Vorwort
Von Größenwahn und Heilungschancen
Der Mensch ist klein, und daher ist klein schön. Wer auf Riesenhaftigkeit setzt, der setzt auf Selbstzerstörung.
ERNST FRIEDRICH SCHUMACHER
Unsere einzigartige Erde hat in mehr als 100 Millionen Jahren unglaubliche Vielfalt entwickelt. Menschlicher Größenwahn hat binnen weniger Jahrhunderte vieles davon zerstört.
Es war einer der größten Fehler in der Menschheitsgeschichte, die Natur beherrschen zu wollen. Dadurch entstand die »große Trennung«, die die Menschen von der Natur und die Menschen untereinander separierte. Epidemien, Klimakrise und Artensterben sind, so riesig jedes dieser Probleme bereits allein betrachtet auch ist, nur Symptome dieser Trennung. Betonierte Städte beginnen sich zu überhitzen. Überwärmte Meere und begradigte Flüsse treten irgendwann über die Ufer. Pestizidbesprühte Pflanzen und Insekten sterben aus. Billiarden winziger Lebewesen, die das lebendige Ökosystem unseres Planeten bilden, bringen zum Ausdruck, dass sie die Belastungen nicht mehr ertragen. Artensterben und Erderhitzung lassen Eltern verzweifeln, weil sie ihren Kindern heute nicht mehr das Grundversprechen geben können: »Euch wird es mal besser gehen als uns.« All das geschieht, weil wir auch noch den letzten Tropfen Nutzen aus unserem Planeten herauspressen wollen.
Dieses Buch war bereits fertig geschrieben, als sich Anfang 2020 die Corona-Pandemie über den Globus zu wälzen begann. Es war, als wollte das Virus der Menschheit demonstrieren: Seht her, was ich anrichten kann, wenn ich mich genauso exponentiell vermehre wie euer Wirtschaftswachstum und euer Energie- und Ressourcenverbrauch.
Wie dramatisch die Folgen von Corona noch sein werden, war bei Abschluss des Manuskripts nicht absehbar. Aber schon jetzt zeichnet sich ab, dass die Ereignisse unsere Sichtweise stärker bestätigen, als uns selbst lieb ist: Die größenwahnsinnige Art der Globalisierung führt zu immer neuen Krisen und Katastrophen. »Vielleicht haben wir zu lange geglaubt, dass wir unverwundbar sind, dass es immer nur schneller, höher, weiter geht. Aber das war ein Irrtum«, formulierte Bundespräsident Walter Steinmeier in seiner Osteransprache.
Um den großen Problemen dieser Zeit zu begegnen, bedarf es eines radikalen Umdenkens vom herrschenden Größenwahn. »Mehr vom Gleichen«, also mehr Geld, mehr Großtechnik, mehr Digitalisierung, wird uns nicht retten, es reproduziert die große Trennung nur. Wir brauchen in allen Lebensbereichen neue Systeme mit resilienten Strukturen: kleinteilig, selbstorganisiert, lokal angepasst, menschen- und planetenfreundlich. Ernährung, Stadt- und Landleben, Wirtschaft, Gesundheit, Politik – überall muss ein radikales Umdenken geschehen, weg vom HöherSchnellerWeiter, weg von der »Degeneration« hin zu einer neuen »Regeneration«. Im Deutschen haben wir dafür das wunderschöne Wort »Heilung«.
In diesem Buch begeben wir uns auf der Suche nach dem verschütteten menschlichen und planetenfreundlichen Maß, das uns krisenfest macht und Orientierung gibt, um Heilung in allen Lebensbereichen zu bewirken. Diese Suche ist wie Gartenarbeit: Wenn wir erst einmal anfangen umzugraben und dabei die unglaubliche Vielfalt des Lebens in jedem Quadratmeter Muttererde entdecken, dann begreifen wir, wie im Kleinen das Große möglich wird.
Heilung und Resilienz sind möglich, und sie liegen in der Wieder-Verbindung, in der Aufhebung der großen Trennung. Das geschieht dann, wenn wir der Natur zuhören und von ihrem unendlichen Variationsreichtum an Stoffwechsel-Lösungen lernen. Wenn wir neuen Beziehungsreichtum zwischen uns Menschen entwickeln. Und wenn wir uns als biologische Wesen wiederentdecken, die ein menschliches und planetenfreundliches Maß in sich tragen, das ohne Ausbeutung von der Fülle der Welt leben kann.
Wir sind uns sicher, dass es trotz allem noch Optimismus, Mut und Hoffnung gibt, wie sie Vaclav Havel definierte: »Hoffnung ist nicht die Überzeugung, dass etwas gut ausgeht, sondern die Gewissheit, dass etwas Sinn hat, egal, wie es ausgeht.« Oder sollen wir besser die männliche Endung von Optimismus in »Optimisma« ändern? Dafür muss man die Wikipedia-Definition von Optimismus leicht anpassen: »Optimisma ist eine Lebensauffassung, in der ich alles mit weiblichem Mut von der besten Seite betrachte; sie bezeichnet eine heitere, zuversichtliche und lebensbejahende Grundhaltung, eine philosophische Auffassung, wonach in unserer Welt sich vieles zum Besseren entwickelt.«
Optimisma soll also nicht heißen, dass alles gut wird – das wissen wir nicht. Optimisma soll nicht heißen, dass Frauen jetzt mal schnell den Dreck wegmachen, den Männer in den letzten 200 Jahren hinterlassen haben, oder dass Frauen »gut« und Männer »böse« seien. Der Begriff »Optimisma« soll alle Menschen ermuntern, stärker ihre weiblich-fürsorgliche Seite zu entwickeln und zu leben.
