Abenteuer Diagnose - Volker Arend - E-Book

Abenteuer Diagnose E-Book

Volker Arend

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Beschreibung

Wahre Storys aus der Welt der Medizin - für alle Fans von Dr. House & Good Doctor

Eine nahezu unbekannte Autoimmunkrankheit, ein höchst seltener Gendefekt oder ein unsichtbarer Fremdkörper im Zwölffingerdarm: Bei der "Fahndung" nach einer rettenden Erklärung für quälende, lebensgefährliche Beschwerden geht es in der Medizin manchmal zu wie im Krimi.

Woche für Woche berichten die Macher von "Abenteuer Diagnose" in der NDR-Erfolgsserie VISITE von den unglaublichsten Fallgeschichten. Sie besuchen Patienten und lauschen ihren Geschichten, führen intensive Interviews mit Angehörigen, Therapeuten und Ärzten und beschreiben spannend und mitreißend, wie es gelingt, mysteriösen Krankheitsauslösern auf die Spur zu kommen. Die 12 spannendsten Fälle aus fast 10 Jahren "Abenteuer Diagnose" – berührende Patientengeschichten, die einen verblüffenden Einblick in medizinische Detektivarbeit geben.

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Seitenzahl: 423

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Eine nahezu unbekannte Autoimmunkrankheit, ein höchst seltener Gendefekt oder ein unsichtbarer Fremdkörper im Zwölffingerdarm: Bei der „Fahndung“ nach einer rettenden Erklärung für quälende, lebensgefährliche Beschwerden geht es in der Medizin manchmal zu wie im Krimi.

Woche für Woche berichten die Macher von „Abenteuer Diagnose“ in der NDR-Erfolgsserie VISITE von den unglaublichsten Fallgeschichten. Sie besuchen Patienten und lauschen ihren Geschichten, führen intensive Interviews mit Angehörigen, Therapeuten und Ärzten und beschreiben spannend und mitreißend, wie es gelingt, mysteriösen Krankheitsauslösern auf die Spur zu kommen. Die 12 spannendsten Fälle aus fast 10 Jahren „Abenteuer Diagnose“ – berührende Patientengeschichten, die einen verblüffenden Einblick in medizinische Detektivarbeit geben.

Volker Arend | Anke Christians | Volker Präkelt

ABENTEUER DIAGNOSE

Wie Ärzte und Patienten mysteriösen Krankheiten auf die Schliche kommen

Wahre Medizingeschichten

WILHELM HEYNE VERLAG

MÜNCHEN

Die in diesem Buch erzählten Geschichten basieren auf wahren Ereignissen und wurden als TV-Beitrag in der NDR-Serie »Abenteuer Diagnose« umgesetzt. Aus dramaturgischen Gründen sind einige Namen und Ereignisse für die Buchfassung verändert worden. »Abenteuer Diagnose« ist eine Sendereihe im NDR Fernsehen und wird im Rahmen des wöchentlichen Gesundheitsmagazins »Visite« ausgestrahlt. Sie wird redaktionell betreut von Friederike Krumme und Susanne Brockmann.

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Originalausgabe 09/2018

Copyright © 2018 by Wilhelm Heyne Verlag, in der Verlagsgruppe Random House GmbH,

Neumarkter Str. 28, 81673 München

Umschlaggestaltung und Motiv: Hauptmann & Kompanie Werbeagentur, Zürich

© NDR – Lizensiert durch Studio Hamburg Enterprises GmbH

Redaktion: Dr. Ulrike Strerath-Boltz

Satz und E-Book Produktion: Satzwerk Huber, Germering

ISBN: 978-3-641-22797-5V002

www.heyne.de

INHALT

Vorwort

Alles inklusive

Wachsende Angst

Neben der Spur

Tohuwabohu

Luftnummer

Die Aufgabe

Psychoschwester

Auf Messers Schneide

Entzugserscheinungen

Sechser im Lotto

Die Beule

Viel hilft viel

Glossar

VORWORT

Bestimmt kennen Sie die Fernsehserie »Dr. House«. Eine Taskforce mit einem exzentrischen Arzt an der Spitze löst unglaublich knifflige medizinische Rätsel – haarsträubende Geschichten, bei denen es um Leben und Tod geht. Fast immer ist die Lösung eine Erkrankung mit unaussprechlichem Namen, den man garantiert noch nie gehört hat. Spannend, skurril und absolutes Pflichtprogramm in der Medizinredaktion des NDR. Denn – und das ist das Faszinierende an der US-Serie – die medizinischen Details stimmen, die abstrus anmutenden Krankheiten existieren wirklich. Auch wenn es manchmal weltweit nur eine Handvoll bekannter Fälle gibt.

Wenn also die Realität so viel spannender, unwahrscheinlicher und geheimnisvoller ist als das Ausgedachte – warum dann nicht gleich die wahren Geschichten erzählen, die Erkrankten selbst befragen? Die echten Ärzte zeigen, die sich in schwierige Fälle verbeißen, um medizinische Rätsel zu lösen?

Die Idee war geboren, doch damit standen wir vor der größten Herausforderung: Wie finden wir diese Geschichten, die Menschen mit so seltenen Erkrankungen? Das Internet, in dem sich ja bekanntlich alles entdecken lässt, hilft da nicht weiter. Eine Datenbank für schwierige Diagnosen – Fehlanzeige.

Deshalb haben wir ganz altmodisch begonnen. Haben Spezialisten kontaktiert, die wir aus unserer täglichen Arbeit für die Sendereihe »Visite« kennen: Fachärzte auf Gebieten, in denen seltene Erkrankungen zu vermuten sind: Neurologen, Hämatologen, Infektiologen und natürlich Tropenmediziner. Dazu Rheumatologen und Kardiologen – kurzum, alle die uns einfielen. Und das hat funktioniert.

Plötzlich ging es in der Medizinredaktion nicht mehr nur um Schlaganfall und Herzinfarkt, um Gallensteine, Halsschmerzen oder Arthrose, sondern um nahezu unaussprechliche Leiden: »Anti-NMDA-Rezeptor-Enzephalitis« – »Heriditäres Angioödem« – »Tsutsugamushi-Fieber« – »Hämangioperizytom« – »Hypoparathyreoidismus«. Oder das »Long-QT-Syndrom«.

Angsteinflößende Krankheiten, kompliziert und selten. Aber auch faszinierend, weil sie uns vor Augen führen, was der menschliche Körper für ein Kunstwerk ist, dem selbst moderne Ingenieurskunst und Computertechnologie nicht annähernd das Wasser reichen können. Unendlich viele kleine Rädchen müssen ineinandergreifen und unermesslich viele präzise Prozesse ablaufen, damit in jeder Sekunde Selbstverständliches funktioniert. Eine gleichzeitig sehr beunruhigende Erkenntnis, denn gerade die seltenen Erkrankungen zeigen besonders deutlich, dass bereits minimale Abweichungen und Fehler im System Mensch, der kleinste Mangel oder Defekt, verhängnisvolle Auswirkungen haben. Ein einziger Botenstoff, nur leicht verändert, kann das ganze System so durcheinanderbringen, dass der Mensch nicht mehr funktioniert. Und niemand weiß, warum.

Viele der Geschichten, die wir von den Ärzten hörten, waren so dramatisch, so ausgefallen oder bizarr, dass wir sie kaum glauben konnten. Während ihrer Recherche haben die Autoren festgestellt, dass die Realität oft dramatischer und spannender ist als jede Fiktion einer Arztserie.

Winzig kleine, versteckte Tumore, die Hormone produzieren und den ganzen Körper durcheinanderbringen, exotische Parasiten, die in menschlichen Organen ein Eigenleben entwickeln, oder Autoimmunerkrankungen, die erst vor wenigen Jahren entdeckt wurden und Wahnvorstellungen auslösen. Dazu die persönlichen Schicksale, die menschlichen Tiefschläge und generationsübergreifenden Familiendramen, die man eher in einer Netflix-Soap erwarten würde.

Noch heute sind wir froh, dass wir uns von Anfang an dafür entschieden haben, nur Geschichten zu erzählen, die abgeschlossen sind – Abenteuer, bei denen das Rätsel gelöst und die Diagnose gefunden wird. Ohne Happy End, ohne Wendung zum Guten, wären viele tragische Ereignisse und Schicksale für die Zuschauer und auch für uns professionelle Journalisten kaum auszuhalten.

Inzwischen erreichen uns viele Zuschriften – zum Beispiel von Ärzten, die die Sendereihe zur Fortbildung nutzen – wie diese: »Meinen Studenten empfehle ich fast wöchentlich, bei Ihnen reinzuschauen. In der Regel übertreffen Inhalte und filmische Umsetzung das, was in einer Vorlesung machbar ist.«

Oder von erleichterten und überglücklichen Zuschauern, die durch einen »Abenteuer Diagnose«-Film ihre eigene Krankengeschichte oder die naher Angehöriger lösen konnten.

