Erhalten Sie Zugang zu diesem und mehr als 300000 Büchern ab EUR 5,99 monatlich.
Gleichnisse und Metaphern über Weinberge und Weinbereitung sind nicht neu. Sie helfen, andere und ungewohnte Beziehungen herzustellen, und führen mitunter zu erhellenden Perspektiven und Erkenntnissen. Die Verbindung von Wein und Coaching eröffnet gleich für beide Bereiche neue Dimensionen: ● Wer oder was bestimmt eigentlich einen angemessenen Preis des Weines oder des Coachs, wie alt sollten beide bestenfalls sein? ● Welche gemeinsamen Elemente verbinden den Coachingprozess und die Weinbereitung? ● Haben Coaching und Weingenuss überhaupt etwas mit Gesundheit zu tun? ● Ist es ein Zufall, dass der Beginn des biologischen Weinbaus mit dem Beginn der neuen Psychiatrie, Psychopathologie und Psychotherapie zusammenfällt? Dass beide Strömungen nahezu gleichzeitig das gesteigerte Interesse der chemischen Industrie erfuhren (Stichworte Ritalin und Glyphosat)? ● Lassen sich aus der Diskussion über die Züchtung resilienter Weinstöcke Hinweise auf die Probleme des psychologischen Resilienzbegriffs ableiten? ● Und was ist häufiger: die Zahl der Weinirrtümer oder die Irrtümer über theoretische Vorannahmen zum Coachingprozess? Karl Ludwig Holtz, Coach und Winzer mit jeweils jahrzehntelanger Erfahrung, wirft auf humorvolle Weise und zugleich enorm kenntnisreich Fragen auf, die sich am besten bei einem guten Glas Rotwein besprechen lassen. Aber – was ist guter Rotwein?
Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:
Seitenzahl: 312
Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:
Für Tante Klaraund alle, die ihre Vorliebe für Sprücheund Geschichten geerbt haben.
Karl L. Holtz
DER COACH IM WEINBERG
2021
Umschlaggestaltung: Heinrich Eiermann
Umschlagfoto: © kishivan – stock.adobe.com
Redaktion: Dr. med. Nicola Offermanns
Satz: Nicola Graf, Freinsheim, www.nicola-graf.com
Printed in Germany
Druck und Bindung: CPI books GmbH, Leck
Erste Auflage, 2021
ISBN 978-3-8497-0403-2 (Printausgabe)
ISBN 978-3-8497-8337-2 (ePUB)
© 2021 Carl-Auer-Systeme Verlag und Verlagsbuchhandlung GmbH, Heidelberg
Alle Rechte vorbehalten
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
Informationen zu unserem gesamten Programm, unseren Autoren und zum Verlag finden Sie unter: www.carl-auer.de.
Wenn Sie Interesse an unseren monatlichen Nachrichten haben, können Sie dort auch den Newsletter abonnieren.
Carl-Auer Verlag GmbH
Vangerowstraße 14 • 69115 Heidelberg
Tel. +49 6221 6438-0 • Fax +49 6221 6438-22
PROLOG
WIE ALLES ANFING: DER BAUM DER ERKENNTNIS
WAS LÄSST SICH ÜBER WEIN UND COACHING SAGEN?
Was ist denn Wein und was ist eigentlich ein Coach?
Supervision und Coaching sind Beratungsformen im beruflichen Kontext
Was ist ein guter Coach? Und ein guter Wein?
Wie teuer darf ein Wein sein? Was darf Coaching kosten?
Wie alt darf ein Wein sein? Und wie alt ein Coach?
Designerwein und Selbstoptimierung
WEIN, COACHING UND GESUNDHEIT
The French paradox
Wer heilt, hat recht? Arnau de Vilanova
Wie schaffe ich nun den Übergang zur Coaching-Szene?
Ein Selbstversuch: »Arnau und Milton«
DER COACHING-PROZESS – DIE WEINPRODUKTION
Der Weinberg
Terroir und System
Planung und Visionen – die Pflege des Weinbergs
22 Regeln zur Pflege des Weinbergs aus dem Tractatus vini
Die Sache mit dem Unkraut – wer definiert was?
Stress, Resistenz und Resilienz
Resistenz und Resilienz im Weinbau
Stress, Resilienz und Burn-out
Cui bono?
Zurück zu den Wurzeln
Im Weinkeller
Cuvée or not Cuvée
It’s simple but not easy – der lange Weg zum Genuss
Ab in den Keller
DIE WEINPROBE
Probieren und Studieren
Soll man es also lassen?
Welcher Wein für welche Kunden?
Welches Coaching für welche Kunden?
Im Wein liegt Wahrheit – aber welche?
Ein mögliches Modell und seine Faustregeln
Die Repräsentationsheuristik
Verfügbarkeitsheuristik
Der Pathologie-Bias in der Praxis
Neugier ist gut beim Probieren (und Studieren)
Wie viele Weintrinker können nicht irren?
Bullshit
EPILOG
LITERATUR
ÜBER DEN AUTOR
Diese Aussage meiner Tante Klara kam mir wieder in den Sinn, als ich über das Thema Wein und Coaching nachzudenken begann. Damals, ich war noch klein, haben mir die Aussagen meiner Großtante nicht so imponiert. Ich war noch zu jung, um die tiefere Bedeutung ihrer Sprüche angemessen zu würdigen.
»Wer die Form beherrscht, darf sich darüber hinwegsetzen«, sagte sie beispielsweise. Ich war damals genervt, meinte sie doch vor allem meine Tischgewohnheiten. Aber heute zitiere ich diese Aussage gerne – vor allem, wenn ich unseren Ausbildungsteilnehmern nahelegen möchte, dass ein gewisses strukturiertes Vorgehen im Beratungs-, Supervisions- oder Coachingprozess hilfreich dafür sein kann, den Kopf für wichtigere Kommunikationsaspekte frei zu haben. Ja, ich zitiere sie so häufig, dass ich wiederholt gefragt werde, ob es die Tante Klara denn wirklich gegeben habe.
Also, ich war zu jung, um damals auf das erstgenannte Zitat angemessen einzugehen. Wie gerne hätte ich aus heutiger Position mit ihr darüber diskutiert, ob es nun erkenntnistheoretisch alles oder gar nichts gibt. Ich finde wenige Gesprächspartner, die mir heute darüber erschöpfend Auskunft geben können. Aber wenn sie den Titel dieses Buchs lesen, haben sicher viele seufzend diesen Spruch auf den Lippen: »Es gibt nichts, was es nicht gibt!« Und sie würden noch deutlicher ein »Auch das noch« anhängen, wenn sie durch den Titel angeregt mal das Internet zum Thema Wein und Coaching bemühen. Und wenn sie daraufhin die Definitionen von Coaching aufrufen würden, hätten sie schon eine Erklärung: »Kein Wunder, bei der Vielzahl an Definitionen – mit Coaching geht ja wohl auch alles.« Das ist erkenntnistheoretisch natürlich eine andere Frage als die, ob es alles gibt.
