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»Ich liebe dich, Tyron McReef, und das ist die schlechteste Idee, die ich je hatte.« Tyron McReef ist die Dunkelheit. Unbändiger Hass auf alles und jeden zerfrisst ihn beinahe. Erst als ein unerklärlicher Zwang ihn durch ein Portal treibt, versteht er, dass die Welt, in der er aufgewachsen ist, nie die seine war und der Hass sein Erbe ist. Kathrin Hart ist eine Naturhexe. Naja, zumindest versucht sie, eine zu werden. Doch es scheint aussichtslos. Sie kann ihre Kräfte einfach nicht kontrollieren und ausgerechnet bei dem Fiesling Tyron brechen sie sich Bahn. Schwarze Nebelschwaden flüchten vor ihrer leuchtenden Magie aus seinem Körper. Zurück bleibt die Verwirrung auf seiner Miene und eine Anziehungskraft, die gegen jede Regel verstößt. Denn Tyron muss sich opfern und ihre Liebe vergessen, wenn die Menschheit eine Chance haben soll.
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Seitenzahl: 483
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Verlag
Titel
Der Tausch
Böse Schatten und Katastrophenzauber
Footballstar und Hausarbeiten
Schwaden, Licht und Colaharpyien
Schmetterlingsflügel und Erkenntnisse
Hochzeitspläne und andere Qualen
Erster Kuss und großer Schmerz
Der Schrei im Keller
Neugier und andere Erkenntnisse
Keine Hilfe in Sicht
Falsche Freunde und Gartenarbeit
Versprechen sind nicht genug
Soe und der Fliederstrauch
Auf Wiedersehen und Abserviert
Hochzeitsparade und Hexengeheimnisse
Zeremonievereitelung und Baguettemesser
Zwischen Licht in Einmachgläsern
Ein Schlüssel und ein Albenkönig
Der Hexencoven
Aufgeschoben ist nicht aufgehoben
Träume nur mit Teriyakisoße
Bindungen und historische Tapeten
Mut oder Dummheit – vielleicht beides
Moder, Dreck und Gitterstäbe
Vergangenheit in schwarzen Schwaden
Weiße Blüten und ein Versprechen
Epilog
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Impressum
Traumschwingen Verlag GbR
Yvonne Wundersee
A Whisper of Light
(K)ein Leben für ein Leben
Gestohlen Kind in tiefer Nacht,
wurde es weit weggebracht.
Ein garstig Wesen trägt es fort,
an einen dunklen, bösen Ort.
Zurück bleibt die Brut,
im Bettlein geht’s ihr gut.
Umsorgt und geliebt vom Mutterherz,
hinterlässt nicht mehr als Leid und Schmerz.
Wenn die Tränen dann versiegen,
und das Böse scheint aufzufliegen,
wenn die Liebe in Angst umschlägt,
as Monster bald nach Hause geht.
Doch das Menschenkindelein
wird immerfort ein Sklave sein.
Der Mutter liebe, sanfte Hand
hat dieses Kind niemals gekannt.
Bis es sein Leben endlich ausgehaucht,
bekam es niemals, was es braucht.
Kein Lächeln oder warmes Wort,
bis das Himmelreich ruft es hinfort.
Doch der Platz bleibt nicht lange leer.
Ein neuer Mensch muss ganz schnell her.
Das nächste Mutterherz zerfetzt,
weil das Böse ein Kind ersetzt.
»Hey Nate, ein doppelter Grüner mit Pommes«, rufe ich in die Küche und sehe, wie mein Chef mit dem Pfannenwender aus der Luke winkt. Ein Zeichen, dass er mich verstanden hat und der Bauarbeiter an Tisch vier sich auf seinen vegetarischen Burger freuen darf. Ich stelle ihm sein Lightbier hin und erwidere sein Lächeln.
Heute ist ein guter Tag. Wenn die Sonne sich in Autum durch die Wolkendecke schiebt, ist jeder zufrieden. An solchen Tagen liebe ich die Arbeit im Hexenkessel, dem besten Diner im Umkreis von vielen Meilen.
Mary schiebt sich an mir vorbei. Dabei knistern unsere pinkfarbenen Baiserkleider. Nate überlässt nichts dem Zufall. Alles hier drin sieht aus, wie aus einem 50er-Jahre-Film gefallen. Die Jukebox heult durchgängig alte Rock-n-Roll-Songs und die blinkende Reklame bedeckt beinahe die ganze Wand darüber. Ich fühle mich wohl hier. Seit einem Jahr helfe ich nun schon im Hexenkessel aus. Was mit einer Krankheitsvertretung für Mary begann, ist jetzt ein Job mit festen Schichten. Endlich habe ich ein wenig Geld, das ich für die Uni sparen kann. Natürlich tue ich alles für ein Stipendium, aber ich muss ja auch irgendwo wohnen und mir meinen Lebensunterhalt bestreiten. Da ist ein kleines Polster sehr erstrebenswert.
»Treffen wir uns nach der Arbeit? Wir sollten noch üben.« Mary balanciert das Tablett mit fünf Gläsern Cola sicher an mir vorbei.
»Ja, aber ich habe nicht viel Zeit.«
Sie verdreht die Augen. »Wie willst du besser werden, wenn du dir so wenig Zeit nimmst. Kate, es ist wichtig.«
Ich seufze. »Gerade ist alles ein wenig viel. Die Schule, die Arbeit und dann noch die bevorstehende Prüfung. Manchmal wünschte ich, einen Klon von mir herstellen zu können.«
Mary grinst schief. »Wenn du die Prüfung bestanden hast, wer weiß, vielleicht ist dann für dich auch das möglich?«
»Als ob ...«, murmle ich in der Gewissheit, dass ich niemals wirklich so etwas Großes schaffen kann.
Mary bringt die Gläser zu einer Familie an den Tisch, die den Mund so voll haben, dass sie sich kaum bedanken können. So ist es super. Ein Zeichen, dass es ihnen richtig gut schmeckt.
Nate betätigt die Glocke und schiebt den Teller aus der Luke. Der Arbeiter hat sich bereits mit dem Ketchup bewaffnet und sieht mich voller Vorfreude an.
»Guten Appetit. Lass es dir schmecken.« Ich stelle den riesigen Burgerturm mit extra viel Käse mit Schwung vor ihm ab.
»Das werde ich«, sagt er und drückt den Ketchup geräuschvoll auf die Pommes.
Die Tür schwingt erneut auf. Herein kommt ein Junge, der ungefähr in meinem Alter sein muss. Ich habe ihn hier noch nie gesehen. Der wäre mir sicherlich aufgefallen, denn er wirkt, als wäre er geschickt ausgewählte Deko für den Laden. Enge Jeans, weißes Shirt und Lederjacke. Er versprüht eindeutig James Dean Vibes. Ich liebe seine Filme und am liebsten hätte ich bei seinem Anblick geseufzt. Hinter ihm betreten eine Frau und ein Mann in den Fünfzigern das Diner. Sicherlich seine Eltern.
Sie setzen sich an Tisch eins, und während der Junge sich lässig zurücklehnt und seine Sonnenbrille auf die verwuschelten Haare schiebt, sitzen die Eltern aufrecht, beinahe steif nebeneinander. Sie wirken angespannt. Immer wieder zucken ihre Blicke zu dem Jungen und ich frage mich, wie ich die Angst in ihren Augen deuten soll. Aber mich geht es ohnehin nichts an. Ich bin hier, um Bestellungen aufzunehmen und in meiner rosa Uniform zu lächeln.
Schnell ziehe ich Kugelschreiber und Notizblock aus der weißen Rüschenschürze. »Darf ich Ihnen schon etwas zum Trinken bringen?«
Der Junge taxiert mich. Ganz offen starrt er mich an. Keine Regung geht dabei über sein Gesicht. Sein Blick ist mir unheimlich und ich trete einen Schritt zurück. Dabei donnert mein Herz in meinem Brustkorb, als wolle es meine Rippen sprengen. Ich atme flach und mir wird beinahe schwindelig.
»Mein Mann und ich nehmen ein Wasser. Bitte nicht gesprudelt. Was magst du, Schatz?« Die Frau betrachtet James unheimlich Dean flehend, aber er zieht nur eine Augenbraue hoch. »In dieser Absteige trinke ich sicher nichts. Schlimm genug, dass ihr mich in dieses Kaff schleppt, aber das hier...« Sein Blick schweift durch das Diner und seine Oberlippe zuckt angewidert. Sie legt ihre Hand auf seine und er zieht sie zurück, als habe er sich verbrannt. »Behalt deine Hände bei dir, okay?«
Ihre Hand zittert, als sie sie zurückzieht.
»Aber der Arzt in London hat gesagt, dass ein neues Umfeld dir guttun würde. Wir sind nur für dich umgezogen.«
Ich stehe noch immer mit meinem Kugelschreiber am Tisch und sehe zwischen dem Kerl und seiner Mutter hin und her. Der Vater hat sich die ganze Zeit nicht bewegt, ganz so, als wäre er eingefroren. Das angespannte Lächeln ist auf seinem Gesicht festgemeißelt.