So schrieb uns eine Frau, die plötzlich ihre vielen widersprüchlichen Symptome in einem Film wiedererkannte, die Gelenkschmerzen, Entzündungen, Abgeschlagenheit, den Diabetes. Nach einem Termin bei dem Experten bekam sie endlich nach vierundzwanzig Jahren die richtige Diagnose. Sie litt unter hormonbedingtem Riesenwuchs, durch den alle ihre vielen Symptome entstanden sind. Das Schöne an der Geschichte: Ihre Krankheit konnte erfolgreich behandelt werden, und sie hatte zum ersten Mal nach so vielen Jahren keine Schmerzen mehr.

Solche Geschichten bestärken uns, weiter zu recherchieren. Sie werfen aber auch ein bedenkliches Licht auf unser Gesundheitssystem, in dem nicht selten gut ausgebildete Experten nur ihr Spezialgebiet sehen und nicht genug miteinander sprechen. Ein System, in dem es leider allzu oft auch darum geht, komplizierte, sprich teure Fälle zu überweisen, statt zu lösen. Ein Apparat, in dem Patienten, die kardiologische, neurologische und orthopädische Symptome haben, hin und her geschoben werden, ohne dass jemand den Zusammenhang erkennt. Dass das keine Seltenheit ist, zeigen die vielen unterschiedlichen Krankengeschichten, auf die wir bei der Recherche für »Abenteuer Diagnose« stoßen. Das System fördert das Kästchendenken, das Ausschlussverfahren. Da ist häufig kein Platz für die kreative Suche nach Zusammenhängen, für den Blick über den Tellerrand und die Vernetzung mit anderen Fachgebieten und Experten.

Gleichzeitig zeigen die »Abenteuer Diagnose«-Geschichten, wie viele unglaublich engagierte Ärzte es gibt, die nicht aufgeben, die sich verantwortlich fühlen für die Lösung schwieriger Fälle, die unter großem persönlichem Einsatz und mit Mut nach der Lösung für ihren Patienten suchen.

Hunderte solcher Geschichten haben wir in den vergangenen zehn Jahren seit der Pilotfolge recherchiert, hundertsiebzig Filmgeschichten sind daraus entstanden. Ein rundes Dutzend besonders ungewöhnliche Fälle haben die »Abenteuer Diagnose«-Autoren jetzt aufgeschrieben.

Geschichten aus dem wahren Leben, jede einzelne spannend wie ein Thriller.

Friederike Krumme

NDR Fernsehen

Leiterin Redaktion Medizin

ALLES INKLUSIVE

Volker Präkelt

Dezember 2007. Naila im Frankenwald. Doris Meckel schließt Lücken im Regal, richtet Flaschen aus, damit die Etiketten nach vorn zeigen. Frau Herrmann, die Glückliche, hat Frühschicht gehabt und sitzt schon zu Hause vor dem Fernseher. Die Schursch wischt zwischen den Bierkästen, dass man sich drin spiegeln kann. An der Kasse drückt Frau Korkmaz auf den Knopf. Eine Klingel schrillt durch die Kaufhalle. »Kasse bitte!«

»Komm ja schon!«

Doris, Sturmfrisur aus rot gefärbten Haaren, mustert den Stapel auf der Europalette. Die Glühweinboxen kann sie auch morgen noch einräumen.

Blick auf die Uhr. Drei Minuten vor sieben, Endspurt. Schlange an der Kasse, wie immer vor Ladenschluss, der ganz normale Wahnsinn in der Kaufhalle zwischen Kronacher Straße und Gewerbegebiet Kugelfang. Ächzend macht sich Doris auf den Weg. Ganz schön kurzatmig sei sie für ihre neunundvierzig Jahre, meinte Herr Schreck erst heute.

Der muss grad reden, mit seiner Wampe.

Jetzt steht der Filialleiter, Fluppe in der hohlen Hand, an der Eingangstür und lässt keinen mehr rein.

Es gibt etwas, auf das sich Doris freut. Sie wird über Bad Lobenstein nach Hause fahren; da wohnt ihre Schwester. Mit der will sie was unternehmen, Weihnachtsmarkt vielleicht, auf einen Punsch zwischen Holzbuden und Jahresendzeitdekoration. Nettes Örtchen, das Moorbad am Thüringer Meer.

Hinterher mit dem 610er nach Hause in die Platte. Hoffentlich hat Frau Römer die Katze gefüttert, gelüftet und nicht vergessen, die Fenster in der Zweizimmerwohnung zu schließen. Scheußliches Wetter soll es geben, mit Sturm und so, hat der Wettermann von Antenne Thüringen gesagt.

Weihnachten – gebietsweise Schnee.

Der Plan für die Festtage ist noch nicht fix. Zu Hause feiern, mit der Familie? Platz ist genug, sie lebt allein. Oder nach Hessen fahren, wo ihre Tochter Leonie wohnt?

Februar 2008. Hanau. Krankenschwester Leonie entnimmt Blut bei Herrn Klöpper. Nach Venen muss sie nicht lange suchen. 20 Milliliter entnimmt sie dem alten Herrn, spritzt es in die Blutkulturflaschen. Leonie ist gerne Krankenschwester, die Strecke zwischen Patientenbad, Reinraum und Schwesternkanzel ist ihr Reich. Gleich zwei, dann beginnt die Übergabe der Schwestern im Aufenthaltsraum. Wehe, da platzt ein Assistenzarzt rein, weil er das fidele Geschnatter von fünf Schwestern mit einer Stationsparty verwechselt. Der bekommt einen Spruch um die Ohren!

Beim Sprüchemachen ist sie Weltmeisterin. Trotzdem hilft sie dem ein oder anderen Grünschnabel. Die Patienten sind ihr wichtiger, so manchen hat sie in ihr Herz geschlossen.

Sie selbst ist gesund.

Die Verwandtschaft auch, im Großen und Ganzen.

Kaum Erbkrankheiten, niemand lebt gefährlich, keiner schlägt über die Stränge. Ein bisschen viel gepafft wird in Thüringen, in der Küche ihrer Mutter.

Aber die wird auch noch vernünftig. Schließlich feiert sie bald einen runden Geburtstag.

Fünfzig Jahre, mein lieber Schwan. Da ist was im Busch. Schwester Ines tut geheimnisvoll, Tochter Leonie kichert am Telefon. »Mutti, nimm dir bloß nichts vor an deinem Jubeltag!«

An der Kasse ist heute wenig los. Sie nimmt den Jahreskalender der örtlichen Sparkasse aus der Schublade und zählt die Arbeitstage bis zum 19. Mai.

Wenn nur der blöde Magen nicht wäre, der grummelt schon wieder. Ende Dezember hat das angefangen, beim Abschmücken des Tannenbaums. Schwindelig ist ihr geworden, als sie vom Stuhl stieg.

Kreislaufstörungen. Normal.

Brechreiz. Magen-Darm, grassiert mal wieder.

Kalte Schweißausbrüche. Stress, Nachwirkungen vom Weihnachtsgeschäft, wo die Leute Getränke kaufen wie blöde.

Dann ist es richtig losgegangen.

Erbrechen, Magenschmerzen. Extrem.

Die Kolleginnen haben das mitbekommen. »Nervöser Magen«, hat Frau Hermann gesagt. »Essen wir halt ein bissel Zwieback.« Frau Korkmaz hat in der Pause einen Tee gekocht, aus ihrer Heimat. Mit Ayurveda und so. Geholfen hat er nicht.

Zum Glück hat Herr Schreck nichts gemerkt. Wann immer er die Regallücken auf Bodenhöhe ins Visier genommen hat, sind die Kolleginnen zur Stelle gewesen. »Schon erledigt«, hat die Schursch gesagt, »spar ich mir das Fitnessstudio.« Herr Schreck hat den Bauch eingezogen und ist in seinem Kabuff verschwunden.

Gestern hat sie ihrer Tochter von der Magensache erzählt. Am Telefon. Nur Andeutungen gemacht – Tee, Zwieback, Magentropfen. »Mutti«, hat Leonie gesagt, »geh einfach zum Arzt. Den Uhlich, den findest du doch nett. Ist keine Weltreise bis dahin. Eine Viertelstunde mit dem 620er.«

Alleen mit Ahornbäumen, ein Kreuz mit verwelkten Blumen. Felder, die bis zum Horizont reichen. Windräder, Broilerbuden, ehemalige LPGs. Alle paar Kilometer eine Ansammlung grauer und lehmfarbener Häuser, die den staubigen Seitenstreifen säumen. Eine Brücke führt über den Bleilochstausee, die Staumauer stammt aus der Zeit der Weimarer Republik.