Und ich muss erklären, dass ich mit der Auswahl dieses Themas nicht der Beliebigkeit das Wort reden, sondern auf ein paar interessante Zusammenhänge hinweisen möchte.
Ich muss vorausschicken: Ebenso lange, wie mich Coaching fasziniert, bin ich in meinem Weinberg in Südfrankreich unterwegs. Ich musste, so will es das europäische Gesetz, vor einigen Jahren einen Sachkundenachweis für meine Qualifikation als Winzer vorlegen. Für meine Ausbildung zum Coach gab und gibt es noch kein Gesetz. Ferner will ich hier nicht diskutieren, welche Weiterbildung und Zertifizierung anspruchsvoller war. Da beides aber nahezu parallel verlief, war ich mir manchmal nicht sicher, aus welchem Tätigkeitsbereich die Erkenntnisse stammten, die mich professionell und privat weiterbrachten. In der Nachbetrachtung stellte ich Analogien her, häufiger jedoch wurden durch den einen Bereich Suchprozesse ausgelöst, die sich im anderen niederschlugen. Häufig musste ich ob einer neuen Zusammenschau schmunzeln.
Es war, als ob ich einen guten Witz verstanden hatte bzw. in bestem Metaphernverständnis ein Aha-Erlebnis gehabt hatte, indem zwei Gegenstandsbereiche, die ursprünglich nichts miteinander zu tun hatten, sich zu einer neuen Erkenntnis zusammenfanden. Mir schien, als ob mir je nach Schwerpunktsetzung mal Sachverhalte über den Prozess der Weinbereitung, mal über die des Coachingprozesses vertrauter wurden. Es waren manchmal triviale, manchmal skurrile Zusammenhänge, aber wenn sie mir in Erinnerung blieben, waren sie für mich immer bedeutsam.
Meine Hoffnung ist, dass Sie als Leserin und Leser zumindest einige der Parallelen nachzeichnen und damit sowohl ihr Wissen über den Wein als auch über das Coaching vertiefen können. Ich hoffe, dass Sie sich darauf einlassen können. Was mir Zuversicht gibt, ist die Vermutung, dass sich wohl kaum einer ein Buch über »Kartoffeln und Supervision« zugelegt hätte. So sehr ich den Landwirt und seine schwere Arbeit achte und manchmal mit ihm leiden kann, hätte ich mir nie einen Kartoffelacker zugelegt. Vielleicht liegt es daran, dass die Arbeit im Weinberg ja eh schon metaphorisch vorbelastet ist. Und Coaching macht mir aufgrund seiner vielfältigen Variationen und Kontexte schlichtweg mehr Spaß als Supervision. Aber der Kartoffelacker ist schon der schwerwiegendere Grund.
Es wäre mir nun nicht recht, wenn man mir nach dem Gesagten die Auffassung unterstellte: Supervision verhält sich zum Coaching wie der Kartoffelacker zum Weinberg. Das habe ich nicht gemeint – obwohl man andererseits auch über diese Aussage nachgrübeln kann und ich schon deutlich unpassendere Vergleiche gehört habe.
Die Geschichte, die Lucas Cranach hier illustriert, ist eigentlich bekannt. Aber es scheint einige neue Erkenntnisse zu geben, dass sie sich nicht unbedingt so wie gemeinhin überliefert zugetragen haben muss. Es ist nach neueren Erkenntnissen nicht unwahrscheinlich, dass Adam und Eva über die paradiesischen Streuobstwiesen gegangen sind und Obst aufgelesen haben, das sich schon in einem fortgeschrittenen Gärungsprozess befunden hat. Die Erkenntnis lag auf der Hand: Wenn uns ein höheres Wesen schon so ausgestattet hat, dass wir Neues ausprobieren und uns daran ergötzen können, dann lass uns doch sesshaft werden und die damit verbundenen Bewusstseinsprozesse kultivieren. (Dass auf dem Bild schon ein erster Coach auftaucht, wird uns weiter unten beschäftigen.)
Eine solche Interpretation legt der US-Archäologe McGovern nahe. Unsere Vorfahren verspürten die ungewöhnliche und wohl nicht unangenehme Wirkung des Alkohols im Blut und kamen zur Erkenntnis: Mehr davon! Sie antizipierten somit einen der zentralen Grundsätze des lösungsfokussierten Ansatzes von Steve de Shazer: »Wenn etwas funktioniert, mach mehr davon!« Dies war die Triebfeder – so McGovern, ein Nachfahre trinkfester Iren –, dass die ersten Menschen sesshaft wurden, um so besser für Nachschub sorgen zu können:
Abb. 1: Adam und Eva im Paradies (Ausschnitt), Lucas Cranach d. Ä., 1530, Kunsthistorisches Museum, Wien
»Energiereichen Zucker und Alkohol in sich hineinlaufen zu lassen war eine fabelhafte Lösung, um in einer feindlichen und rohstoffarmen Umgebung zu überleben. (…) Die vorhandenen Indizien deuten darauf hin, dass unsere Vorfahren in Asien, Mexiko und in Afrika Weizen, Reis, Mais, Gerste und Hirse vor allem kultivierten, um alkoholische Getränke zu produzieren«
(McGovern 2007, S. 14).
Dies war die neolithische Revolution, die rund 11.000 v. Chr. begann. Und da die Herstellung von Getreide und von Bier doch ein recht komplizierter Vorgang war und sich gärendes Obst einfacher aufbereiten ließ, spricht einiges dafür, dass weinähnliche Getränke schon relativ früh zur Verfügung standen. McGovern fand in der neolithischen Ausgrabungsstätte Hadschdschi Firus Tepe im Zagros-Gebirge im Nordwesten Irans vorzeitliche Weinregale mit luftdicht verschlossenen Karaffen. Bereits damals wurde dem Getränk das Harz der Pistazie zugesetzt. Dies dürfte eine antibiotische Wirkung gehabt haben und wurde somit auch zu medizinischen Zwecken eingesetzt. Schon früh haben Menschen also die präventive wie kurative Bedeutung alkoholischer Getränke erkannt, und so verwundert es nicht, dass Ausbau wie Distribution von Schamanen und Dorfalchimisten verfeinert wurden.