»Dann also nichts für dich. Kein Problem. Ich bringe Ihnen das Wasser, dann können sie sich die Karte in Ruhe ansehen. Empfehlen kann ich Ihnen unsere Burger. Nates Burger sind die Besten.«
»Nachdem er sie über den dreckigen Küchenboden gezogen und dann auf ein ranziges Brötchen gelegt hat?«
»Tyron!« Das Entsetzen springt der Frau beinahe aus dem Gesicht und in mir macht sich Wut breit. Was denkt sich dieser aufgeblasene Schnösel?
Ich grinse ihn breit an und sage zuckersüß: »Wenn unsere Kunden ihren Burger so wünschen, werden wir das genauso umsetzen. Darf ich die Bestellung so aufnehmen?«
»Du denkst, dass du mir gewachsen bist, kleines Mädchen?« Er beugt sich zu mir. »Du bist ein Nichts.«
»Bitte, Tyron. Hör auf. Wir wollen doch nur etwas essen.« Die Frau greift erneut nach der Hand ihres Sohnes, aber er zieht sie noch weiter weg. »Dann koch etwas und schlepp mich nicht hier herein.«
Noch immer zeigt der Vater keine Regung. Ich sehe nur, wie die Hand zu beben beginnt, die sich um die Finger der Frau geschlungen hat. Ich versuche, die Situation etwas zu beruhigen, indem ich zum Tresen gehe und zwei Wasser einschenke.
Den Jungen sehe ich nicht an, als ich die Gläser vor seine Eltern stelle. »Wissen Sie schon, was es sein soll?«
»Wir nehmen zwei Cheeseburger mit Pommes.« Ich schreibe die Bestellung auf und wende mich wieder ab, um Nate Bescheid zu geben. Plötzlich schreit die Frau auf. Ich wirble herum. Wasser tropft von ihren Haaren und der Mascara läuft in langen Rinnsalen über ihre Wangen. Die Zitronenscheibe liegt auf ihrem Schlüsselbein. Tyron stellt das leere Glas zurück auf den Tisch, schiebt seine Sonnenbrille ins Gesicht und steht auf.
»Ich habe genug von diesem armseligen Theater! Wir sehen uns zuhause.« Auf seinem Weg zur Tür rempelt er mich zur Seite. Das reicht! So kann er nicht mit seinen Eltern, mit seiner Mutter, umgehen. Sie haben ihm nichts getan. Ich bin drauf und dran ihm nachzueilen und ihn zur Rede zu stellen, komme aber nur einen Schritt weit, dann packt mich Mary am Arm. »Lass gut sein, Kate! Sei froh, dass er weg ist, und bring der Frau ein Handtuch.«
Wieder sehe ich zu Tyrons Mutter, die an ihrem Mann lehnt und herzzerreißend weint. Er streicht liebevoll über ihre Schulter. Auch seine Augen funkeln verdächtig. Mary hat Recht. Diese beiden benötigen die Aufmerksamkeit dringender als ihr missratener Sohn.
Schnell bringe ich ihr ein Handtuch, das ich ihr um die Schultern lege und wische anschließend den Boden um ihre Füße trocken.
»Du musst daran glauben, mein Schatz. Autum macht alles gut. Eines Tages wird er erkennen, dass wir es gut mit ihm meinen.« Der Mann nimmt eine Serviette und wischt ihr die Tränen von den Wangen.
»Wir haben schon so viel versucht.«
»Diesmal wird es klappen.« Aus der Verzweiflung spricht ein Funken Hoffnung.
Noch einmal sehe ich aus dem Fenster. Tyron stopft die Hände in die Hosentasche und eilt über den Parkplatz davon.
Warum können sie mich nicht einfach in Ruhe lassen?
Ich will nur, dass sie den Mund halten. Es ist mein Leben und die Beiden, die sich meine Eltern nennen, gehen mir furchtbar auf die Nerven. Manchmal kocht meine Wut so hoch, dass ich die Gewalt nur mit Mühe zurückhalten kann. Alles in mir will sie zum Schweigen bringen. Wenn sie ahnen würden, wie oft ich mich zwingen muss zu gehen, obwohl mein Blick sich am Messerblock festgenagelt hat. Dabei weiß ich selbst nicht, was mit mir los ist.
Selbst die vielen Psychologen, zu denen sie mich geschleppt haben, wissen keinen Rat. Schwer erziehbar. Das sind die zwei Worte, die oben in meiner Akte stehen. Zwei dieser Quacksalber haben sie sogar mit rotem Edding direkt auf die Mappe geschrieben, damit ich es bei jedem Termin sehen kann. Als wenn ein Edding etwas an der Wut ändern könnte. Vielleicht ... nein ... ich schüttle den Gedanken ab, der sich gerade als rottropfender Schleier über mein Bewusstsein legen will. Denn eigentlich liebe ich sie. Als Kind gab es für mich nichts Schöneres, als von ihnen umarmt zu werden, mit ihnen zu spielen und den Stolz in ihren Augen zu sehen. Wann hat sich das geändert? Seit wann möchte ich meiner Mutter die Hände um den Hals legen und langsam zudrücken, damit ich diesen leidenden Ausdruck in ihrem Gesicht nicht mehr sehen muss? Er darf sich in Angst wandeln. Angst ist gut, wenn nur endlich das Leid verschwindet.
Ich eile an einer Baumreihe vorbei und raufe mir die Haare. Diese Gedanken sollen verschwinden! Aber je mehr ich gegen sie kämpfe, desto energischer drängen sie gegen meine Barrieren. Und nun sitze ich auch noch in der Einöde, in einem Kaff, in dem ich den Gedanken nicht entfliehen kann. Verdammt! Das Internet ist so schlecht, dass ich nicht einmal meine geliebten Egoshooter nutzen kann, um meinen Hass abzubauen.
Ich bin gefangen in der Spirale aus Hass und komme nicht weg.
Das Monster in mir findet kein Ventil.
Was haben sie nur getan?
Der Vollmond beleuchtet die Lichtung in einem silbrigen Schein. Heute ist die Nacht so hell, dass ich jeden Grashalm erkennen kann. Perfekt zum Üben. Ich beiße die Zähne zusammen und drücke die Fersen ins Gras zwischen den festen Wurzeln. Die Spitzen kitzeln an meinen nackten Fußsohlen. So bekomme ich mehr Gefühl für die Natur. Mary sagt, dass so meine Chance wächst, dass ich mich noch besser mit der Natur und mit meiner wunderbaren Eiche verbinde, mit meiner Magali. Das soll die Macht in mir leichter fließen lassen.
Lass Dich nicht ablenken, Kate, zischt mir meine innere Stimme genervt zu. In der letzten Stunde hat sie das öfters getan, aber es hilft nichts. So sehr ich auch versuche, mich an Marys Anweisungen zu halten, schaffe ich es doch nicht, einen stetigen Faden Magie aus der gebündelten Macht meines Baumes, die in mir aufgestaut ist, zu ziehen, um diesen in den fahlen Flecken Erde vor mir zu leiten. Meine Aufgabe mag leicht klingen, aber für einen Fehlschlag wie mich ist das scheinbar unmöglich. Dabei soll ich nur den winzigen Keim fühlen und ihn wachsen lassen, bis sich die Blüte öffnet.
Bei Mary sieht das so leicht aus. Sie schließt kurz die Lider, legt die Hände auf den Boden und im Nu wächst eine Pflanze und entfaltet schon nach Sekunden ihre Blütenblätter. Ich blase mir entmutigt eine Strähne aus der Stirn.
»Mach schon, Kate. In drei Monaten ist deine Prüfung und du bist noch immer nicht über die Basics hinausgekommen.«
»Dieser Stress ist nicht gerade förderlich.« Ich knurre leise und spanne jede Zelle meines Körpers an. Ich sage ihr nicht, dass ich den Magiepool in mir weder berühren, noch einen Faden daraus entwirren muss, um die Basics zu zaubern. Ob eine Flamme auf der Handfläche, oder ein sanfter Wind, der morgens mein Haar trocknet, damit habe ich keine Probleme. Aber sobald ich eine Extraportion Zauberkraft benötige, ist es vorbei. Dann endet jeder Versuch im Chaos.
»Ich müsste dir keinen Stress machen, wenn du üben würdest, genau das zu tun, was ich dir sage. Außerdem fühlst du doch, wie ich meine Magie lenke. Ich verbinde mit ihr nur die Macht zwischen mir und dem Keim. Sei ein Kanal, Kate. Lass die Magie durch dich hindurchfließen.«
Ich fühle die Magie von Magali, meiner wunderschönen Eiche, meinem Geburtsbaum, meiner Freundin. Aber sie ist nicht weich und leicht, wie Mary behauptet, und ich kann sie auch nicht einfach durch mich hindurchfließen lassen. Sobald sie mich berührt, füllt sie meinen Körper vollständig aus. Jede Zelle ist zum Bersten gespannt. Wie soll ich mit dieser Menge an Magie nur einen Keim erreichen?