Die Praxis liegt im Erdgeschoss eines Einfamilienhauses. Doris Meckels Hausarzt hat die Praxis vor dreißig Jahren übernommen. Seitdem hat sich vieles verändert: Stimmungstief über dem Saaletal. Hoher Altersdurchschnitt, zunehmend viele Depressionen. Die Jüngeren hauen ab, diejenigen, die geblieben sind, kennt er gut. Als Doris Meckel kommt und über Bauchschmerzen klagt, klingt das nach einem Routinefall.

»Das war in der Zeit«, erinnert sich Dr. Hagen Uhlich später, »in der es viele Magen-Darm-Infekte gab. Sie reihte sich da ein. Ein Virusinfekt. Die Symptome sprachen genau dafür. Sie hatte einen leichten Druckschmerz im Magenbereich. Sonst war nichts weiter.«

Sapperlot! Jetzt ist es raus! Die Kinder haben zusammengeschmissen und ihr eine Woche Urlaub spendiert. Doris Meckel kann ihr Glück kaum fassen. Türkische Riviera – ein Ferienklub am Rande einer Hafenstadt. Mit Ruinen der alten Römer. Die muss man sich aber nicht ansehen, steht im Gutschein. Verschenkte Zeit, im Klub gilt »all inclusive«!

Frühstück auf der Schattenterrasse, nachmittags Kuchen, Kaffee, Softdrinks am Pool. Abends ins Themenrestaurant, lecker essen ohne Ende. Wär doch schade, wenn sie die Köstlichkeiten nicht genießen könnte.

Doris sitzt in der Küche, raucht und schwelgt in Traumfotos. Leonie hat ihr einen Katalog schicken lassen. Weiße Liegestühle vor azurblauen Swimmingpools. Kronleuchter in der Rezeption, Köche mit weißen Mützen, meterlange Buffets mit bunten Salaten, man muss nur zulangen.

Sie hat Ines gefragt, ob sie mitfahren will. Sie könnten sich ein Doppelzimmer teilen. Ihre Schwester hat nicht lange überlegt. Gestern waren sie im Einkaufszentrum, schicke Urlaubsklamotten aussuchen. »Haben Sie das Palmenhemd auch in Größe achtunddreißig?«, hat Doris die Verkäuferin gefragt. Die hat auf ihrem Kaugummi gekaut und skeptisch geschaut. »Achtunddreißig? Sicher?«

In diesem Moment ist ihr klar geworden, dass Tee und Zwieback die perfekte Diät sind. Später hat sie sich im brutalen Licht der Umkleide gemustert: gemein, die ganzen Dellen und so. Wie eine schrumpelige Raupe ohne Hoffnung auf Verwandlung ist sie sich vorgekommen. Lieber ein paar Kilo mehr und unverbeult, hat sie gesagt, als Ines ihr Komplimente wegen ihrer Schonkost-Erfolge gemacht hat.

In den 620er ist sie auch noch mal eingestiegen. Angeflunkert hat sie den Hausarzt, ohne rot zu werden.

Der Durchfall – so gut wie weg, hat sie behauptet.

Auf Nachfrage: Im Oberbauch nur noch ein leichter Druck.

Abgenommen, ein bisschen, kann nicht schaden vor dem Urlaub.

Hagen Uhlich hat sie lange angeschaut. »Dann gibt es ja keinen Grund mehr, dass Sie nicht in die Sonne fliegen können. Wo geht’s denn hin?«

Türkei. All inclusive.

Vielleicht hätte sie ihm beichten sollen, dass ihr der Tee aus der Nase läuft, wenn sie mehr als zwei Tassen trinkt.

Das Meer vor der weißen Mauer ist ihnen nicht geheuer. Fisch hätten wir lieber auf dem Teller, was, Doris? Ines bringt sie zum Lachen. Und die Ferienanlage ist der Hammer. Der Swimmingpool, ein Paradies. Livrierte Kellner, Service rund um die Uhr. Jeder Wunsch wird ihr von den Augen abgelesen. Sogar solche, die sie nie hatte.

»Aqua-Gymnastik gefällig, Frau Meckel?«

»Nein danke, ich faule lieber ein bissel in der Sonne.«

Nur mit dem Magen wird es nicht besser. Angesichts der Speisekarte die reinste Sabotage.

Surf & Turf mit Garnelen & Rinderfilet.

Pasta mit Lachswürfeln & Sahne-Wodka-Sauce.

Tiramisu, Crème brulée oder Mousse zum Nachtisch.

Ines hat eine Idee. »Lass doch die Schonkost bleiben. Zum Doktor gehen musst du sowieso, wenn wir wieder zu Hause sind. Also iss, was dir schmeckt.«

Red Snapper mit Limonensauce & Würzreis.

Lammspießchen vom Grill, dazu Joghurt mit Minze.

Obstsalat mit Cointreau-Dressing.

»Das Oberteil zur weißen Jeans?« Ines probiert die neuen Sachen an. Das kurzärmelige Hemd passt eher nach Hawaii, aber Bunt macht frisch, und heute ist der Fünfzigste. Die Jubilarin liegt auf dem Doppelbett, sagt keinen Pieps. Scheint geschrumpft zu sein. Liegt das an der türkischen Sonne, die jede Gesichtsfalte nachmodelliert?

»Komm schon«, sagt Ines. »Hast dich so drauf gefreut. Wenn du sowieso brechen musst, dann kannst du auch richtig essen, oder?«

Doris rappelt sich auf. »Na, gut. Wenn schon, denn schon.«

Das Restaurant Xerxes ist festlich geschmückt, die Stühle mit rot-weißen Hussen bezogen. Doris bedenkt ihre Schwester mit einem Blick der Sorte Donnerwetter. Wie hat sie das nur hinbekommen? Ines grinst. »Bilde dir bloß nichts ein. Heute ist nicht nur dein Geburtstag, sondern türkischer Nationalfeiertag.«

»Ach was.«

»Feiertag der Jugend, des Sports und des Gedenkens an … na, wie heißt er gleich, euer großer Präsident?« Der Kellner mit den Özil-Augen weiß das. »Kemal Atatürk.« Er rückt ihnen die Stühle zurecht.

Sie stoßen zu viert an. Conni und Birgit, die Schwestern aus Rheda-Wiedenbrück sind auch eingeladen zur Feier von Doris und Atatürk. Das Geburtstagskind hat sich ein paar Tabletten eingepfiffen, damit es den Abend genießen kann. Und freut sich über das Geburtstagsgeschenk: das rote T-Shirt aus dem Klubshop, an dem sie jeden Tag mehrmals vorbeigehen.

Hakuna Matata, steht drauf.

»Alles wird gut«, übersetzt Ines. Die Schwestern freuen sich mit. Ein Glückshemd! Da kommt auch schon der Kellner und serviert brennendes Essen.

Zwischendurch geht sie aufs Klo, brechen.

Conni trägt ein Top mit Strass. »Musst’n Raki trinken, ist gut für’n Magen«, sagt sie und bestellt eine Runde. »Auf Eis!«

»Wenn’s hilft«, sagt Doris. »Weg damit.«

Soll ihr das scharfe Zeug doch ein Loch in den Magen brennen! Wenigstens kommt es ihr nicht wieder hoch.

Die Mondsichel prahlt und steckt Sterne an den Himmel. Inge prostet nach oben und trinkt auf eine Freundin.

Bauchspeicheldrüse. Hat nicht lange gedauert.

Schweigen.

Keine traut sich, das K-Wort auszusprechen. »Pass auf dich auf, Doris«, raunt Birgit. »Ging so los wie bei dir. Dann haben sie ein CT gemacht, volles Programm, und, na ja …« Sie stockt. »Drei Monate später – Deckel drauf und ab unter die Erde.«

»Nun wollen wir mal nicht die Stimmung in den Keller schubsen«, unterbricht Conni. »An die Bar, Mädels!«

Nachtskommen die Bauchschmerzen wieder.Doris versucht im Sitzen zu schlafen. Aufstoßen muss sie auch, zum Glück schnarcht Ines wie ein Schnitzel und merkt nichts.

So, denkt Doris. Das war der große Tag. Wenn sie den Sechzigsten auch noch erleben will, muss sie was tun.

Die Sprechstundenhilfe kommt am Wartezimmer vorbei, schaut rein und sagt freudestrahlend: »Gleich haben Sie Ihre Mutti wieder.«

Ines fällt fast vom Stuhl. »Das ist nicht meine Mutter. Das ist meine Schwester!«

»Oh, tut mir leid.« Die junge Frau errötet. »Ich bin noch neu hier. Ich dachte …«

»Schon gut. Sie sieht ja wirklich fertig aus. Aber wie Muddi – so schlimm nun auch wieder nicht. Oder?«

Die Arzthelferin beschließt, nur noch zu lächeln. Dann betritt sie das Sprechzimmer. Da kommt Doris von der Säulenwaage, einem alten Modell mit Laufgewichten. Hagen Uhlich schaut streng. »Zehn Kilo abgenommen?« Er greift zum Telefon. »Ich schicke Sie zur Gastroskopie.«

Doris hört das Wort zum ersten Mal. Am Abend ruft sie ihre Tochter an, als Krankenschwester muss die das doch wissen. 