Und da Letztere neben ihrer medizinischen Kompetenz auch ihre beraterischen Angebote gemacht haben dürften, können wir weiter spekulieren, dass auch damals schon im Kontext berauschender Getränke die ersten Coachs ihre professionellen Nischen suchten. Deren Intention lautete möglicherweise: Probiert doch mal was Neues aus, wenn das Bisherige unbefriedigend oder schädlich war (s. de Shazers weitere Maxime); traut euch doch, euch eures eigenen Verstandes zu bedienen. Diese Intention schien in ihrer Ambivalenz und mit dem innewohnenden Risiko ja auch das Vor-Bild der Schlange im cranachschen Paradiesgarten zu bestätigen. Schamanen, Medizinmänner und Coachs waren in der Folgezeit dafür verantwortlich, einen geschützten Rahmen anzubieten, in dem sich das Risiko des Neuen moderieren ließ. Das Erbe paradiesischer Streuobstwiesen lastet auf der Menschheit. Es ist zumeist gut, wenn immanentes Erkenntnisstreben moderiert wird. »Für unsere frühen Vorfahren war moderater Alkoholkonsum von Vorteil, und sie haben sich biologisch daran angepasst«, vermutet McGovern (ebd.). Aber die paradiesischen Streuobstwiesen boten noch weitere Früchte der Erkenntnis. Nicht nur die Weinbranche, auch das Coachinggewerbe profitierte von den sich darin abzeichnenden Ambivalenzen.
Aber ist es nicht ein bisschen weit hergeholt, in dem von uns nachgezeichneten Mythos die Schlange mit dem Coach in Verbindung zu bringen? Beruhigen wir uns: In vielen Mythen, und schon gar in dem hier angesprochenen ist vieles weit hergeholt, und die Deutungen der Geschichte über den paradiesischen Verlust spiegeln seit Jahrtausenden die Interessen derjenigen wider, die um eine Deutungshoheit bemüht waren. Der hebräische Begriff amrun, mit dem die paradiesische Schlange charakterisiert wurde, bedeutet zunächst »klug«. So, wie sie geschaffen wurde, war sie nicht nur eines der intelligentesten Tiere, sondern sie besaß auch die Fähigkeit, ruhig zu verharren und abzuwarten, bis ein ihr zusagendes Subjekt vorbeikam. Sie war, wie die Katze und andere Spezialisten, nicht darauf angewiesen, sich ständig an die sich verändernde Umwelt anzupassen und unterwegs zu sein. Sie wartet ab und beobachtet, was ihr Klientel eigentlich will, und ihre Spezialisierung liegt darin, im günstigen Augenblick günstige Fragen zu stellen, und das heißt zumeist solche Fragen, die den Klienten in seinem Erkenntnis- und Entwicklungsgewinn weiterbringen. Hierbei vermeidet sie Ratschläge, weil sie weiß, dass dies die sicherste Methode ist, um die Veränderungsbereitschaft zu bremsen. Und wie macht sie das? Sie stellt zunächst einmal Fragen – möglichst keine geschlossenen, also Ja-/Nein-Fragen wie der Berufsstand der Sportjournalisten (»War es ein gutes Gefühl, dass Sie und Ihre Mannschaft diesmal alle Vorgaben Ihres Trainers umsetzen konnten?«). Im biblischen Beispiel fragt sie: »Ja, sollte Gott gesagt haben: Ihr sollt nicht essen von den Früchten der Bäume im Garten?« Es ist eine Frage, die nicht »zu« macht, sondern eine, die Suchprozesse auslöst. Und so antwortet Eva: »Wir essen von den Früchten der Bäume im Garten; aber von den Früchten des Baumes mitten im Garten hat Gott gesagt: Esst nicht davon, rührt’s auch nicht an, dass ihr nicht sterbt.« Und schon hat die Schlange den Fuß in der Tür. Sie kann zurückfragen: Was ist denn damit gemeint? Und sie gibt die kleine Hilfestellung durch ein alternatives Deutungsmuster: »Ihr werdet mitnichten des Todes sterben; sondern Gott weiß, dass, welches Tages ihr davon esst, so werden eure Augen aufgetan, und werdet sein wie Gott und wissen, was gut und böse ist« (1. Buch Moses, Kap. 3, Vers 5).
Ach so ist das, denkt Eva, und schon sieht sie das Ganze anders, nämlich »dass von dem Baum gut zu essen wäre und dass er lieblich anzusehen und ein lustiger Baum wäre, weil er klug machte«. Die Folgen dieser Intervention sind bekannt und gewaltig, sodass später einige Exegeten vom Urknall sittlicher Autonomie (Dohmen 1998, S. 268) sprechen werden. Unsere Vorfahren erkannten nicht nur einander, sie machten sich auch auf den Weg, mit der erworbenen Erkenntnis von gut und schlecht zu einer eigenverantworteten Lebens- und Wirklichkeitsgestaltung zu gelangen.
Nun ist es klar: Der Mensch kann sich nicht mehr ethisch gleichgültig verhalten, er muss zwischen Handlungsalternativen wählen und entscheiden.
Es war also eine kluge Intervention der Schlange, nicht nur für die eigene berufliche Zukunft, indem sie in der Folgezeit vor allem von denen als (hinter)listig und »des Satans« bezeichnet wurde, denen die Entwicklung der Menschen zu reflexiven und autonomen Wesen suspekt vorkam.
Wir sollten annehmen, dass der Schlange die Ambivalenz künftigen menschlichen Handelns bereits bewusst war. Zum Menschenbild beraterischen Handelns gehörte schon 1000 Jahre vor unserer Zeitrechnung, dass der aus seiner Unmündigkeit entlassene Mensch »selbst das Förderliche« seines »eigenen Lebens bestimmen« wollte »und scheinbar auch« konnte, aber damit zumeist auch frei war, »Minderungen des eigenen Lebens und Schädigungen des ihm verbundenen Lebens heraufzuführen« (Steck 1970, S. 107).
Und so sind wir wieder bei der Verantwortung für uns und unsere Umwelt und natürlich auch beim verantwortlichen Umgang mit den Weiterentwicklungen der ersten, vergorenen Früchte von den Streuobstwiesen unserer Erkenntnis.
Es bliebe noch nachzutragen, dass es vermutlich keine Äpfel waren, sondern, so auch die Erkenntnis von McGovern, gärende Feigen. Auch das mit der Erkenntnismöglichkeit von Gut und Schlecht in Zusammenhang gebrachte Feigenblatt spricht dafür. Und natürlich sollten wir nachtragen, dass die Schlange wohl auch dazu beigetragen hat, mit den zunehmend komplexeren Entscheidungen der Menschen ein – wenn auch bis heute noch nicht präzise herausgearbeitetes – Berufsbild von Helfern und Unterstützern ins Gespräch zu bringen.