Kalte und warme Sprache
Wir bemühen uns in diesem Buch, kalte Begrifflichkeiten aus Ökonomie und Wissenschaft durch warme, lebendige Wörter zu ersetzen. Abstrakte Begriffe wie »Infrastruktur« versuchen wir zu vermeiden, auch wenn uns das nicht immer gelingt. Ebenso alles Aggressive, das aus dem Militär kommt oder damit assoziiert werden könnte: »aus der Schusslinie bringen«, »Zielgruppe« oder »die Bombe hochgehen lassen«. Begriffe wie »Naturkapital«, »Ökosystemdienstleistungen« oder »sozialökologische Transformation« werden Sie hier nicht finden. Die ersten beiden finden wir scheußlich, weil sie Lebendiges verdinglichen. Natur ist Natur, also ein Selbstzweck, und kein »Kapital« und keine »Dienstleistung« am Menschen. Und die »sozialökologische Transformation« klingt entgegen den Absichten ihrer Erfinder bedrohlich, weil sie an Transformatoren von Hochspannungsleitungen erinnert. Wir verwenden stattdessen den Begriff »ökosozialer Umbau«.1
Zu einer guten Sprache gehört auch, dass sie geschlechtergerecht ist. Viele neue Formen mit Gendersternchen oder Unterstrichen lesen sich jedoch holprig und umständlich. Wir verwenden stattdessen neutrale Formen: Lehrkräfte, Beschäftigte, Jugendliche. Oder abwechselnd männliche und weibliche Formen, also »Bauern und Gärtnerinnen« oder »Dichter und Denkerinnen«.
Auch Metaphern aus dem mechanischen Zeitalter versuchen wir zu vermeiden. Gedanken und Gefühle bestehen nicht aus Daten, sondern enthalten Stimmungen, Gerüche, Bilder und vieles mehr. Wir bemühen uns zudem, Begriffe aus der biologischen, sozialen oder technischen Welt nicht zu vermengen, also Dinge nicht zu vermenschlichen und Menschen nicht zu vertieren oder zu verdinglichen. Denn in der Geschichte wurde viel Unheil angerichtet, indem Minderheiten mit Tieren gleichgesetzt wurden (»Parasiten«, »Ungeziefer«, »Drecksäue«) und biologische Körper mit Gemeinwesen (»Volkskörper«).
Auch so mancher positiv gemeinte Begriff ist problematisch. Die »Umwelt« heißt für uns »Mitwelt«, weil sie aus Lebewesen mit eigenen Rechten und eigener Würde besteht und nicht zur reinen Umgebung von Menschen entwürdigt werden sollte. »Commons« kann man mit dem schönen alten Wort »Allmende« beschreiben, denn auch Wikipedia oder Computerprogramme mit offenen Quellen sind im übertragenen Sinne gemeinsam genutzte Wiesen und Weiden. Und die eher negativ besetzte »Globalisierung« wollen wir ersetzt sehen durch den positiven Gedanken der »Planetarisierung«.
Wir reden auch nicht von der »Nachhaltigkeit«, die von Konzernen und PR-Abteilungen bis zur Unkenntlichkeit ausgewaschen wurde, sondern von »Resilienz«, »Regeneration« und »Heilung«. Mensch und Natur sind durch jahrhundertelange Ausbeutung inzwischen so schwer beschädigt, dass es nicht mehr ausreicht, »nachhaltig« weitere Schäden zu vermeiden. Es geht um weit mehr: um Regeneration statt Degeneration, um das Heilen von Wunden, die der extraktive Größenwahn in den Planeten und ausgebeutete Menschenmassen schlug. Im Wort »ReGeneration« stecken zudem die kommenden Generationen, die ebenso wie wir das Recht haben, auf einer intakten Erde zu leben. Konzeptuell ist hier auch die zumeist von Frauen verrichtete unbezahlte Care-Arbeit enthalten, also Haushaltsführung, Kochen, Eigenversorgung, Kindererziehung und Pflege von Älteren – eben all das, was zur täglichen Regeneration von Körper und Seele nötig ist.
Menschen lieben Geschichten
Weil Menschen Geschichten lieben, versuchen wir am Ende jedes Abschnitts, eine Vision zu entwickeln, um das jeweilige Thema als Geschichte zu erzählen und damit sinnlicher und anschaulicher zu machen. Und um »Möglichkeitsräume« aufzumachen. Denn alles Menschenmögliche, den Menschen Mögliche, passiert zweimal: das erste Mal in Gedanken, das zweite Mal in Wirklichkeit. Unsere erste Vision zum Thema Welternährung bezieht sich auf das Jahr 2030, bis wir im Resümee am Ende im Jahr 2055 landen. Wir sind überzeugt davon, dass die Menschheit eine Wirtschaft und Landwirtschaft ohne Abfall und Ausbeutung entwickeln kann. Diese neue Ökonomie wird zusammen mit neuen regionalen Demokratien dafür sorgen, dass es ökosozial und gerecht für alle zugeht. Das alles wird kleinteilig sein, demokratisch, dezentral, selbstorganisiert – eben nach menschlich-sinnlichem Maß, eingebettet in ein planetarisches Bewusstsein.
Einleitung
Größenwahn oder menschliches Maß
Wer wagt es, sich donnernden Zügen entgegenzustellen? Die kleinen Blumen zwischen den Eisenbahnschwellen.
ERICH KÄSTNER
Gigantisch ist der Mann, der da in der Wüste aufragt. Er ist von so ungeheurer Größe, dass selbst ein Gebirge neben ihm streichholzschachtelklein wirkt. Jim Knopf und Lukas der Lokomotivführer, die auf der Lok »Emma« durch die Wüste tuckern, bekommen einen gehörigen Schreck. Und noch wunderlicher wird die Sache, als der Riese mit dem Strohhut und dem langen weißen Bart sich ihnen nähert und dabei bei jedem Schritt kleiner wird. Hundert Meter entfernt ist er nur noch so hoch wie ein Kirchturm, fünfzig Meter weg wirkt er bloß noch so hoch wie ein Haus, und als er neben ihnen steht, ist er sogar kleiner als Lukas. »Mein Name ist Tur Tur«, stellt er sich vor.
Der Autor Michael Ende hat in seinem Kinderbuch »Jim Knopf und Lukas der Lokomotivführer« dieses eindrückliche Bild gezeichnet, das viele moderne Phänomene auf den Punkt bringt: Ein Scheinriese schrumpelt beim Näherkommen zu einem natürlichen Maß zusammen. Zuerst beeindruckt er zwar durch seine schiere Größe, aber die ist eben nur scheinbar, mit nichts dahinter. Seine Macht beruht nur auf Anschein. Betrachtet man ihn aus der Nähe, ist er auf ein menschliches Maß geschrumpft.
