Abenteurer der Lüfte - Alexis von Croy - E-Book

Abenteurer der Lüfte E-Book

Alexis von Croy

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Beschreibung

1903 vollbrachten die Brüder Orville und Wilbur Wright den ersten Motorflug der Menschheit. Er dauerte 12 Sekunden und war der Beginn einer Geschichte von immer neuen Rekorden und gefährlichen Abenteuern, von wagemutigen Pionieren und Pilotinnen, von technischen Triumphen und Tragödien. Alexis von Croy spannt den Bogen von der Erfindung des Flugzeugs über Charles Lindberghs spektakulären Atlantikflug, Erfolg und Niedergang der Überschall-Concorde bis hin zu Fliegern unserer Tage. Anhand zahlreicher Einzelporträts gelingt es ihm, die Faszination des Fliegens greifbar zu machen.

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Veröffentlichungsjahr: 2016

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Mit 161Abbildungen, davon 77 in Farbe

Für meine Copiloten Marjan, Nicola und Amelia Januar 2016

ISBN 978-3-492-97302-1 April 2016 © Piper Verlag GmbH, München/Berlin 2003, 2004 und 2016 Covergestaltung: Dorkenwald Grafik-Design, München, unter Verwendung eines Entwurfs von Nicola Mai Covermotiv: Alexis von Croy; Tom Danahers Grumman Goose von 1937 (oben), Cockpit des Airbus A380 (unten) Litho: Lorenz & Zeller, Inning am Ammersee Datenkonvertierung: CPI books GmbH, Leck

Sämtliche Inhalte dieses E-Books sind urheberrechtlich geschützt. Der Käufer erwirbt lediglich eine Lizenz für den persönlichen Gebrauch auf eigenen Endgeräten. Urheberrechtsverstöße schaden den Autoren und ihren Werken. Die Weiterverbreitung, Vervielfältigung oder öffentliche Wiedergabe ist ausdrücklich untersagt und kann zivil- und/oder strafrechtliche Folgen haben.

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Vorwort

100Jahre motorisierte Luftfahrt haben Tausende von spannenden Fliegergeschichten produziert – warum wollte ich ausgerechnet diese 14Geschichten noch einmal recherchieren und neu erzählen?

Natürlich ist so eine Auswahl immer subjektiv. Ich habe deshalb die Geschichten ausgesucht, die ich selbst für die faszinierendsten halte. Und natürlich musste ich mich dabei beschränken. Dass dieses Buch hauptsächlich Fliegergeschichten aus den USA zum Thema hat, ergab sich daraus, dass ich als Luftfahrtjournalist auf die USA spezialisiert bin. Die Auswahl soll aber die ebenso wichtigen Leistungen von Luftfahrtpionieren in Europa und in vielen anderen Teilen der Welt keineswegs schmälern.

Ich will Ihnen von den beeindruckenden Persönlichkeiten der frühen Pioniere berichten, von technischen Entwicklungen, die unser Leben in den vergangenen Jahrzehnten verändert haben. Aber ich möchte Ihnen auch Einblick geben in die Welt der Flieger, in den Beruf und die Sprache des Piloten, die technische Komplexität des Fliegens. Und natürlich sollen es Geschichten sein, die spannend sind und Sie mitreißen.

Bei einigen der Stories fiel die Entscheidung leicht: Ohne die Geschichte von der Erfindung des Flugzeugs wäre dieses Buch undenkbar. Und die immer noch atemberaubenden Flüge von Charles Lindbergh, Amelia Earhart oder Chuck Yeager darf man nicht weglassen. Ihre Pioniertaten sind untrennbar verbunden mit 100Jahren motorisierter Luftfahrt. Aber wir wollten mehr: von Fliegerabenteuern, technischen Entwicklungen und Dramen erzählen, die viele Leser heute nicht mehr kennen. Natürlich – es gibt Luftfahrtexperten, denen der 1944 in der Wüste verschollene Bomber Lady be Good ein Begriff ist. Und es gibt Insider, die genau wissen, warum der tragische Absturz der Concorde an jenem Sommertag 2000 in Paris passierte, der letztlich das Kapitel Überschall-Passagierflug beendete.

Meine Intention aber war es, kein Buch für Fachleute, Ingenieure oder Luftfahrthistoriker zu schreiben, sondern eines, das in einer lebendigen Mischung die bunte – und manchmal auch düstere – Vielfalt zeigt, die dieses Jahrhundert der Fliegerei geprägt hat. Ich wollte diese Aspekte einem Publikum näherbringen, das sonst nur wenig Berührung mit der Welt der Flieger hat. Und ich hatte noch eine andere Absicht: über diese 14Geschichten verteilt wichtige technische Zusammenhänge der Luftfahrt mit dem richtigen Maß an Tiefgang zu erläutern. Es war eine echte Herausforderung. Denn will man die Aerodynamik des Überschallflugs so erklären, dass auch ein Wissenschaftler sie ernst nähme – selbst erfahrene Piloten würden sie nicht verstehen, so komplex ist die Materie. Und wenn ich Ihnen im reinen Jargon der Flieger erzähle, wie es die Piloten von United 232 schafften, doch noch den Flughafen von Sioux City zu erreichen, nachdem ihre riesige DC-10 unsteuerbar wurde – die meisten Laien würden nur Bahnhof, pardon Flughafen, verstehen.

2016, 13Jahre nach dem Ende des ersten Jahrhunderts der motorisierten Luftfahrt, haben die »besten Geschichten über das Fliegen« nichts von ihrer Faszination verloren. Für diese Neuausgabe von Malik National Geographic wurde die Sammlung um zwei Kapitel erweitert und der Anhang um einige der wichtigsten Ereignisse in der Luftfahrt bis zum heutigen Tage ergänzt. Somit sind es nunmehr 113Jahre motorisierte Luftfahrt, auf die dieses Buch zurückblickt.

1903

In den Dünen von Kitty Hawk lernt die Menschheit fliegen

Der Morgen des 17. Dezember 1903, 10.30 Uhr in Kitty Hawk, North Carolina. Orville (32) und Wilbur Wright (36), stehen mit dem von ihnen erdachten und gebauten Flugapparat in den Sanddünen der Outer Banks. Heute will Orville den Start wagen. Eingehängt in die im Sand verlegte Holzschiene, vibriert das zerbrechlich aussehende Gerät aus stoffbespannten Fichten- und Eschenholzlatten, verspannt mit Stahldraht, im starken aber steten Nordwind. Der Winter ist bereits zu spüren, die Wasserpfützen am Strand sind gefroren. Seit dem Morgengrauen sind sie heute bereits auf den Beinen, warten gespannt auf die Gelegenheit, ihr erstes Motorflugzeug endlich zu testen. Am frühen Morgen sind sie zunächst der Meinung, der Wind, der heute mit über 40 Stundenkilometern bläst, sei zu stark für einen Start. Gegen zehn aber werden sie ungeduldig. Vielleicht ist der Wind sogar von Vorteil? Egal, heute werden sie es wagen. Für die nächsten Tage ist noch schlechteres Wetter vorhergesagt, und sie dürfen keine weitere Zeit mehr verlieren.

Um zehn Uhr haben sie begonnen, die Startschiene, auf der das seltsame Gefährt beschleunigt werden soll, an einer ebenen Stelle in der Nähe des Camps zu verlegen. Ein Fahrwerk hat das erste Flugzeug der Menschen nicht, nur dünne Kufen. Es ist so kalt, dass Wilbur und Orville die schwere Arbeit immer wieder unterbrechen müssen, um sich am improvisierten Ofen in ihrer kargen Hütte in den Kill Devil Hills der Outer Banks, so heißt dieser Strandabschnitt, aufzuwärmen. Nach und nach treffen Bekannte ein, Männer aus den umliegenden Orten. J. T. Daniels, W. S. Dough und A. D. Etheridge von der Wasserwachtstation sind anwesend, ein Mister W. C. Brinkley aus dem kleinen Ort Manteo ganz in der Nähe, ein Junge aus Nags Head, Johnny Moore. Der Flyer ist bereit …

1   Der erste kontrollierte Motorflug: Am 17. Dezember 1903 startet Orville Wright mit dem Flyer in Kitty Hawk

Wilbur und Orville Wright sind zwei von sieben Kindern Milton Wrights, einem Priester und späteren Bischof der evangelischen »United Brethren Church«. Zwei Geschwister sterben kurz nach der Geburt. Wilbur wird 1867 auf einer Farm bei Milville, Indiana, geboren, Orville kommt vier Jahre später in Dayton, Ohio, auf die Welt, wo sich die Wrights nach einigen Umzügen quer durch den Mittleren Westen niedergelassen haben. In der Familie herrscht ein innovatives und technikfreundliches Klima. Es ist vor allem die Mutter, Susan Wright, die handwerklich und naturwissenschaftlich begabt ist. Die Tochter eines noch in Deutschland geborenen Wagenbauers war regelmäßig Klassenbeste in Mathematik und hat neben Literatur auch Naturwissenschaften studiert. Als junge Mutter erfindet und baut sie oft die verschiedensten Haushaltsgeräte und begeistert ihre Kinder früh für alles Mechanische. Wann immer die Jungen einen technischen Rat brauchen, kommen sie zu ihr. Der Vater aber ist es, der seine beiden jüngsten Söhne zum ersten Mal auf das Thema Luftfahrt stößt. Von einer Dienstreise bringt er ihnen ein fliegendes Spielzeug mit, das die Kinder sofort fasziniert: einen von einem Gummimotor angetriebenen kleinen Hubschrauber aus Bambus und Federn. In ähnlicher Form ist es bereits seit dem 14. Jahrhundert bekannt. Auch der berühmte englische Flugpionier George Cayley war davon fasziniert und entwickelte es weiter. Wilbur und Orville ahnen nichts von der Bedeutung, die das faszinierende Spielzeug für ihr weiteres Leben haben wird. Aber sie beginnen sofort, den kleinen Hubschrauber nachzubauen – und stoßen nach kurzer Zeit an eine Grenze, die sie als Kinder nicht verstehen können: Warum fliegt der Apparat nicht, wenn man ihn maßstabsgetreu, aber viel größer nachbaut? Erst Jahre später, als sie sich ernsthaft mit den physikalischen Grundlagen auseinandersetzen, lernen sie, dass ein nur doppelt so großer fliegender Apparat bereits acht mal so viel Auftrieb wie das Spielzeug benötigt, um die Schwerkraft der Erde zu überwinden. Als Orville eines Tages in der Schule wieder einmal einen der kleinen Drehflügler baut, obwohl er sich eigentlich mit schulischen Aufgaben beschäftigen soll, erklärt er dem erst ungehaltenen, dann erstaunten Lehrer, sein Bruder und er hätten vor, eine Flugmaschine zu bauen, die groß genug sein werde, sie beide zu transportieren. Die möglicherweise wenig schmeichelhafte Antwort seines Lehrers ist nicht überliefert.

