absichtlich manipuliert haben, deine Freunde zu werden.«
»Wie meinst du das?«, frage ich verunsichert.
Manipuliert, es klingt ebenso widerwärtig wie falsch.
»So, wie ich es sage. Ich lebe auch in dieser Stadt, kleine Cousine. Zumindest zeitweise, aber das reicht, um aufzuschnappen, wer dieser Darren Hunter ist. Ebenso ansehnlich wie wohlhabend. Ich weiß, dass deine Freundin Gemma nicht nur irgendwie niedlich, sondern in den sozialen Medien sehr gefeiert ist. Sie sind Menschen, mit denen man sich gern umgibt, weil man sich erhofft, dass etwas ihres Erfolgs und Glamours auf einen abfärbt. Und was ist mit diesem Typen, der dich angeschmachtet hat, als ich hereinkam?«
»Taro? Was soll mit ihm sein?«
»Er ist offensichtlich attraktiv – und ebenso offensichtlich schlummert irgendetwas unter seiner Oberfläche, das er zu verbergen versucht. Das macht ihn mysteriös. Reicht das, um dein Interesse zu wecken?«
»Taro ist der Bruder meiner besten Freundin«, ist alles, was meinem überforderten Gehirn in den Sinn kommt. Was für eine lahme Erwiderung.
Sie schnaubt belustigt. »Deine beste Freundin? Wie habt ihr euch denn kennengelernt? Ist sie auf dich zugekommen, oder hast du den ersten Schritt unternommen? Hast du davon gehört, dass sie besonders – und vor allem online besonders beliebt – ist? Erschien dir ihre Zuneigung erstrebenswert, ja? Denn ich fürchte, dann beruht eure ach so innige Freundschaft allein auf den Gaben, die du seit Jahren verdrängst.«
Als ich Gemma zum ersten Mal in der Akademie getroffen habe, wusste ich doch gar nicht, wer sie ist. Ich fand sie nett. Das ist alles. Ich bin niemand, der seine Freunde nach Kontostand oder der Menge an Followern in Social Media auswählt. Meine Verwirrung schlägt erneut in Wut um, als ich mir der Bedeutung ihrer Worte bewusst werde. Für was für eine Art von Mensch hält sie mich bitte?
»So war es nicht! Ich bin auf Gemma zugegangen, weil sie neu in New York und dementsprechend eingeschüchtert war. Alles, was du sagst, ist komplett absurd!«, beharre ich. »Und wenn ich besondere Fähigkeiten hätte, würde ich sie garantiert nicht dafür einsetzen, dass mich irgendein reicher Typ zum Waffelessen einlädt!«
»Oh, natürlich würdest du das nicht. Du bist schließlich eine Heilige. Diese Rolle beherrschst du perfekt. Weißt du: Deine Mom ist so lieb, mir regelmäßig von deinen Erfolgen zu erzählen. Du hast letztes Semester also schon wieder die Hauptfigur im Theaterstück deiner Akademie verkörpert? Oh, herzlichen Glückwunsch, Hazel. Wie wundervoll.« Sie klatscht ohne Elan, einfach nur, um sich über mich lustig zu machen. »Ein weiteres Engagement, das du aufgrund deiner verdrängten Fähigkeiten ergattern konntest.«
»Ist dir mal in den Sinn gekommen, dass ich vielleicht einfach fleißig bin? Ich habe mir Nächte um die Ohren geschlagen, um die Texte auswendig zu lernen. Ich habe mir jede einzelne Rolle verdient«, sage ich mit Nachdruck und bringe Aurora erneut zum Lachen. Es ist ein Laut so hoch und falsch, dass er in den Ohren klirrt. Es fühlt sich an, als wäre ihr Hohn ein weiteres Messer, mit dem sie auf mich einsticht. Jede ihrer Beleidigungen hinterlässt eine Wunde: Du manipulierst deine Freunde. Du willst nur, dass ihr Ruhm auf dich abfärbt. Du spielst die Heilige. – Aber so bin ich nicht. Ich bin … Ich weiß es nicht. Mein Kopf fühlt sich wie leer gefegt an. Da sind nur noch Auroras Beleidigungen, die von den Wänden meines leeren Ichs widerhallen und ein endloses Echo ergeben.
»Ich habe keine besonderen Fähigkeiten«, sage ich, als könnte ich damit den Spottgesang in meinem Kopf zum Schweigen bringen.