In unserer Welt gibt es jede Menge realer Scheinriesen, allerdings sind sie leider selten so freundlich wie Tur Tur: gigantische Ölkonzerne und marktbeherrschende Agrounternehmen, Hegdefonds, Großbanken, Chemie- und Pharmakonzerne, Versicherungen, Internetriesen … Auch wir könnten unsere Sehgewohnheiten ändern und sie als das sehen, was sie wirklich sind. Dazu müssen wir nur unsere Augen auf einen historischen Horizont einstellen. Dann sähen wir klar und deutlich: Alle Riesen, die aus menschengemachten Organisationen bestehen, sind Scheinriesen. Imperien, Weltreligionen, Großmächte, transnationale Konzerne, Großbanken, Institutionen – egal: Beim Näherkommen zeigt sich, dass sie in Wirklichkeit entweder immer schon aus lauter kleinen Einheiten bestehen oder mit der Zeit in solche zerfallen werden. Oder gänzlich zu Staub. Irgendwann, früher oder später. Ausnahmslos!
Die modernen Naturwissenschaften legen den Trugschluss nahe, die Welt und ihre Wesen funktionierten wie Maschinen; selbst der Psychoanalytiker Sigmund Freud sprach gerne vom »seelischen Apparat« und »Trieben«, die Dampfkesseln ähneln. Heute, im Zeitalter der Computer, sehen viele die Welt als mechanischen Speicher und Gehirne als Festplatte. Das führte zu dem Irrglauben, man müsse auch Unternehmen, Institutionen und Staaten als zentral gesteuerte mechanische oder digitale Apparate aufbauen, möglichst groß, damit sie optimal funktionieren.
Das könnte falscher nicht sein. Denn in allererster Linie leben wir in komplexen vernetzten Ökosystemen und bestehen selbst aus komplexen vernetzten Ökosystemen. Der Mensch ist keine Maschine! Zentral gesteuerte Organisationen und mechanisch gesteuerte Prozesse laufen daher nicht nur unserer Mitwelt zuwider, sondern auch der menschlichen Natur. Wenn wir Landwirtschaft, Städte, Wirtschaft, Technik und Demokratie dagegen nach dem Modell lebendiger Selbstorganisation gestalten, wird es der Menschheit und dem Planeten am Ende entschieden besser gehen.
Wir sind überzeugt: Das Zeitalter des Zentralismus, der Großindustrie und der Großorganisationen geht zu Ende. Nicht nur, weil es uns – wie Covid-19 zeigte – höchst krisenanfällig macht. Nicht nur, weil unendliches Wachstum auf einem endlichen Planeten unmöglich ist. Nicht nur, weil die Klimakatastrophe einen ökosozialen Totalumbau erfordert. Sondern auch, weil die Menschheit mit Bionik, bestimmten dezentralen Internetanwendungen und erneuerbaren Energien über neue Techniken verfügt, die die Genialität der Natur und ihrer selbstorganisierten Ökosysteme nachahmen. Diese könnten weltweit einen weitgehend krisenfesten »kosmopolitischen Lokalismus« möglich machen, wie der Soziologe Wolfgang Sachs das nennt.
Widerstandsfähigkeit und Resilienz
Kosmopolitischer Lokalismus bezieht sich gedanklich gleichzeitig auf die Erde als Krume unter den Füßen und auf die Erde als ganzen Planeten. Praktisch gesehen, geht es um die Schließung von Stoffkreisläufen, die Förderung von Regionalwirtschaft und die Pflege nachbarschaftlicher und kooperativer Netzwerke. Oder in den Worten von John Maynard Keynes: »Ideen, Wissen, Kunst, Gastfreundschaft, Reisen sind Dinge, die ihrer Natur nach international sein sollen, aber lasst Güter in der Heimat herstellen, wann immer es sinnvoll und praktisch möglich ist.«2 Im Gegensatz zu herkömmlicher Industrie mit ihren zentralisierten Fabriken und Kraftwerken funktionieren solche Netze ganz ähnlich wie zellulare Netzwerke von Organismen. Sie wachsen auch in ähnlich organischer Weise – und beenden ihr Wachstum, sobald es ab einer bestimmten Größe dysfunktional wird.3 Energie und Güter können auf diese Weise an den lokalen Bedarf angepasst produziert werden, was jede Menge Treibhausgase spart. Denjenigen Unternehmen und Institutionen, die sich nach dem Vorbild der Natur lebendig und kleinteilig organisieren, gehört die Zukunft.
Die rasend schnelle Verbreitung des Coronavirus über die globalen Flug- und Handelsrouten hat deutlich gemacht, wie verletzbar die Menschheit durch die Hyperdynamik der Globalisierung geworden ist. Plötzlich waren Alltagsgüter nicht mehr zu kaufen, weil die »Werkbank der Welt« in China weitgehend stillstand. Medikamente und Masken waren nicht mehr lieferbar, weil sie aus Kostengründen dort hergestellt werden.
Lokale, selbstorganisierte Systeme sind wesentlich besser gegen Krisen und Katastrophen gewappnet, sie sind »resilient«. Der Begriff stammt von dem lateinischen Verb »resilire« ab und bedeutet »abprallen«, »zurückspringen«, aber interessanterweise auch »schrumpfen«. Im Ingenieurswesen werden damit hochelastische Materialien bezeichnet, die nach einem Aufprall oder einer Verformung wieder ihre ursprüngliche Form annehmen. Die Psychologie meint damit Menschen, die unter extremen Bedingungen aufwuchsen – Armut, Diskriminierung, Krieg, Flucht – und dennoch später zu lebenszufriedenen Erwachsenen wurden, weil sie widerstandsfähig, belastbar, anpassungsfähig, aufmerksam, neugierig und voller Selbstvertrauen waren.
Der kanadische Ökologe Crawford Stanley Holling dehnte den Begriff der Resilienz 1973 auf die Ökologie aus. Resilienz sei hier die Fähigkeit eines Ökosystems, auch bei externen Störungen weiter zu funktionieren. Je mehr Störungen ein System aushalte und abfedere, desto resilienter sei es. Später unterschied Holling ökologische Resilienz von Ingenieurs-Resilienz am Beispiel eines Schutzwaldes. Wenn viele Bäume absterben, sei der Wald als Ökosystem noch nicht bedroht. Handele es sich aber um einen Schutzwald oberhalb eines Dorfes, ginge durch den Verlust der Bäume vielleicht trotzdem dessen Schutzfunktion verloren. Die ökologische Resilienz wäre in diesem Fall eine andere, höhere als die Ingenieurs-Resilienz der Funktion für den Menschen.