»Du kennst doch die Autos von der Rohrreinigung«, sagt Leonie.

»Und?«

»Die schieben einen Schlauch in den verstopften Abfluss, da ist eine Kamera dran. Eine Magenspiegelung oder Gastroskopie ist nichts anderes. Der Arzt führt eine Sonde ein, durch die Speiseröhre. Dann schaut er sich den Magen an. Und den oberen Abschnitt vom Zwölffingerdarm.«

»Und was glaubst du, was er da sieht?«

»Ein Magengeschwür vielleicht. Eine Fistel. Oder eine Entzündung der Magenschleimhaut. Wird schon nichts Schlimmes sein.«

»Tut das nicht weh?«

»Du wirst lokal betäubt. Kriegst sogar eine Vollnarkose, wenn du willst. Das sind Profis, die machen nichts anderes.«

Doris Meckel beschließt, das Glückshemd anzuziehen.

»Mittlerweile sind wir hier ziemlich modern.« Der junge Gastroenterologe – »wie Gastro und Ente, Frau Meckel!« – erinnert sie an ihren Neffen, der bei Saturn stets den allerneuesten Mist kauft. »HDTV kennen sie von der Fußballweltmeisterschaft, oder?«

»Im Fernsehen?«

»Genau. High Definition. Gestochen scharfes Bild. Haben wir jetzt auch. Und Licht, das uns im Dunkeln leuchtet.« Er nimmt einen schwarzen Schlauch in die Hand. An einem Ende befinden sich Knöpfe wie bei der Fernbedienung einer Spielkonsole. Auf dem anderen sitzt ein Lämpchen. »Das Licht wird über Fasern nach vorne gebracht. Es beleuchtet die Organe von innen und wird von der Schleimhaut reflektiert. Und das Ganze wird dann in ein Videobild übersetzt.«

Doris sitzt auf der Liege und betrachtet die Schlange, die ihr Innerstes erkunden soll. »Ganz schön dick!«

»Keineswegs. Nichts im Vergleich zu den endoskopischen Schläuchen in den Siebziger- und Achtzigerjahren. Uns entgeht nichts auf den entscheidenden neun Metern.«

»Neun Meter?«

»So lang ist der Weg, den die Nahrung im Verlauf der Verdauung zurücklegt. Bevor der Körper alles ausscheidet. So, und jetzt bekommen Sie eine Betäubung.«

»Kann ich mein T-Shirt anbehalten? Das ist mein Glückshemd.«

»Natürlich, Frau Meckel. Hakuna Matata! Legen Sie sich bitte auf die linke Seite.«

Dr. Uhlich könnte ruhig mal lächeln. Stattdessen hockt er hinter seinem Schreibtisch wie der Mops im Paletot und studiert den Arztbrief. Doris Meckel räuspert sich vernehmlich. »Was sehen Sie denn da?«

Er schaut auf. »Ihr Magenausgang ist verengt, vermutlich durch ein Geschwür. Das ist nicht ungewöhnlich. Hier.« Er zeigt auf eine angeheftete Schwarz-Weiß-Kopie. »Der ganze Bereich ist entzündet, möglicherweise durch vermehrte Bildung von Magensäure.«

»Und jetzt? Weiter Tee und Zwieback?«

Der Landarzt schüttelt den Kopf. »Damit gebe ich mich nicht zufrieden«, sagt er. »Ich möchte ein CT machen lassen.«

CT. Das Wort klingt in ihrem Kopf nach. Zack, da ist er wieder, der Geburtstag mit der Sternennacht und Birgits rührseligen Worten über die verstorbene Freundin.

»Ich will einen Tumor ausschließen, Frau Meckel. Genau herausbekommen, was die Stenose, also den Engpass am Magenausgang verursachen könnte.«

Das Kreiskrankenhaus Schleiz hat 120 Betten und eine längere Historie als die Staumauer am Bleilochsee. Das Motto auf der Website stammt von einem Klassiker, der in Thüringen seine Spuren hinterlassen hat.

Hier bin ich Mensch, hier darf ich sein.

»Der olle Goethe musste ja auch nicht hier rein«, sagt Ines, als sie ihre Schwester hinbringt. Ein ermunternder Klaps. »Wirst schon sehen, die haben auch moderne Geräte.«

Bevor Doris – im Glückshemd – durch die Röntgenröhre mit den blinkenden Zahlen geschoben wird, soll sie ein Kontrastmittel trinken. Mit Bariumsulfat, das die Engstellen in ihrem Innern sichtbar macht. Eine ganze Flasche – wie soll das gehen, wenn sie nicht einmal zwei Tassen Tee bei sich behalten kann?

Wieder nichts.

Eine Raumforderung, aber nichts Bösartiges.

Ausstülpungen sind zu sehen, normal. So langsam macht sich auch Leonie ihre Gedanken.

»Eine Magenspiegelung nach der anderen hatte meine Mutter«, sagt sie im Rückblick. »Die zweite, die dritte, die vierte. Irgendwann haben wir den Überblick verloren. Selbst sie wusste es zum Schluss nicht mehr genau.«

Krankgeschrieben ist Doris inzwischen auch. Sie trifft Frau Korkmaz in der Apotheke und erzählt ihr, dass sie jeden Tag am Tropf hängt. Ambulant, beim Magen-Darm-Spezialisten. Seitdem muss sie nicht mehr so viel brechen.

»Vielleicht gibt’s das Zeug auch in Tablettenform«, sinniert sie. »Dann wird’s wieder gut. So ’ne Entzündung muss ja irgendwann zurückgehen.«

Zwischen Hanau und Bad Lobenstein wird telefoniert. Tante Ines setzt die Lesebrille auf, liest ihrer Nichte die Befunde vor, Silbe für Silbe.

Magenausgangsstenose mit Entzündungszeichen.

Leonie kann das übersetzen, viel bringt es aber nicht.

Magenentzündung mit Engstelle – und keiner weiß, woran es liegt.

Ende Juni hatte Ines Geburtstag. Inzwischen kann Doris kaum noch laufen, so schlimm war das. Während die anderen Käsetorte essen, liegt sie halb tot auf der Hollywoodschaukel. Morgen soll sie zum Arzt gehen, hat Ines gesagt. Am besten gleich ins Krankenhaus. Sich künstlich ernähren lassen. Sie sträubt sich. »Wie soll das gehen, ich kann ja nicht mal mehr Bus fahren!«

Ihre Schwester, die sonst so gerne lacht, setzt eine sehr ernste Miene auf. »Wenn du das nicht machst«, sagt sie, »dann kommst du irgendwann dahin, wo kein Bus mehr hinfährt.«

Wenigstens kein Krebs. Die Ärzte im Krankenhaus Naila haben eine Gewebeprobe entnommen und im Labor untersuchen lassen.

Negativ.

Jetzt liegt sie am Tropf, nimmt die Infusionslösung über einen Venenkatheter auf. Sie blättert in einer Broschüre, die ihr die Dame vom Sozialdienst – im Kasack, bordeauxrot wie das Glückshemd – auf den Nachttisch gelegt hat.

In der Inneren Medizin gibt es hier so viele Betten wie im vorherigen Krankenhaus zusammen. »Medizinisch leistungsstark und menschlich in der Region«, heißt der Werbespruch, den Doris Meckel vor sich hin murmelt. »Na, ich weiß nicht.«

»Da hat eine PR-Firma viel Geld für bekommen«, sagt die Bettnachbarin, die älter ist und jünger aussieht.

Eine Krankenschwester mit Tattoos am Arm dreht an der Rollklemme des Infusionssystems. Die Flüssigkeit läuft langsamer. »Alles drin, was Ihr Körper braucht.« Dicht vor einem Herzinfarkt hat sie gestanden, hat der Stationsarzt gesagt. »Da hat ja alles gefehlt bei Ihnen, die ganzen Stoffe und so.«

Auch im Krankenhaus Naila gibt es einen Gastroenterologen. Er betäubt ihren Rachen mit einem Spray und legt ihr einen Kunststoffring in den Mund. Als Nächstes, sagt er, wird er den Magen durch den Schlauch mit Luft aufblasen. Damit er den Verdauungsapparat besser sehen kann.

Speiseröhre. Sechs Sekunden braucht die Nahrung, bis sie von den Muskeln in wellenförmigen Bewegungen zum Magen transportiert wird.

Magen. Muskulöses Kraftpaket, in dem die Nahrung mit saurem Magensaft verquirlt wird wie in einem Betonmischer.

