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"Abrechnung" ist eine Sammlung von Kurzgeschichte, in welchen sich Heinrich Mann mit den Themen Liebe und Verlust aufgrund von gesellschaftlichen Zwängen zu Beginn des 20. Jahrhunderts befasst. Doch auch wenn die Geschichten ein anderes gesellschaftliches Leben darstellen, sind die Themen relevanter denn je. Werden die Protagonistinnen und Protagonisten eine Möglichkeit finden ihre Liebe halten zu können oder ist der gesellschaftliche Druck zu stark?-
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Seitenzahl: 62
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Heinrich Mann
Saga
Abrechnungen
Coverbild/Illustration: pexels-cottonbro-4974420
Copyright © 1924, 2021 SAGA Egmont
Alle Rechte vorbehalten
ISBN: 9788726885323
1. E-Book-Ausgabe
Format: EPUB 3.0
Dieses Buch ist urheberrechtlich geschützt. Kopieren für gewerbliche und öffentliche Zwecke ist nur mit der Zustimmung vom Verlag gestattet.
Dieses Werk ist als historisches Dokument neu veröffentlicht worden. Die Sprache des Werkes entspricht der Zeit seiner Entstehung.
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Saga Egmont - ein Teil von Egmont, www.egmont.com
Emmy Blasius konnte ihren einzig Geliebten nicht heiraten, denn Assessor Liban hatte nicht genug. Die jungen Leute blieben einig gegen die Eltern, aber wo waren die Stärkeren? Die ganze, stark befestigte Ordnung der Dinge in jenen friedlichen Zeiten sprach für die Eltern. Die Jungen konnten nur machtlos protestieren. Sie konnten das Geschick nur zu erweichen suchen, der Assessor durch besondere Strebsamkeit und dadurch, daß er der Mutter den Hof machte, Emmy noch am besten, wenn sie sich leidend stellte. Übrigens kam man herunter mit den Nerven, heimlich verloht seit Jahren und immer umhergeworfen zwischen Hoffnungen und ihrer Vernichtung. Vor der großen Abendgesellschaft bei Geheimrat Blasius, gegen Ende der Saison, traf Liban den jungen Bruder Emmys auf der Straße, hielt ihn an und drang in ihn: »Wen werde ich zu Tisch führen?« Der Gymnasiast lächelte wichtig. Er wisse es. »Sag es mir! Du bekommst etwas geschenkt.« – »Was denn?« Ausführlicher Handel. Endlich: »Wen führe ich also?« – »Die Musiklehrerin.« Worauf Liban schroff wegging. Emmy aber saß am Abend neben Doktor Schatz, einem alternden Afrikaner, der Geld hatte. Jammervolle Blicke über die lange Festtafel, zwischen den weit getrennten Liebenden. Dabei fächelte Emmy sich, um ihrem Tischherrn ihre nette runde Hand zu zeigen, und Assessor Liban dort unten brachte die Klavierlehrerin zum Lachen. Umsonst die lange Geduld, die vielen Kunstgriffe, alle ihre Träume, die ganze Pein. Wozu hatten schon Backfisch und Schüler einander gern gehabt. Wozu beim Eislauf jene mit gestohlenem Taschengeld bezahlten Pfannkuchen, der Schwur ewiger Trene, bevor er auf die Universität ging. Bis zu seiner Rückkehr fiel beiderseitig manches vor, aber das erwähnten sie nicht. Kleine Treubrüche des Gefühls, oder selbst andere, zählten nicht für ein Liebespaar, das die Aufgabe hatte, Widerständen zu trotzen und das Ideal zu verkörpern.
Die Tafel ward aufgehoben, und in der ersten Verwirrung der Gesellschaft, die andere Räume aufsuchte, konnten die Unglücklichen sich hinter einer Tür zusammenfinden. Emmy kam mit einem Gesicht, das alles eingestand, die volle Katastrophe und ihre eigene Ohnmacht. Ob die Eltern schon mit ihr gesprochen hätten, wollte er wissen. »Sie haben mir gesagt, ich sei nun zweiundzwanzig, Zeit sei nicht mehr zu verlieren.« – »Und Doktor Schatz?« fragte er. Sie gestand: »Papa hatte ausdrücklich verboten, daß ich ihn glatt abfallen lasse.« – »Ja dann«, sagte der junge Mann. Endlich gestand sie alles: die Verlobung werde gleich heute abend sein. »Er kann nicht lange warten«, sagte sie verzweifelt. »Er hält sich nicht.« Herren, die Zigarren rauchten, hätten das Paar beinahe aufgestört. Die Gefahr ging vorbei, sie konnten Abschied nehmen. Als anständige Bürgerkinder nahmen sie Abschied von ihrer Liebe, dem Gefühl ihrer ganzen Jugend – hinter der Tür. Heirat Emmys mit Doktor Schatz und ein vornehmes Haus mehr, Gesellschaften, die Klang hatten. Dazwischen ein Kind, Sohn Wölfchen, vom Vater dem Konsulatsdienst bestimmt. Sein bester Freund, Landgerichtsrat Liban, war sogar der Meinung, Wölfchen sollte Reichskanzler werden. »Bis dahin ist unsere Entwicklung ins Industrielle soweit. Der nächste Kaiser beruft Bürgerliche.« Liban hatte die herrschende Vorschrift, Geld zu haben, befolgt und reich geheiratet. Seine Frau war schon vorher mit Emmy befreundet, sie wurden es um so enger. Die beiden kleinen Töchter Libans und Wölfchen verbanden die Häuser überdies, jedes wichtigere Erlebnis des einen rief das gesamte Mitgefühl des anderen in Person herbei.