In der Landwirtschaft zieht ökologische Resilienz oft Ingenieurs-Resilienz nach sich: Eine artenreiche Weide oder ein Acker voller unterschiedlicher Feldfrüchte übersteht eine Dürrezeit wesentlich besser als ein Feld monokultureller Pflanzen, die alle gleich schnell vertrocknen. Zudem hilft ein resilientes Ökosystem, das Nährstoffe dauerhaft in den Boden bringt, auch in Zukunft die Ernte zu sichern.
Der Wunsch nach resilienten Systemen wird immer größer, je mehr die Krise zum Dauerzustand wird. Finanzkrise, Eurokrise, Flüchtlingskrise, Demokratiekrise, Klimakrise, Hungerkrise, Wasserkrise, Coronakrise – in den letzten Jahren ist die Krise der neue Normalzustand geworden. Kein Wunder also, dass der Begriff »Resilienz« auch in wirtschaftspolitischen Konzepten, etwa denen der EU, vermehrt auftaucht. Die Zukunftsforscher Stephan Rammler und Felix Beer sehen Resilienz zusammen mit Zukunftsfähigkeit gar schon als »Leitkonzept des 21. Jahrhunderts«. Weil »die wiederholte Störung des Gleichgewichts« der Normalfall geworden sei, sei Resilienz nicht technisch-statisch zu sehen, sondern als Fähigkeit, sich anzupassen und »ständig neu zu erfinden«, also die Institutionen und Systeme bei vollem Betrieb zu transformieren – wie auf einem Schiff, das »bei vollem Seegang umgebaut« werde.4
In der Coronakrise zeigte sich indes, dass unsere heutige Wirtschaft und unser Gesundheitswesen eben nicht resilient sind. Sie leiden an den größenwahnsinnigen Wachstumsfantasien ihrer Macher und Manager sowie an Monokulturen und Oligopolen wie Großbanken, Internet-»Superstars«, marktbeherrschenden Auto- und Flugzeugbauern, Pharmakonzernen und Finanzfonds, die Kliniken und Pflegeheime aufgekauft haben.
Ein »artenreiches« resilientes wirtschaftliches Ökosystem bestünde vor allem aus kleinen und mittleren Unternehmen, Genossenschaften sowie öffentlichen und kommunalen Betrieben der Daseinsfürsorge. Kleinere Länder, die Alltagsgüter wie Essen, Kleidung, Energie und Gebrauchsgegenstände selbst erzeugen und ein kommunales Gesundheitssystem betreiben, sind wesentlich krisenfester.
Das Stockholm Resilience Centre hat es sich zur Aufgabe gemacht, mit seinem Konzept der »Planetarischen Grenzen« die Widerstandsfähigkeit des Planeten zu erforschen und zu erhalten, indem es Mensch und Natur zusammendenkt. Es definiert auf seiner Webseite: »Resilienz ist die Kapazität eines Systems – ob Individuum, Wald, Stadt oder Wirtschaft –, mit Veränderungen umzugehen und sich weiterzuentwickeln.«5 Kernelemente einer resilienten Gesellschaft seien Diversität; Redundanz (Doppelmoppelschleifen); vielfältige Beziehungen und reichhaltige Vernetzungen; ein systemisches Zusammenspiel der Teilbereiche; Lernfähigkeit; Partizipation und Ko-Kreation sowie dezentrale Steuerungsprozesse. Auf viele Beispiele, die wir in diesem Buch schildern, treffen diese Kriterien zu.
Biologen und Systemtheoretikerinnen weisen darauf hin, dass die resilientesten Systeme durch Selbstschaffung und Selbstorganisation entstehen. Ob Moleküle, Zellen, Fischschwärme, Computernetze oder Versorgungsstrukturen: Kleine, modulare, miteinander vernetzte Systeme können sich hierarchiefrei selbst steuern und auf Gefahren schnell und situationsangepasst reagieren. Sie brauchen nicht auf Befehle von oben zu warten, sondern verständigen sich untereinander, von Gleichgestellten zu Gleichgestellten, Peer to Peer (siehe Abbildung 11 unten).
Resilienz hängt auch eng mit der internen Vielfalt und Fehlerfreundlichkeit eines Systems zusammen. Beim Ausfall einer Art kann bei ausreichender Vielfalt eine andere deren Aufgabe übernehmen und Fehlfunktionen ausgleichen. Das ist in ökologischen Systemen genauso wie in Wirtschaft und Politik. Laut »Diversity«-Forschung sind Belegschaften umso erfolgreicher, je bunter ihre Zusammensetzung in punkto Geschlecht, Alter, Klasse und Herkunft ist. In der Politik gilt das genauso – nur ist die Erkenntnis leider noch nicht bis in die Breite des Bundestags vorgedrungen. Rund 70 Prozent der Abgeordneten sind Männer, etwa 20 Prozent Juristen – ein ziemlich öde, fast monokulturelles Feld.
Abschied vom Größenwahn
All die Großstaaten und ihre Zentralverwaltungen, so wagen wir zu prognostizieren, werden irgendwann in Zukunft Macht abgeben und Verantwortung dezentralisieren, oder sie werden auseinanderfallen. Das legt schon ein Blick in die Vergangenheit nahe: Ein Hundertjähriger von heute hat noch erlebt, dass nach Ende des Ersten Weltkriegs vom Osmanischen Reich und von Österreich-Ungarn nur noch ein Restchen übrig blieb. Der Zweite Weltkrieg schrumpfte Deutschland klein. Es wurde nach der Wiedervereinigung zwar wieder etwas größer, doch dafür zerfielen Jugoslawien und das riesige Sowjetreich. Inzwischen versucht Russland wieder Stärke durch Größe zu zeigen, aber es sieht nicht danach aus, als könne Putins Zentralverwaltung die enormen ökonomischen und ökologischen Probleme der kommenden Jahre von Moskau aus meistern.