Für die darauffolgenden Jahre verzeichnen die Biografen keinerlei aeronautische Aktivitäten, die Brüder wenden sich erst einmal praktischen beruflichen Dingen zu. Wilbur lernt eifrig Griechisch und Trigonometrie und ist auch ein sehr guter Sportler – bis ihm 1885, mit 18 Jahren, eines Tages beim Hockeyspiel mehrere Zähne ausgeschlagen werden. Von einer Infektion, Operationen und Zahnarztbesuchen geschwächt, beginnt er zu kränkeln und verbringt viel Zeit zu Hause. Er liest alles, was ihm in die Finger kommt, und pflegt nebenbei noch seine an Tuberkulose erkrankte Mutter, die 1889 stirbt.

Bruder Orville beschäftigt sich zu dieser Zeit vor allem mit dem Druckwesen. Als er 17 Jahre alt ist, baut er nacheinander verschiedene Druckerpressen. Wilbur, der vielleicht technisch noch begabtere der beiden, hilft ihm dabei. Zum ersten Mal lösen die Brüder gemeinsam eine diffizile technische Aufgabe, und bis zu Wilburs frühem Tod 1912 (wie seine Mutter stirbt auch er an Tuberkolose) bleiben sie ein hervorragendes kreatives Team, in dem immer wieder der eine den anderen anspornt und inspiriert. Obwohl sie die gleichen wachen grau-blauen Augen haben, unterscheiden sie sich auch in vielem. Wilbur, das technische Genie und von blitzschneller Auffassungsgabe, hat ein markantes, falkenähnliches Profil, abstehende Ohren und schon früh eine Glatze. Orville hingegen trägt sein volles Haar lang, hat einen stolzen Schnauzer und immer etwas Dandyhaftes an sich. Im Gegensatz zu Wilbur, der in dieser Beziehung eher nachlässig ist, kleidet er sich immer höchst elegant. Orville aber ist der scheuere der Brüder. Innerhalb der Familie taut er auf und ist oft zu Scherzen aufgelegt, in der Öffentlichkeit aber ist Orville fast immer stumm – zeit seines Lebens hält er nie eine Rede. Beide Brüder entwickeln schon früh beachtliche handwerkliche Fähigkeiten, aber meist ist es Wilbur, der die Lösung für ein mechanisches Problem findet.

Nachdem Orvilles Stadtteilzeitung West Side News ein Erfolg wird, gibt er ein paar Monate lang sogar eine echte Tageszeitung heraus, den Evening Item. Wilbur betätigt sich als Redakteur für das Blatt. Allerdings erweist sich die Konkurrenz zu den etablierten Tageszeitungen Daytons doch als etwas zu ambitioniert, die Wrights stellen die Zeitung nach wenigen Monaten wieder ein.

1892 erwerben die Brüder zwei Exemplare der zu dieser Zeit populär werdenden modernen Fahrräder mit zwei gleich großen Reifen, damals »Sicherheitsfahrräder« genannt, die mehr und mehr die umständlichen Hochräder ablösen. Beide sind schon seit Längerem begeisterte Radfahrer, und Orville hat sogar einige Medaillen bei Radrennen gewonnen. Kurz darauf machen sie sich als Fahrradhändler selbstständig. Ab 1896 bauen sie eigene Fahrräder, die sie aus Standardkomponenten montieren und in vielen Details verbessern. Ihre Modelle haben Namen wie »Van Cleve« oder »St. Clair«, die Rahmenteile sind in fünf Schichten schwarz oder karminrot emailliert. Ihre Geschäfte laufen gut. So gut, dass Orville nach einiger Zeit auch auf die Annahme von Druckaufträgen verzichtet, die bis dahin ein zweites wirtschaftliches Standbein sind. Ganz zufrieden scheint vor allem der hochbegabte Wilbur mit diesem Leben aber nicht zu sein, denn er schreibt eines Tages: »Allen Jungs der Wright-Familie fehlen die Ziele und der Antrieb. Keiner von uns hat bis jetzt Gebrauch von seinen Talenten gemacht, um andere zu übertreffen.«

2   Einen solchen Gummimotor-Hubschrauber bringt Vater Wright seinen Söhnen von einer Dienstreise mit

1894 erscheint im amerikanischen Magazin McClure’s ein Artikel über den fliegenden Menschen Otto Lilienthal, der Tausende von Kilometern entfernt, in der Nähe von Berlin, aufsehenerregende Versuche mit Gleitern macht und über den alle Welt spricht. Es ist nicht bekannt, ob die Wrights diesen Artikel gelesen haben, aber es spricht einiges dafür. Zwei Jahre später, im August 1896 – in diesem Sommer pflegt Wilbur den tuberkulosekranken Orville – hören sie von Lilienthals Absturz und von seinem Tod. Ab diesem Zeitpunkt beginnen sie sich mehr für die Luftfahrt zu interessieren und lesen alles, was sie an wissenschaftlicher Literatur über das Fliegen, oder vielmehr über den Wunsch zu fliegen, in ihrer Umgebung finden können. Im Mai 1899 gibt es in Dayton für die Wrights keinerlei neue Literatur zu den Themen der Flugmechanik mehr. Deshalb schreibt der inzwischen 32-jährige Wilbur an die Smithsonian Institution und bittet um Informationen über weiterführende Literatur. Ein Mitarbeiter der wissenschaftlichen Einrichtung, Richard Rathburn, schickt alsbald vier neuere Artikel sowie eine Liste mit Literatur nach Dayton. Bei der Lektüre von Samuel Langleys Experiments in Aerodynamics, Octave Chanutes Progress in Flying Machines, Lilienthals Über Theorie und Praxis des freien Fluges und den Aeronautical Annuals des Bostoner Wissenschaftsredakteurs James Mean wird den staunenden Wrights schlagartig klar, dass keiner der weltberühmten Forscher eine konkrete Idee hat, wie die Steuerung einer Flugmaschine funktionieren könnte: weder der bereits legendäre Deutsche Otto Lilienthal noch der berühmte amerikanische Flugforscher Octave Chanute oder der vom Kriegsministerium für den Bau eines brauchbaren Flugapparats mit 50 000 Dollar gesponserte Direktor der ehrwürdigen Smithsonian Institution, Samuel Langley, der auch ein berühmter Astronom und in den USA einer der angesehensten Forscher seiner Zeit ist. »Es gibt keine Flugkunst«, stellt Wilbur eines Tages lakonisch fest, »es gibt nur ein Flugproblem«.

Bereits zuvor, 1898, hat Wilbur einen Bussard im Flug beobachtet und sich damals erste Gedanken über das Probleme einer wirksamen Steuerung gemacht. Vor allem darum bemüht, endlich mit einem Fluggerät, das (im Gegensatz zu den bereits bekannten Heißluftballonen) schwerer als Luft ist, die Erdanziehung zu überwinden, scheinen fast alle Flugforscher eines der wichtigsten Probleme verdrängt zu haben: Wenn das Flugzeug abhebt, wie kann es dann gelenkt werden? Vögel, bemerken die Wrights schon früh, drehen sich nach rechts oder links um ihre Längsachse, indem sie die Spitzen ihrer Flügel gegeneinander verdrehen und so eine Differenz im Auftrieb der beiden Flügel herstellen. Folge ist der Kurvenflug. Hat beispielsweise der linke Flügel einen geringeren Auftrieb als der rechte, neigt sich der Vogel nach links und beginnt nach links wegzudrehen. Wie kann man die Flugtechnik des Bussards auf ein Flugzeug übertragen? So sehr waren alle Pioniere bis jetzt damit beschäftigt, ihren Fluggeräten auch nur die kleinsten Hüpfer zu entlocken, dass keiner von ihnen an den Fall gedacht zu haben schien, dass dies auch einmal gelingen könnte!

Alle führenden Kapazitäten der Aeronautik setzen zu dieser Zeit in ihren Versuchen auf Konstruktionen, deren Piloten nach einem erfolgreichen Abheben wenig mehr tun können als zu hoffen, dass ihr Apparat die gewünschte Flugbahn einschlägt. Langley baut, wie vor ihm schon Maxim oder Pénaud, ganz auf das eigenstabile Flugzeug. Dieser Philosophie stehen vor allem der Engländer Pilcher und Otto Lilienthal gegenüber, deren Gleiter in erster Linie durch die Verlagerung des Körpergewichts gesteuert werden. Was bei einem leichten Gleiter, wie ihn Lilienthal entwickelt hat, mehr schlecht als recht funktioniert – für die Steuerung eines großen oder gar eines motorisierten Flugzeugs ist diese Methode untauglich. Durch einfaches Verschieben des Schwerpunkts allein lässt sich ein Flugzeug nicht präzise steuern. Ein eigenstabil gebautes Flugzeug wiederum fliegt nach dem Start zwar stabil geradeaus, lässt sich aber ohne Steuerung auch durch Gewichtsverlagerung kaum in eine Kurve zwingen. Intuitiv erfassen die Wrights, dass die Erfindung einer wirksamen Steuerung einer der wichtigsten Schlüssel zur Lösung des Menschheitstraums vom Fliegen sein wird. Und sofort machen sie sich mit der für sie typischen Akribie, Systematik und Ausdauer daran, Lösungen zu entwickeln. Ihre erste Idee ist es, die Flügel (noch haben sie überhaupt kein einziges Fluggerät gebaut!) als Ganzes gegeneinander verdrehbar zu machen, um so die aerodynamische Asymmetrie zu schaffen, die Vögel kurven lässt. Schnell wird ihnen aber klar, dass die dafür benötigte Mechanik zu schwer für einen leichten Gleiter wäre.