»Wie schaffst du es, die Magie zu spalten und nur einen winzigen Strom zu dem Keim auszusenden?« Schweiß steht auf meiner Stirn und ich zupfe an dem goldenen Strahlen, das mich ausfüllt und heiß durch meine Adern fließt. Aber es entgleitet mir immer wieder. Es ist zum Verrücktwerden. Als würde man mit einem löchrigen Eimer Wasser schöpfen.
»Was redest du da? Lass deine gesamte Magie auf den Keim wirken. Du musst nichts davon abzweigen. Konzentriere dich auf den Keim und lass die Kraft deines Baumes wie einen Fluss durch dich hindurchgleiten. Öffne dich, Kate. Sei ein Kanal.«
»Aber ich kann doch nicht ...«
»Kate, mach was ich dir sage! Ich bin die Mentorin und weiß, was ich tue!«
Mary ist kurz davor die Geduld zu verlieren. Also gut! Wenn sie es so will, dann eben die gesamte Magie.
»Das kann nicht gut ausgehen, Kate.« Magalis Stimme kreist durch ihre wunderschöne Kraft. Ich höre die Warnung, weiß schon jetzt, dass es wieder schiefgeht, aber was soll ich tun? Mary ist meine Mentorin und ihr Bericht über meine Fähigkeiten macht die Hälfte der Prüfung aus. Sie kann mich ohne Probleme durchfallen lassen und die nächste Prüfung ist dann erst in fünfzig Jahren möglich. Bis dahin hat Magalis Kraft mich zerstört. Ich merke schon jetzt, wie sie mich auszehrt, weil es mir verboten ist, sie zu nutzen, wenn ich nicht gerade mit Mary übe. Diese Kraft ist zu viel für einen menschlichen Körper. Es bedarf einer geweihten Hexe, um sie zu kontrollieren. Vielleicht wird sie ja dann auch so wie die von Mary. Sanft und leise, sodass ich Blüten wachsen lassen kann. Ich stelle meinen Fuß auf eine ihrer Wurzeln, verbinde mich mit ihr und spüre ihre Liebe sowie ein leises Bedauern in unserem Band.
»Das kann ich dir auch nicht beantworten. Du bist die erste Hexe, die ich gebunden habe und ich bin traurig, dass meine Entscheidung, dich zu wählen, dir so viel abverlangt.«
»Du kannst nichts dafür, Magali. Mach dir keine Sorgen. Ich brauche nur mehr Übung und eine bestandene Prüfung.«
Ich atme noch einmal tief durch. In meinen Gedanken streiche ich über Magalis rauen Stamm. Sie seufzt und dann fühle ich, wie auch sie sich anstrengt den Fluss der goldenen Strahlen etwas einzudämmen. Ich schüttle den Kopf. Als wenn es etwas ändern würde, einige Tropfen aus den Niagarafällen herauszufiltern.
»Kate!« Mary ist wütend.
Ich lasse los.
Die Erde bebt. Es knackt und grollt. Das Gras, das sich gerade noch unter meinen Fußsohlen befunden hat, windet sich um meine Füße und wickelt sich bis zu meinen Oberschenkeln hinauf. An den Händen verhält es sich ähnlich. Es ist beinahe so, als würde die Natur mich festhalten wollen, weil sie weiß, dass die Katastrophe meines Zaubers auch mir gefährlich werden kann. Die Erde schwankt. Etwas reißt. Ich halte die Augen geschlossen, weil ich schon jetzt weiß, dass diese Geräusche nicht normal sind. Trotzdem sehe ich Umrisse der Welt in goldenen Glanz getaucht. Mary verschwindet hinter hoch aufragenden Pflanzen, die immer weiterwachsen. Ein Baum stürzt um. Sein goldenes Leuchten verlischt. Habe ich ihn getötet? Trauer flutet mein Herz, wusste ich doch, dass es keine gute Idee gewesen war, meine Magie freizulassen. Ich kann keine Blume wachsen lassen. Meine Macht zerstört jegliches Grün. Tränen steigen mir in die Augen, während die Energie ungehindert durch mich hindurchfließt. Die Kraft ist zu stark. Ich bin nicht einmal in der Lage, die Türen zu schließen, um sie wieder in mir einzusperren. So sehr ich mich auch anstrenge, bin ich allem hilflos ausgeliefert. Magali ruft mir zu, dass ich die Verbindung kappen muss. Ich höre ihre Stimme, aber ich weiß nicht, wie ich das bewerkstelligen soll. Wie kappt man eine Verbindung? Niemand hat es mir gezeigt.
Mary schreit, als eine Welle durch die Lichtung rollt. Ich werde nach hinten geschleudert und reiße die Augen auf. Die Energie sucht nach einem Ziel, findet aber keines. Mein Körper berührt nicht länger den Boden. Stattdessen rudere ich mit den Armen in der Luft. Die Verbindung zu Magali reißt ab. Wie ich es in der Panik schaffe, die Tür zu meiner Magie zuzuziehen, weiß ich nicht. Ich spüre nur die Erleichterung darüber, bevor ich hart gegen einen Baumstamm krache und mich keuchend zwischen seinen Wurzelsträngen zusammenrolle.
»Ich brauche eine Pause.« Meine Stimme ist atemlos und kaum mehr als ein Windhauch. Wie soll ich mit dieser Kraft nur jemals umgehen? Mehr als ein Licht in meiner Hand erzeugen, schaffe ich nicht. Alles andere endet in einer Katastrophe. Wie soll ich so eine Prüfung schaffen? Wie soll ich mit dieser Macht überleben, wenn ich sie nicht als vollständige Hexe in den Energiepool des Coven einspeisen und dort kanalisieren kann?
»Spinnst du?« Marys Stimme lässt mich herumfahren. Sie kommt mit geballten Fäusten auf mich zu. Feuchte Erde klebt an ihrem Körper und Schlamm tropft von ihren Haaren. Auf ihrem Kopf prangt eine gelbe Blüte. Wenigstens habe ich die Aufgabe gelöst, auch wenn von der Lichtung nicht mehr viel übrig ist. Beinahe hätte ich gelacht, aber damit hätte ich die Situation bestimmt nicht besser gemacht.
»Wieso konzentrierst du dich nicht? Willst du uns umbringen?«
Ich lasse den Kopf hängen und atme tief durch. Wenn ich ihr sage, dass ich konzentriert war, aber es einfach nicht besser kann, wird sie mich wieder mit diesem mitleidigen Blick ansehen. Ein Blick, der sagt, dass die ganze Übung bei mir aussichtslos ist. Das macht mich fertig.
»Sorry«, murmle ich, auch wenn ich sie am liebsten anschreien will, dass sie mir doch gesagt hat, dass ich all meine Magie auf den armen Keim loslassen soll. Deshalb entschuldige ich mich brav. Mit dem Unterarm wische ich mir die Tränen von den Wangen und ziehe die Nase hoch.
Mary hockt sich vor mich und legt mir die Hände auf die Knie. »Ist alles in Ordnung?«
»Ja, mir ist nichts passiert. Nur mein Stolz hat einen weiteren Riss bekommen und ein paar blaue Flecken zieren meinen Rücken. Nichts, was ich nicht überleben kann.«
»Wir haben noch drei Monate Zeit. Vielleicht schaffst du es ja doch noch.« Sie steht auf und hält mir ihre Hand hin. Ich greife zu und sie zieht mich auf die Beine.
Als ich die Verwüstung um mich herum sehe, glaube ich nicht daran, dass ich in nur drei Monaten etwas schaffen kann, was ich in den letzten zwei Jahren nicht fertiggebracht habe. Bald sind keine Lichtungen mehr da, die ich in einen Dschungel verwandeln kann, sobald ich Magalis Energie durch mich hindurchfließen lasse.
»Was hast du gefühlt?«, wage ich es, Mary zu fragen.
»Bevor du mir den Boden unter dem Hintern weggerissen hast?« Sie stößt mich freundschaftlich an, als ich die Lippen zu einem Strich zusammenpresse, weil das schlechte Gewissen erneut an mir nagt. »Du hast dich nicht auf den Keim konzentriert. Deine Magie ist wie eine Supernova aus dir herausgebrochen und hat die gesamte Umgebung erfasst. So wie auch die letzten Male. Es ist beinahe so, als würden deine Gedanken kreisen, bevor du loslässt.«
»Hm!«
»Warst du mit deinem Baum im Kontakt? Hast du den Magiefaden gesehen, der von ihr ausgegangen ist?«
»Magiefaden?« Ich runzle die Stirn? Wie kann sie diese allumfassende Lawine als Faden bezeichnen?
»Kate, du musst dich auf deinen Baum einlassen, dich ihm ganz hingeben, damit der Faden kontrolliert in dich hinein- und auch wieder hinausfließen kann. Sonst wird das nichts.« Ich gehe zu meiner Eiche hinüber und lege die Stirn an ihren Stamm.