Zwölffingerdarm. Hier wird der Brei mit Verdauungssäften aus Leber und Bauchspeicheldrüse vermischt. Den Übergang zwischen Magen und Zwölffingerdarm bildet ein ringförmiger Muskel, der den Speisebrei portionsweise entlässt: Pyrolus, Medizinerlatein für Pförtner. Genau hier heißt es wieder »Stopp«. Zum x-ten Mal, war ja klar.

»Wir müssen jetzt irgendwas machen«, sagt der Gastrologe, als Doris Meckel ihre Sinne wieder zusammen hat. »Bei Ihnen komm ich nicht durch den Magenausgang. Höchstens mit einem kleinen Ballon, den wir vorsichtig aufpusten, durch eine Luftleitung im Schlauch. So könnten wir die Engstelle passierbar machen.«

Davon nehmen sie dann aber doch wieder Abstand. Ist halt ein kleineres Krankenhaus, erklärt Leonie, die sie besuchen kommt und die Ärzte mal genauer befragen will. Hinterher strahlt sie. »Die wollen dich in die Universitätsklink überweisen.«

Klingt wie ein Glückslos, aber Doris Meckel ist so schwach, dass sie kaum mehr nicken kann.

Das Universitätsklinikum hat fast vierzehnhundert Betten. Der Eingangsbereich ähnelt einem Einkaufszentrum der Spitzenklasse. Coffeeshop mit blitzenden Maschinen, ein kleiner Supermarkt, Zeitschriften, Geschenkeladen.

Geschäfte für die Stadt der Kranken.

Doris hat die Krankenwagenfahrer weggeschickt, will allein ins Gebäude. Schließlich kann sie noch selbstständig laufen, auch wenn ihr das schwerfällt. Sie steuert den Empfang an, fragt nach der Station. Dort sagen sie ihr, dass sie der roten Linie folgen solle. Dann finde sie schon hin.

Fängt komisch an.

Wird auch nicht besser.

»Dann bin ich hoch«, fasst sie später die ersten Stunden zusammen, »und musste zwei Stunden warten. In einem Kabuff, kleiner wie ’ne Toilette. So’n langer Schlauch, wo die Schwestern den Müll in einen Eimer geschmissen haben. Saß ich halt da und hab gewartet, dass ich in mein Bett durfte.«

Auch hier das volle Programm. Glückshemd, Magenspiegelung, alles versucht, kein Durchkommen, gleicher Befund: Geschwür, Entzündungen, Vernarbungen, Stenose.

Fünfzehn Kilo weniger.

Ihre Mutter wird in ein paar Tagen achtzig. Doris fragt, ob sie rausdarf. Nach ein paar Tagen weiß sie, die Mittelchen im Tropf halten sie achtundvierzig Stunden bei Kräften.

Die ganze Verwandtschaft sitzt am Kaffeetisch, starrt sie an. Alle fünf Minuten gibt ihr jemand den Ratschlag, sie solle sich eine zweite Meinung holen. Wie man hört, sind nur die besten Ärzte im Universitätsklinikum. Aber auch die können sich irren, oder?

Zwei Wochen lebt sie schon in der Stadt der Kranken. Auch hier kommen die Ärzte auf die Idee mit dem Ballon. Alles ist vorbereitet, das Glückshemd frisch gewaschen, abends soll sie nüchtern bleiben.

Nüchtern? Sie bekommt doch ohnehin nur klare Suppe. Hat Hunger. Zum Glück kennt die Bauchspeicheldrüse im Nachbarbett – eine Entzündung, kein Krebs – jemanden in der Küche. Schmuggelt in der Thermoskanne pürierte Suppe auf die Station, wie nett von ihr.

Am nächsten Morgen kommt ein Doktor und sagt den endoskopischen Eingriff ab. Zu groß sei das Risiko, dass das Gewebe reißt. Wegen der Vernarbungen. Und dass die Ärzte überlegen, ob sie Doris Meckel nicht besser operieren sollen.

»Operieren? Was denn?«

»Zwei Drittel vom Magen raus und ein Stück Dünndarm weg.«

Jetzt platzt es aus ihr heraus. »Ich will eine zweite Meinung!« Das sitzt. Sie wiederholt den Spruch bei der Visite, in Gegenwart vom Chefarzt. Oder Oberarzt. So genau weiß Doris Meckel das nicht. Auch nicht, woher sie plötzlich die Kraft hat, den Weißkitteln Kontra zu geben. Der Chef ist schnell wieder draußen. Ein Assistenzarzt knurrt, sie habe ihn auf hundertachtzig gebracht. Der Stationsarzt meckert beim Hinausgehen, er verstehe das nicht mit der zweiten Meinung.

»Wenn Sie einen BMW kaufen«, sagt er, »gehen Sie doch auch nicht in die Opelwerkstatt.«

BMW hin, Opel her, Ines fährt einen roten Mazda 232. Besucht sie ihre Schwester, stellt sie den Wagen auf den Besucherparkplatz. »In Jena«, sagt sie rückblickend, »ging das Marddürium erst richtig los. Ich will mich jetzt nicht großartig äußern, aber es war hart an der menschlichen Grenze. Wie man einen kranken Menschen so behandeln kann, das war schlimm. Die wollten sie regelrecht überreden, dass sie diese Operation machen lässt.«

Auch Tochter Leonie denkt an nichts anderes mehr, fragt den Ärzten in ihrem Stadtkrankenhaus Löcher in den Bauch. Die hüten sich, eine Ferndiagnose zu stellen. Eine zweite Meinung fänden sie aber generell nicht verkehrt. Also recherchiert Leonie im Internet. Stößt auf zwei Kliniken in Nordrhein-Westfalen, vergleicht die Referenzen der Ärzte.

Dortmund oder Düsseldorf?

»Dieses Düsseldorf war uns irgendwie sympathisch«, erklärt Ines. »Keine Ahnung wieso, aber wir sind so ’n bissel Gefühlstanten.«

Leonie ruft in Düsseldorf an, schildert den Fall und stößt auf Verständnis. Ist doch okay, wenn sich die Verwandten Sorgen machen. Befunde wären gut. Ines soll sie besorgen, die telefoniert sich durch, besorgt sie und steckt sie ins Faxgerät.

Von wegen Magen-OP. Ab jetzt läuft »Operation Doris«.

Zwanzig Kilo abgenommen, sagt die Waage im Patientenbad. Ein Federgewicht, dürr wie Espenlaub. »Pass auf, dass du nicht weggeweht wirst, draußen beim Rauchen«, sagt die Bauchspeicheldrüse. Was tun? Die Ärzte in Jena drängen auf die OP und auf das Einverständnis der Patientin. »Frau Meckel, entscheiden Sie sich bitte, wir sollten die OP machen.«

Und wenn sie recht haben?

Im Nachhinein kann Hagen Uhlich den Ansatz der Kliniker verstehen. »Die haben versucht, den Magenausgang mit dem Gastroskop zu erweitern«, resümiert der Landarzt. »Und kamen nicht durch. Und wenn sie den mit ihren Mitteln nicht aufweiten können, müssen sie was unternehmen. Irgendwann wäre Frau Meckel verhungert.«

Ines hat einen Geistesblitz. »Geh doch erst mal drauf ein. Zum Schein. Dann hast du deine Ruhe. Wir machen inzwischen Düsseldorf klar.«

Also gut. Eine Stunde später muss Doris zum Gespräch. Unterschreiben, dass sie einverstanden ist. Plötzlich scheint die Sonne auf der Station. Fehlt nur noch, dass die Ärzte bei der Visite applaudieren. Einer zwinkert und sagt: »Jetzt haben wir’s geschafft!« Doris Meckel ringt sich ein Lächeln ab.

Am Donnerstag kommt der Anruf von Ines. Mit konspirativer Stimme, ihre Schwester sieht einfach zu viele Krimis. »Doris«, raunt sie, »wir haben einen Termin, am Montag darfst du nach Düsseldorf.«

Fünf Minuten später schwebt der Stationsarzt an ihr Bett. »Am Montag werden Sie operiert, Frau Meckel.«

»Am Montag? Das geht aber jetzt schnell.«

»Muss es auch.«

»In Ordnung.«

Er verlässt das Zimmer. Sie greift zum Telefon.

Dann macht sie einen Notizzettel.

Freitag: Tropf → Kraft für zwei Tage (bis So)

Samstag: Ines mit Auto, Leonie mit ICE aus Hanau, Punkt acht Uhr auf Station sein …

Sonntag: Fahrt nach Hanau, Übernachtung.

Montag: Fahrt nach NRW, Untersuchung in Düsseldorf

Samstagmorgen, kurz vor acht. Sie hat noch mal gebrochen, zittert vor Schwäche und Anspannung. Die Reisetasche ist gepackt, damit erregt sie kein Aufsehen. Schließlich soll sie gleich in die Chirurgie verlegt werden. Denken die Ärzte.

Leonie ist die Erste. Dann kommt Ines.

