Abschied von der Insel - Vonne van der Meer - E-Book

Abschied von der Insel E-Book

Vonne van der Meer

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Beschreibung

Saisonende in Haus "Dünenrose": Ein einfühlsam erzählter Sommerreigen voll kleiner und großer Tragödien.

Der Urlauber Hans kehrt mit seiner neuen Freundin Manou in jenes Haus zurück, in dem er vor einem Jahr eine andere Frau Hals über Kopf verlassen hatte. Doch die Last des Gewesenen wiegt zu schwer, Reue und Erinnerungen stellen sich ein, und die neue Liebe scheitert an den übermächtigen Schatten der Vergangenheit. Ein anderer Inselgast, Herman Slaghek, spekuliert auf das Vermögen seines Schwiegervaters und würde damit gern ein Haus auf Vlieland kaufen. Geldgierig und berechnend, zeigt er sich von einer Seite, die seiner Frau bislang völlig unbekannt war. So neigt sich der Sommer dem Ende zu, und am Tag der Abreise von der Insel Vlieland ist nichts mehr, wie es am Anfang der Saison schien ...

Nach ihren erfolgreichen Sommerromanen "Inselgäste" und "Die letzte Fähre" nehmen die Feriengäste jetzt "Abschied von der Insel".

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Über Vonne van der Meer

Die dänische Autorin Vonne van der Meer, geboren 1952, veröffentlichte mehrere Romane: »Inselgäste«, »Die letzte Fähre«, »Abschied von der Insel«, »Was du nicht willst« und »Inselliebe«. In den Niederlanden ist jedes ihrer Bücher ein großer Erfolg, auch hierzulande avancierten sie zu geheimen Bestsellern.

Informationen zum Buch

Saisonende in Haus »Dünenrose«: Ein einfühlsam erzählter Sommerreigen voll kleiner und großer Tragödien.

Der Urlauber Hans kehrt mit seiner neuen Freundin Manou in jenes Haus zurück, in dem er vor einem Jahr eine andere Frau Hals über Kopf verlassen hatte. Doch die Last des Gewesenen wiegt zu schwer, Reue und Erinnerungen stellen sich ein, und die neue Liebe scheitert an den übermächtigen Schatten der Vergangenheit. Ein anderer Inselgast, Herman Slaghek, spekuliert auf das Vermögen seines Schwiegervaters und würde damit gern ein Haus auf Vlieland kaufen. Geldgierig und berechnend, zeigt er sich von einer Seite, die seiner Frau bislang völlig unbekannt war. So neigt sich der Sommer dem Ende zu, und am Tag der Abreise von der Insel Vlieland ist nichts mehr, wie es am Anfang der Saison schien.

Nach ihren erfolgreichen Sommerromanen »Inselgäste« und »Die letzte Fähre« nehmen die Feriengäste jetzt »Abschied von der Insel«.

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Vonne van der Meer

Abschied von der Insel

Roman

Aus dem Niederländischen von Marianne Holberg

Inhaltsübersicht

Über Vonne van der Meer

Informationen zum Buch

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Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Impressum

1

Es sollte so lange wie möglich eine Überraschung bleiben. Bis jetzt war das auch ganz gut gelungen – erst in der Nähe von Alkmaar hatte er erraten, daß sie zum Abschlußdeich fuhren. In Friesland konnte sie noch so tun, als würden sie zu einem der Seen fahren oder zu dieser Ortschaft mitten in den Wiesen mit dem asiatisch klingenden Namen Pingjum. Aber bei der Ausfahrt nach Harlingen dämmerte es ihm allmählich: »Terschelling oder Vlieland?« Er hörte überhaupt nicht auf zu quengeln, so machte das Ganze keinen Spaß; sie fand, er sei ein Spielverderber. Er wollte unbedingt wissen, wohin sie fuhren, aber sie war nicht zu erweichen und ließ ihn bis zum Fahrkartenschalter in Harlingen im ungewissen.

»Zwei Rückfahrkarten nach Vlieland bitte.«

Nachdem sie ihr Gepäck in einer Ecke des Bordrestaurants abgestellt hatten, ging sie sofort nach oben. Hans wollte lieber die Morgenzeitung zu Ende lesen, aber auf einem Schiff müsse man draußen sitzen, fand Manou, »erst dann läßt man wirklich alles hinter sich, nun komm schon«. Sie lehnten sich über die Reling und sahen zu, wie die Fähre vom Kai ablegte. Sie waren die einzigen, die sich an Deck gewagt hatten; auch am Kai stand nur ein einzelner Mann, er winkte jemandem zu, der unten am Fenster saß. Um die Kälte zu vertreiben, trippelte er auf und ab. Sie machte das nie – jemandem lange nachwinken. Nicht, wenn sie Freunde zum Zug brachte, nicht am Flughafen Schiphol, nicht einmal, wenn sie einen Gast hinausbegleitete, besaß sie genügend Geduld, in der Tür zu warten, bis der Wagen oder das Fahrrad um die Ecke gebogen war.