Im Juli 1899 steht Wilbur an der Theke des Fahrradladens und unterhält sich mit einem Kunden, dem er soeben einen Fahrradschlauch verkauft hat. Gedankenverloren spielt er mit dem rechteckigen Karton, in dem der Schlauch verpackt war, als es ihn plötzlich durchfährt. Wenn er, wie er es soeben geistesabwesend getan hat, die Enden der Schachtel gegeneinander verdreht … – genauso müssten die Tragflächen funktionieren! Sie müssen sich gar nicht als Ganzes gegeneinander drehen, sie müssen sich in sich selbst verwinden! Noch am selben Abend entwerfen die Brüder ein System aus Seilen und Umlenkrollen. Und wenige Tage später haben sie ihr erstes Fluggerät fertiggestellt. Es ist ein kleiner Drachen mit zwei parallelen Tragflächen von je 1,52 Meter Länge, deren Enden sich vom Boden aus mithilfe von Drähten gegeneinander verwinden lassen. Dieses erste Flugzeug der Wrights funktioniert bereits beim ersten Steigenlassen so gut, dass die beiden unverzüglich darangehen, sich über die Konstruktion eines bemannten Gleiters in voller Größe Gedanken zu machen. Bevor sie sich damit wie Lilienthal von einem Hügel stürzen, soll auch der erste große Gleiter zunächst wie ein Drachen an einem Seil befestigt fliegen. Um das mit 5,2 Meter Spannweite, 15 Quadratmeter Flügelfläche und einem vorn angebrachten Höhenruder viel schwerere neue Gerät aber wie einen Drachen steigen lassen zu können – und vielleicht sogar bemannt damit zu fliegen! –, benötigen die Wrights ein geeignetes Gelände mit ausreichend starken und konstanten Winden.

3   Ihre ersten Flugzeuge testen die Wrights wie Drachen an einem Seil

Als sich der Bau des Gleiters langsam der Vollendung nähert, beschließen sie, das U. S. Weather Bureau anzuschreiben, um mit dessen Hilfe einen geeigneten Startplatz zu finden. Die Antwort der Behörde kommt bald: Der Strand von Kitty Hawk, einem Dorf auf der lang gezogenen Halbinsel Outer Banks vor der Küste North Carolinas, würde die besten Windverhältnisse bieten, schreiben die Meteorologen – und darüber hinaus nicht zu weit von Dayton entfernt sein. Vom Leiter der Wetterstation von Kitty Hawk, Joseph J. Dosher, erfahren die Wrights in einem Briefwechsel mehr über die tatsächlichen Verhältnisse am Strand von Kitty Hawk. Dosher beschreibt in einem Brief den weiten Sandstrand mit den vereinzelten, verkrüppelten Bäumen und den hohen Dünen, und er bestätigt die Windverhältnisse. Nur ein Quartier kann er den Wrights nicht anbieten, im bescheidenen Fischerdorf sind zu Beginn des 19. Jahrhunderts keine Häuser zu vermieten.

Wilbur trifft am 12. September 1900 zum ersten Mal in Kitty Hawk ein, wo er zuerst bei William Tate, dem Leiter der örtlichen Post, Quartier findet. Umgehend beginnt er mit dem Zusammenbau des Gleiters. Zwei Wochen später kommt Orville nach. Er bringt ein Zelt und auch weiteren Proviant mit. Anfang Oktober starten sie die ersten Versuche mit dem Gleiter als Drachen. Aber es ist enttäuschend: Der Apparat entwickelt nicht annähernd so viel Auftrieb, wie die Brüder berechnet haben, und am 10. Oktober machen die Wrights zum ersten Mal Bruch. Es soll nicht das letzte Mal sein. Eine starke Windböe erfasst den am Boden liegenden Gleiter und schleudert ihn einige Meter weit weg, wobei er stark beschädigt wird. Sofort reparieren sie ihn und machen unbeeindruckt weiter. Sie lassen den Gleiter wieder und wieder steigen, mal leer, mal mit Gewichten von bis zu 22 Kilogramm beschwert. Und am 17. Oktober haben sie sogar ihren ersten Passagier. Tom Tate, der zehn Jahre alte Neffe von Bill Tate, lässt sich von dem gefesselten Gleiter emportragen. Der nächste Versuch wird der erste echte Flug von Wilbur. Er legt sich in den Gleiter und segelt fast 120 Meter weit von einem Dünenhügel hinab. Trotz dieser kleinen Erfolge sind die Ergebnisse ernüchternd. Dann lässt auch der Wind langsam nach, und bald darauf ist er zu schwach für weitere bemannte Flüge. Am 23. Oktober brechen die Wrights ihr Lager deshalb ab und kehren für den Winter nach Dayton zurück. Den Gleiter lassen sie zurück. Bill Tates Frau schneidet später Stücke aus dem Satinstoff der Bespannung und näht daraus Kleider für ihre drei Töchter.

Obwohl die Versuche mit dem Gleiter nicht so Erfolg versprechend waren, wie sie es sich erhofft hatten – Wilbur und Orville haben nun richtig Feuer gefangen, was die Fliegerei betrifft. Im Frühjahr 1901 dreht sich ihr Leben nur noch um die Idee, mit einem neuen Flugapparat möglichst schnell nach Kitty Hawk zurückzukehren. Für die Fahrradwerkstatt stellen sie einen Mechaniker namens Charlie Taylor ein, und ihre Schwester Catherine wird mit der Führung des Fahrradgeschäfts beauftragt. Das wirft immerhin genügend Geld für eine Fortsetzung der Flugversuche ab. Als sie im Juli 1901 nach Kitty Hawk zurückkommen, haben sie ein neues Flugzeug mit fast sieben Meter Spannweite im Gepäck. Sieben Kilometer vom Ort entfernt, in der Nähe großer Sanddünen, den Kill Devil Hills, schlagen sie ihr Lager auf. Sie bohren sogar einen Brunnen, der allerdings meist trocken bleibt. Um mehr Auftrieb zu erzeugen, hat der neue Apparat einen wesentlich größeren Flügel von 28 Quadratmetern Fläche inklusive Höhenruder. Es ist der größte bisher gebaute Gleiter überhaupt. Das Profil des Flügels haben die Wrights sorgfältig nach Otto Lilienthals veröffentlichten Berechnungen gebaut. Zwei Flugenthusiasten, Edward Huffaker und George Spratt, gesellen sich zu ihnen. Octave Chanute, die graue Eminenz der amerikanischen Flugforschung und selbst mit Gleitflugversuchen beschäftigt, hat die beiden geschickt in der Annahme, sie könnten von den Wrights lernen. Am Tag ihrer Ankunft wird das Lager von aggressiven Mücken heimgesucht, derer sie erst Herr werden, als Chanute bei einem Besuch ein feinmaschiges Moskitonetz mitbringt.

Doch trotz sorgfältiger Vorbereitungen – auch der neue Gleiter erfüllt die Erwartungen nicht. Im Grunde fliegt er sogar schlechter als das Modell vom Vorjahr. Woran es liegt – sie wissen es nicht, haben lediglich Vermutungen. Hat Otto Lilienthal in seinen aerodynamischen Berechnungen Fehler gemacht? Sind seine Auftriebs- und Widerstandstabellen falsch? Zuerst haben Wilbur und Orville Hemmungen, die Forschungsresultate des legendären Lilienthal infrage zu stellen. Als sie aber den Flügel ihrer neuen Maschine auf ein flacheres, dem ursprünglichen Gleiter ähnliches Profil umbauen, fliegt er wieder besser. Andere Probleme bleiben ungelöst. Am allerwenigsten verstehen Wilbur und Orville, warum der beim Kurvenflug äußere Flügel mehr Widerstand erzeugt als der innere, wodurch die Nase des Gleiters sich in die der Kurve entgegengesetzte Richtung dreht, also »giert«. Es handelt sich um ein Phänomen, das heute jedem Piloten als »negatives Wendemoment« bekannt ist, sich bei modernen Flugzeugen allerdings durch konstruktive Tricks an den Querrudern der Flügel kaum mehr auswirkt.

Obwohl sie in diesem Sommer noch einen Gleitflug von 120 Metern Weite schaffen, reisen Wilbur und Orville am 20. August einigermaßen niedergeschlagen nach Dayton zurück, um dort eigene aerodynamische Versuche anzustellen. Im Grunde sind sie noch keinen Schritt weiter als ein Jahr zuvor, und am Ende dieses Sommers des Jahres 1901 sagt der entmutigte Wilbur voraus, dass die Menschen zwar eines Tages fliegen, aber sie das wohl nicht mehr erleben würden. Orville erinnert sich Jahre später, dass Wilbur noch hinzufügt: »Innerhalb der nächsten tausend Jahre werden die Menschen nicht fliegen!«.