»Ist heute Tag der offenen Tür?« Die Bauchspeicheldrüse wundert sich. Der Pfleger schaut herein. Doris sagt: »Ich möchte meine Papiere.«

»Für die Verlegung? Müssten fertig sein, ich schau nach.«

»Nee, für die Entlassung.«

Schweigen.

»Nun gucken Sie nicht so«, sagt Leonie. »Meine Mutter möchte raus.«

»Zweite Meinung«, ergänzt Ines.

Der Pfleger verschwindet. Hinten auf dem Flur wird es laut. Er kommt zurück, Papiere in der Hand. »Wo wollen Sie denn hin, Frau Meckel?«

»Wohin wohl«, mischt sich die Bauchspeicheldrüse ein. »Nach Hause, Party machen. Würde ich auch gerne.«

Ein Arzt lässt sich nicht mehr blicken. Ines hat den roten Mazda aufs Gelände geschmuggelt. Beim Verlassen der Klinik haben sie die Muddi untergehakt, die Bauchspeicheldrüse winkt ihnen aus dem Fenster hinterher, Daumen hoch.

Erst mal ins Eiscafé Riva am Holzmarkt, für jede einen schönen Eisbecher. Der Schwarzwaldbecher ist riesig, mit echten Kirschen und Borkenschokolade drauf. Hinterher noch zwei Espressi und einen Tee.

»Was das wieder kostet«, sagt Doris.

»All inclusive«, entgegnet Ines und grinst.

Sie fahren Leonie zum Bahnhof, mit dem ICE zurück nach Hanau. Anschließend geht es nach Hause in die Platte, Katze begrüßen, Klamotten wechseln, Glückshemd in die Kurzwäsche. Im eigenen Bett schlafen.

Am Samstag einmal quer durch Deutschland, von Ost nach West. Ines mit beiden Händen am Steuer, hoch konzentriert, als gälte es, die Poleposition in Hockenheim klarzumachen.

Doris, Decke bis an die Kinnspitze, liegt auf dem Rücksitz.

Pause im Eurorastpark Werneck. Hoffen auf ein Wunder, aber nein, mehr als Tee und ein paar Löffel Suppe passen immer noch nicht rein. Also wieder los, die Mittel im Tropf wirken nicht ewig. Doris hüllt sich in ihre Decke wie ein kleiner General vor der Schlacht. Blinker setzen, weiterfahren.

Dr. Marcus Schmitt schmunzelt im Rückblick. »Das hat sie als Erstes erzählt. Dass sie geflüchtet ist wie Napoleon von Elba.« Er weiß: Der französische Kaiser litt an Hautausschlägen. Und an Erbrechen, wie Doris Meckel. Dabei ist Marcus Schmitt gar kein Historiker, sondern Gastroenterologe am Universitätsklinikum Düsseldorf.

Als er seine Patientin begrüßt, kann er ihre Angst spüren. Sie ist entkräftet, hat rasend Gewicht verloren und hängt am Tropf. Ein schwaches Lächeln zur Begrüßung, dann umfasst sie seine Hand, als wäre der sympathische Arzt mit der Halbglatze der Heilsbringer.

Hoffentlich kann er ihr auch helfen.

Die Unterlagen hat er sich am Morgen angeschaut. Das CT. Es zeigt eine mögliche Raumforderung und eine Entzündung.

Die Gastroskopien. So viele!

Wenn die bisherigen Ärzte den Magenpförtner, den Pylorus, nicht überwinden konnten, hätten sie das vermerken müssen. Das gehört zu einer guten Dokumentation.

Der Gefühlstante Doris Meckel ist er gleich sympathisch. Auch wenn er in diesem Moment nicht schlauer ist als die anderen Ärzte. Den gleichen Weg will er einschlagen – muss er, es gibt keine Alternative. »Wir versuchen es morgen mit einem Ballon. Aber ich sage Ihnen eins: Da ist viel vernarbtes Gewebe, es kann auch passieren, dass was reißt und dass wir eine Not-OP machen müssen.«

Einverstanden.

»Bis morgen.« Schon beim Rausgehen macht sich Marcus Schmitt Gedanken. Dieser Fall ist anders. »Die Patientin hat ja immer wieder erbrochen. Sie konnte nichts bei sich behalten, sodass man davon ausgehen musste, es ist irgendwas da, was den normalen Verdauungstrakt verschließt. Oder zumindest diesen Abfluss behindert. So wollten wir mit Einverständnis der Patientin noch mal die gleiche Untersuchung durchführen, die sie schon mehrfach über sich ergehen lassen musste.«

»Ganz in Rot?«, fragt die Schwester vor dem Eingriff.

»Mein Glückshemd«, kommentiert Doris Meckel. »Ich glaube, das habe ich inzwischen zwanzigmal angehabt.«

»Wenn’s hilft?« Marcus Schmitt lächelt der verwunderten Endoskopie-Schwester zu. »Einige haben Stofftiere, andere Kristalle dabei. Frau Meckel möchte gerne das Glückshemd anlassen.«

Ösophago-Gastro-Duodenoskopie.

Der medizinische Begriff für Magenspiegelung samt Speiseröhre und Zwölffingerdarm.

Doris Meckel schläft, unter Aufsicht eines Anästhesisten.

Puls, Herzrhythmus, Blutdruck, alles okay.

Die erste endoskopische Exkursion ins meckelsche Krisengebiet dauert zehn Minuten, länger als üblich. Dann kommt ein dünnerer Draht zum Einsatz.

Speiseröhre, Magen, Zwölffingerdarm, oberes Dünndarmsegment. Millimeter für Millimeter. Zwanzig Minuten.

Da ist sie, die Engstelle, wo sich der Feind verschanzt hat. Komplett verbautes Gebiet, auf dem Monitor sieht es aus wie eine braunrote Höhle.

»Man möchte nichts erzwingen«, sagt Marcus Schmitt. »Jede Untersuchung birgt ein Risiko. Wenn man eine Tür aufbricht, kracht sie unter Umständen aus den Angeln. Genauso war das bei Frau Meckel. Wenn ich mit Gewalt versuche, eine Engstelle zu überwinden, kann ich eine Verletzung setzen, die unter Umständen zu einer Notoperation führt.«

Den Schlauch lenkt er mit der rechten Hand, mit der linken steuert er die Funktionen. Während der Untersuchung spricht er leise, mehr zu sich selbst als zu den anderen Blaukitteln. »Sieht verschwollen aus. Kann was Entzündliches dahinterstecken. Chronische Entzündung der Bauchspeicheldrüse. Veränderungen der Schleimhaut im Zwölffingerdarm. Oder doch was Bösartiges.«

Ein noch dünnerer Draht. Der Versuch, Kontrastmittel direkt vor die Engstelle bringen. »Geben Sie mir den weichen, wasserliebenden Draht, Schwester. Mal sehen, ob wir die Engstelle damit aufdehnen können.«

Wunderbar, der Draht läuft leicht im feuchten Milieu.

Jetzt der Versuch mit dem Ballon, den Monitor im Blick.

Besagter Ballon hat zehn Millimeter Durchmesser und ist vier Zentimeter lang. Er ist oval, aufgepumpt sieht er aus wie eine Minisalami.

Die Biegung am Knie des Zwölffingerdarms will er nicht mitmachen. Vorsicht ist geboten. Auf keinen Fall soll die »pralle Wurst« die Kurve aufsprengen und ein Loch reißen. Das hätte Blutungen zur Folge.

Stückchen für Stückchen.

Es funktioniert. Die Engstelle ist überwunden. Ein Blick auf den Monitor, die entzündeten Schleimhäute glänzen wie feuchte Höhlenwände.

Ein Tumor ist das nicht.

Dafür ist alles entzündet.

»Kollegen, könnt ihr mal mitschauen?«

In der Tiefe schimmert irgendwas, was da nicht hingehört.

»Ist das Gewebe? Nein, eher ein …«

In der Endoskopie der Düsseldorfer Uniklinik gibt es ein Privatmuseum. Ausgestellt sind Fundstücke wie Rasierklingen, münzengroße Batterien, Tabletten in Verpackung. Instrumente, Röhrchen und Drainagen, die ein Operationsteam im Bauch vergessen hat.

Bei Doris Meckel kann das nicht der Grund sein. Es gab keine Voroperationen. Kann also nichts sein, was von außen reingekommen ist.

»Alte Nahrung, die sich dort irgendwo reingearbeitet hat?« Marcus Schmitt schaut in die Gesichter seiner Mitarbeiter. Die wissen es auch nicht. »Dann spielen wir mal Müllabfuhr.«

Mit einer Schlinge bekommt er es zu fassen, das glitschige Ding. Ist nicht einfach, denn die Diathermieschlinge ist eigentlich dazu da, Polypen im Darm abzutragen. Nicht, um eingewachsene Fremdkörper rauszurupfen.