Magali brummt in meinem Kopf. Ich habe keine Ahnung, wie ich noch mehr mit dir verbunden sein könnte.
›Kannst du nicht mit Marys Weide sprechen? Vielleicht kann sie dir die Bindung erklären.‹
Auch wenn ich diesen hochnäsigen Schlabberzweig nicht mag, werde ich es versuchen. Das tue ich aber nur für dich.
Ich kichere leise. Dabei schicke ich ihr meine ehrliche Dankbarkeit über das goldene Band, was uns auf Lebzeit verbinden wird.
Ich drehe mich zu Mary um. »Lass uns nach Hause gehen. Ich habe noch viel zu tun.«
Sie nickt und ich weiß, dass sie denkt, ich will nur aus der Situation flüchten. Vielleicht hat sie ja auch ein wenig Recht, aber hauptsächlich warten zwei Referate auf ihre Fertigstellung.
Ich beobachte die untergehende Sonne durch das hohe vergitterte Fenster, das mit dicken Samtvorhängen umrahmt ist, während der Mann auf mich einredet. Die Polster des weichen Lehnsessels sollen mir Gemütlichkeit vorgaukeln, ebenso wie die warmen Brauntöne, in denen das Zimmer gehalten ist. Alles eine Masche, damit seine Patienten ihm schneller vertrauen. Aber ich bin kein Patient, auch wenn er das jetzt noch glaubt. Der alte Mann mit Halbglatze und Nickelbrille lächelt mich väterlich an. Es ist zum Kotzen. Diese Manipulation. Aber ich kann das besser. Er wird schon sehen.
Er schaltet das Aufzeichnungsgerät an, das auf dem kleinen Tischchen angebracht ist, das zwischen uns steht. Sicherlich haben diese Idioten da draußen im Wartezimmer, die sich meine Eltern schimpfen, ihm die Erlaubnis dazu gegeben. Ich werde nicht mehr nach meiner Meinung gefragt. Ich bin der kaputte Junge, der repariert werden muss. Pah! Was wissen die schon?
»Tyron, erzähle mir doch etwas über deine Kindheit. Wie bist du aufgewachsen?« Immer die gleiche Frage. Ich würde so gern die Augen verdrehen, stattdessen falte ich die Finger ineinander und spiele den liebenswürdigen Jungen. »Ich hatte eine sehr schöne Kindheit. Wir haben viel unternommen.« Ich muss noch etwas Zeit schinden. Ihm heile Welt vorgaukeln. Mein Blick huscht auf die Uhr über der Tür. Schon eine halbe Stunde bin ich mit dem Kerl hier drin. Triumph erfüllt mich. Wie sehr es mich erfüllt, wenn sie mich unterschätzen.
»Gab es etwas, das dich bis heute beschäftigt?«
»Na ja, als unsere Katze Blümchen gestorben ist, war ich sehr traurig. Sie hat immer bei mir im Bett geschlafen.« Wollte er so einen Mist hören? Es gab nie ein Blümchen. Mein Vater hat eine Katzenhaarallergie.
»Das tut mir sehr leid, Tyron. Belastet dich dieser Verlust heute noch?«
Immer wieder nimmt er einen großen Schluck Wasser. Ich lasse mein Glas unberührt. Er darf alles für sich haben.
»Nein, ich habe verstanden, dass Blümchen ein schönes Leben hatte und im Himmel auf mich warten wird.« Meine Mundwinkel heben sich. Ich weiß, wie ich mein Gesicht verziehen muss, um Vertrauen zu erwecken. Und sogar der Kerl, der laut dem Zertifikat an der Wand, Menschen studiert hat, fällt darauf herein. Er ist ein Nichts.
Wie ich es hasse, meine Zeit zu verschwenden. Sie erzählen doch alle immer das Gleiche, versuchen herauszufinden, welcher Schmerz mich quält oder welches Kindheitstrauma ich bewältigen muss. Und wenn ich ihnen hundertmal sage, dass da nichts ist und sie mich langweilen, interessiert es sie trotzdem nicht. Deshalb spiele ich mit, erzähle ihnen herzzerreißende Märchen und tackere mir ein Lächeln ins Gesicht.
»Tyron, dieser Hass auf deine Eltern muss irgendwo herkommen. Ihr habt sicherlich schon so viele Möglichkeiten erörtert, aber vielleicht bekommen wir beide gemeinsam heraus, was es ist. Was sagst du? Sollen wir zusammenarbeiten, um dir wieder ein ruhiges Familienleben zu ermöglichen?« Am liebsten hätte ich ihn ausgelacht. Was denkt er denn? Sein Gelaber ist es. Es macht mich wahnsinnig. Schon jetzt pulsiert die Wut heiß durch meine Adern. Aber ich werde siegen. So wie ich immer siege.
Mein Blick ruckt von der Uhr zu dem Quacksalber. Das sind die bescheuertsten Fragen, die ich je gehört habe. Diese Familie, ich zeichne in meinem Kopf die Gänsefüßchen in die Luft, ist mir scheißegal. Ich will einfach nur meine Ruhe. Aber ich werde sie bald haben. Es dauert nicht mehr lange. Schon stehen Schweißperlen auf seiner Stirn und sein Kopf ist rot, wie ein Feuerhydrant. Er atmet schnell und schiebt seinen Finger immer wieder in seinen Kragen, um seinem Hals mehr Platz zu verschaffen. Mein Blick wandert von seinem Gesicht zu seiner beigefarbenen Leinenhose, die sich mittig deutlich ausbeult. Endlich!
Langsam beuge ich mich nach vorn und stelle die Ellenbogen auf seinen Knien ab.
»Tyron, was ...«, keucht er. Aber ich lege meinen Zeigefinger auf seine wulstigen Lippen, während ich das Aufnahmegerät stoppe. Dann verschränke ich meine Hände und lege mein Kinn darauf ab.
»Ich muss Ihnen dringend etwas unter vier Augen sagen.«
»Okay, das ist allerdings sehr unüblich.« Mr. Ich kann mir seinen Namen nicht merken, beugt sich mir erwartungsvoll entgegen. Fehler, alter Mann. Schnell wie eine Viper lasse ich meine Hand nach vorn schnellen, greife nach seiner Krawatte und ziehe ihn zu mir. Unsere Nasen berühren sich beinahe und mit Freude erkenne ich die ersten Anzeichen von Furcht in seinen Schweinsäuglein.
»Ich bin nicht an irgendwelchem Familienleben interessiert. Diese zwei zitternden Individuen da draußen im Wartezimmer sind mir egal. Sie haben mich hierhergeschleppt, weil sie denken, dass etwas in mir geheilt werden muss, aber«, ich schenke ihm ein breites Grinsen, »ich mag mich, so wie ich bin.«
Ich lasse ihn los. Der Typ ringt nach Atem und rückt sofort von mir ab.
»Tyron, deine Eltern haben dich zu mir gebracht, damit dir geholfen wird.«
Ich zucke mit den Schultern. »Ich verschwende hier nur meine Zeit, weil sie mir mein Auto wegnehmen wollen. Mir blieb keine andere Wahl. Deshalb wäre es auch sehr nett, wenn sie in ihren Bericht schreiben würden, dass sie mit meiner Zusammenarbeit zufrieden sind.«
Seine Augen werden groß. »Das kann ich nicht tun, Tyron. Aber wir finden bestimmt einen Weg, wie ich dir helfen kann.«
Gelangweilt zucke ich mit den Schultern, ziehe den Reißverschluss meiner Jacke herunter. Darunter ist mein Oberkörper nackt. Mit einem lasziven Blick stürze ich mich auf den Schoß des Psychodocs. Der Blitz des Handys erfüllt den Raum, bevor der Kerl überhaupt Luft holen kann. Langsam stehe ich auf und gehe im Zimmer auf und ab, während ich das Foto betrachte. Es ist wirklich sehr gut geworden. Seine Erektion ist deutlich zu sehen und seine Hände liegen auf meiner nackten Brust. Niemand würde auf die Idee kommen, dass er mich von sich stoßen wollte.
»So, lieber Herr Doktor. Sie wollen doch sicherlich nicht, dass ich sie noch oft besuchen kommen muss, oder? Natürlich komme ich gern und zeige anschließend allen, wie einfühlsamen Ihre Hände über meinen Körper gleiten. Würde Ihnen das gefallen?«
»Das ... das ...« Er ringt nach Atem und bedeckt mit den Handflächen seinen Schritt.
Ich wende mich ihm zu und lege meine Finger auf seine zitternde Hand. »Schhhhh, keine Angst. Es sind nur ein paar Worte in einer Akte und dann muss es ja nicht so weit kommen.«
Er schluckt, weil auch er erkennen muss, dass ich gewonnen habe. Kein Arzt kommt damit durch, einen Jugendlichen sexuell belästigt zu haben, und dann auch noch gleichgeschlechtlich, in einem Kaff wie Autum. Davon würde er sich nicht mehr erholen. Endlich sehe ich wahre, reine Angst in seinen Augen. Ich sauge den Anblick in mich auf. Es tut so gut.