Zur selben Zeit als die Wrights in Kitty Hawk die Enttäuschungen mit ihrem zweiten Gleiter erleben, melden drei Zeitungen an der Ostküste, dass am 14. August in Bridgeport, Connecticut, ein erfolgreicher Flug stattgefunden hat, bei dem sich eine Flugmaschine aus eigener Kraft vom Erdboden gelöst hat. Der aus Bayern eingewanderte Gustaf Weißkopf, der sich in der Neuen Welt Gustave Whitehead nennt, will in der Nacht zum 14. August mit einem von ihm erdachten und gebauten Flugzeug einen erfolgreichen Flug absolviert haben. In derselben Nacht, behauptet Weißkopf, sei er sogar mehrfach geflogen, zum Beispiel 2,5 Kilometer weit – in sechzig Meter Höhe. Und fünf Monate später will der technisch durchaus geschickte Weißkopf (»mit erschreckend hoher Geschwindigkeit!«) einen elf Kilometer weiten Rundflug über dem Long Island Sound durchgeführt haben. Für diesen gibt es allerdings ebenso wenige Belege wie für einige weitere Flugberichte. Von keinem der Flüge gibt es ein Foto, und auch andere stichhaltige Beweise lassen sich nicht finden.

Einige der Zeugen, die Weißkopf benannt hat, sagen später aus, dass ihnen keinerlei Flüge Weißkopfs bekannt seien – und dass sie ihm eine solche Leistung auch nicht zutrauen würden. Selbst einer seiner Sponsoren, Stanley Y. Beach, der von 1901 bis 1910 viel Zeit mit Weißkopf verbringt und einen Artikel für Scientific American über dessen Experimente verfasst, hört niemals – auch nicht von Weißkopf selbst! – irgendetwas von einem erfolgreichen Flug! Dabei hat Beach sogar seine Familie dazu gebracht, fast 10 000 Dollar in Weißkopfs fliegerische Unternehmungen zu investieren. Beach hätte schon allein deshalb großes Interesse an einer Erfolgsmeldung haben müssen, um damit seiner Familie zu beweisen, dass ihr Geld gut angelegt war. Resultat der Zusammenarbeit Beach/Weißkopf war der Beach-Whitehead-Doppeldecker, der auf der New York Aeronautic Society Show im November 1908 im New Yorker Morris Park ausgestellt wurde, aber niemals flog. Auch in Beachs Aussagen zu Weißkopf gibt es bis heute diverse Ungereimtheiten. Sie führten nie dazu, Weißkopfs Berichte glaubwürdiger zu machen.

Im August 1945 meldet sich sogar Orville Wright, der sonst immer einen ausgesprochenen Widerwillen gegen das Verfassen von Artikeln zeigt, zum Thema Weißkopf zu Wort. Er hat in Reader’s Digest über die angeblichen Flüge gelesen und die Behauptung, dass Weißkopf die Brüder Wright aus dem Rennen um den ersten Motorflug geworfen hat, kann er nicht unbeantwortet lassen. In einem Beitrag im U. S. Air Services Magazine, einer Zeitschrift der amerikanischen Luftstreitkräfte, sinniert Orville als Entgegnung auf Reader’s Digest darüber, warum der Bridgeport Herald, dessen Reporter 1901 angeblich Zeuge des ersten Flugs wurde, die Sensationsstory damals vier Tage liegen ließ, um sie schließlich in der Sonntagsausgabe zu bringen – illustriert mit vier auf Besenstielen fliegenden Hexen. Allerdings erreicht die Fachzeitschrift nur einen Bruchteil der Leserschaft von Reader’s Digest, was dazu beigetragen haben könnte, dass sich die offensichtliche Fabel von Weißkopfs Flügen bis heute hält. Auf dem Marktplatz der Gemeinde Leutershausen, dem Geburtsort Weißkopfs in der Nähe von Ansbach, errichteten seine Anhänger ihm ein Denkmal, und ein rühriger Verein ist bis heute um die offizielle Anerkennung der mysteriösen Nachtflüge bemüht. Weißkopfs Flugzeug, das auf den überlieferten Fotografien keinerlei Steuerung erkennen lässt und offensichtlich Tragflächen wie ein Lilienthal-Gleiter hatte (Berichte, nach denen der junge Weißkopf Lilienthal einmal besucht haben soll, erscheinen eher unglaubwürdig), wird in der abgebildeten Form von den meisten Experten für nicht flugfähig gehalten. Luftfahrthistoriker sind aus diesen – und einigen weiteren – Gründen heute der Meinung, dass Weißkopfs Konstruktion den Erdboden nie verlassen hat. Dennoch muss Gustaf Weißkopf zu den wirklichen Enthusiasten gezählt werden. In einer Zeit, in der die Luftfahrt noch nicht mehr als ein vages Versprechen war, glaubte er unerschütterlich – und vielleicht manchmal mit etwas zuviel Fantasie – an seine Vision und arbeitete mit viel Engagement an der Lösung der Probleme.

4   Geniale Erfinder und Businessmen: Orville (links) und Wilbur Wright

Zurück nach Dayton, 1901: Die Wrights sind nahe daran, die Beschäftigung mit der Fliegerei aufzugeben. Doch ein Zufall bewahrt sie davor, endgültig zu resignieren: Octave Chanute lädt die Brüder Ende August dazu ein, einen Vortrag vor der ehrwürdigen Western Society of Engineers zu halten. Obwohl seine Schwester ihn zur Teilnahme überreden muss (und ihm einen von Orvilles eleganten Anzügen für die Reise einpackt), erkennt Wilbur, dass die Beschäftigung mit dem Verfassen des Vortrags ihn dazu zwingt, alles Geschehene noch einmal sorgfältig zu überlegen und systematisch zu rekapitulieren. In seinem Vortrag, den er bescheiden »Some Aeronautical Experiments« nennt, zeigt Wilbur Lichtbilder der Flugversuche und stellt fast waghalsig die These auf, dass Lilienthals Tabellen falsch sein könnten. Mit dieser kühnen Behauptung allerdings geraten die Brüder in Zugzwang – und bleiben der Erforschung des Menschenflugs erhalten. Wer behauptet, dass Lilienthal unrecht hat, muss zumindest eine bessere Lösung parat haben!

Mit neu entflammtem Ehrgeiz erfinden die Wrights nie gesehene Apparaturen zur Erforschung von Flügelprofilen. Sie montieren eine Fahrradfelge horizontal und drehbar gelagert auf dem Lenker eines ihrer Räder. Darauf befestigen sie senkrecht in einer geschickten Anordnung jeweils einen ihrer Modellflügel mit einem bestimmten Profil und gegenüber, auf der anderen Seite der Felge, eine plane Metallplatte, die quer zum Fahrtwind steht. Wenn sie jetzt mit dem Fahrrad die Straße hinunterfahren und die Felge auf dem Lenker sich nicht dreht, so bedeutet dies, dass der Luftwiderstand der geraden Platte in diesem Moment den gleichen Wert hat, wie die Auftriebskraft an dem Modellflügel. Da der Luftwiderstand einer geraden Platte sich leicht berechnen lässt, wissen die Wrights jetzt, welchen Auftrieb ihr Profil bei diesem Versuch erzeugt. Wenn der Auftrieb des Modellflügels größer ist als der Widerstand der Metallplatte, dreht die Felge sich in die eine, ist der Auftrieb kleiner, in die andere Richtung.

Nachdem sie mithilfe dieser verblüffend einfachen Konstruktion viele Flügelprofile bei verschiedenen Anstellwinkeln (der Winkel, in dem die Luft an das Flügelprofil strömt) getestet haben, sprechen die Daten eine klare Sprache: Irgendetwas an Lilienthals Berechnungen ist falsch. Allerdings ist die Vorrichtung auf dem Fahrrad nicht präzise genug, um damit wirklich exakte Daten zu ermitteln. Deshalb bauen die Brüder aus einer fünfzig Zentimeter langen Holzkiste und einem von einem kleinen, sonst in ihrer Fahrradwerkstatt benötigten Benzinmotor angetriebenen Propeller einen Windkanal. Der Engländer Francis Herbert Wenham hat den Windkanal bereits 30 Jahre vorher erfunden, dennoch ist er nur von wenigen Flugpionieren verwendet worden. Vielleicht auch deshalb, weil nur wenigen Wissenschaftlern die aerodynamischen Zusammenhänge so geläufig sind, dass sie systematisch mit einem solchen Gerät umgehen könnten.

Die Wrights aber sind ein Glücksfall für die Flugforschung. Ihr Durchhaltewille und ihre Begeisterung sind ebenso stark wie ihre Bereitschaft, sich auch mit der theoretisch-physikalischen Seite der »Luftfahrt« auseinanderzusetzen. Bevor sie sich an den Bau eines weiteren Flugzeugs machen, wollen sie noch mehr über die physikalischen Prinzipien lernen. Kurz darauf – Wilbur erwähnt es in einem überlieferten Brief an Chanute – bauen sie sogar einen noch größeren Windkanal von 1,80 Meter Länge, sowie eine selbst erdachte Waage, mit der sie die Kräfte messen wollen, die ihre Flügel im Luftstrom des Windkanals erzeugen: Auftrieb und Widerstand. In einer aerodynamischen Versuchsreihe, wie es sie bis dahin noch nie gegeben hat, untersuchen die Wrights im Herbst 1901 an die 40 verschiedene Flügelprofile mit ihrem neuen Verfahren. Jeden der kleinen Flügel bringen sie in bis zu 45 verschiedene Winkel zur anströmenden Luft.

Mitte Dezember dann das überraschende Resultat ihrer Forschungsarbeit: Nicht Lilienthal war es, der einen Fehler gemacht hat, sondern bereits im 18. Jahrhundert ein englischer Ingenieur namens John Smeaton, der sich unter anderem mit der Konstruktion von Windmühlen beschäftigte. Smeaton hatte dafür einen Faktor für die Luftdichte bestimmt – ein Wert, der für jede Auftriebsgleichung unabdingbar ist. Dieser Wert aber, das haben Wilbur und Orville jetzt schwarz auf weiß, ist falsch. Auch Lilienthal hat, ohne es zu ahnen, mit dem falschen Faktor gerechnet. Und nur aus diesem Grund sind die Resultate in seinen Tabellen falsch. 150 Jahre lang hatte niemand daran gezweifelt, dass Smeaton den Koeffizienten richtig bestimmt hatte.