Die Gründe für das Auseinanderfallen von Großmächten sind komplex, höchst unterschiedlich und natürlich nicht auf einen Nenner zu bringen. Dennoch fällt in der Tendenz auf: Die Anzahl der Staaten nimmt zu, weil Großreiche zerfallen. Seit 1878 ist die Zahl der Staaten in Europa und in der Welt »ständig gestiegen, von 1900 bis heute in Europa von 22 Staaten auf 50 und weltweit von 50 auf 195 Staaten. Im 20. Jahrhundert entstand alle neun Monate ein neuer Staat«, schreibt der Historiker Egbert Jahn.6
Womöglich wird auch das einst so imperienstolze Großbritannien bald schrumpfen, weil Schottland und Wales nicht mehr zu den »Brexiteers« gehören wollen und Irland sich vielleicht mit Nordirland wiedervereinigt. Großbritannien spielt im internationalen Fußball schon lange mit vier Nationalmannschaften: England, Nordirland, Schottland und Wales. Beschleunigt die Brexit-Bewegung vielleicht nur eine historische Entwicklung, die aus Großbritannien mit seinen 66 Millionen Menschen vier bis sechs Staaten regionaler Größe entstehen lässt?
Unabhängig von möglichen Staatsteilungen ändert sich zudem die Bedeutung einzelner Nationen. Weil die »fossile Ära« zu Ende geht, wird sich nach einer Studie einer hochrangigen Kommission der International Renewable Energy Agency (IRENA) das Machtgefüge in Weltpolitik und Weltwirtschaft umkrempeln.7 Investoren haben im Zuge der »Divestment«-Bewegung jetzt schon sagenhafte elf Billionen Dollar aus fossilen Branchen abgezogen und investieren in erneuerbare Energien. Alle Länder, für die Energiedaten vorliegen, sind in der Lage, sich komplett selbst mit Ökostrom zu versorgen. Dadurch werden Handelsrouten für Öl und Gas unwichtiger, etwa die Straße von Hormus oder russische Gaspipelines. Die »Petrostaaten« – Saudi-Arabien, Irak, Iran, Libyen und andere – verlieren an Macht, das OPEC-Kartell der Ölproduzenten könnte auseinanderfallen. Nationen, die auf grüne Technik setzen, gewinnen hingegen deutlich an Einfluss. In der EU würden die Energiekosten um bis zu zehn Prozent fallen, wenn ihre Mitgliedsstaaten Ökostrom produzierten und über eine EU-weites intelligentes Stromnetz verteilten. Jenen Staaten, die sich rechtzeitig umstellen, winken Milliardengewinne durch grüne Technik. »Die Transformation wird bemerkenswerte Vorteile und Möglichkeiten erzeugen. Sie wird die Energiesicherheit und Energieunabhängigkeit der meisten Länder stärken; Wohlstand und Jobs schaffen; Ernährungs- und Wassersicherheit befördern sowie Nachhaltigkeit und Gerechtigkeit verbessern«, heißt es am Ende der Studie. Die Anzahl von Konflikten um Öl & Co werde zurückgehen, und Macht werde zunehmend dezentralisiert und verteilt.
Ein Auseinanderfallen droht auch transnationalen Konzernen. Heute machen die Deutsche Bank, RWE, Bayer sowie VW und andere Autokonzerne vor, was irgendwann allen blüht: Sie werden entweder gänzlich kaputtgehen oder sich kleinteilig reorganisieren. Diese Riesen, einstmals Herzstück der deutschen Industrie, zeigten bereits vor der Coronakrise mit Kursabstürzen und strategischer Ratlosigkeit, dass sie nur Scheinriesen sind. Die Deutsche Bank verkalkulierte sich mit Finanzspekulationen und schmutzigen Geschäften. RWE wollte lange nicht einsehen, dass eine zentrale Energieversorgung mit Kohle und Atom in der Klimakrise keine Zukunft hat. Laut Monitoring-Bericht der Bundesnetzagentur sinkt jedoch der Anteil der konventionellen Stromerzeugung stetig und damit auch die Macht der alten Energieriesen.8 Bayer schließlich wollte nicht glauben, dass Monsantos Glyphosatprodukte giftig sind und die Aktienwerte des Unternehmens schwer belasten. VW, Daimler, BMW und Co. manipulierten in krimineller Weise Abgasnormen und weigerten sich einzusehen, dass Benziner und Dieselautos nicht zukunftsfähig sind; jetzt zahlen sie die Zeche in Milliardenhöhe.
In all diesen Fällen hatten die Führungsfiguren dieser Riesenkonzerne massive Wahrnehmungsstörungen. Sie konnten sich einfach nicht vorstellen, Scheinriesen zu sein. Umgeben von willfährigen Beratern, die zu feige sind, ihren Chefs zu widersprechen, glauben sie, dass sie mit schädlichen Produkten und Produktionsweisen weiterhin erfolgreich sein werden – einfach weil sie es in der Vergangenheit auch waren. So, wie es war, muss es immerdar sein.
Aber alle zentralisierten, autoritären und hierarchischen Organisationen sind von gestern und vorgestern. Sie schädigen massiv Mensch und Natur. Sie behindern das kreative Denken ihres Personals. Sie verschleudern die von ihren Beschäftigten erarbeiteten Werte.
Die Jugendlichen von »Fridays for Future« sehen die Prioritäten weitaus klarer. Greta Thunberg fragte: »Warum sollen wir in die Schule gehen, wenn wir keine Zukunft haben?« Und Franziska Wessel aus Berlin formulierte einen scheinbar selbstverständlichen, aber doch so gefährdeten Wunsch: »Ich möchte überleben. Wir möchten, dass die Menschheit überlebt.« Das wird nur möglich sein, wenn die Welt sich von der wachstumsfixierten und deshalb größenwahnsinnig gewordenen Ökonomie verabschiedet. Aus unserem egozentrischen Weltbild könnte – formal durch den Tausch von bloß zwei Buchstaben – ein geozentrisches werden, wie der Arzt und Autor Christoph Zink vorschlägt.9 Ökologie contra Ökonomie: Wenn die Menschheit auf dem Planeten überleben will, brauchen wir die Verwandlung des jetzigen degenerativen Wirtschaftssystems in ein neues, regeneratives.
Wir alle sind aufgerufen, liebevolle Sterbebegleitung des alten Systems zu leisten, und dieses Buch will dazu seinen kleinen Beitrag leisten.