Sie zog den Reißverschluß ihrer Skijacke bis oben hin zu und schob sich das wollene Stirnband über die Ohren. Es schien, als verstecke sich der Schnee, der diesen Winter wieder nicht gefallen war, hinter dem Frühjahrssturm. Solch kräftige Windböen bekam man in Amsterdam nur selten zu spüren, außer wenn man hinter dem Hauptbahnhof entlangradelte oder die Fähre über das IJ nahm. Sie atmete langsam und so tief wie möglich ein. Sie wollte sich alles genau einprägen: die Überfahrt, die Insel, das Haus, ihre Wanderungen durch die Dünen, um später davon erzählen zu können. Ihr Kind wollte bestimmt genau wissen, wo und wann es gezeugt worden war.

Sie zeigte Hans die Möwen, die um das Ruderhaus flogen und sich immer wieder in das aufgewühlte Kielwasser stürzten. Sie schauderte bei dem Gedanken an die Eiseskälte des Meerwassers. Er legte einen Arm um ihre Schultern und zog sie eng an sich. »Können wir gleich ein Bad nehmen? Haben wir eine Sauna oder ein überdachtes Schwimmbad?«

Sie lächelte.

»Wir sind nun fast da«, drängte er, »du kannst es jetzt wohl verraten, oder?«

Schweigend schüttelte sie den Kopf. »Entführung« nannten sie das: Alle drei, vier Monate war einer von ihnen an der Reihe, den anderen für ein langes Wochenende oder eine halbe Woche an einen unbekannten Ort zu entführen. So entstand eine geheimnisvolle, freudig gespannte Stimmung, so, als sei mehrmals im Jahr Weihnachten. Zu diesem Spiel gehörte auch, daß der Entführte – einmal am Bestimmungsort angekommen – keinerlei Kritik äußerte. Nichts aus der Reihe »Eigentlich wäre ich jetzt doch lieber in Ibiza«.

»Und was wird es – ein Haus, eine Pension, ein Hotel?«

Er lachte, während er sie fragend ansah, aber die Haut um seinen Mund war straff gespannt, als läge eine hauchdünne Eisschicht darüber.

Er gab Manou die Streifenkarte und ließ sie als erste einsteigen. Das war nicht nur aus Höflichkeit; rasch warf er einen Blick auf die Liste der Haltestellen, die der Bus anfahren würde. Diese Bushaltestelle hieß Veerdam, danach folgten Stortemelk, Bosrand, Strandhotel, Ankerplaats, Groene Kruis, Lange Paal, Nieuwe Kooi und Posthuis. Von seinem letzten Aufenthalt auf der Insel – einem Besuch, der keinen halben Tag gedauert hatte – kam ihm nur »Posthuis« bekannt vor, ein Gehöft auf der anderen Seite der Insel, wo sie einen Strammen Max gegessen hatten. Aber wie das Haus hieß, in dem er ein paar Stunden verbracht hatte, oder das Dünengebiet, in dem es lag, daran erinnerte er sich nicht mehr.

Als er hinter ihr mit dem Gepäck einstieg, wurde ihm klar, daß er nicht zugehört hatte, was sie zu dem Busfahrer gesagt hatte, nun wußte er noch immer nicht, wohin sie fuhren. Er biß sich auf die Unterlippe. Ein Geheimnis, die Vereinbarung soundso, die Regel soundso – du lieber Himmel, war das alles nicht ziemlich kindisch? Weitere Fahrgäste stiegen ein, ältere Ehepaare, ein junges Paar mit einem Säugling, Menschen, die genau wie sie nicht an die Schulferien gebunden waren. Kurze Zeit später setzte ein leises Dröhnen ein, und der Bus schwenkte auf die Straße. Hans richtete sich auf, um zu sehen, in welche Richtung sie führen. Wunderbar, der Fahrer fuhr einfach geradeaus, immer auf der Asphaltstraße parallel zum Watt in Richtung Jachthafen. Schon von weitem konnte man den Mastenwald mit den flatternden Wimpeln sehen.

Er warf einen Blick über die Schulter: Dort, an der weißen Mauer auf der anderen Straßenseite, hatte das Fahrrad gestanden, das Martines Mutter für ihn zurückgelassen hatte, für die Radtouren, die Martine mit ihm hatte machen wollen.

»Irgendwas vergessen?« fragte Manou. Ihr entging aber auch nichts.

»Ich versuche, mich zu orientieren.«

Letztes Jahr war er dieselbe lange Straße mit dem Rad gefahren, aber in umgekehrter Richtung. Er brauchte sich keine Sorgen zu machen – die Insel war doch wohl groß genug, daß er der Erinnerung entkommen konnte? Er lehnte sich zurück und versuchte, sich zu entspannen, legte seine Hand auf Manous Hand, die schon seit Beginn der Busfahrt auf seinem Knie lag. Eigentlich sollte er es genießen. Eine ganze Woche frei, keine stundenlangen Flugreisen ans andere Ende der Welt, wodurch man noch tagelang aus dem Tritt war. Als sie das erste Mal an der Reihe war, ihn zu entführen, hatte sie ihn nach New York geschleppt.