Mit ihrem einfachen Windkanal ermitteln die Wrights den richtigen Wert und gelangen so zu neuen Auftriebstabellen, die sie zur Konstruktion ihres nächsten Gleiters verwenden. Mithilfe des nun exakten Luftdichte-Koeffizienten, der Geschwindigkeit und dem Wert für die Flügelfläche können sie nun präzise Daten für den Auftrieb ermitteln. Sie flachen das von Lilienthal vorgeschlagene Flügelprofil ab und ändern auch das Verhältnis von Flügellänge zu Flügelbreite. Die Flügel sind jetzt drei Meter länger und gestreckter, eine radikale Abkehr von ihren ursprünglichen Fluggeräten. Auch das Höhenruder ist wesentlich weiter vorne angebracht als beim Gleiter des Jahres 1901, durch den verlängerten Hebelarm soll es wirksamer werden. Zu dieser Zeit, gegen Weihnachten 1901, sind die Wrights durch ihre umfassende Grundlagenforschung bereits die weltweit führende Instanz in Sachen Aerodynamik geworden.

Am 27. August 1902 kommen Wilbur und Orville zurück nach Kitty Hawk, wo sie die erste Woche ausschließlich mit Reparaturarbeiten an ihrem Schuppen verbringen und ihr Lager neu einrichten. Anschließend fangen sie an, den neuen Gleiter zu montieren und flugfertig einzustellen. Am 19. September ist es endlich so weit, die Versuche können beginnen. Schon der erste gefesselte Flug als Drachen zeigt die Überlegenheit des neuen Geräts, und so beginnen die Wrights kurz darauf mit Gleitflügen von den Dünen. Bereits nach einigen Wochen gelingen ihnen Flüge von über 150 Meter Weite.

Den größten Teil ihrer Flugsaison 1902 verbringen Wilbur und Orville damit, sich das Fliegen beizubringen, bessere Piloten zu werden. Die beiden trainieren intensiv, bis sie gleich gut sind. Einmal zerstört Orville den Gleiter bei einem Absturz aus geringer Höhe. Später erzählt er, wie er sich »in einem Haufen Flugzeug«, »inmitten eines Haufen Stoffs und geborstener Stäbe« wiederfand. Aber jetzt lassen sich die Wrights nicht mehr aufhalten: Innerhalb kurzer Zeit reparieren sie ihr Flugzeug und fliegen weiter. Nur mit der Steuerung haben sie immer noch ein Problem: Der Gleiter driftet mehr seitwärts durch die Kurven, als dass er sie präzise koordiniert fliegt, im Fliegerjargon »slippt« er. So manches Mal verlieren die Brüder in diesem schiebenden Flugzustand die Kontrolle über das Gerät, worauf es sofort in einen Spiralsturz übergeht und sich mit der Nase voraus in den Sand bohrt. Erstaunlicherweise verletzen sie sich bei keinem dieser Abstürze aus geringer Höhe.

5   Einer der ersten Gleitflüge in den Dünen von Kitty Hawk

Orville findet schließlich die Ursache heraus: Bei der schiebenden Kurve erzeugen die beiden am Heck angebrachten starren Seitenflossen zusätzlichen Widerstand und bremsen so den in der Kurve ohnehin langsameren Innenflügel weiter ab. Wenn dieser schließlich, weil er sich zu langsam durch die Luft bewegt, keinen Auftrieb mehr erzeugt, kippt der Gleiter ab. Orville will das Problem mit einem drehbar aufgehängten und vom Piloten zu bewegenden Seitenruder lösen. Die beiden konstruieren also ein bewegliches Seitenruder. Auf Wilburs Einwand hin, der Pilot hätte mit der bisherigen Steuerung bereits genug zu tun, koppeln sie das Seitenruder mit dem Verwindungsmechanismus der Tragfläche. Am 6. Oktober bauen sie die neuen Teile in den Gleiter ein. Das neue Ruder macht den Gleiter der Wrights zum ersten Mal um alle drei Achsen steuerbar: Das Höhenruder, per Hebel mit der linken Hand betätigt, hebt die Nase oder senkt sie, die Flügelverwindung steuert die Rollbewegung um die Längsachse, indem sie einen Flügel durch Erhöhung des Auftriebs anhebt und gleichzeitig den gegenüberliegenden durch eine Verringerung des Auftriebs absenkt. Betätigt wird die Verwindung der Tragflächen mit den Hüften. Der Pilot liegt auf der unteren Tragfläche in einer Art Joch, an dem die Drahtseile befestigt sind, die zu den Flügelenden führen. Zusätzlich erlaubt das neue Seitenruder, die Nase des Flugzeugs nach rechts oder links zu drehen. Diese Steuerung ist der wesentliche Fortschritt gegenüber allen anderen Konstruktionen.

Im September kommt Lorin, der ältere Bruder von Orville und Wilbur, zu Besuch. Einige Fotografien der Wrights am Strand von North Carolina, die heute noch erhalten sind, hat er aufgenommen. Auch Octave Chanute und George Spratt sind im September wieder da. Chanute hat Augustus Herring mitgebracht, der Chanute 1896 beim Bau eines Gleiters geholfen hat. Der etwas zwielichtige Herring – er wird viel später behaupten, Anteil an den Erfindungen der Wrights gehabt zu haben – hat eine neue Version dieses Gleiters in Kitty Hawk dabei, schafft damit allerdings unter den Augen der anderen keinen Gleitflug über 15 Meter. Kurz darauf reist er wieder ab, offenbar neidisch auf die Wrights und ihren neuen Flugapparat. Die anderen Besucher helfen Wilbur und Orville dabei, ihre Versuche durchzuführen. An manchen Tagen machen die Brüder mehr als 100, einmal in zwei Tagen 250 Gleitflüge. Der beste dieser Flüge geht 190 Meter weit, in 26 Sekunden, viele andere dauern nur sieben oder zehn Sekunden. Am 28. Oktober 1902 brechen Wilbur und Orville das Lager ab und reisen zurück nach Dayton. Ihr Ziel für dieses Jahr ist mehr als erreicht: Endlich haben sie eine Maschine, die sich wirklich steuern lässt. Was jetzt noch fehlt, sind Motor und Propeller.

Mit derselben Zähigkeit, die alle ihre Aktivitäten auszeichnet, beginnen die Brüder ab dem Dezember 1902, sich Gedanken über einen Motor für ihr Flugzeug zu machen. Zwei Aufgaben müssen sie lösen: Sie müssen nicht nur den richtigen Antrieb finden, sondern auch einen wirkungsvollen Propeller konstruieren. In der Annahme, der Propeller sei die kleinere Herausforderung, wenn erst einmal die richtige Kraftquelle gefunden ist, schreiben sie an zehn Motorenhersteller und bitten diese um Angebote für einen Motor, der nicht mehr als 82 Kilogramm wiegen darf und dabei mindestens acht PS stark sein soll. Fest davon überzeugt, dass sich der nötige Motor einkaufen lässt, beginnen sie mit der Arbeit an den Luftschrauben.

Als Vorbild für den Propeller sollen ihnen Schiffsschrauben dienen, die mittlerweile bereits seit 65 Jahren in Gebrauch sind. 1827 hat sie der britische Ingenieur Robert Wilson als Ersatz für die vor allem bei unruhiger See nachteiligen seitlichen Schaufelräder der ersten Dampfschiffe erfunden. Den Wrights ist klar, dass Propeller und Schiffsschraube auf denselben physikalischen Prinzipien beruhen und dass allein das gegenüber der Luft dichtere Medium Wasser eine andere Form der Schiffsschraube bedingt. Ihre Idee aber, die Daten der Schiffsschrauben-Konstrukteure für die Entwicklung ihres Propellers zu nutzen, scheitert. Niemand, bemerken die Wrights, hat sich je damit aufgehalten, Schiffsschrauben zu berechnen. Ihre Form scheint ausschließlich in praktischen Versuchen ermittelt worden zu sein. Wie die Wasserpropeller wirklich funktionieren, ist deshalb 1902 immer noch so gut wie unbekannt. Zu diesem Zeitpunkt bereits geübt in aerodynamischen Berechnungen, gehen die Brüder auch hier den harten, aber Erfolg versprechenden Weg. Sie beginnen, die theoretischen Grundlagen für eine Luftschraube selbst zu erforschen. Im Grunde, stellen sie bald fest, ist ein Propeller nichts anderes als eine sich spiralförmig durch die Luft bewegende Tragfläche, die, dreht sie schnell genug, ebenso wie ein Flügel Auftrieb erzeugt – nur dass dieser eben nach vorn wirkt und nicht nach oben.

Da Wilbur und Orville bereits Erfahrung in der Berechnung des Auftriebs von Tragflächen haben, sind sie zuversichtlich, auch für die Propeller die optimale Form finden zu können. Je weiter sie sich aber in die komplexe Materie einarbeiten, um so verwirrender scheint die Aufgabe zu werden. Das Problem: Eine Tragfläche bewegt sich geradlinig durch die Luft, ein Propeller aber rotiert, und zwar nahe der Nabe langsamer als an den Spitzen. Um außen an den sich schnell durch die Luft bewegenden Blattspitzen einen ähnlich großen Schub zu erzeugen wie ganz innen nahe der Nabe, ist eine permanente Änderung von Profil und Anstellwinkel nötig. Daraus resultiert die komplexe, verwundene Form einer wirksamen Luftschraube.