Größenwahn und Steigerungslogik
»Größer, schneller, weiter!«, so lautet das Motto der Moderne, das Wirtschaft und Gesellschaften weltweit antreibt. Ihre drei obersten Götter heißen Geld, Bürokratie und Technik, und alle drei sind höchst gefräßig. Sie kriegen nie genug, sie wollen mehr, mehr, mehr. Obwohl eigentlich Produkte menschlicher Gehirne, haben sie uns unterjocht und sind zum Selbstzweck mutiert.
Geld will zu mehr Geld werden: Transnationale Konzerne fressen sich durch die Ressourcen des Planeten und verwandeln seine lebendigen Landschaften in totes Kapital. Die Bürokratie will stets mehr verwalten und muss deshalb immer größer werden. Und weil sie mit zunehmender Größe immer komplexer, unüberschaubarer und ineffizienter wird, verlangt sie nach noch mehr Ressourcen und Menschenmaterial. Der Verwaltungsaufwand, die Verwaltung zu verwalten, wird größer und größer. Das gilt auch für ihre elektronische Variante: Digitalisierung wird zwar als Rationalisierung und Effizienzsteigerung gepriesen, verlangt aber de facto nach immer mehr Geräten, Maschinen, Netzen, Programmierarbeit, Sicherheitsüberprüfungen, externen Firmen, Apps, Wartungsarbeiten, Reparaturen, Dokumentationspflichten etcetera. Technik braucht immer mehr Technik, um mit ihren eigenen unabsichtlichen Folgen fertigzuwerden, und wuchert dabei unentwegt weiter.
Begonnen hat dieses dem Zweck entkoppelte Wachstum im 16. Jahrhundert in England mit der Einhegung und Privatisierung der Allmenden. Kleine Leute wurden von ihren Gemeinschaftswiesen, -wäldern und -weiden in die Städte vertrieben, hatten nichts mehr zu essen und mussten sich als Tagelöhner verdingen. Der Wirtschaftssoziologe Karl Polanyi definierte diesen Prozess als »Große Transformation« und »Entbettung« der Wirtschaft aus der Gesellschaft. Die politisch gewollte Zulassung sogenannter freier Märkte für die »fiktiven Waren Arbeit, Boden und Geld« habe dazu geführt, so Polanyi, dass sich eine »Marktgesellschaft« mit industriellen und nationalstaatlichen Strukturen herausbildete.10 Die Ökonomie dominierte nunmehr das Soziale und nicht mehr die Gesellschaft die Wirtschaft. Kauf- und Tauschprozesse begannen die sozialen Beziehungen zu ersetzen.
Mit dieser Wirtschaftsweise hat sich die Menschheit ein System erschaffen, das als Herrschaft des Menschen über die Natur gedacht war, sie aber inzwischen selbst versklavt hat. Denn es funktioniert nur, wenn Geld durch immer mehr Produktion und Waren zu noch mehr Geld wird. Und damit wurde das Geld zum neuen Gott: körperlos, allmächtig, universell gültig. Es will angebetet werden, scheinbar golden in alle Ewigkeit strahlen, unabhängig von Raum und Zeit. Früher ging man in Tempel, heute in Konsumtempel. Früher ging man in Frühmessen, heute in Verkaufsmessen. Früher musste man dort seine Schuld beichten, heute muss man seine Schulden begleichen, in Privathaushalten oder Staaten. Früher waren Kirchen der herrschende Mittelpunkt von Dörfern und Städten, heute sind es Bankhäuser, die die Citys beherrschen. In Manhattan oder Frankfurt am Main ragen Silhouetten der Banken längst höher als Kirchtürme in die Wolken. Das Geld strebt in den Himmel und reißt alles mit. Alles muss wachsen und wuchern, alles muss größer, schneller und gewichtiger werden, weil sonst Kredite und Schulden nicht mehr bezahlt werden können und das Wirtschaftswachstum zum Erliegen kommt.
Die der Wirtschaft innewohnende Steigerungslogik hat die Loslösung der Finanz- von der Realwirtschaft bewirkt und ihre Entkoppelung von den ursprünglich wesentlich bescheideneren menschlichen Grundbedürfnissen. Alles wächst in die Höhe und Breite: Konzerne und Organisationen, Flugzeuge, Flughäfen, Bankkonten, Autos, Häuser, Maschinen, Fernseher, Kühlschränke und ihr Inhalt. Nur wer sich im Raum ausdehnt, überlebt. Womöglich gibt es deshalb zum ersten Mal in der Menschheitsgeschichte mehr Übergewichtige als Unterernährte, ganze 1,2 Milliarden. Mehr als zwei Drittel der US-Amerikaner, vor allem die männlichen, sind übergewichtig bis fettleibig.11
Für diese Expansion mag es eine Rolle spielen, dass ein Teil unseres Gehirns immer noch im Steinzeitmodus funktioniert. Wir lieben es, groß zu sein und einen Überblick darüber zu haben, ob irgendwo in der Steppe ein feindliches Raubtier lauert. Deshalb wohl unsere Vorliebe für Herausragendes und Hochstehendes, für Kathedralen oder Wolkenkratzer. Wir lieben es auch, schnell zu sein, damit wir hungrigen Löwenmäulern entkommen. Daher vielleicht unser Hochgefühl, wenn wir in schnittigen Sportwagen über die Autobahn peitschen. Und unser Verdauungssystem liebt Fett und Süßes, das es in der Bauchgegend als Rettungsring für kommende Nahrungskrisen anlegt.