Aber: Wie sich alkoholische Getränke voneinander unterscheiden und zu unterscheiden haben, ist heutzutage präzise festgelegt. Wie diese für die Autonomie und Entscheidungsfreiheit, für die Unmündigkeit und Selbstzerstörung des Menschen verantwortlich sind, wird eingehend erforscht. Der Aufgabenbereich und die Funktion unterschiedlicher Hilfesysteme im Beratungskontext sind demgegenüber noch sehr vage und aufgrund häufig nicht nachvollziehbarer Kriterien definiert. Von daher können wir bisher von Wirksamkeitsstudien auch nicht viel erwarten. Wer sich Wein nennen darf, wissen wir inzwischen – wer sich Coach nennen sollte, nicht.
Eine überflüssige Frage? Der Weinliebhaber wird sagen: »Sicher nicht, denn ich möchte beim Kauf einer Flasche Wein Hinweise darauf haben, auf was ich mich einlasse.« Und in der Regel weiß er, welche Informationen für ihn wichtig sind. Er möchte sicher sein, dass in der Flasche, deren Etikett ihm Wein verspricht, auch tatsächlich Wein enthalten ist. Und wenn das Produkt einmal nicht den Vorschriften und den damit verbundenen Erwartungen entspricht, wird er sich zu Recht getäuscht fühlen und erwarten, dass ein bewusstes Abweichen von den wohldefinierten Kriterien auch entsprechend sanktioniert wird.
Es kommt weniger darauf an, wie kreativ das Etikett gestaltet ist, sondern eher darauf, wie der Wein ausgebaut wurde. Für die Geschmackserwartungen kommt es weniger darauf an, wie vollmundig oder blumig der Wein genannt wird, sondern darauf, welche Rebsorten oder auch welcher Alkoholgehalt enthalten sind. Es gibt viele Kriterien, nach denen sich ein Weinkenner richten kann, einige Informationen dazu sind auf der Flasche enthalten, andere kann man online erfragen, wieder andere kann er mit dem Weinhändler seines Vertrauens diskutieren.
Natürlich wird es Abweichungen geben: Weine müssen nicht immer sortentypisch sein, ein hoher Alkoholgehalt kann durch die anderen Inhaltsstoffe des Weines eingebunden sein. Ein kreativer Ausbau kann zu überraschend interessanten, wenn auch nicht erwartungskonformen Ausprägungen führen. Aber: Im Allgemeinen kann man sich auf die Auszeichnungen verlassen, wenn man sich ein wenig mit der Materie vertraut gemacht hat.
Das bedeutet nun nicht, dass eindeutig benannte Weine auch allen Kennern gleich schmecken müssten. Es gibt Vorlieben, Vorerfahrungen und Kontexte, welche die Beurteilung des Weins sehr stark beeinflussen. Und es gibt natürlich subjektive Voraussetzungen, die auch bei Weinkennern, etwa bei Blindverkostungen von Experten, zu sehr unterschiedlichen Aussagen hinsichtlich der Qualität führen. Dazu später mehr.
Die Frage danach, was denn eigentlich ein Coach ist, lässt sich demgegenüber viel schwerer beantworten. Wenn wir sagen, ein Coach ist jemand, der coacht, dann stimmt das zunächst, ist aber eine Tautologie. Und selbst, wenn wir jetzt wüssten, was Coaching ist, müssten wir uns darauf einigen, ob jeder, der coacht, ein Coach ist, oder ob wir unter dieser Bezeichnung für unsere Zwecke den professionellen Coach meinen, also jemanden, der zu dieser Tätigkeit eine spezielle – möglichst wissenschaftlich fundierte – Qualifikation mitbringt und diese auch in einem professionellen Rahmen umsetzt. Ein Coach wäre also jemand, der unter bestimmten Voraussetzungen in einem näher zu definierenden Kontext coacht.
Ansonsten könnten wir in freier Abwandlung der Aussage »Intelligenz ist das, was ein Intelligenztest misst« zunächst einmal festhalten: Coaching ist das, was ein Coach tut. Und so, wie die Aussage zur Intelligenz darauf verweist, dass es unzählige Theorien und Definitionen von Intelligenz gibt, die jeweils in dem zugehörigen Intelligenztest erfasst werden, so könnten wir uns damit zufriedengeben, dass es eine Vielzahl von Coachinganlässen und -strategien gibt, die durch den jeweiligen Coach und seine Theorie von Coaching vorgegeben werden.
Aber ebenso, wie die obige Aussage zur Intelligenz hinterfragt werden muss, ist natürlich auch die Tätigkeitsbeschreibung eines Coachs nicht willkürlich. In der Intelligenzforschung hat man sich auf eine Reihe übereinstimmender Kernthesen einigen können, zur wissenschaftlichen Standortbestimmung des Berufsbildes Coach ist eine Zusammenschau wesentlicher Merkmale dringend erforderlich.
Die gegenwärtige Situation ist dadurch gekennzeichnet, dass es mindestens so viele Coachingkontexte wie Weinlagen zu geben scheint: Frisurencoachs, Tanzcoachs, Lerncoachs, natürlich den Sportcoach, den Gesundheitscoach, den Mentalcoach usw.
Jede Definition über das, was Coaching ist, ist ja nicht nur ein Streit über Worte, jede Definition ist als Aussage darüber zu verstehen, was zu dem Begriff gehört und was nicht, welche Merkmale unabdingbar und welche marginal sind. Definitionen sind also als Versuch zu verstehen, eine Theorie darüber zu formulieren, was denn eigentlich der Fall ist. Diese Definitionen sind per se nicht richtig oder falsch, sie sind als Einladungen von Definierern oder Theoretikern zu verstehen, empirische Sachverhalte mal unter einer bestimmten Fragestellung und in dieser Zusammenschau zu sehen. Manchmal – ja: häufiger, als man annehmen sollte – sind solche Einladungen auch werbewirksame Angebote, gewissermaßen zu einer (theoriegeleiteten, erkenntnisleitenden?) Tupperware-Veranstaltung. Die Wissenschaftstheoretiker nennen so etwas dann interessenbezogene, persuasive Definitionen (Gabriel 2004). Diese sind im Übrigen in der Definition von Weinen seit einiger Zeit untersagt (»Gesundheitswein«, »für Diabetiker geeignet« etc.).
Gesundheitsbezogene Angaben müssen bei alkoholischen Getränken mit Inkrafttreten der sog. Health-Claims-Verordnung (HCVO) entfallen. Für Getränke mit einem Alkoholgehalt von mehr als 1,2 Volumenprozent dürfen nach Art. 4 Abs. 3 der HCVO überhaupt keine gesundheitsbezogenen Hinweise angegeben werden.