Orville schreibt Jahre später: »Was zunächst ein einfaches Problem zu sein schien, wurde immer komplexer, je länger wir darüber nachdachten. Da die Maschine sich nach vorn bewegt, die Luft nach hinten strömt und der Propeller sich seitwärts dreht und nichts stillsteht, schien es uns unmöglich, einen Ausgangspunkt zu finden, von dem aus wir die verschiedenen Kräfte nachvollziehen konnten. Nach langen Streitereien kam es oft zu der seltsamen Situation, dass wir am Ende einer Diskussion die Standpunkte getauscht hatten – aber uns wieder alles andere als einig waren.«

Dennoch lösen die Wrights auch diese Probleme durch langwierige Versuche und Berechnungen und werden die ersten Flugforscher, die einen wirklich effektiven Propeller entwickeln. Wie gut sie die Materie schließlich verstanden, wurde klar, als Wissenschaftler mithilfe der NASA vor einigen Jahren per Laser-Abtastung und mit computergesteuerten Maschinen originalgetreue Replikate früher Wright-Propeller anfertigten und diese in modernen Forschungswindkanälen testeten. Das Ergebnis erstaunte auch die Profis von heute: Bereits der erste Propeller der Wrights erreichte einen Wirkungsgrad von 66 Prozent, was bedeutet, dass sie zwei Drittel der Motorleistung in Schub umsetzen konnten. Spätere Entwürfe der Wrights, wie ihre Propeller von 1910, erreichten sogar eine Wirkungsgrad von bis zu 82 Prozent – während die besten Holzpropeller für Sportflugzeuge, die heute auf dem Markt sind, auf maximal 85 Prozent kommen.

Ein Vierteljahr lang betreiben die Wrights Anfang 1903 Grundlagenforschung zum Thema Propeller. Wieder füllen sie viele Notizbücher mit Messwerten, Berechnungen und Tabellen. Sie bauen einen weiteren, größeren Windkanal und testen darin kleine Modellpropeller. Schließlich schnitzen sie aus drei Lagen verleimtem Fichtenholz die Luftschrauben für ihr erstes Motorflugzeug, etwas über zweieinhalb Meter im Durchmesser. Da die Wrights vorhaben, das Flugzeug mit zwei Luftschrauben anzutreiben, bauen sie sowohl einen rechts- als auch einen linksdrehenden Propeller, um auf diese Weise ein einseitig wirkendes Drehmoment zu verhindern, denn dieses könnte ihr Flugzeug aus der Bahn bringen. Die beiden Propeller werden über lange Fahrradketten angetrieben, wobei die Kette des linken Propellers über Kreuz läuft, um die Luftschrauben gegeneinander rotieren zu lassen.

In der Zwischenzeit haben sich alle der angeschriebenen Motorenhersteller gemeldet. Keiner von ihnen hat einen Motor im Programm, wie Wilbur und Orville ihn für ihr Flugzeug brauchen, und die Entwicklung eines solchen lehnen sie ebenso einhellig ab, vor allem wegen der zu hohen Kosten. Ein weiteres Mal wird die Eigeninitiative der Wrights auf eine harte Probe gestellt. Sie beschließen, auch den Motor selbst zu konstruieren. Bis dahin haben sie lediglich den kleinen 1-PS-Benzinmotor gebaut, der in ihrer Werkstatt Maschinen und gelegentlich auch ihren Windkanal antreibt. Zusammen mit ihrem Mechaniker Charlie Taylor, der sämtliche Metallteile für den Motor lediglich mithilfe der einfachen Maschinen in der Fahrradwerkstatt anfertigt, entwickeln sie innerhalb von nur sechs Wochen einen 3,2 Liter großen Vierzylinder-Benzinmotor nach dem Viertaktprinzip, 1876 vom deutschen Ingenieur Nikolaus August Otto erdacht. Die Wrights skizzieren die Teile des Motors auf Packpapier, und Charlie Taylor fertigt sie an – ohne maßstabsgetreue Pläne. Am 12. Februar 1903 springt der Motor zum ersten Mal an. Kurz nach dem Anlassen liefert er 16 PS, nach einiger Zeit sinkt die Leistung auf 12,5 PS ab. Der Motor wiegt 91 Kilogramm, ist wassergekühlt und läuft nach dem Anlassen sofort mit Vollgas. Regeln lässt sich seine Leistung nicht. Nachdem der Motor beim ersten Test überhitzt und als Folge einen mechanische Schaden erleidet, müssen ihn die Brüder komplett überholen, aber im Mai 1903 läuft das erste Flugzeugtriebwerk der Wrights, Vorfahre von über 200 späteren Wright-Flugmotortypen, zuverlässig und weich.

Während der Entwicklung des Motors haben sie auch das neue Flugzeug fertiggestellt, ihre bis zu diesem Zeitpunkt mächtigste Flugmaschine. Mit 12,3 Meter Spannweite, über sieben Meter Länge und einer Höhe von fast drei Metern ist es viel zu groß, als dass sie es in ihrer Werkstatt hätten zusammenbauen können, und so beschließen sie, das Gerät, Orville nennt es »das Mordsding«, in Kisten zu verpacken und direkt nach Kitty Hawk zu transportieren. In ihrem in einer Fahrradwerkstatt geborenen Flyer findet sich folgerichtig Fahrrad-Technologie wieder: Beispielsweise wird der Propeller von Fahrradketten über Fahrrad-Zahnkränze angetrieben, Fahrradketten sind auch in Teilen der Steuerung verbaut. Auf einer Fahrradnabe soll die Maschine auf einer Schiene zum Start anrollen.

Am 25. September treffen Orville und Wilbur wieder an der Atlantikküste ein. Ihr Lager vom Vorjahr finden sie beschädigt vor. Dan Tate, der Bruder des Postbeamten Bill Tate, berichtet, dass die Gegend in den vergangenen Monaten von starken Stürmen heimgesucht wurde. Aber der Gleiter vom Vorjahr ist nahezu intakt, und während sie beginnen, einen zweiten Schuppen als Hangar für das neue Flugzeug und für eine Werkstatt zu errichten, üben sie das Fliegen. So manches Mal sind sie jetzt bei stärkeren Winden fast eine halbe Minute in der Luft. Sie müssen noch auf einige Kisten aus Dayton mit den restlichen Teilen für ihr neues Flugzeug warten und so trainieren sie, so oft sie können. Die restliche Zeit verbringen sie mit ihren neuen Freunden aus Kitty Hawk, schreiben Briefe oder bauen ihr Lager weiter aus. Am Ende der ersten Oktoberwoche trifft das erwartete Material ein, und sie beginnen, das neue Flugzeug zu montieren. Einen Tag später zieht ein enormer Sturm über die Küste hinweg. Der Wind erreicht Geschwindigkeiten von bis zu 120 Stundenkilometern, und die Brüder haben alle Mühe, ihre Hütte vor dem Einsturz zu sichern. Auch muss das Dach ihres Flugzeugschuppens abgedichtet werden. Die nächsten Tage hält das stürmische, kalte Wetter an, und allmählich beginnen sie sich Sorgen zu machen. Samuel Langleys vom Militär gesponserter Aerodrome ist mittlerweile mit einem Erfolg versprechenden neuen Sternmotor ausgerüstet, den sein Assistent Manly gebaut hat. Er soll demnächst fliegen, heißt es. Bereits im Juli hatte Langley den »unmittelbar bevorstehenden« Erstflug seiner Konstruktion angekündigt. Wie die Wrights auch, hält er die meisten Konstruktionsdaten geheim, und so fällt es den Wrights schwer, seine Erfolgsaussichten realistisch einzuschätzen. Während die Wrights in Kitty Hawk noch an ihrer Maschine bauen, auf besseres Wetter warten und immer wenn das Wetter es zulässt, weitere Gleitflüge unternehmen, bekommen sie mit fast einer Woche Verspätung die Nachricht, dass ein Startversuch Langleys auf dem Potomac River nahe Washington am 7. Oktober fehlgeschlagen ist. Die Wrights sind erleichtert, dass sie noch im Rennen sind.

6   Einer der Schlüssel zum Erfolg: der von den Wrights konstruierte Vierzylinder-Motor für den Flyer

Anfang November sind sie mit dem Zusammenbau der neuen Maschine fertig. Aber als sie am 5. November den Motor endlich testen wollen, erleiden sie einmal mehr einen herben Rückschlag: Der Vierzylinder läuft rau und vibriert darüber hinaus so stark, dass die Wellen beider Propeller durch Risse beschädigt werden. Sie müssen die Teile ausbauen und zur Reparatur ins entfernte Dayton schicken, wo sich Charlie Taylor ihrer annimmt. Zwei Wochen später kommen die überholten Komponenten zurück. Am 25. November sind die Brüder bereit, einen neuen Versuch zu wagen. Als sie die Maschine aus dem Verschlag ziehen wollen, setzt plötzlich ein eiskalter Regen, dann sogar Schneegestöber ein. Ein eisiger Nordwind weht mit 40 Stundenkilometern. Frustriert bleiben sie in ihrer Hütte, wärmen sich am Holzofen und fragen sich, ob ihr Flug wohl noch vor dem Winter gelingen kann. Unter anderem verbringen sie die Zeit damit, ein genaues Messsystem für die Dokumentation ihrer Flüge zu bauen: Eine Stoppuhr soll die Flugzeit messen, ein kleiner Windmesser die Menge durchflogener Luft, und ein kleiner Zähler hält die Anzahl von Propellerumdrehungen fest. Mithilfe einer mechanischen Vorrichtung stellen sie sicher, dass Uhr, Windmesser und Zähler, die an einer Strebe des Flugzeugs befestigt sind, gleichzeitig anlaufen. Die Wrights sind sich sicher, dass ihre Maschine fliegen wird. Die Frage ist nur: Wann?