Schatz erkrankte, alle Libans kamen. Es ward schlimmer mit ihm, da blieb nur sein Freund. »Wir sind zu viele, aber du bleibst«, hatte Frau Liban gesagt. So saß Liban mehrere Stunden am Bett und tröstete Schatz, der ihm nicht zuhörte in seinem Fieber. Emmy machte ihm die Injektion, er konnte endlich einschlafen. Seine Frau und sein Freund atmeten auf. Sie saßen an beiden Seiten des Bettes, zum erstenmal fanden sie Zeit, sich zueinander zu wenden. Ihre Mienen waren überanstrengt und mißvergnügt. Einen Augenblick dachte jeder vom andern: ›Fühlt er sich nicht am richtigen Platz?‹ Sogleich aber sprachen sie sachlich über die Aussichten für die Nacht. Ob die Hoffnung, den Kranken durchzubringen, abnehme. Was der Arzt wohl sagen werde. Sie erwarteten ihn peinlich: nicht nur Schatzens wegen, auch um nicht länger allein hier zu sitzen und etwas sagen zu müssen. Denn Schweigen wäre noch peinlicher gewesen. Wie so etwas entsteht! Sie waren doch nicht das erstemal allein, in all den Jahren. Da bemerkten sie, daß jeder den andern im Auge hatte wie einen Schuldner, dem man mißtraut. Befangen sagte Emmy: »Wer das geahnt hätte!« – »Der hätte manches anders gemacht«, sagte Liban. Plötzlich überkam ihn ungeheure Erregung. Er verließ seinen Platz und sagte: »Wenn er stirbt, lasse ich mich scheiden. Es muß von vorn wieder anfangen.« – »Geht denn das?« fragte Emmy. »Wir sind schon bald ältere Leute.« – »Ich werfe alles hin. Die Nutznießung des Vermögens meiner Kinder bis zu ihrer Großjährigkeit soll mir genügen.« – »Und was Schatz hinterläßt!« sagte sie nicht ohne Stolz. Er hatte auf einmal die Augen voll Tränen. »O Emmy! Wir hätten mehr Mut, mehr goldene Rücksichtslosigkeit beweisen sollen. Wenn wir nun deinen Eltern einfach nicht gehorcht hätten? Durchgehn soll auch vorkommen. Ach, alles stände anders!« Sie dachte, es würde vor allem nicht so stehen, daß jeder sein Schäfchen im trockenen hatte. Aber das sagte sie nicht, sie achtete seinen Idealismus und bemühte sich, ihn zu erreichen. »Unsere Kinder sollen anders werden«, äußerte sie. »Unsere Kinder sollen uns rächen.« Er dachte, daß sie um Gottes willen keine mehr haben dürften. Was würde aus der Versorgung der schon vorhandenen. Die Ehe ist eine soziale Einrichtung. Um so heftiger und unbeschwerter riß er die begehrte Frau an sich. »Wie je!« stöhnte er. Auch hinter ihnen stöhnte jemand. Sie warfen auf den unruhig schlummernden Schatz einen entrüsteten Blick. Dieses Menschen wegen ein ganzes Leben der Entsagung! Nebenan war es dunkel. Sie wankten und fielen, umschlungen, dort hinein.
»Mama! Onkel Liban! Wie reimt sich das? Leur haine pour Hector n'est pas encore éteinte. Ils redoutent son fils.
Ich soll auf deutsch einen Reim suchen.« Dies hören, auffahren und schlottern im Dunkeln. Jener Vorhang, dahinter der Junge! Wölfchen bei seiner Schularbeit im Eßzimmer, und zwischen seiner und ihrer Arbeit nur ein Vorhang! Es lähmte, wie die letzten Dinge. Beide Verbrecher an der bürgerlichen Sittenordnung wurden sich jäh ihrer Lage bewußt. Sie war grauenerregend, Atriden selbst konnten nicht mehr Grauen erregen! Der Mann war es, der sich faßte und festen Schrittes hinging. »Erstens sprichst du es schauderhaft aus. Und dann ist es doch klar: Ihr Haß auf Hektor währt noch immer, denn auch sein Sohn war mit im Zimmer.« Worauf Wölfchen ihm bewundernd in das Gesicht sah, das nach der eigenen Empfindung des Schuldigen rot angeschwollen war infolge der Lage und weil er sie durch seine anzügliche Übersetzung noch verschlimmert sah. War das Lächeln des Jungen wirklich harmlos? »Ich habe frei übersetzt«, sagte Liban schnell. »Es ist wegen des dummen Reimes. Sagen wir etwas genauer: Sie hassen Hektor auch noch, nun er tot, denn jetzt sind sie von seinem Sohn bedroht.«