Bei all der Vielfalt unterschiedlicher Sorten und Ausbaumethoden gibt es für Wein ein zentrales Definitionsmerkmal:
Wein ist ein Getränk, das von Früchten der Weinrebe stammt und laut EU-Gesetzgebung mindestens 8,5 Volumenprozent Alkohol enthält. Hierzu zählen auch Variationen wie Likörwein, Schaumwein und noch nicht ausgegorene Neue Weine (Federweißer), nicht aber per definitionem Obstweine (weinähnliche Getränke) oder weinhaltige Getränke (Weinschorle, Sangria). Getränke, die aus stärkehaltigen Grundstoffen vergoren werden (z. B. Reiswein), dürfen noch nicht einmal als weinähnlich bezeichnet werden.
Wenn man also von Wein spricht, weiß man auch, worüber man spricht. Und das Wissen um einen Sachverhalt soll förderlich für den tagtäglichen Diskurs sein.
Gibt es nun auch solche zentralen, unabdingbaren, für eine Definition des Coachings notwendigen Merkmale – möglichst solche, die auch von anderen Formen unterstützenden Handelns verschieden sind? Wie unterscheidet sich Coaching von Supervision, Beratung, Therapie oder Begleitung? Ist Coaching dasselbe wie Beratung und Supervision (als Beratung im beruflichen Kontext), nur teurer, weil u. a. Führungskräfte und Experten am Werk sind? Und wenn der Vater seinen Sohn als Lerncoach coacht, kann er das eigentlich nur tun, wenn er in seinem Zögling eine künftige Führungskraft sieht? Denkt das Bildungsministerium Baden-Württemberg daran, im Ländle eine künftige Führungselite und Experten zu bilden, wenn sie Lehrern die Funktion von Lerncoachs zuweist?
Gibt es dann, wenn man sich auf eine trennscharfe Definition des Coachings geeinigt hat, in Analogie zur Weinsystematisierung auch so etwas wie
▸
Coaching im weiteren Sinne
▸
coachinghaltige Strategien
▸
coachingähnliche Strategien und dann noch
▸
Kriterien, wann Interventionen nicht mehr als Coaching bezeichnet werden sollten?
Und vor allem ist die Frage interessant: Warum gibt es diese klaren Kriterien beim Wein, aber noch nicht beim Coaching?
Man kann vermuten, dass es mit der längeren Tradition des professionellen Weinbaus zusammenhängt. Wird ein Metier professionell betrieben, hat der Erzeuger auch ein Interesse daran, auf dem Markt zu bestehen. Und das schafft man dadurch, dass man sich qualitativ abgrenzt, also die Unterschiede zu anderen betont. Diese Betonung der Unterschiede hat im Weinbau sicherlich dazu geführt, dass Qualitätskriterien diskutiert, Unterschiede analysiert wurden und mit dieser Diskussion auch eine wissenschaftliche Erforschung relevanter Merkmale einsetzte. Das Ergebnis dieser langen Tradition kann sich sehen lassen: Aus dem unspezifischen Getränk Wein wurden qualitativ unterschiedliche Weine, Tafelwein, Landwein, Qualitätswein einerseits, aber auch eine selbstbewusste Darstellung unterschiedlicher Qualitäten in den verschiedenen Anbauzonen, die nebeneinander bestehen konnten und Angebote für individuelle Vorlieben und Anlässe machten. Aus dem Entweder-oder wurde so nach und nach ein Je-nachdem. Natürlich spielten hier auch geschicktes Marketing und ein Bestreben nach Manipulation des Publikumsgeschmacks mit. Mosel- und Bordeaux-Weine sind unvergleichbar und können unvergleichlich gut sein, beide beziehen sich auf notwendige Merkmale, was einen guten Wein ausmacht. Die wissenschaftliche Begleitung der Weinwirtschaft hat entscheidend zu dieser kontrollierten Vielfalt beigetragen, aber man muss sich dessen bewusst sein, dass es auch in der Wissenschaft keine »unbefleckte Erkenntnis« (Nietzsche) gibt.
Jede Definition will ja nicht die wirkliche Wirklichkeit beschreiben, sie ist vielmehr als eine Einladung eines Wissenschaftlers zu verstehen, ihm bei seiner Zusammenschau empirischer Sachverhalte, seiner Theorie, zu folgen. Diese Definition und die damit verbundene Theorie ist ein möglicher Ordnungsversuch, bei dem sie sich nun daran beweisen muss, ob sie die gemeinten Phänomene auch praktikabler erklären und vorhersagen kann. Definitionen sind also nicht richtig oder falsch, sie sind mehr oder weniger nützlich oder viabel. In der Anfangszeit der Unterschiedsbildung sind die Reaktionen der Fachwelt zunächst heftiger und pointierter – ich erinnere mich an die frühen Auseinandersetzungen zwischen Psychoanalyse und Verhaltenstherapie. Nach und nach geht man aber bereitwilliger auf die Unterschiede ein und versucht, diese für die Präzisierung eigener Denkmodelle zu nutzen. Bei aller Konzilianz anderen Modellen gegenüber darf aber nicht vergessen werden, dass die Theorienbildung – auch die eigene – stets von mehr oder weniger impliziten Interessen geleitet wird. Manche Akzentuierungen von Qualitätsunterschieden bei Weinen stellen sich bei genauerer Betrachtung als übertrieben dar. Im Laufe der Zeit und mit zunehmender Kennerschaft weiß der Konsument aber, solche Übertreibungen zu relativieren.
Eine ähnliche Entwicklung wie in den Anfangsjahren der Qualitätsdiskussion im Weinbau kann man auch auf dem relativ jungen Feld der Coachingbranche beobachten. Die Definitionen einzelner Coachingverbände lassen dieses interessengeleitete Handeln erkennen. Der Kuchen – um mal ein anderes Genussmittel heranzuziehen – muss ja erst noch verteilt werden.
Beginnen wir mit der Definition des Round Table, eines Zusammenschlusses verschiedener führender Coachingverbände.
Coaching als bestimmtes Beratungsformat wird zunächst von der Expertenberatung abgegrenzt (im angloamerikanischen Raum wird eine Unterscheidung zwischen Counseling und Consulting getroffen, zwischen Experten und Prozessberatung; in unserem Sprachraum wird auf Anregung der DGfB1 u. a. zwischen informativer und reflexiver Beratung unterschieden):
» Im Unterschied zur reinen Fachberatung versteht sich Coaching als eine Form der reflexiven Beratung, in der die Ressourcen des Klienten erschlossen werden und der Klient zur selbständigen Aufgabenbewältigung befähigt wird. Coaching setzt daher die Bereitschaft zur aktiven Beteiligung des Klienten voraus – auch dann, wenn die Beratungsleistung durch Dritte (insbesondere durch den Arbeitgeber) finanziert wird« (Roundtable Coaching 2014, S. 2).