Am 28. November – es ist wieder etwas wärmer geworden, und der Wind hat die richtige Stärke – wollen sie es wieder probieren. Aber nachdem sie noch im Schuppen den Motor kurz angelassen haben, reißt wieder eine der Propellerwellen. Nahe daran, mutlos zu werden, will Orville jetzt auf Nummer sicher gehen: Er fährt selbst nach Dayton und fertigt aus gehärtetem Federstahl zwei komplett neue Wellen an. Es ist bereits der 11. Dezember, als er in die Dünen von North Carolina zurückkehrt, wo Wilbur wie auf Kohlen sitzt. Orville erzählt seinem Bruder, dass er während der Eisenbahnfahrt einen Artikel über das erneute Scheitern Langleys am 8. Dezember gelesen hat. Wieder ist der Aerodrome, viel zu schwach motorisiert und ohne jegliche Steuerung, sofort nach dem Katapultstart zerbrochen und in den Potomac-Fluss gestürzt. Ein zweites Mal kann sich Assistent und Pilot Manly aus den Fluten retten. Er soll fluchend nach einer Flasche Whiskey verlangt haben, nachdem man ihn aus dem Wasser gezogen hat. Ein Leitartikel der New York Times bestätigt wenig später die Zweifler, die den Flug in einer Maschine schwerer als Luft für eine verrückte Utopie halten: »In ein bis zehn Millionen Jahren«, schreibt der Journalist, »könnte durch die vereinten Anstrengungen von Wissenschaftlern und Technikern vielleicht eine funktionierende Flugmaschine entwickelt werden.«

7   Dezember 1903: die Wrights vor ihrem Schuppen bei Kitty Hawk

Die Wrights haben viel Zeit verloren, sodass sie jetzt ihre Pläne ändern. Sie beschließen, die neue Maschine nicht zuerst im Gleitflug zu testen, sondern so bald wie möglich einen ersten Startversuch mit Motorhilfe zu machen. Am Samstag, dem 12. Dezember, sind sie zum ersten Mal wirklich startbereit. Jetzt aber spielt das Wetter nicht mehr mit. Nachdem wochenlang ein kräftiger Wind geblasen und es zuweilen sogar gestürmt hat, ist der Wind an diesem Tag zu schwach für einen erfolgreichen Start. Um in die Luft zu kommen, das wissen die Wrights aus den Daten ihrer Maschine, brauchen sie einen kräftigen Gegenwind, sonst reicht der Auftrieb nicht aus, um sich nach dem kurzen Anlauf auf der Startschiene in die Luft zu erheben. Deshalb belassen sie es an diesem Tag dabei, ihr neues Flugzeug von Hand auf der Schiene hin und her zu schieben. So wollen sie Gefühl für die Starttechnik bekommen. Den Rest des Tages verbringen sie damit, den Rahmen des Seitensteuers zu reparieren, das während der Versuche zu Bruch ging. Der Sonntag, 13. Dezember, bringt endlich das lang ersehnte, perfekte Flugwetter. Die Maschine steht startklar im Schuppen, und auch der Wind ist genau richtig. Orville und Wilbur sitzen am Strand herum, sonnen sich und lesen. Sonntags, das haben sie ihrem Vater versprochen, wird nicht gearbeitet. Wie an jedem anderen Sonntag auch, halten sie sich strikt an ihr Versprechen.

8   1908: Wilbur im »Cockpit« des weiterentwickelten Flyer

Am nächsten Tag, dem 14. Dezember, ist das Wetter gut, nur der Wind ist auch heute wieder etwas zu schwach. Wilbur und Orville entscheiden, den fehlenden Gegenwind durch einen Bergabstart von der Düne zu kompensieren. Sie hissen die Flagge auf ihrer Hütte und signalisieren damit ihren Freunden von der nahegelegenen Wasserwachtstation, dass sie Hilfe benötigen. Bald schieben sie den über 270 Kilogramm schweren Doppeldecker mithilfe von fünf Mann auf der 20 Meter langen Startschiene, die sie mehrmals abbauen und wieder vor dem Flugzeug in den Sand legen, fünfzig Meter die Anhöhe hinauf. Nachdem sie durch den Wurf einer Münze ausgelost haben, wer fliegen darf, unternimmt Wilbur den ersten Versuch, den Flyer in die Luft zu bringen. Der Start glückt, aber der Flug wird ein Fehlschlag: Kaum, dass die dünne Kufe der Maschine von der Schiene abhebt, zieht Wilbur den fragilen Doppeldecker zu steil in die Höhe. Als der Winkel zwischen anströmender Luft und Tragfläche zu groß wird, reißt die tragende Luftströmung am Flügel ab. Schlagartig bricht der Auftrieb zusammen, und sofort gerät das Flugzeug außer Kontrolle. Es schlägt hart mit dem Flügel am Fuß des Sandhügels auf, nur dreißig Meter vom Startpunkt entfernt. Aber zumindest wird es nicht allzu sehr beschädigt. Die linke Kufe knickt ab, als sie mit voller Wucht in den Sand eintaucht. Ein paar weitere Holzteile der linken unteren Tragfläche und des Höhenruders brechen. Der Grund für den Absturz aus geringer Höhe ist ein klassischer Flugfehler, der erste, vor dem Fluglehrer ihre Schüler noch heute warnen: Nie das Flugzeug in geringer Höhe nach dem Start zu steil anstellen! Wilbur und Orville haben jedes Bauteil ihres Flugzeugs selbst erforscht, berechnet, konstruiert und gebaut – jetzt müssen sie lernen, es zu fliegen!

Orville, der zuerst ein Stück den Hügel mit hinuntergelaufen ist und dabei den Flügel gehalten hat, liest nach dem Crash auf der Stoppuhr am Flugzeug eine Flugzeit von dreieinhalb Sekunden ab. Zu wenig für einen wirklichen Flug. Ein so kurzer Luftsprung ist kein Beweis für die Flugtüchtigkeit der Konstruktion. Kurze Hopser hat es schon früher gegeben. Felix du Temple und Clement Ader in Frankreich haben welche gemacht, Sir Hiram Maxim in England auch. Allerdings waren das keine wirklichen Flüge, nur unkontrollierte Sprünge. Die Wrights spüren, dass sie ganz nah dran sind, aber heute ist das Zeitalter des Motorflugs noch nicht angebrochen. Trotz des missglückten Starts sind sie zuversichtlich, denn ihre Maschine verspricht, die in ihre Flugtüchtigkeit gesetzten Erwartungen zu erfüllen – wenn auch der Pilot bereit ist. So viel haben sie in den wenigen Sekunden, die der Flyer durch die Luft taumelte, gesehen. Mit derselben Geduld und eisernen Disziplin, mit der sie seit dem Herbst 1900 in Kitty Hawk ihren ersten Gleiter in über tausend Flügen erprobt und immer wieder verbessert, umkonstruiert und verfeinert haben, zerren sie den beschädigten Apparat in den Holzschuppen. Mit klammen Fingern arbeiten die beiden besessenen Tüftler daran, das Flugzeug, wenn es denn wirklich eines ist, noch einmal instand zu setzen. Das schlechter werdende Wetter droht ihr Vorhaben zu verhindern, in diesem Jahr noch zu fliegen. Außerdem stehen sie unter Erfolgsdruck, denn sie wissen, dass sie nicht die Einzigen sind, die an einem motorgetriebenen Flugzeug arbeiten.

17. Dezember 1903 … Um fünf nach halb elf weht der Wind mit einer Stärke von bis zu zwölf Meter pro Sekunde, fast 45 Stundenkilometer. Orville legt sich in die Maschine, neben ihm knattert der Motor. Nachdem er diesen ein paar Minuten lang hat warmlaufen lassen, löst er den Draht, der den Doppeldecker auf der Schiene hält. Sofort beginnt die Maschine sich vorwärts zu bewegen. Wilbur geht neben dem Flyer her und hält mit einer Hand den Flügel fest, um zu verhindern, dass das Flugzeug von der Schiene kippt. Da der Wind stark ist, beschleunigt es nur sehr langsam, und Wilbur kann leicht Schritt halten. Nach zwölf Meter Startstrecke hebt die Maschine ab. Wilbur bleibt stehen, schaut seinem Bruder fasziniert nach. Als der Flyer etwa einen Meter an Höhe gewonnen hat, drückt Mr. Daniels, so wie ihn die Wrights instruiert haben, den Auslöser der Kamera.

Das Foto wird eines der berühmtesten Bilder der Menschheit und für immer unvergessen bleiben. Nach einer Flugstrecke von 36,6 Metern setzt der Flyer sanft im Sand auf. Der Flug hat nur zwölf Sekunden gedauert, und doch ist es das erste Mal, dass sich eine Maschine schwerer als Luft mit einem Menschen an Bord aus eigener Kraft vom Erdboden gelöst hat und nach einem kontrollierten Flug an einer Stelle landet, die auf demselben Niveau wie der Ausgangspunkt liegt. 420 Jahre nachdem Leonardo da Vinci Entwürfe für seinen Ornithopter gezeichnet hat, ist der Menschheit der erste Schritt zur endgültigen Eroberung der Luft gelungen. Voller Euphorie fliegen die Brüder an diesem 17. Dezember noch drei weitere Male mit dem Flyer: 53 und 61 Meter und beim letzten Versuch um exakt zwölf Uhr schafft Wilbur sogar beeindruckende 260 Meter, fliegt 57 Sekunden lang.