»Wie hast du das gemacht?« Ich höre die Resignation deutlich aus seinen Worten heraus und zucke mit den Schultern. »Sie sollten ihr Wasser besser nicht offen herumstehen lassen.«
»Du hast mich vergiftet?«
»Aber nein. Vielleicht fahren sie einfach nach Hause und nutzen die Gelegenheit, um Ihrer Frau ein Lächeln ins Gesicht zu zaubern. Sehen Sie es als Geschenk von mir. Was sagen Sie? Sollen wir unsere Zusammenarbeit hier beenden und Sie bescheinigen meinen Eltern, dass ich völlig normal bin?«
Als er nickt, stehe ich auf, gehe beschwingt zur Tür und öffne sie.
»Vielen Dank, Herr Doktor. Sie sind unglaublich«, rufe ich lauter als nötig in den Raum zurück. Der jetzt ohnehin schon blasse Mann, sieht inzwischen aus wie eine Kalkwand. Gut so. Hoffentlich muss ich ihn nie wiedersehen.
Aus Dads Schlafzimmer höre ich bereits lautes Schnarchen, als ich die Treppe hinaufschleiche. Es ist spät und ich ahne, dass ich in dieser Nacht nicht einmal mehr einen Aufsatz beenden werde. Die Last auf meinen Schultern wird immer größer. Wie soll ich das alles nur schaffen, ohne wahnsinnig zu werden? Wenn Mum doch noch da wäre. Sie könnte mir helfen. Schließlich ist sie auch eine Hexe und wenn es nach dem geht, was Mary die ganze Zeit über sie erzählt, muss sie eine der besten sein.
Denk nicht darüber nach. Sie hat dich verlassen, einfach so ist sie nicht mehr aufgetaucht. Ich erinnere mich genau daran, dass ich zwei Tage lang gewartet habe, bevor ich mit dem Fahrrad zu Dads kleiner Wohnung gefahren bin und ihn unter Tränen angefleht habe, dass ich bei ihm bleiben kann. Ich schlucke die Traurigkeit herunter, als ich an diesen Tag denke. Sie hatte wohl auch keine Lust darauf, eine unfähige Hexe großzuziehen.
Wütend schiebe ich die Gedanken zur Seite. Ich will sie nicht, weil sie mir jedes Mal das Herz zerreißen. Dabei hat sie mir versprochen immer für mich da zu sein. Deshalb habe ich anfangs noch daran geglaubt, dass sie einen Unfall gehabt haben muss, dass die Polizei sie findet, in einem Krankenhaus oder auch in einer Leichenhalle. Aber da war nichts. Sie ist verschwunden und hat ihre Spuren verwischt, um ein neues Leben anzufangen. Ohne mich! Wie soll ich es sonst erklären? Ich schnaube und schlage hart auf das Geländer. Das Holz ächzt unter der unsanften Behandlung.
Wie konnte ich ihr nur jemals glauben, dass sie mich geliebt hat? Alles gelogen. Sonst hätte sie sich nicht eines Nachts ohne ein Wort aus dem Staub gemacht. Nur ihre Handtasche hat sie aus ihrem alten Leben mitgenommen, alles andere hinter sich gelassen. Den Ballast abgeschüttelt. Mich abgeschüttelt.
Ich schlucke schwer und wäre beinahe über den Kater gestolpert, der wie aus dem Nichts auftaucht und schnurrend um meine Beine schleicht. Müde hebe ich ihn auf und drücke ihm einen Kuss auf die Stirn. »Willst du mir Gesellschaft leisten, Monti?«
Der Kater reibt seinen Kopf an meinem Kinn, was ich als Zustimmung interpretiere. Müde setze ich mich an den Schreibtisch und ziehe den Laptop aus der Schublade. Es macht keinen Sinn, sich weiter über Mum Gedanken zu machen. Es ist wie es ist. Das Leben geht weiter. Und nun wartet Bio auf mich.
»Hallo, ihr lieben Moleküle. Was wollt ihr uns heute über eure Zusammensetzung berichten.« Ich kichere über meinen eigenen Scherz und lasse die Finger über die Tastatur fliegen.
Die Vorhänge vor dem offenen Fenster blähen sich und warmer Sommerwind weht beruhigend über meinen Nacken. Ich werde müde. Die Augen tränen und ich muss sie immer wieder reiben, um die Buchstaben wieder scharf zu sehen. Nur ein paar Minuten die Augen ausruhen. Danach kann ich bestimmt viel besser weiterschreiben. Ich lege den Kopf auf meine Unterarme und schließe die Augen. Nur einen Moment.
Mitten in der Nacht wache ich auf. Verdammt! Wie konnte ich so lange schlafen? An ein Weiterschreiben ist jetzt nicht mehr zu denken. Mein Rücken schmerzt und ich will nur noch ins Bett. Der Tag war anstrengend und auch ich bin nicht unkaputtbar.
Ich habe noch Zeit bis Montag, um den Aufsatz zu beenden. Bestimmt werde ich mir am Wochenende ein paar Stunden freischaufeln können. Zumindest hoffe ich das. Müde krieche ich in mein Bett und bin eingeschlafen, noch ehe ich die Decke über mich ziehen kann.
Schwer atmend wache ich auf. Schweiß liegt als feuchter Film auf meiner Haut. Ich muss aufstehen und dem Drang folgen, der mich in die Finsternis des alten Herrenhauses zieht. Dabei bleibt mir keine Zeit, in die Pantoffeln zu steigen. Mit nackten Füßen tappe ich über die glatten Dielen, die bei jedem Schritt laut knarzen. Ich achte nicht darauf, die Tür zu meinem Zimmer leise zu öffnen. Sie donnert gegen die Kommode. Ob meine Eltern diesen Krach hören, ist mir egal. Sie sind mir egal. Und inzwischen lassen sie mich auch in Ruhe. Sie haben es aufgegeben, mich zu retten. Retten... als wenn ich das brauche. Das Einzige, das in diesem Moment wichtig ist, ist das Ziel. Ich will dorthin. Tausend Fäden ziehen mich in eine Richtung und ich will mich nicht dagegen wehren. Obwohl ich noch keine Ahnung habe, wo sie mich hinführen oder um was für ein Ziel es sich handelt. Mit Sicherheit weiß ich allerdings, dass mein Leben davon abhängt dieses Ziel zu erreichen und es muss heute Nacht sein. Nicht morgen und auch nicht nächste Woche. Dabei bin ich bereit alles aus dem Weg zu räumen, was es wagt, mich aufzuhalten.
In der Dunkelheit stoße ich mir den Fuß am Wandschrank im Flur. Ich erschaudere kurz, als der Schmerz ausbleibt. Normalerweise würde ich jetzt schon auf einem Bein hüpfen und meinen Fuß in den Händen halten. Es ist der Drang vorwärtszugehen, der keine Zeit für Schmerzen lässt. In diesem Moment hätte mir jemand die Füße abschlagen können und ich wäre auf Stümpfen weitergegangen.
Vorwärts! Immer weiter!
Mit wild schlagendem Herzen steige ich die Steintreppe zum Keller hinab. Es ist kalt hier unten. Ich spüre die Gänsehaut auf meiner Haut, nehme sie aber nur am Rande wahr. Als würde ein anderes Bewusstsein mich steuern, zieht mich die unverputzte Steinwand zu meiner rechten in ihren Bann. Nacheinander drücke ich vier Ziegel in die Wand hinein. Ich weiß, was gleich geschehen wird, und trete einen Schritt zurück.
Die Mauer ruckt. Steine kratzen über den Boden. Ein Torbogen erscheint in der Wand und gibt einen Weg ins Unbekannte frei. Doch es fühlt sich an, als wäre ich ihn schon hundertmal gegangen. Alles ist richtig. Es gibt keine Angst. Auch nicht, als die schwarzen Schwaden über die Treppenstufen nach oben wabern und meine Beine umspielen. Im Gegenteil, es ist wie eine Begrüßung, das Erkennen eines guten Freundes.
Meine Füße ziehen mich vorwärts – Schritt für Schritt, Stufe für Stufe.
Plötzlich höre ich ein Käuzchen schreien. Ist der Ruf eine Warnung oder ein Willkommen? Mein Herz bleibt einen Augenblick stehen, um dann noch schneller weiterzuschlagen. Der Puls rauscht in meinen Ohren und übertönt beinahe den Wind, der durch die hohen Baumkronen pfeift. Wölfe heulen und ich höre, wie ihre Pfoten im Laub des Waldes rascheln. Die Bäume rechts und links von mir sind in der nebligen Finsternis nur als Schemen erkennbar.