Ein Unterschied zur (reflexiven) Beratung wird also nicht gemacht. Unterschieden und somit als nicht dazugehörig definiert wird lediglich Expertenberatung, Weiterbildung und Psychotherapie genannt. Das ist ein großes Stück aus dem Kuchen sozialer Unterstützungssysteme. Wenn wir eine imaginierte Getränkekarte bemühen, ist nahezu alles Wein, drei weinähnliche Getränke werden in Abgrenzung genannt. Eine solche Aufteilung durch den Round Table ist nachvollziehbar, wird doch im Folgenden auch auf die Notwendigkeit verwiesen, eine qualifizierte Ausbildung anzustreben:
» Dem Roundtable der Coachingverbände ist es ein besonderes Anliegen, die Qualifizierung zur Ausübung des Coachings im Kontext vergleichbarer Qualifizierungen für andere gesellschaftlich anerkannte Angebote reflexiver Unterstützungsdienstleistungen (wie etwa Erziehungsberatung, Psychotherapie, Berufs- und Laufbahnberatung, Supervision, Ehe-, Familien- und Lebensberatung, Organisationsberatung) zu verorten. Auch die Differenz zu Qualifizierungsangeboten im Bereich vorrangig verfahrensbasierter Angebote (wie etwa Mediation oder Moderation) ist zu markieren« (ebd., S. 3 f.).
Hier tauchen nun wieder weitere Unterstützungssysteme auf, die verwirren mögen, weil sie nun doch zu den »reflexiven« gehören, aber diese Unterschiede, die einen Unterschied machen sollten, müssen wohl bei der Konzeption der Ausbildungsgänge thematisiert werden. Hier sehe ich noch einige Schwierigkeiten, gehört doch zu den ethischen Imperativen des Round Table, dass der »einem humanistischen Menschenbild verpflichtete« Coach »ein demokratisch-pluralistisches Gesellschaftsverständnis« haben und »die gesellschaftlichen und religiösen Deutungskonzepte des Klienten« achten soll. Gleichzeitig distanziert er »sich öffentlich von allen Lehren oder ideologisch gefärbten, sektenhaft ausgerichteten oder manipulativen und dogmatischen Bildungsangeboten« (ebd.). Es ist löblich, hier noch einmal an die Neutralitätspflicht des Beraters zu erinnern, insofern sie den aktuellen Coachingprozess betrifft. Ob eine solche unbefleckte Erkenntnis allerdings auch für eine wissenschaftlich fundierte Ausbildung (»Lehren«) und für öffentliches (zumeist ideologisch beeinflusstes) Handeln gilt, ist fraglich – einmal abgesehen von den ständigen, und dann noch öffentlichen, Auseinandersetzungen mit Auftraggebern im Profit- und Non-Profit-Bereich.
Der DBVC2, Mitglied des Round Table und nach eigenem Selbstverständnis der führende Verband im deutschsprachigen Raum, der sich auf Business Coaching und Leadership fokussiert (dies wird im amerikanischen Urverständnis vom Private Coaching unterschieden), grenzt das Coaching naheliegenderweise auf sein Klientel ein. Er versteht darunter
»die professionelle Beratung, Begleitung und Unterstützung von Personen mit Führungs-/Steuerungsfunktionen und von Experten in Unternehmen/Organisationen. Zielsetzung von Coaching ist die Weiterentwicklung von individuellen oder kollektiven Lern- und Leistungsprozessen bzgl. primär beruflicher Anliegen.
Als ergebnis- und lösungsorientierte Beratungsform dient Coaching der Steigerung und dem Erhalt der Leistungsfähigkeit. Als ein auf individuelle Bedürfnisse abgestimmter Beratungsprozess unterstützt ein Coaching die Verbesserung der beruflichen Situation und das Gestalten von Rollen unter anspruchsvollen Bedingungen.
Durch die Optimierung der menschlichen Potenziale soll die wertschöpfende und zukunftsgerichtete Entwicklung des Unternehmens/ der Organisation gefördert werden« (DBVC 2019, S. 17).
Hier ist Coaching also Beratung, Begleitung und Unterstützung. Aha, denkt der Weinkenner: Beratung ist gewissermaßen der Wein und Coaching ist ein weinhaltiges Getränk. Und er fühlt sich durch die nachfolgenden Ausführungen in seiner Ansicht bestärkt: Zum einen können Expertenberatung und Training bei bestimmten Fragestellungen noch dem »weinhaltigen Getränk Coaching« zugefügt werden, zum anderen lässt sich Coaching auch noch dem Mentoring zuschütten, zum Wohle des Klientels.
Ein weiterer Partner des Round Table, die Deutsche Gesellschaft für Supervision (DGSv), hat sich naturgemäß zunächst schwergetan, Coaching als gleichwertige Beratungsform zur Supervision anzuerkennen, was vor allem
» dadurch außerordentlich erschwert wird, dass der Begriff coaching durch seine unkontrollierte Nutzung weitgehend entgrenzt ist und jeder Abgrenzungsversuch immer auch die Gefahr der Abwertung seriöser und professioneller Beratungsangebote nach sich ziehen kann – sowohl im Coaching wie in der Supervision« (DGSv o. J.).
Und erst, als sich der Verband nach langen, auch inhaltlichen Diskussionen entschlossen hat, sich in Deutsche Gesellschaft für Supervision und Coaching umzubenennen, wird eine Weiterbildung in Supervision und Coaching vorgeschlagen. Weiterhin fällt es jedoch schwer, eine Unterscheidung festzumachen, da Coaching nur den bisherigen Definitionsversuchen angehängt wird:
» Supervision ist ein wissenschaftlich fundiertes, praxisorientiertes und ethisch gebundenes Konzept für personen- und organisationsbezogene Beratung in der Arbeitswelt. Sie ist eine wirksame Beratungsform in Situationen hoher Komplexität, Differenziertheit und dynamischer Veränderungen. Die Beratungsinhalte von Supervision und Coaching sind definiert im Bezugsdreieck von Person, Rolle, Institution/Organisation. Im supervisorischen Prozess geht es besonders um die Reflexion von Erfahrungen, Prozessen und Bedingungen, die Systematisierung komplexer Zusammenhänge, das Verstehen von Strukturen und Prozessen, die Analyse und Klärung/Lösung von Konflikten. Bildungs- und Qualifizierungsprozesse Ziele von Supervision und Coaching sind die Erweiterung der Wahrnehmungs- und Deutungsmöglichkeiten, ein vertieftes Verstehen von Erfahrungen, Ereignissen und Handlungen in ihren vielfältigen Bezügen und Wechselwirkungen, die Erhöhung der persönlichen, sozialen und professionellen Kompetenz insbesondere zur Problemlösung in kritischen Situationen und selbst-bewusstes, kompetentes Handeln« (Positionspapier der DGSv 2019).
Präzisere Unterschiede, bezogen auf die Klientel, macht demgegenüber die Gesellschaft für Supervision und Coaching e. V. Berlin:
Supervision ist ein professionelles Beratungsangebot, mit dem Ziel, die Qualität beruflicher Arbeit zu sichern und weiterzuentwickeln.