9   1908: Wilbur Wright demonstriert ein Wright Model A in Berlin auf dem Tempelhofer Feld

Die Zeit des Flyer ist jedoch so schnell vorbei, wie sie an diesem kalten Dezembermorgen angebrochen ist: Während einer Zwangspause, die Männer wollen eine angebrochene Strebe reparieren, wird die im Sande stehende Flugmaschine von einer heftigen Böe erfasst. Die Männer stürzen sich auf sie, aber es ist zu spät, das Flugzeug wird umgeworfen. Es begräbt sogar den unglücklichen Mr. Daniels unter sich, der sich dabei Gott sei Dank nur leicht verletzt. Die Flugsaison 1903 ist beendet, denn die Flügel der Maschine sind gebrochen, der Motor beschädigt, ebenso die Führungen der Antriebsketten für die Propeller. Der Flyer wird nie mehr als die 98 Sekunden, die er an diesem Tag in der Luft war, fliegen. In einer Kiste verpackt, werden seine Überreste nach Dayton zurückkehren. Lange Zeit wird er danach in einem Verschlag hinter dem Fahrradgeschäft lagern.

Wilbur und Orville aber wissen, dass sie ihr Ziel erreicht haben. In einem nicht ganz korrekten Telegramm übermitteln sie den Triumph nach Hause: »Erfolg. Vier Flüge am Donnerstag Morgen. Alle bei einundzwanzig Meilen Wind. Allein mithilfe von Motorkraft aus der Ebene gestartet. Durchschnittgeschwindigkeit einunddreißig Meilen. Längster Flug 57 Sekunden. Informiert die Presse. Weihnachten zurück. Orville Wright.«

10   Das Original: Seit Jahrzehnten ist der Flyer das zentrale Ausstellungsstück im Washingtoner National Air and Space Museum

Orville und Wilbur Wright haben als einzige Mitglieder der Familie Wright beide nie einen High-School-Abschluss gemacht, und weder Wilbur noch Orville studierten je an einer Universität. Sie haben auch nie geheiratet. Manche Historiker schrieben, die beiden hätten sich in so perfekter Weise ergänzt, dass sie sozusagen »miteinander verheiratet« gewesen seien. Mit Wilbur, so berichten Bekannte der Brüder, stirbt 1912 auch ein Teil Orvilles. Nie mehr macht er in späteren Jahren eine bedeutende Erfindung. Aber gemeinsam mit seinem Bruder hat er der Natur endgültig eines ihrer größten Geheimnisse entrissen, eines, das diese den Menschen nur sehr widerwillig preisgab.

1944, vier Jahre vor seinem Tod sitzt Orville Wright zum letzten Mal am Steuer eines Flugzeugs. Im Prototyp einer viermotorigen Lockheed Constellation, dem Typ, mit dem die TransWorldAirlines (TWA) später den Linienverkehr zwischen New York und Paris aufnehmen wird, fliegt er, 73-jährig, über Dayton, Ohio. Die Constellation hat vier 2535 PS starke Wright-Sternmotoren, gebaut von dem Unternehmen, das die Brüder einst ins Leben riefen und später verkauften. Der Rumpf der Constellation ist mit 35 Metern fast ebenso lang wie die erste Flugstrecke des Flyer 1903. Und sie verfügt über eine Druckkabine, in der bis zu 81 Passagiere Tausende von Kilometern weit befördert werden können – mit einer Geschwindigkeit von über 600 Kilometer pro Stunde in sieben Kilometer Höhe.

An diesem Tag, an dem Orville eines der zu jener Zeit modernsten Flugzeuge der Welt fliegt, tobt in Europa der Zweite Weltkrieg. Der Flyer, das erste echte Flugzeug der Menschheit, befindet sich zerlegt in einer geheimen unterirdischen Lagerstätte in der Nähe des Dorfes Corsham. 160 Kilometer von London entfernt, wo er seit 1928 im Science Museum ausgestellt war, hat ihn die englische Regierung zusammen mit britischen Staatsschätzen vor dem Krieg in Sicherheit gebracht. Erst 1948 kehrt der Flyer in einer feierlichen Zeremonie anlässlich des 45. Jubiläums seines ersten Fluges in die USA zurück. Er ist seither das zentrale Ausstellungsstück des Smithsonian Air and Space Museum in Washington D. C.

1919

Bezwinger des Nordatlantik: John Alcock und Arthur Whitten-Brown

John Alcock, 27, and Arthur Whitten-Brown, 33, drängen sich durch die begeisterte Menge, die sich am Eingang des Königlichen Aeroclubs versammelt hatte. Alcock trägt eine kleine Tasche, und nachdem er General Holden, den Vizepräsidenten des Clubs, begrüßt hat, überreicht er ihm ein Bündel von 197 Briefen, die der Leiter des Postamts von Neufundland, Dr. Robinson, ihnen anvertraut hat. Sofort werden die Briefe zum nächsten Postamt befördert, dort frankiert und abgestempelt und auf den Weg zu ihren Empfängern gebracht. Die 197 Briefe sind 1919 die schnellste Post der Welt, sie haben die weite Reise vom Flugplatz Lester’s Field bei St. Johns auf Neufundland nach London in Rekordzeit hinter sich gebracht. Allerdings war die Wahrscheinlichkeit relativ niedrig, dass die Post jemals das trockene Ufer der Alten Welt erreicht – jedenfalls wenn man den riskanten Flug der beiden mutigen Briten im Nachhinein betrachtet.

14. Juni 1919, der provisorische Flugplatz Lester’s Field auf Neufundland: Der Pilot John Alcock und sein Navigator Arthur Whitten-Brown klettern in ihren fragil wirkenden zweimotorigen Vickers-Vimy-Bomber aus dem Ersten Weltkrieg, um zu beweisen, dass es möglich ist, nonstop aus der Neuen in die Alte Welt zu fliegen. Alcock und Brown wollten eigentlich am Tag zuvor, einem Freitag, den 13., starten. Schließlich wird es aber doch der 14. Nach drei Wochen gründlicher Vorbereitung geht es jetzt endlich los. Eigentlich hätten sie lieber einen besser geeigneten Startplatz als die rumplige kurze Wiese von Lester’s Field gefunden, aber schließlich haben sie die Suche aufgegeben. Um vier Uhr morgens bekommen Alcock und Brown die letzten Wettermeldungen: Starke Winde, aber sonst günstige Bedingungen werden prognostiziert. Kurz vor Anbruch der Dämmerung fahren sie aus ihrem Hotel zum Flugplatz. Der Himmel ist bedeckt. Um halb zwei ist die Vimy nach etlichen kleineren Pannen und Zwischenfällen endlich startbereit. Die Sonderpost, etwas Nahrung und Getränke sowie zwei Maskottchen kommen an Bord: Zwei schwarze Stoffkatzen, »Lucky Jim« und »Twinkletoe«. Lucky Jim, Nomen est Omen, reist in Browns Uniform, Twinkletoe wird an einer Tragflächenstrebe angebunden. Kurz vor dem Start sieht Brown eine schwarze Katze, den Schwanz hoch erhoben, um das Flugzeug streichen. Er ist sich sicher, dass das Glück bedeutet. Sie müssen jetzt los!

11   Aufbruch zum ersten Nonstopflug über den Atlantik. Alcocks und Browns Vickers Vimy startet bei St. Johns, Neufundland

Im Laufe der Startvorbereitungen hat der Wind gedreht, und Alcock beschließt, das schwere Flugzeug auf die andere Seite des Flugplatzes schieben zu lassen. Auch wenn die Startbahn dort leicht ansteigend ist, zieht er es vor, gegen den Wind zu starten. Doch nun wird festgestellt, dass eine Benzinleitung gebrochen ist. Es muss beim Schieben über den Flugplatz passiert sein. Die Reparatur dauert eine weitere Stunde. Kurz vor dem Start kommt plötzlich noch ein hupender Wagen auf die Startbahn gefahren. Es ist ein Arzt, der den beiden ein »Stärkungsmittel« mitgeben will: eine Flasche Whiskey. Alcock nimmt einen kräftigen Schluck und lässt dann die beiden 350 PS starken 12-Zylinder Rolls-Royce-Motoren an. Als die beiden gewaltigen Vierblattpropeller genügend Schub erzeugen, beginnt die Vimy in Startposition zu rumpeln. Jetzt gibt Alcock Vollgas. »Deprimierend langsam«, wird Navigator Brown später berichten, setzt sich die Maschine in Bewegung, auf den dunklen Kiefernwald am Ende der nur 500 Meter langen Startbahn zu.

Keiner der beiden Piloten kann sich sicher sein, dass sie es auch nur über den Wald schaffen, geschweige denn über den Nordatlantik. Das Echo der brüllenden Motoren hallt von den Bergen wider, die St. Johns umgeben. Nur unmerklich wird das Flugzeug zu Beginn des langen Startlaufs schneller, aber Alcock bewahrt die Nerven. Er weiß, dass er auf keinen Fall zu früh abheben darf, will er das Hindernis mit einem kleinen Höhenüberschuss überqueren. Dann zieht er sachte am Höhenruder, und schwerfällig löst sich die Vimy vom Boden, überquert ganz knapp eine Steinmauer, sackt noch einmal durch, gewinnt langsam an Höhe. »Wir waren nur wenige Inch über den Spitzen der Bäume«, schreibt Brown in sein Logbuch. Alcock notiert die Startzeit: 13.45 Uhr.

1890 Meilen offenes Meer liegen vor den Fliegern, sechzehn Stunden Flug, mindestens. Es ist nur fünfzehneinhalb Jahre her, dass die Wrights dem Motorflug in die Kinderschuhe geholfen haben, aber in diesen steckt er eben immer noch. Alcock und Brown sind unterwegs zu einem der atemberaubendsten Flüge der Luftfahrtgeschichte. Als sie den Hafen von St. Johns in dreihundert Meter Höhe passieren – acht Jahre später wird Charles Lindbergh die Stadt auf seinem Weg nach Paris ebenfalls überfliegen –, ertönen zum Abschied die Sirenen sämtlicher Schiffe. Dann, bereits über dem Meer, dreht Alcock am Steuer und nimmt Kurs auf Irland, fast genau nach Osten. Kurz lässt er die Vimy auf 1300 Fuß, 400