Eine Stadt taucht im Nebel auf. Sie ist groß und imposant. Häuser aus dunklem Stein reihen sich an der Hauptstraße auf, die zu einem beeindruckenden Schloss in der Mitte führt. Fackeln erleuchten meinen Weg. Mein Herz jubiliert. Aufregung lässt meine Kopfhaut kribbeln. Jetzt sehe ich mein Ziel genau vor mir. Meine Schritte beschleunigen sich. Ich lasse die ersten Häuser hinter mir und höre Ketten klirren. Es ist mir egal. Weiter! Immer vorwärts. Das Schloss ist mein Ziel.
Licht flutet die unteren Fenster. Es erleuchtet den kleinen Park, der sich ordentlich gepflegt um das Haus erstreckt. Aber er gibt nur dunkle Sträucher und ein wenig Gras. Der Rest ist mit Kies ausgestreut und sauber geharkt. Es knirscht, als ich zur Eingangstür gehe, die von zwei hohen Marmorsäulen eingefasst ist. Sie schwingt auf, noch ehe ich anklopfen kann zwei Gestalten treten heraus. Ich kann sie in der Dunkelheit kaum erkennen. Doch ich weiß, dass sie mein Zuhause sind. Hier gehöre ich hin.
Im Schulflur ist es kühl. Eine Wohltat. Eigentlich hätte der Herbst die Temperaturen abkühlen sollen, aber der Sommer wehrt sich noch standhaft.
Meine neuen Sneaker quietschen auf dem glänzenden Linoleum, als ich zu meinem Spind gehe. Dieses Geräusch erinnert mich mit jedem Schritt daran, dass ich sie mir redlich verdient habe. Noch nie habe ich so teure Schuhe besessen. Aber sie sind bequem und werden die Schichten im Diner nicht mehr mit schmerzenden Füßen enden lassen. Sie versinken nämlich regelrecht in der Memoryfoamsohle.
»Hast du den Aufsatz dabei?« Ich schrecke zusammen und drehe mich um. Hellens Erdbeermund strahlt mich an.
»Ich bin noch nicht fertig, aber ich habe noch das ganze Wochenende Zeit. Das wird schon.«
»Versetz mich nicht, Kate. Ich habe keine Zeit, mir selbst den Kopf über so einen Blödsinn zu zerbrechen.«
Sie dreht sich zu den anderen Cheerleadern um, die in einigem Abstand außer Hörweite auf sie warten. Natürlich geht Hellen nicht damit hausieren, dass ich ihre Hausaufgaben erledige. Sie wirft das blonde Haar über die Schulter und sagt lauter, als es nötig gewesen wäre: »Die Playoffs stehen an und die Cheerleader sind immer so stark wie ihr schwächstes Glied. – Nicht wahr, Lisa?«
Die Angesprochene ist noch nicht lange im Team und darum auch noch nicht so routiniert wie anderen. Aber Hellen kennt keine Gnade. Entweder die Mädchen ziehen mit oder sie werden ersetzt. Ich bin froh, dass ich nie auch nur annähernd die Sportlichkeit an den Tag gelegt habe, um Hellen als potenzielle Kandidatin aufzufallen. Bis vor einem Jahr hat der Babyspeck sich an mir festgeklammert und meine Zahnspange hat mein Lächeln in eine Szene aus James Bond verwandelt. Niemals hätte Hellen jemanden wie mich in ihr Team aufgenommen.
»Ich werde mehr trainieren, Hellen. Du wirst sehen, bis zum ersten Spiel kann ich jede Figur perfekt.«
»Das will ich hoffen.« Hellen nickt ihr zu und sieht zurück zu mir.
»Dann sehen wir uns in einer halben Stunde auf dem Spielfeld. Du siehst uns doch zu?«
Fieberhaft überlege ich, was ich für Möglichkeiten habe, um ihr abzusagen. Ich brauche jedes bisschen Zeit für die Aufsätze und meine Magie. Da kann ich mich nicht tatenlos auf eine Tribüne setzen.
Doch bevor ich etwas erwidern kann, hat sich Hellen bereits abgewendet und eilt mit ihrer Entourage davon.
Verdammt! Warum kann ich nicht einfach mal schlagfertig sein?
Ich seufze und öffne den Spind. Das heißt dann wohl, dass ich auf der Tribüne schreiben muss, während Hellen Befehle schreit und das Footballteam das Training absolviert. Konzentration gleich Mangelware. Aber anders geht es nicht, wenn ich Hellen nicht enttäuschen will.
Mit dem Biobuch in meinem Rucksack folge ich der Fanbase zum Spielfeld. Die Ränge sind schon gut gefüllt. Natürlich! Die Auswahl der Stammspieler steht an und die Plätze der Abgänger müssen neu besetzt werden. Ein Spektakel, das sich keiner entgehen lässt. In diesem Gedränge kann ich nicht schreiben. Das ist ausgeschlossen.
»Hast du gehört, dass Tyron McReef neu an unserer Schule ist?« Ich folge zwei Mädchen, die so laut tuscheln, dass keiner in ihrer Umgebung es überhören kann. Die Angesprochene reißt die Augen auf. »Du kannst nicht den Quarterback der London Warriors meinen.«
»Keinen anderen.« Die Blonde grinst breit. »Er ist erst gestern nach Autum gezogen und ich bin mir sehr sicher, dass er auch bei der Auswahl dabei sein wird.«
»Das ist doch alles nur Show. Wenn Tyron wirklich in die Mannschaft will, dann werden sie ihm den roten Teppich ausrollen. Er ist ein Star und alle haben darüber gerätselt, bei welcher Universität er ein Sportstipendium abgreifen wird. Dass er ausgerechnet hier sein Abschlussjahr macht, ist so genial.«
Die Dunkelhaarige packt die Hand ihrer Freundin. »Wir sollten uns die besten Plätze sichern. Komm schon!« Sie rennt los und zieht das blonde Mädchen hinter sich her.
Kann es sein, dass der fiese Junge von gestern besagter Tyron McReef ist? Wenn diese Mädchen wüssten, was für ein Arsch er ist, würden sie eher das Weite suchen, als Plätze zu ergattern, die ihm am nächsten sind. Auf diesen Kotzbrocken kann ich gut verzichten. Besonders, wenn er mit den anderen genauso nett umgeht, wie er es mit seinen Eltern getan hat.
Ich schiebe mich auf den Platz hinter den Cheerleadern, den Hellen für mich freigehalten hat. Sie spricht gerade mit erhobenem Zeigefinger mit Lisa. Ich sehe die Anspannung im Gesicht des Mädchens. Heute ist ihre Generalprobe vor voll besetzter Tribüne. Hellen wird keinen Fehler akzeptieren. Auch wenn es sich nur um ein Training handelt, liegen doch die Augen der Zuschauer nicht nur auf den Spielern und der Auswahl der Neuen, sondern auch auf den Schulschönheiten, die ihre Beine schwingen und mit den Hüften wackeln.
Lisa nimmt die Pompons auf und stellt sich an ihren Platz ganz hinten in der Formation. Ihre Hände zittern. Keine gute Ausgangslage, um fehlerfrei durch die Choreographie zu kommen. Das weiß sie auch, denn sie ist so weiß, dass ich ihre Sommersprossen bis hierher sehen kann. Sie bilden einen harten Kontrast zu den beinahe blutleeren Wangen.
Hellen hebt ihre Püschel über den Kopf. Sie rascheln laut, während sie den Schlachtruf der Autum Centrals anstimmt. Doch meine Aufmerksamkeit wird von etwas anderem abgelenkt. Die Spieler kommen aus der Kabine. Sofort fällt mir auf, dass Ben nicht mehr das Trikot des Quarterbacks trägt. Die Nummer zwanzig prangt in dicken schwarzen Zahlen auf dem weißen Oberteil. Runningback. Nur noch der zweite Spieler auf dem Feld. Trotzdem lächelt er und winkt dem Publikum fröhlich zu.
Hinter den Stammspielern folgen die neuen Anwärter und ich kann die Augen nicht von Tyron lassen. Er ist es wirklich, und auch hier ist sein Gesicht eiskalt. Angesichts des Jubels, der bei seinem Anblick aufbrandet, wäre etwas Freude oder wenigstens eine Begrüßung seiner Fans angebracht, aber dieser Kerl starrt nur geradeaus. Wie üblich tragen die Anwärter ihre Trikots noch nicht. Sie sind ausgestattet mit den Schulterpolstern und tragen ihre Helme in der Hand. Die Oberkörper unter dem Schutz sind nackt, zeigen jeden Zentimeter Haut. In Tyrons Fall handelt es sich um eine leicht Gebräunte, die sich über sehnige Bauchmuskeln spannt. Er geht an den Zuschauern vorbei, ohne zu bemerken, was für ein Aufruhr seinetwegen entfacht ist.
Alle Anwärter stellen sich auf. Die Cheerleader in ihrem Rücken geben alles, um die spannende Auswahl anzuheizen. Doch mein Blick bleibt auf Tyrons Rücken hängen. Bei jeder seiner Bewegungen bewegen sich die festen Muskelstränge seines Rückens. An diesem Kerl ist wirklich nichts auszusetzen. Hätte er denn nicht wenigstens einen Makel haben können?