Männer liegen hier vorne, wie auch in anderen Bereichen. Wer hat den Längsten? Das ist ein uraltes Spiel unter Jungs. Wohl deshalb ist unter den Milliardären dieser Welt ein Wettkampf ausgebrochen, wer die längste Jacht hat. Sieger war zwischenzeitlich die »Eclipse« von Roman Abramowitsch mit 162,5 Metern. Damit übertrumpfte sie den Kahn des Emirs von Dubai um 50 Zentimeter. Abramowitsch scheiterte jedoch beim Versuch, im Hafen der Stadt Antibes an der Côte d‘Azur anzulegen, weil die »Eclipse« an keine Anlegestelle mehr passte.12 Inzwischen hat sich ein Mitglied einer arabischen Königsfamilie mit der 180 Meter langen »Azzam« ein noch unpraktischeres Boot zugelegt.13 Man muss aber nicht einmal zu den Reichsten der Reichen schauen, um solch absurde Phänomene zu beobachten – da reicht ein Blick aus dem Fenster. Denn oft passen auch die mehrheitlich von Männern gefahrenen SUVs nicht mehr in Parkbuchsen oder Autowaschanlagen.14
Auch Hochhäuser folgen dieser Logik. Nach dem »Wolkenkratzer-Index«, den der Ökonom Andrew Lawrence 1999 entwickelte, fällt die Fertigstellung des jeweils höchsten Gebäudes der Welt mit ökonomischen Krisen zusammen.15 So brach die Börsenpanik von 1908 nach Vollendung des Singer Buildings in New York aus; dem Chrysler und dem Empire State Building folgte die Weltwirtschaftskrise von 1929; dem Bau des World Trade Center die Stagflation von 1973; der Fertigstellung der Petronas Towers in Kuala Lumpur die Asienkrise von 1997; dem Burj Khalifa in Dubai die Finanzkrise von 2008; dem Shanghai Tower 2012 die Turbulenzen in China. Zur Begründung dieses seltsam anmutenden Zusammenhangs verweist der Ökonom darauf, dass die Rekordbauten stets im Boom und Geldüberfluss als Denkmäler der Epoche geplant wurden. Kurz nach diesem Boom überschritt die Wirtschaftsentwicklung stets ihren Höhepunkt, es folgte der Niedergang.
Lawrence hat allerdings die psychoanalytische Komponente übersehen: Wenn sich Staatsführer mit Omnipotenz-Bauten zu überbieten versuchen, erinnert das ebenfalls an die Spiele kleiner Buben. Die Nase oder andere Organe vorn hat derzeit übrigens ausgerechnet der zerfallende Staat Irak, der in Basra The Bridge plant; jene »Brücke« soll demnächst 1.152 Meter hochsteigen. Im Bau ist zudem der Kingdom Tower im saudi-arabischen Dschidda, er soll 1.107 Meter emporragen. Dagegen sind die Hochhäuser in Europa eher lächerlich: Das höchste, das Lakhta Center, steht in Sankt Petersburg und ist 462 Meter hoch, gefolgt von den Skyland Towers in Istanbul mit 293 Metern.16 Wenn die Voraussage des »Wolkenkratzer-Index« stimmt, drohen dem Irak und Saudi-Arabien bald der große Abgang – womöglich auch wegen der fallenden Ölpreise. Zu wünschen wäre es, dass diese sich ankündigenden Krisen die frauenfeindlichen Scheichs wegfegen und ihre Phallokratie zur Fallokratie machen. Wolkenkratzer als orgiastische Architektur der Macho-Moderne: Höher. Schneller. Weiter. Krawumm.
Gefangen in der imperialen Lebensweise
Aber bitte keine Missverständnisse: Es liegt weder an einem allgemein-menschlichen Hang zu Steinzeitdenken noch an bestimmten Religionen, noch an einzelnen Machos, dass die Welt so aus den Fugen geraten ist. Sondern an der erwähnten Steigerungslogik der heutigen Wirtschaft. Der Politikwissenschaftler Ulrich Brand nennt das die »imperiale Lebensweise«. Imperial, weil sie sich ständig ausweiten muss, auf der Armut und Ausbeutung anderswo beruht und andere Lebensarten, etwa von Indigenen, verdrängt und vernichtet. Und Lebensweise, weil sie tief in unseren Alltag eingedrungen ist – so tief, dass wir längst vergessen haben, dass es auch anders geht.
Ihren Vorlauf hatte die imperiale Lebensweise im Kolonialismus und Imperialismus, der ab dem 16. Jahrhundert von Europa ausging und viele Gesellschaften nachhaltig zerstörte. Indien, China und andere Nationen waren damals hoch entwickelt. Noch zu Beginn des 19. Jahrhunderts verfügten die Länder des globalen Südens über fast zwei Drittel des Welteinkommens, Mitte des 20. Jahrhunderts waren es dann weniger als ein Drittel.17 Viele »Entwicklungsländer« von heute wurden damals in einen »entwicklungsbedürftigen« Zustand zurückentwickelt.
Wenn die einen immer kleiner geschrumpft werden, können die anderen sich immer mehr ausdehnen. Die Ansprüche der Bewohner und Bürgerinnen westlicher Konsumgesellschaften sind in den letzten Jahrzehnten enorm gestiegen – auch weil die Preise für Massengüter stark sanken, dank Billiglöhnen im globalen Süden. In den 1960er-Jahren konnte sich kaum jemand einen kleinen Farbfernseher für 2.500 Mark leisten, heute stehen riesige Flachbildschirme ab 100 Euro in fast jedem Haushalt. Fliegen war damals ein Luxus, heute kann fast jedermensch hierzulande für 9,99 übers Wochenende nach London oder Mallorca jetten. Auch Kleidung wurde rasant billiger. Deshalb kaufen wir Deutschen heute im Schnitt 60 Kleidungsstücke pro Jahr – und tragen sie nur noch halb so lang wie vor 15 Jahren.18 Der internationale Warenaustausch hat sich deshalb seit 1950 mehr als verdreißigfacht. Die meisten Konzerne stellen ihre Produkte nicht mehr selbst her, sondern kaufen weltweit dort ein, wo Arbeitskräfte und Vorprodukte am billigsten sind, und pappen auf das Endprodukt nur noch ihr Markenlogo. Transportkosten fallen dabei kaum ins Gewicht.