In einem vertrauensvollen Dialog zwischen Supervisor/in und Supervisand/in werden aktuelle Themen und Fragen, schwierige Situationen und Konflikte aus dem beruflichen Handlungsfeld reflektiert und Lösungsoptionen entwickelt.
Coaching ist ein der Supervision entsprechendes Beratungsangebot, das sich speziell an Führungs- und Leitungskräfte richtet. Im Mittelpunkt der Beratung stehen vor allem Themen des Managements und der Personalführung.
Wenn wir zusammenfassend versuchen, zentrale Bestimmungsstücke des Coachings herauszustellen, dann finden wir bei nahezu allen Definitionen Übereinstimmung darüber, dass
▸
Coaching eine besondere Form von Beratung ist
▸
diese sowohl Prozess- als auch Expertenberatung sein kann
▸
diese personenzentriert ist, d. h. zwischen Individuen stattfindet und Aufträge bzw. Ziele von Individuen zum Gegenstand hat
▸
es sich hierbei vorwiegend um berufliche Themen handelt.
Wenn Individuen Hilfe bei ihren konkreten Handlungsvollzügen benötigen, lässt sich eine Spezifizierung im Beratungsprozess wie folgt darstellen:
Wenn anzunehmen ist, dass die Hilfesuchenden über die Kompetenzen verfügen, die Herausforderungen ihres (beruflichen wie privaten) Lebens eigenständig zu meistern, dies aber durch innere wie äußere Bedingungen gegenwärtig nicht eigenständig schaffen, dann ist Beratung die geeignete Unterstützungsform (ansonsten ist an Anleitung, Begleitung, Therapie, Training etc. zu denken; zur Systematik möglicher Hilfesysteme siehe u. a. Ludewig 1992, S. 123).
Bezieht sich das Anliegen vornehmlich auf einen beruflichen Kontext, dann bieten sich als mögliche Beratungsformate Supervision oder Coaching an.
Wie die beiden Formate Supervision oder Coaching voneinander abzugrenzen sind, wird gegenwärtig noch eingehend diskutiert und hängt auch mit dem historischen Selbstverständnis beider Angebote zusammen: Supervision ursprünglich als Unterstützungssystem im beruflichen Kontext sozialer Berufe, Coaching als Weiterentwicklung von spezifischen Trainingsansätzen im Sport, welche auch Persönlichkeitsentwicklung einbezogen. (Der Coach war ursprünglich der Kutscher, der dafür zu sorgen hatte, dass die Pferde sicher und wohlbehalten das Ziel erreichten.) Aufgrund der spezifischen Förderung von Spitzensportlern setzte sich zunächst der Anspruch durch, Coaching vor allem zur »Unterstützung von Personen mit Führungs-/Steuerungsfunktionen« (s. Definition der DBVC) zum Zwecke der Leistungsoptimierung einzusetzen. Supervision demgegenüber schien eher die Methode der Wahl, wenn es sich um Probleme, Konflikte oder Beeinträchtigungen in den Arbeitsabläufen von ausführenden Individuen oder Teams handelte.
Auch wenn sich inzwischen die Einsicht durchgesetzt hat, dass beide Formate im beruflichen Kontext unabhängig von der Besoldungsstufe ihre Berechtigung haben, hält sich doch mehr oder weniger ausgesprochen die Auffassung, dass beide berufliche Beratungen sind – das Coaching nur eben die elitärere, teurere Variante. Dies schlägt sich unter anderem in Vergleichen nieder wie: »Coaching verhält sich zu Supervision wie eine wendige Yacht zu einem Luxusliner« (Pohl 2019, S. 3).
Coaching ist der Champagner, Supervision der wärmende, besinnlichere Portwein. Beide führen nach hinreichendem Zuspruch dazu, die Welt anders zu sehen, alte Gewissheiten infrage zu stellen sowie sich wieder zuversichtlicher und handlungsfähiger zu fühlen. Viele Konsumenten werden den Weg zu den neuen Erkenntnissen irgendwie als unterschiedlich erleben, Champagner mag herausfordernder wirken, Port wärmt, tröstet und stärkt die Zuversicht, dass man durch eigenes Zutun auch missliche Lagen verändern kann. Diese Unterscheidung mag an den Erwartungen an das Getränk, am Kontext und – vielleicht zu einem geringeren Teil – an der Art des Weines liegen.
Da ich ungern mit meinen Weinerfahrungen in Beratungssituationen gehe, habe ich mir (und wir vom ILBS3) folgende Unterscheidungsmerkmale überlegt, wie ich die beiden Beratungsformate je nach Kontext und Fragestellung vorschlage:
» Coaching ist eine entwicklungsorientierte Form der Beratung und Begleitung, die berufliche und private Inhalte umfassen kann und auf Freiwilligkeit, Vertraulichkeit und der gegenseitigen Akzeptanz von Coach und Coachee basiert.
Entwicklungsorientiert meint vorrangig die zielbezogene Stärkung und Erweiterung personaler, emotionaler und sozialer Kompetenzen. Dies soll den Coachee dabei unterstützen, kontextbezogene Ziele zu entwickeln und sein individuelles Handlungspotenzial zu größerer Entfaltung zu bringen. Somit wird er befähigt, bestehende und zukünftige Problem- und Konfliktsituationen eigenständig lösen zu können sowie gegenwärtige und zukünftige Herausforderungen zieldienlicher und auf eine dem individuellen Potenzial angemessenere Weise zu bewältigen.
Das Coaching wird in Form einer begrenzten Reihe von Sitzungen durchgeführt und nimmt dabei Bezug auf kontextbezogene Problem-, Konflikt- und Herausforderungssituationen des Coachee. Im Vordergrund steht jedoch weniger die Veränderung dieser Situationen in spezifischen Kontexten. Diese werden vielmehr als Orientierungspunkte bei der Entfaltung und Veränderung individueller Handlungsmöglichkeiten gesehen und bewusst nicht auf Einzelsituationen oder -kontexte reduziert« (Holtz 2017).
Supervision schlage ich vor allem dann vor, wenn weniger die Entwicklungsorientierung von Individuen oder Teams im Vordergrund steht, sondern die konkrete Veränderung von Problemlagen oder Konflikten im beruflichen Kontext. Es versteht sich von selbst, dass es zwischen beiden Beratungsformaten fließende Übergänge gibt. Es ist jedoch hilfreich, diese Übergänge im Prozess wahrzunehmen – zu wissen, welchen Hut man gerade aufhat –, da sich hieraus veränderte Angebote an den Klienten (z.B. Aspekte der Anleitung, Begleitung etc.) ergeben.