Nein! Er ist optisch perfekt. Selbst wenn mir niemand gesagt hätte, dass er ein Spitzensportler ist. Dieser Körper hätte es verraten.
Plötzlich ruckt sein Kopf herum. Unsere Blicke treffen sich und ich kralle mich an meiner Schultasche fest. Ich fühle mich dabei ertappt, wie ich ihn anstarre, und senke den Blick. Wie kann ich nur so oberflächlich sein? Dieser Junge ist vielleicht optisch eine glatte Eins, aber in seinem Inneren ist er einfach nur schlecht. Wenn ich das auf einer Skala abbilden müsste, würden die Minusstellen bis ins Nirwana reichen, bevor ich mein Kreuz setzen könnte. Er behandelt seine Mutter, als wäre sie ihm zuwider. Ich weiß, wie das Leben ohne Mutter ist, und ich würde alles dafür geben, sie wieder zurückzubekommen. Denn ich vermisse sie jeden Tag, jede Stunde, jede Minute. Er soll doch froh sein, dass er sie hat. Sie liebt ihn. Der Ausdruck in ihren Augen war nicht zu verkennen, auch wenn die Verzweiflung die Hoffnung beinahe überdeckt hat.
Der Trainer greift nach dem Mikrofon und verkündet, welche Spieler es in die Mannschaft geschafft haben. Jedes neue Teammitglied wird frenetisch gefeiert. Die Menge ist außer sich. Sie jubeln und blasen in Pfeifen, deren schrilles Getöse mir beinahe die Trommelfelle sprengt.
Zum Schluss geht er auf Tyron zu. »Ben und ich sind uns einig, dass wir eine Chance wie diese nicht verstreichen lassen sollten. Wenn Tyron McReef uns zum Saisonsieg führen kann, dann nehmen wir diesen Wink des Schicksals gerne an. Wie ihr seht, trägt Ben das Trikot des Runningbacks. Das ist nicht ohne Grund so. Er tritt zur Seite, um diesem jungen Mann Platz zu machen, ihm den Rücken zu stärken und damit den Sieg für die Autum High einzufahren.« Er entfaltet unter tosendem Jubel das Trikot mit der Nummer eins auf dem Rücken und reicht es Tyron mit dem breitesten Grinsen, das ich im Gesicht des rundlichen Coachs jemals gesehen habe.
Tyron nimmt es entgegen und zieht es sich über den Kopf. Dann nickt er dem Trainer und Ben zu. Ohne ein weiteres Wort geht er auf seine Position auf dem Spielfeld. Der Coach runzelt die Stirn, schickt dann aber schnell die anderen Spieler ebenfalls auf den Rasen, die sich in zwei Teams aufteilten. Schließlich soll dem Publikum auch etwas geboten werden.
Ich sehe mich um. Niemand nimmt Hellen und ihre Kolleginnen wahr. Alle halten den Atem an, als Tyron sein zukünftiges Team um sich schart und ihnen Anweisungen gibt. Dabei sieht er jeden eindringlich an und schwört sie inbrünstig auf den ersten Spielzug ein. Er wirkt so anders inmitten der Spieler, die ihm an den Lippen hängen. Beinahe meine ich, einen Glanz in seinen Augen zu erhaschen, den ich nur mit Vorfreude beschreiben kann. Er ist wie ein König inmitten seiner Untertanen. Das kann er.
Nach dem Pfiff des Schiris spielt Tyron zu Ben ab, der sich einige Schritte nach vorn kämpft. Tom und Joseph laufen sich frei. Auch Tyron schlängelt sich durch die Reihen der Gegner. Sie greifen nach ihm. Einer hechtet sogar nach vorn, um seinen Knöchel zu packen. Tyron weicht allen Angriffen mit Leichtigkeit aus. Er ist schon fast auf der Torlinie, als Ben zu Joseph passt und der das Ei in einem hohen Bogen zu Tyron spielt. Die Gegner stürmen auf ihn zu, wie die Heuschrecken. Jeder will ihn erreichen, bevor er in die Winningzone kommt. Doch Tyron fängt den Pass nur kurz und wirft sofort zu Ben zurück. Als er unter einer Meute an Gegnern begraben wird, ist es für Ben einfach, den ersten Touchdown des Spiels zu machen. Es sind keine Gegner mehr da, die der Nummer zwanzig gefährlich werden könnten. So viel Weitsicht hätte ich diesem eingebildeten Tyron gar nicht zugetraut. Es passt nicht zu ihm, dass er Ben den Erfolg überlässt. Beinahe bin ich geneigt, meine Meinung über ihn zu überdenken, doch dann steht er auf, wischt sich den Dreck vom Trikot und geht ohne irgendwelchen Siegesjubel zurück zu seiner Ausgangsposition. Wie kann man nur so komplett ohne Freude durchs Leben gehen?
Als das Spiel beendet ist, zieht Tyron sich den Helm vom Kopf und fährt sich mit den Fingern durch die blonden Wuschelhaare. Nichts zeigt, dass er gerade Football gespielt hat. Er ist weder verschwitzt noch außer Atem. Das ist doch unmöglich. Er ist nicht weniger gerannt als die anderen Spieler.
Ben stürmt gerade auf Hellen zu, hebt sie hoch und wirbelt sie einmal im Kreis. »Hast du gesehen, wie leicht es mit diesem Spitzenspieler ist, zu siegen?« Sein Gesicht strahlt vor lauter Euphorie.
Hellen presst die Lippen kurz zusammen. Sie sieht nicht gerade glücklich aus, aber Ben scheint das nicht zu bemerken. »Musstest du ihm deshalb die Spielführerposition überlassen?» Hellen stemmt die Hände gegen seine Schultern und er lässt sie lachend runter.
»Neben Tyron McReef bin ich gern die Nummer zwei und mach dir keine Sorgen. Er ist nicht der Typ, der sich ein Mädchen sucht, das dir deinen Platz als Abschlussballkönigin streitig machen könnte. Wahrscheinlich würde ihm im Traum nicht einfallen, auf einen solchen Ball zu gehen.« Er küsst sie und presst sie an sich. »Wir sind noch immer das Dreamteam der Schule.«
»Geh weg von mir! Du bist völlig durchgeschwitzt.«
Er küsst sie noch einmal und lässt sie dann los. »Ich liebe dich, Honey!«, ruft er so laut, dass die letzten Fans, die noch nicht gegangen sind, johlen und applaudieren. Ich tauche unter der Absperrung hindurch. Bei Hellen komme ich an, als Ben ihr noch eine Kusshand zuwirft und dann in der Kabine verschwindet.
»Ist dieser Tyron McReef nicht das Heißeste, was du je gesehen hast?«, sagt Hellen mit rauer Stimme neben mir. Sie starrt ihm nach, als wäre er ein Sahnetörtchen und sie auf einer dieser Low Carb Diäten.
Ich sehe ebenfalls zu ihm hinüber. Ein Waterboy reicht ihm gerade einen Becher Wasser. Ich sehe seine Aufregung. Noch ein Fan des großen Tyron McArsch, denke ich, sage aber nichts, über seine ungehobelte Art. Stattdessen stemme ich die Hände in die Hüften. »Du bist mit Ben zusammen. Das ist der Kerl, der dich auf Händen trägt.«
Sie packt ihre Sachen zusammen. »Ja, er ist toll, aber wer will schon die Nummer zwei?«
Mein Mund klappt auf. Ich weiß nicht, was ich darauf erwidern soll. Hellen nimmt ihre Tasche, drückt mir einen Kuss auf die Wange und eilt davon. Ich bleibe zurück und starre ihr nach. Wann ist meine beste Freundin so oberflächlich geworden? Das kann sie doch nicht ernst meinen. Sie und Ben sind das Traumpaar der Schule. Und mal ganz ehrlich, wer würde einen lieben Kerl wie Ben gegen Tyron austauschen wollen, der zu keiner netten Geste fähig ist?
Plötzlich schreit jemand hinter mir erschrocken auf. Ich wirble herum und sehe gerade noch wie Tyron dem Jungen den Becher vor die Füße wirft. Aus den Haaren des Kleineren tropft Wasser und seine Unterlippe bebt.
Tyron hat sich mit in die Hüften gestemmten Händen über ihn gebeugt. »Nennst du das kaltes Wasser? Das ist lauwarm.«
Der Junge schluckt. »Es tut mir leid, Tyron.«
»Ich will kaltes Wasser, jetzt!«
Der Junge rennt davon und ich sehe, dass er sich anstrengen muss, um nicht vor allen loszuheulen.