Diese Art von Wirtschaftswucherung rechnet sich immer weniger. Die internationale Wirtschaftsprüfungsgesellschaft KPMG, die alles andere als kapitalismusfeindlich ist, kam in ihrer Studie »Expect the Unexpected« von 2012 zu einem Schluss, der die Absurdität unseres Wirtschaftssystems offenbart: Durch jeden Dollar ökonomischen Wachstums entstehen demnach im Schnitt 41 Cent Schäden an Mensch und Natur. Das Wirtschaftswachstum besteht also fast zur Hälfte aus Schäden! Selbst KPMG rät deshalb zur Umschichtung von Investitionen in »grüne« Bereiche.19
Die gesamtgesellschaftliche Steuerung ist in Deutschland wie in anderen überentwickelten Nationen und ihren Zuvielisationen außer Kontrolle geraten. Immer mehr Bereiche bedienen vor allem die eigenen Zwecke, weil sie zu groß, zu komplex, zu unüberschaubar geworden sind. Der Finanzsektor dient nicht mehr der Wirtschaft, sondern der Geldvermehrung in immer weniger Händen. Die Digitalisierung dient der Digitalisierung. Die Technik dient der Technik und nicht mehr der Erleichterung des menschlichen Alltags. Die Wissenschaft dient der Wissenschaft, weil Forscher miteinander konkurrieren und ihre Arbeitgeber mit immer mehr Fachaufsätzen beeindrucken wollen. Die Parteienpolitik dient nicht mehr dem Gemeinwohl, weil Parteien vor allem andere Parteien niederkonkurrieren möchten. Medien dienen anderen Medien, weil Journalisten und Reporterinnen ihresgleichen beeindrucken und Journalistenpreise abräumen wollen. Und alle diese Teilbereiche sind nicht mehr in der Lage, sich mit anderen Teilbereichen zu verständigen, was eigentlich die gemeinsamen Ziele alles Wirtschaftens und Wurschtelns sind.
Viele Teilbereiche unserer Gesellschaft sind zudem in Konkurrenz zueinander aufgestellt. Im besten Falle arbeiten sie aneinander vorbei, oft genug aber widersprechen sich ihre Ziele diametral, und sie bekämpfen sich gegenseitig. Auto- oder Baukonzerne planen immer noch eine Verdopplung oder Verdreifachung ihrer Kapazitäten, als ob es keine Klimakrise gäbe. Das Ergebnis sind Chaos, Verschleuderung von Ressourcen, Wut und Frustration bei vielen Beteiligten.
Offenbar gibt es eine bestimmte Schwelle, ab der menschengeschaffene Organisationen und Institutionen so komplex sind, dass sie ineffizient werden und die Kreativität ihrer Mitglieder ersticken. Ab wann das der Fall ist, variiert stark und ist von vielen Faktoren abhängig. Wenn eine Organisation aus der Krise nicht mehr herauskommt, kann man jedoch sicher sein, dass die Schwelle überschritten und das menschliche Maß vergessen wurde. Aber was genau ist das, ein menschliches Maß?
Die Idee des menschlichen Maßes
»Der Mensch ist das Maß aller Dinge, der seienden, dass sie sind, der nichtseienden, dass sie nicht sind«, formulierte der altgriechische Philosoph Protagoras. Aristoteles kam später zu dem Schluss, es gehe beim menschlichen Handeln immer um das richtige Maß, was für ihn gleichbedeutend mit dem mittleren Maß war, mit Mäßigung und Maßhalten. Auch die antike Baupraxis beruhte auf der griechischen Lehre von den richtigen Maßen mit ihren zentralen Begriffen »symmetria«, »proportia« und »eurythmia«. »Symmetrie« und »Proportion« sind uns heute noch geläufig, etwas weniger die »Eurythmie« – grob übersetzt: die »schöne Bewegung« –, die viele bestenfalls als Bewegungskunst aus Waldorfschulen kennen.
Der römische Architekt Vitruvius Pollio beschrieb in einem Traktat, wie sich direkt aus den Proportionen des menschlichen Körpers Kreise und Quadrate gewinnen ließen: »Ferner ist natürlicherweise der Mittelpunkt des Körpers der Nabel. Liegt nämlich ein Mensch mit gespreizten Armen und Beinen auf dem Rücken, und setzt man die Zirkelspitze an der Stelle des Nabels ein und schlägt einen Kreis, dann werden von dem Kreis die Fingerspitzen beider Hände und die Zehenspitzen berührt. Ebenso, wie sich am Körper ein Kreis ergibt, wird sich auch die Figur eines Quadrats an ihm finden. Wenn man nämlich von den Fußsohlen bis zum Scheitel Maß nimmt und wendet dieses Maß auf die ausgestreckten Hände an, so wird sich die gleiche Breite und Höhe ergeben, wie bei Flächen, die nach dem Winkelmaß quadratisch angelegt sind.« Vitruvius beeinflusste zahlreiche Baumeister und Künstler, die wie er das menschliche Maß als Maß sahen, das unserem Körper quasi innewohnt. Albrecht Dürer berief sich in seinen »Vier Büchern von menschlicher Proportion« auf ihn. Und Leonardo da Vinci entwarf in einer weltberühmt gewordenen Skizze den Homo vitruvianus: einen Mann, dessen ausgestreckte Extremitäten von einem Quadrat und einem Kreis umgeben werden, genau so, wie es Vitruvius geschildert hatte. Das Bild ist heute auf Krankenversicherungskarten zu bewundern, auf italienischen Ein-Euro-Münzen oder auch auf Donald-Duck-Bänden mit einem vitruvianischen Enterich samt ausgestreckten Watschelhänden und -füßen.
Neben Kunst, Ästhetik und Stadtplanung taucht das menschliche Maß auch in philosophischen, ökonomischen und ökologischen Diskursen auf. Doch woraus besteht es eigentlich? Erstaunlicherweise hat sich kaum ein Autor je die Mühe gemacht, es zu definieren. Einer der Letzten, der es versuchte und damit scheiterte, war der Architekt Le Corbusier. Er entwickelte in der Tradition von Vitruvius den »Modulor« – ein Proportionssystem, das eine mathematische Ordnung in die Architektur einführen sollte. Corbusier ging von 183 Zentimetern als angeblicher Standardgröße des Menschenkörpers aus, um daraus weitere geometrische Maße abzuleiten. Ein auf den ersten Blick erkennbarer grober Fehler: So groß sind vor allem erwachsene Männer aus dem globalen Norden. Frauen, Kinder, Greise und Menschen aus südlicheren Ländern weichen damit von der Kategorie »Mensch« ab. Aus einem so schlecht definierten Maß kann letztlich nichts Gutes wachsen: Corbusiers erste, 1947 in Marseille gebaute »Unité d’Habitation« – also »Wohneinheit«, böse übersetzt mit »Wohnmaschine« – ist ein Koloss, der Menschen in 18 Geschossen und 337 Wohneinheiten tendenziell zu Maschinenteilen verdinglicht. Allen architektonischen Lobeshymnen zum Trotz.