Einen Moment innehalten.

An eine Sektflasche denken, die vor dem Öffnen zu viel bewegt wurde. Der Druck presst den Korken raus, eine Fontäne spritzt aus der Flasche. In diesem Fall wäre das Blut. Von einem Gefäßstumpf, der durch den Fremdkörper verschlossen ist und stark bluten wird, wenn der Eindringling entfernt ist.

»Wir haben uns gesagt, die Patientin hat so viel hinter sich, wir wagen das. Haben’s rausgezogen und waren total überrascht, was da zutage kam.«

Was in der Schlinge baumelt, ähnelt einem Mini-U-Boot.

Zum Glück keine Komplikationen beim Auftauchen. So richtig hat ja keiner gewusst, wo das Ding festsaß und welches Loch es verstopft hat. Möglicherweise eins im Zwölffingerdarm. Dann würde der Speisebrei jetzt in den freien Bauchraum fließen. Könnte eine Bauchfellentzündung nach sich ziehen. Besser wäre es, das Loch führte in die rückwärtige Körperhälfte. Das heilt dann von allein.

Aber was ist das nur, dieses Ding?

Ein Zahnstocher, von Gewebe überzogen?

»So was kann man doch nicht schlucken«, sagt die Endoskopie-Schwester. »Das muss man doch merken.«

»Ein Stück vom Schaschlik-Spieß?«, fragt der Anästhesist.

»Ich hab’s!«, ruft die Schwester. »Aus einem Brathering!« Sie senkt die Stimme. Nicht, dass die Patientin das mitbekommt. »Ich komme auch aus dem Osten, da isst man gerne Bratheringe. Paniert, gebraten und in Marinade eingelegt. Spießchen rein, fertig.«

Sie ahnt gar nicht, wie nahe sie dran ist.

Dezember. Er steht in der Bude und friert. Aus den Augenwinkeln sieht er, wie der 610er am Rathaus hält. Eigentlich nur das Dach des Busses, den Blick versperren Holzbuden, leuchtende Weihnachtssterne und das nostalgische Kinderkarussell. Nebenan spielen die Koselstompers »Jingle Bells« als Dixieland.

Weihnachtsmarkt in Bad Lobenstein.

Hoffentlich kommt Sandra noch.

»Stefan?« Der Chef schenkt Glühwein aus und ruft seine Aushilfe. »Machste mal neue Fischbrötchen?«

Stefan heißt zwar nicht so, hat aber keine Lust auf eine Diskussion im Frittendunst. »Ist okay, Chef. Hab ich aber noch nie gemacht. Die Dörte hat die sonst immer …«

»Das schaffst sogar du«, unterbricht der Chef. »Rollmops aus dem grünen Eimer, Stäbchen raus, ausrollen und schön zwischen die Brötchenhälften. Zwiebelringe und Gurkenscheiben drauf.«

»Wird gemacht.« Stefan streift die Einweghandschuhe über und macht sich an die Arbeit. Meerestiere sind nicht so sein Ding, er kann kaum hinschauen, wenn er die Holzstäbchen aus den Fischzombies zieht und die blassen Leichen entrollt.

»Hallo, mein Schatz!« Da ist sie ja. Die blonden Haare versteckt unter einer Weihnachtsmütze. »Wie lange musst du denn noch?«

Er schaut auf die Uhr. »Ich mach noch die Brötchen fertig, dann frag ich mal den Chef.«

»Ich schau schon mal nach Weihnachtsgeschenken. Das Sägewerk verkauft Holzkrippen. Und Kerzenständer. Ich geh dann mal. Bis gleich.«

»Junger Mann?« Die Stimme gehört einer mittelalten Frau, die eine andere untergehakt hat. Sie hat rot gefärbte Haare und hält einen Glühweinbecher in der Hand. »Ich hätte gern ein …« Sie schaut sich um. »Och. Keine Rollmopsbrötchen mehr da?«

»Sind in Arbeit.«

»Du auch eins, Ines?«

»Nee, ich hol mir ’ne Thüringer. Pass mal auf meinen Glühwein auf.«

»Einmal Rollmops, alles klar«, sagt Stefan. Er dreht sich um, legt den Brötchendeckel auf ein halb fertiges.

»Zwei fuffzich. Guten Appetit.«

Als Doris Meckel die Augen aufschlägt, sitzt Dr. Schmitt im Aufwachraum und erzählt etwas von einem Fremdkörper. Sie schläft wieder ein. Später, im Krankenzimmer, kommen drei Ärzte und fragen grinsend, ob sie vor ein paar Monaten Rouladen gegessen hat.

Am Nachmittag klärt Marcus Schmitt alles auf. »Sie hatten ein Stück Holz im Magen, am Magenausgang. Haben Sie eine Ahnung, wo das herkommt?« Sie braucht eine Weile. Dann bricht es aus ihr heraus. »Das Rollmopsbrötchen! Auf dem Bad Lobensteiner Weihnachtsmarkt!«

Jetzt ist alles klar – der Spieß und seine Stationen. Er blieb zwei bis drei Stunden im Magen, wurde dort angedaut und vom Fisch gelöst. Als Doris im Bett lag, muss er weitergewandert sein – in den oberen Teil des Zwölffingerdarms. Durch die Bewegung des Magen-Darm-Trakts hat er sich in ein Divertikel gebohrt, eine Ausstülpung. Hat ihn perforiert, was zu einer starken Entzündung geführt hat.

Die breitete sich aus. Um den Fremdkörper bildete sich Gewebe, bis die Pforte zum Zwölffingerdarm den Dienst einstellte und Doris Meckel nichts mehr transportieren konnte. Klar, dass man da nichts mehr bei sich behält, nichts mehr verdaut, abnimmt und verfällt.

»Aber warum hat man das beim Röntgen denn nicht gesehen?«, wundert sich Doris. »All die teuren Maschinen …«

»Das ist der Witz«, sagt der Arzt. »Hätten Sie einen Zahn verschluckt oder eine Prothese, also Metall oder Keramik, dann wäre das aufgefallen. Aber Holz ist ganz selten so röntgendicht. Sonst wären auch die anderen früher draufgekommen.«

Der Spieß wird nicht zum Ausstellungsstück. Jedenfalls nicht in Düsseldorf. Marcus Schmitt hat ihn in ein Plastikröhrchen gesteckt, und das hat einen Ehrenplatz in der meckelschen Küche. Manchmal, wenn Besuch da ist, zeigt sie es und erzählt. Dass sie auf der Station nur noch Rollmops hieß. Dass sie schnell wieder essen konnte, Rotkohl und Roulade gingen runter wie nichts. Die Pasta mit Sahne-Wodka-Sauce aus dem Ferienklub hat sie auch nachgekocht. Und die Kilos kamen wieder.

Als sie in Hamburg war, mit Ines und Leonie zum Interview bei »Abenteuer Diagnose«, ist sie nach dem Abschminken zum Hafen gefahren. Hat ein richtiges Fischbrötchen gegessen. Das erste seit der Rollmopskrise.

Aber vorher hat sie ganz genau hingeschaut.

WACHSENDE ANGST

Anke Christians

Er steht auf einem Hochhaus. Wie er hier raufgekommen ist, bestimmt zehn oder elf Etagen, weiß er nicht mehr. Es gibt nur den Moment. Der Himmel über ihm ist von einem unnatürlich strahlenden Blau, der Wind pfeift schrill. Langsam setzt er sich in Bewegung, wandert über das Flachdach und nähert sich der Kante. Er wagt einen Blick in den Abgrund. Weit unter ihm, zu Füßen des riesigen grauen Gebäudes, erstreckt sich ein Park. Sattgrüne Rasenflächen, blühende Kirschbäume, ein glitzernder Bach, der sich durch Blumenbeete schlängelt.

Er will diesen Anblick in sich aufsaugen und tritt, ohne einen Anflug von Höhenangst, noch näher an die Kante heran. Im selben Moment verliert er den Halt. Der Boden unter seinen Füßen ist plötzlich spiegelglatt, er rutscht aus, und unter ihm öffnet sich das Nichts. Panik peitscht durch seinen Körper. Er spürt nur noch sein wild schlagendes Herz und die kalte Luft, die an seinen Ohren entlangzischt. Etage zehn, neun, acht, sieben ziehen an ihm vorbei. Er trudelt. »Du träumst nur«, kommt ihm der rettende Gedanke. »Du träumst nur, gleich wirst du wach, und alles ist gut.« Aber die Schwerkraft hat ihn bleiern im Griff, und der Boden kommt näher und näher. Frank Arndt hat nur noch ein paar Sekunden. Dann wird er sterben.