Überall Menschen. Ich verziehe angewidert das Gesicht und muss mich zwingen, nicht vor ihnen auf den Boden zu spucken. Sie stinken nach Tod und Verwesung. Seit ich das erste Mal in die Welt gerufen wurde, in die ich wirklich gehöre, gesehen habe, wie stark mein Volk ist, will ich es ihnen entgegenbrüllen. Diese Wesen sind minderwertig und ich muss mich mit ihnen umgeben und meine Zeit damit verschwenden, ihren dummen Worten zu lauschen. Warum kann ich nicht schon jetzt nach Hause gehen? Ich will mich nicht mit diesen Insekten umgeben. Es widert mich an, wie sie vor mir kriechen.
Wenn es nicht diese unsinnige Regel gäbe, dass ich erst an meinem achtzehnten Geburtstag mein wahres Leben aufnehmen darf, würde mich nichts mehr hier halten. Stattdessen muss ich mich anpassen, damit niemand auf mich und mein Volk aufmerksam wird. Ich muss wie ein braver Menschenjunge in die Schule gehen und meinen Abschluss machen. Wer ist nur auf die Idee gekommen, dass jeder Spross einer adligen Familie einen Schulabschluss benötigt, um seinen Stand beizubehalten? Ein riesiger Bullshit, wenn man mich fragt. Aber das tut niemand. Noch nicht. Bald werde ich das Sagen haben und dann meinem Volk zu alter Größe verhelfen. Wir werden uns nicht mehr verstecken. Wir werden herrschen und jeden vernichten, der sich uns entgegenstellt.
Ich sehe dem Jungen nach, der mit seinen kurzen Beinen über das Spielfeld eilt. Seine Schultern beben. Wer hat einem solch armseligen Wesen nur erlaubt weiterzuleben? Er ist zu nichts nütze.
Ich lächele. Vielleicht gibt es doch eine Aufgabe für ihn. Mit solchem Vieh kann man die Marwölfe füttern. Dafür würde es reichen. Man muss nur genügend zusammentreiben, um die Bestien mit den orangerot glühenden Augen satt zu bekommen. Meine Lieblinge, die sich den Befehlen ihrer Herren unterwerfen und für sie in die Schlacht ziehen. Noch habe ich keinen von ihnen gebunden, aber sobald ich diese menschliche Hülle abgestreift habe, wird mich mein erster Weg zu ihnen führen. Ich will den stärksten von ihnen. Mit weniger gebe ich mich nicht zufrieden.
Ich knurre leise, als ich an die Zukunft denke. Ich sehe es schon jetzt vor mir, wie die Menschen sterben, die keinen Nutzen für mein Volk haben. Wie sie betteln und flehen, ohne dass es etwas an ihrem Schicksal ändert. Dann sind wir am Ziel angekommen. Ich werde einen neuen Morgen einläuten, in dem wir herrschen und die Menschen vor uns kriechen, alle, ohne Ausnahme.
Ich kann es nicht glauben. Dieser Kerl ist den ersten Tag an unserer Schule und gibt wirklich alles, um auch hier das Arschloch raushängen zu lassen. Und alle lassen den Superstar gewähren. Wer ist er? Ein Grinch, der Weihnachten verpasst hat? Nicht mal der Trainer greift ein. Er reicht dem Jungen, der noch immer tropft, einfach nur ein Handtuch und klopft ihm auf die Schulter.
Ich balle die Fäuste an meiner Seite. Das Blut rauscht in meinen Adern und ich muss mich zusammenreißen, dass ich nicht über den Platz auf Tyron zustürme und ihn zur Rede stelle. Ungerechtigkeiten machen mich rasend. Doch ich weiß, dass ich es damit für den Jungen nicht besser machen würde. Niemand will, dass ein Nerd für ihn Partei ergreifen muss, besonders wenn dieser Nerd auch noch ein Mädchen ist. Mir bleibt nur, hier stehenzubleiben und diese muskulöse Brust mit Blicken zu erdolchen.
Meine Macht ist so wütend, dass ich mich kaum beherrschen kann. Ich will toben, schreien und die Magie mit aller Kraft auf ihn loslassen. Dabei würde ich gern sehen, ob sein Gesicht auch noch diesen gelangweilten Zug beibehält, wenn Disteln um seinen Körper wachsen oder Brokkoli aus seinen Ohren sprießt, während ein Erdbeben ihn durch die Luft schleudert. Zerstörung – das kann ich gut. Wenn ich nur so dürfte, wie ich will. Aber die Worte meiner Mutter kreisen durch meinen Kopf »Offenbare niemals, was du bist. Die Hexen müssen im Verborgenen leben, weil die Menschen alles hassen, was sie nicht verstehen.« Sie hat mir schon früh Geschichten über die Verfolgung der Hexen erzählt und mir immer wieder das Versprechen abgenommen, dass ich mich niemals in solche Gefahr begebe.
Ihre Stimme in mir zu hören, flaut die Wut ein wenig ab. Die Melancholie löscht das rasende Feuer in meinen Venen. Noch immer ist die Trauer um Mutters Verlust stärker als jedes andere Gefühl. Obwohl sie inzwischen seit fünf Jahren nicht mehr da ist, vermisse ich sie noch immer jeden Tag.
Ich seufze und senke den Blick, nur um erschrocken einen Schritt zurückzugehen und dabei die Wicken abzureißen, die sich um meine Knöchel geschlungen haben. Ich sehe mich um, aber außer dem Idioten Tyron, der gerade den anderen zur Kabine folgt, ist niemand mehr da. Es ist unwahrscheinlich, dass ich ihm überhaupt auffalle. Dieser Klotz erkennt wahrscheinlich kaum den Unterschied zwischen einem Menschen und einem Baum.
Erleichtert stecke ich mir die Airpods in die Ohren und öffne die Playlist auf meinem Handy. Enya und anschließend der Soundtrack der Twilight-Filme, die Mum so geliebt hat. Wobei ich meistens bei Song drei die Haustür aufschließe, wenn nichts dazwischenkommt. Mehr würde ich nicht verkraften und doch gibt es keine andere Musik, die ich hören will. Die Songs lassen mich ihr nah fühlen. Und vielleicht hoffe ich noch immer, dass ich die Tür hinter mir ins Schloss fallen lasse, und sie fragt aus der Küche, wie mein Tag war, während sie Spaghetti auf meinen Teller lädt. Das Leben mit Mum war so leicht. Ich musste mir über nichts Gedanken machen. Sie war eine Konstante in meinem Leben, immer da, wenn ich sie gebraucht habe. Bis zu dem Tag, als sie ohne ein Wort des Abschieds verschwunden ist. Dabei hat sie mir das Herz gebrochen. Ob sie sich darüber auch manchmal Gedanken macht, wo auch immer sie sein mag?
Von diesen Erinnerungen getragen, trete ich in die Pedale. Der Fahrtwind weht mir den letzten warmen Sommerwind um die Nase. In ihm liegt bereits der Geruch des Herbstes. Feuchtes Moos und absterbende Blätter riechen schwer und erdig. Auch Magali wird bald ihre Blätter abwerfen und sich auf den Winter vorbereiten. Sie liebt es, wenn die Jahreszeit sie bunt einfärbt. Zuerst in einem tiefen Gelb, was sich bald zu einem burgunderrot wandelt, bis sie braun zu Boden gleiten, um dort Magalis Wurzeln vor dem Schnee zu schützen.
Meine Magali. Kurz entschlossen biege ich rechts ab und fahre den Waldweg entlang, der zu ihr führt. Ich habe heute ein paar Stunden Zeit für mich, bevor ich mich an die Arbeit machen muss. Zeit, die ich gern mit ihr verbringe.
Ich kann es nicht erwarten, dass die Nacht endlich hereinbricht. Erst dann darf ich das Portal durchschreiten und zu denen gehen, die mir nach nur einem Besuch schon alles bedeuten. Sie sind meine Heimat. Dort gehöre ich hin. Noch scheint die Sonne siedend heiß vom Himmel. Die Ungeduld macht mich rasend. Mit langen Schritten eile ich zu meinem Auto. Erst jetzt ist mir bewusst, wie sehr der Wagen zu mir passt. Ein schwarzer Mustang. Selbst das, was an diesem Modell sonst in blankem Chrom erstrahlen würde, ist schwarz. An diesem Baby gibt es keine Farben. Nur schwarz. So wie meine Seele. Ein Abgrund, der in seiner Dunkelheit so dicht ist, dass es sich wie eine Umarmung anfühlt. Sobald ich mich in das schwarze Leder sinken lasse, fühle ich mich geborgen. Der Motor dröhnt laut auf. Ich verziehe den Mund zu einem Grinsen. Er kündigt mich an. Hier kommt der König. Geht aus dem Weg.
Das dumme Nachbarskind scheint sich nicht daran zu stören. Er steht auf dem Gehweg und beobachtet mich, aus dümmlichen kleinen Augen. Ein Fuß steht auf dem Trittbrett seines Rollers und mit einer Hand wickelt er sich seinen rosa Kaugummi um den Finger. Wie können Menschen das nur aushalten? Wie können sie sich mit solchen Blagen umgeben, ohne den Verstand zu verlieren?
Ich lasse den Motor noch einmal aufheulen.