Wenn ich zu Hause mit Freunden eine Weinprobe vorbereite, richte ich mich in der Auswahl zum einen nach den Vorlieben und Erwartungen meiner Gäste. Zu einem zufriedenstellenden Verlauf des gemeinsamen Abends gehört jedoch auch, dass ich darlege, was mich vor diesem Hintergrund dazu bewogen hat, die vorgestellten Weine auszusuchen. Gegebenenfalls biete ich auch Speisen an, die den Wein noch einmal in einem anderen Licht erscheinen lassen. Und jeder Gast hat natürlich die Möglichkeit, meine Auswahl für sich zu akzeptieren oder sich an dem einen oder anderen Vorschlag nicht zu beteiligen. Und wenn ich nun noch hinreichend zurückhaltend mit meinem Angebot bin (ein Kurzzeitberater würde sagen: Wenn ich nicht mehr tue, als nötig ist), dann kann ein solcher Abend gelingen. Diese Zurückhaltung bezieht sich natürlich auch auf meine Wertungen und die Darstellung meiner Vorlieben, d. h. auch darauf, wie groß meine Redeanteile an dem Abend sind.
Zur Beantwortung dieser Fragen mag es allgemeine Qualitätsüberlegungen geben – aber auch subjektive, den eigenen Bedürfnissen und Vorlieben entsprechende. Ein wichtiges Kriterium ist unser Eindruck darüber, ob der Winzer bzw. der Coach »sein Handwerk versteht«. Es ist die Frage nach der Professionalität. Während man den Eindruck hat, dass in den USA, wo das Coaching ja seinen Ausgang genommen hat, eher die Frage im Vordergrund steht: »Was kann der Coach?«, stellt sich bei uns zunächst die Frage: »Was hat der Coach für eine Ausbildung?« Auch bei uns war im Mittelalter ein »Professor« eher einer, der für eine bestimmte Meinung, Überzeugung, »Berufung« und für besondere Fähigkeiten einstand (von lat. profiteri), heute ist ein Professor jemand, der – sicherlich aufgrund seiner speziellen Fähigkeiten und Motivation – eine bestimmte akademische Karriere durchlaufen hat, die sich inzwischen auch nach europäisch vergleichbaren Qualitätskriterien (EQR)4 einstufen lässt und das Berufsbild umschreibt. Und so meint »professionell« hierzulande auch ein Qualitätsmerkmal, das sich anhand bestimmter Kriterien beschreiben lässt.
Zu diesen Kriterien, wann man von einer bestimmten Profession bzw. von professionell spricht, gehören:
▸
Es gibt einen bestimmten verbindlichen Wissensbestand z. B. über die Tätigkeitsmerkmale und die erforderlichen Kompetenzen der Berufsausübenden. Dieser manifestiert sich günstigstenfalls in einer gemeinsamen Theorie über eine Praxis, die unterschiedlichen Theorien zur Art der Berufsausübung noch genügend Platz lässt.
▸
Es gibt – zumeist staatlich geregelte – Aus- und Weiterbildungsvorschriften, die in Curricula transparent nachvollziehbar und überprüfbar sind.
▸
Auf dem Wege zur Professionalisierung arbeiten die damit befassten Institutionen auf ein Leistungsmonopol hin. Nur derjenige, der die genannten Voraussetzungen erfüllt, darf entsprechend tätig sein.
▸
Die Nachfrage einer Profession wird durch ein allgemein anerkanntes gesellschaftliches Bedürfnis bestimmt, das im gesamtgesellschaftlichen, staatlichen Kontext durch ein Mandat zur Berufsausübung festgelegt ist (vgl. hierzu auch Migge 2011, S. 19).
Die Psychotherapeuten haben in der Auseinandersetzung mit dem Heilpraktikergesetz die Schritte zur Professionalisierung vorangebracht. Die Winzer haben allgemeine Berufsqualifikationen von der Meisterprüfung bis hin zum Önologiestudium mit Bachelor- und Masterstudiengängen, die sich den europäischen Qualitätskriterien EQR und DQR5 vergleichbar zuordnen lassen. Die Beratungsverbände, zunächst die der Berufsberatung, sind auf einem guten Weg zur Professionalisierung (vgl. die Bemühungen der DGfB). Und auch die Coachingverbände (z. B. der RTC6) diskutieren die nächsten Schritte eingehend.
Was hier verhandelt wird, sind zunächst die notwendigen allgemeinen Ausbildungs- bzw. Ausbaukriterien. Aber diese bilden zunächst nur einen allgemeinen Rahmen: So, wie es unterschiedlich sorgfältige und (kosten)intensive Produktionsprozesse beim Wein gibt, finden wir auch sehr unterschiedliche Ausbildungsgänge auf dem Weg zum professionellen Coach. Die Einigung auf einige grundlegende Qualitätskriterien tut not, wie man den Bestrebungen der Dachverbände des Coachings entnehmen kann. Andererseits sollte darauf geachtet werden, dass durch solche Vorgaben unterschiedliche Angebote – die Innovation, Fragestellung, Kontext und Andersartigkeit repräsentieren – nicht nivelliert werden.
Steht man dem umfangreichen Angebot also hilflos gegenüber?
Was wären Kriterien, die uns helfen, Enttäuschungen zu vermeiden?
Das Problem beginnt ja schon im Vorfeld: Woran erkenne ich einen guten Winzer bzw. einen guten Coach? Der Önologe mit einem Masterstudiengang (EQR 8) macht ja nicht kraft seiner Ausbildung einen besseren Wein als der Winzermeister (EQR 6). Wie praxisrelevant und hilfreich bei der Qualitätssicherung und -steigerung sind denn die einzelnen Ausbildungsgänge? Auch dies wird Gegenstand wissenschaftlicher Forschung in den einzelnen Professionen sein, aber derjenige, der vor einem Weinregal oder dem Klingelschild eines Coachs steht, wird deren Befunde nur selten als hilfreich ansehen.
Es liegt nahe anzunehmen, dass diese Beurteilung mit meinen Erwartungen zu tun hat. Und die lassen sich wie bei einer guten Auftragsklärung anhand der »vier großen A« konkretisieren:
1.
Was ist der
A
nlass?
2.
Was ist das
A
nliegen?
3.
Was ist das
A
ngebot?
4.
Was ist der
A
uftrag?
Auf dem Weg zur Weinverkostung ist der Anlass wie im richtigen Leben zumeist unterschiedlich: Suche ich einen Wein zum abendlichen Kerzendinner? Will ich mich besaufen, wenn ich zum erstgenannten Ereignis eine Absage erhalten habe? Will ich mit Gleichgesinnten eine herausfordernde Weinprobe veranstalten oder suche ich zur abendlichen Lektüre auf dem Balkon einen unkomplizierten Sommerwein?