Neun Jahre zuvor. Frank Arndt betritt ein Autohaus in Münster, hastet, eine Aktentasche fest unter den Arm geklemmt, durch die Reihen mit blank polierten Limousinen. Der hoch aufgeschossene Einunddreißigjährige mit dem schmalen Gesicht und den blonden Haaren ist gestresst. Er will sich kein neues Auto kaufen, er will überhaupt nicht hier sein. Aber der Fuhrparkleiter in seiner Firma ist krank, und er soll ihn vertreten. Der Termin ist wichtig, die Verträge für neue Dienstwagen müssen unterzeichnet werden, das kann auch Frank als Buchhalter erledigen.

Der Autoverkäufer legt nach der Begrüßung einen zentimeterdicken Stapel Unterlagen auf den Schreibtisch und drückt Frank eine große Tasse Kaffee in die Hand. »Machen Sie es sich ruhig bequem, der Papierkram kann dauern«, scherzt er. Während er die Formulare ausfüllt, stürzt Frank den Kaffee herunter und rutscht unruhig auf dem lederbezogenen Schwingstuhl hin und her. Er denkt an all die liegen gebliebene Arbeit im Büro, die Überstunden, die ihn erwarten. Die Stimmung in der Firma ist ohnehin mies, der Chef macht Druck und lässt oft genug seinen Frust an den Mitarbeitern aus. Manchmal träumt Frank davon, den Job hinzuschmeißen. Aber er hat vor zwei Jahren eine Eigentumswohnung gekauft und kann sich Arbeitslosigkeit nicht leisten.

Der starke Filterkaffee treibt ihm den Schweiß aus den Poren. Er spürt einen leichten Druck auf der Brust, so wie oft in den letzten Monaten. Nur: Diesmal ist es anders. Der Druck wächst mit jeder Minute, mit jedem Kritzeln des Kugelschreibers auf den Vertragspapieren. Ein Brennen wandert durch seinen linken Arm bis in den kleinen Finger. Frank würde am liebsten sein Hemd aufreißen, den Brustkorb aufspalten und das Herz mit bloßen Händen herausziehen, so sehr schmerzt es.

Sein Blick irrt über den Schreibtisch und bleibt an einem kleinen Klappkalender hängen. Es ist der 30. Oktober 2001, ein Datum, das er nie wieder vergessen wird.

»Sie müssen jetzt mal ein bisschen schneller schreiben«, unterbricht er den Autoverkäufer. »Irgendwie kriege ich, glaube ich, gleich einen Herzinfarkt.«

Fünf Stunden später liegt er auf der Intensivstation. Auf seiner nackten Brust kleben Elektroden, und der Monitor, der seine Körperfunktionen überwacht, piept bei jedem Herzschlag. Frank hat die Augen geschlossen und lauscht dem regelmäßigen Geräusch. Es beruhigt ihn.

Er lebt noch, und die Brustschmerzen sind verschwunden, seit die Ärzte in der Notaufnahme ihm Medikamente verabreicht haben. Aber es war knapp. »Sie hatten einen schweren Herzinfarkt«, haben ihm die Kardiologen unverblümt mitgeteilt. Das war ein Schock, und er hat eine ganze Weile gebraucht, um sich wieder zu fassen.

Es klopft leise. Frank öffnet die Augen. René steckt zögernd seinen blonden Schopf durch die Tür, das Gesicht blass, die Augen weit aufgerissen.

»Hey du«, murmelt Frank mit rauer Stimme.

»Was machst du denn für Sachen?«, stößt René aus, eilt an sein Bett, greift nach seiner Hand und lässt sie nicht mehr los. Er hat nach Franks Anruf alles stehen und liegen lassen, sich sofort ins Auto gesetzt und ist von Nimwegen nach Münster gefahren. Seit über zehn Jahren führen sie eine deutsch-holländische Wochenendbeziehung.

»Meine Sehnsucht war so groß, ich wollte dich einfach schon vor Samstag sehen«, versucht Frank zu scherzen. Aber damit kann er Renés Sorge nicht zerstreuen.

»Ein Herzinfarkt in deinem Alter, wie kann das sein?«

Dieselbe Frage kreist seit Stunden in Franks Kopf. Er ist doch viel zu jung für so etwas, und noch dazu ist er sportlich. Jedes Wochenende fährt er mindestens 100 Kilometer mit dem Rennrad. Bei diesem Pensum kann doch dem Herz nichts passieren! Es macht einfach keinen Sinn.

»Morgen schicken sie mich zum Herzkatheter. Dann wissen wir mehr.«

Am Ende bucht er es als Warnschuss ab. Die Herzkatheteruntersuchung bleibt ergebnislos. Er hat keine verengten Herzkranzgefäße, und im Grunde können sich die Ärzte den Infarkt – wenn es denn wirklich einer war – nicht erklären. Aber das ist keine Garantie, dass es nicht wieder geschieht. Frank ist klar, dass er etwas unternehmen muss, allein schon, um die Oberhand über seine Angst zu gewinnen.

Er hat schon immer gern Sport getrieben. Jetzt wird es zur Obsession. Er fährt am Wochenende Rennrad. Lässt sich zum Spinning-Instructor ausbilden und gibt mehrmals wöchentlich Kurse im Fitnessstudio. Stemmt Hanteln, übt sich im Bankdrücken, an der Beinpresse, am Butterfly. Sein Körper formt sich, stählt sich, birst geradezu vor Kraft und Ausdauer.

René versucht, ihn zu zügeln: »Mach doch auch mal ’ne Pause!« Aber Frank will davon nichts hören. Wenn er sich nach anderthalb Stunden Training das hochrote Gesicht trocken wischt, fühlt er sich gut. In diesen Momenten ist er sicher, dass sein Herz gesund bleibt.

Sechs Jahre später fährt er nach einem langen Tag im Büro ins Fitnessstudio, schlüpft in sein Trainingsoutfit und betritt als Erster den Spinning-Raum. Er atmet tief ein und genießt den Geruch von Metall und Schweiß, der an den achtzehn Fitness-Rädern haftet. Routiniert schiebt er die CD mit seiner Lieblings-Playlist in die Musikanlage, setzt das Kopfmikrofon auf und beobachtet, wie sich der Raum langsam mit Menschen füllt.

Um Punkt 19 Uhr startet Frank den ersten Track und schwingt sich auf den Sattel. »Kurzes Warm-up, Leute! Heute geben wir richtig Gas!« Damit beginnt der beste Teil seines Tages. Er tritt in die Pedale, bis seine Oberschenkel und Waden brennen, verliert sich im hämmernden Rhythmus der Musik und im keuchenden Atem der Gruppe. Umph, umph, umph, dröhnt es aus den Lautsprechern. Die Schwungräder surren, alle Sorgen sind vergessen.

Nach einer halben Stunde melden sich seine Knie. Bei jedem Tritt schießt ein stechender Schmerz durchs Gelenk, so als würde jemand mit einer heißen Nadel hineinbohren. Aber er kann nicht anhalten, er ist schließlich der Trainer. »Nicht nachlassen! Ihr müsst über euch hinauswachsen!«, feuert er sich und die Gruppe an.

Nach anderthalb Stunden steigt er vom Rad. Seine Knie sind steif, er hat Mühe, vor den Augen der anderen nicht zu humpeln. Erst als er allein in der muffigen Umkleidekabine sitzt, gestattet er sich ein leises Stöhnen. Er mustert seine Beine. Unterhalb des Saums der Radlerhose sind sie angeschwollen, dicke Wülste ragen über seinen Kniescheiben auf. Besorgt fährt er mit dem Finger darüber.

Nach dem Duschen steigt er umständlich in seine Jeans. Der Stoff spannt über den merkwürdigen Beulen. In diesem Moment fragt er sich, ob René vielleicht doch recht hat und er es mit dem Training übertreibt.

René entgeht natürlich nicht, dass etwas mit Franks Knien nicht stimmt. Aber richtige Sorgen macht er sich erst, als Frank die Treppen nicht mehr hochkommt.

Es ist Samstag, René ist zu Besuch in Münster. Den Vormittag haben sie genutzt, um in ein Möbelhaus zu fahren und einen neuen Tisch für Franks kleine Küche auszusuchen, clean und modern, mit Edelstahlbeinen und einer massiven Glasplatte. Nun stehen sie neben dem Auto auf Franks Parkplatz und wuchten das gut verpackte Möbelstück mit vereinten Kräften aus dem Kofferraum. Franks Wohnung liegt im zweiten Stock, ohne Aufzug. Aber sie sind beide Sportler, und eigentlich ist es ein Kinderspiel, den Tisch hinaufzutragen.

Im schmalen Treppenhaus beginnt Frank, bei jedem Schritt leise zu ächzen. Auf dem Absatz müssen sie haltmachen und das Paket absetzen. Frank beugt sich vor und reibt seine Gelenke. »Geht gleich wieder«, presst er hervor, als René ihm besorgt die Hand auf den Rücken legt. Die letzte Etage schleppt er sich hinauf wie ein alter Mann, vor Schmerz kann er die Knie kaum noch beugen.