»Gute Idee, oder? Ich wollte schon so lange mal auf eine Wattinsel.«

Er rieb sich die Augen; Anspannung ließ ihn immer schläfrig werden.

»Ja, mach du ruhig die Augen zu, dann ist es wie bei einer echten Entführung. Eigentlich müßte ich dir ja die Augen verbinden, damit du bis zur letzten Sekunde keine Ahnung hast, wohin ich dich bringe.«

Alles in Ordnung, alles, alles … so bekämpfte er seine innere Unruhe. Die Tatsache, daß Martine voriges Jahr hier gewesen war und im Jahr davor, bedeutete noch nicht, daß sie auch jetzt hier sein würde. Als der Bus um eine scharfe Kurve bog, öffnete er die Augen. Er warf einen Blick auf das Schild am Straßenrand: kein Straßenname, nur der Hinweis »Ferienhausanlage« und darunter »Schwimmbad/Sportplatz«. Das Haus, das Martine letztes Jahr gemietet hatte, stand ganz oben auf einer Düne, vollkommen allein, nicht auf so einem Gelände mit einem Zaun drumherum, das wußte er sicher.

Sie fuhren an einem Hallenbad vorbei; aus der Wand ragte eine schwarzgelbe Röhre, die nach ein paar Krümmungen und Windungen wieder im Gebäude verschwand. Vor gar nicht langer Zeit war er mit einem seiner Neffen durch solch einen Wassertunnel gerutscht. Ein harter Wasserstrahl schleuderte einen über die harte Kunststoffbahn, und in jeder Kurve knallte man gegen den Rand. Schwindelig und grün und blau, wurde man gleich darauf ins tosende Wasser katapultiert, wo einem von dem ganzen Gekreisch Hören und Sehen verging. Einmal und nie wieder, dachte er damals, als sie wieder am Beckenrand standen.

Aber wenn er eines Tages selbst Vater wäre, würde er hin und wieder dran glauben müssen. Nicht nur Wildwasserrutschen, sondern auch Autoskooter und Vergnügungsparkattraktionen, wo man eine Viertelstunde lang mit dem Kopf nach unten hing oder hundert Umdrehungen in der Minute machte wie ein Geschirrtuch in der Waschmaschine. Aber das würde er gern auf sich nehmen. Er würde all den jungen Vätern auf dem Spielplatz in nichts nachstehen.

Vor einem Jahr hatte er sie gefragt, in »ihrem« Restaurant, einem Italiener auf der Weteringschans, in dem einer der Kellner jeden Abend gegen zehn »O sole mio« anstimmte: »Willst du Kinder?« Es war das erste Mal, daß er diese Frage gestellt hatte; zwar hatte es zuvor schon ein paar Freundinnen gegeben, die das Thema angeschnitten hatten, aber er hatte nie gewollt, mit keiner von ihnen. Als die Frage aller Fragen einmal heraus war, erkannte er, daß sich sein Leben verändert hatte – wie auch immer die Antwort lauten würde. Wenn Manou ihn nun anschaute, würde sie sehen, wie glücklich ihn die Erinnerung an diesen Abend machte.

Er folgte ihrem Blick. Sie fuhren an einem Fußballplatz entlang, auf dem dunkle Pfützen standen, er erkannte die Gegend nicht. Mit Martine war er mit dem Rad durch eine ausgedehnte Dünenlandschaft gefahren, über einen mit Muscheln übersäten Weg, der kein Ende nahm. Er hatte genauso ausgesehen wie eine dieser langen, schmutzigweißen elastischen Binden, die er während der Sprechstunde vom Knie eines seiner Patienten abwickelte. Bergauf, bergab, und sie hatten damals auch noch Gegenwind gehabt. Aber jetzt fuhren sie durch einen Wald. Bis auf ein paar Radfahrer kam ihnen niemand entgegen, nicht ein einziges Mal wurde gehupt, und da die Reifen auf dem Asphalt kaum ein Geräusch verursachten, war es eine unwirkliche, stille Fahrt, als würden sie über eine Wolkendecke fahren.

Der Bus wurde langsamer, der Fahrer schaute in den Rückspiegel und erkundigte sich über Mikrofon, ob jemand an der Haltestelle aussteigen wolle. Stortemelk-Milchsturz, den Namen hätte ich bestimmt behalten, dachte Hans.

»Woran denkst du?«

»Ich hab an einen Patienten gedacht. Einen Mann«, fügte er rasch hinzu. »Einen dicken kleinen Mann mit schneeweißer Haut, der Karnemelk, Buttermilch, heißt.«

»Bigamist.«

Er spürte, wie er rot wurde.

»Du brauchst es gar nicht zu leugnen. Du bist nicht nur mit mir verheiratet, sondern auch mit deinen Patienten.«

Er führte ihre Hand an seine Lippen und drückte mehrere Küsse darauf. »Dann lenk mich doch ab, wenn du dich traust.«

»Nachher.«

»Und wann ist das?«

»Bald«, sagte sie und sah sich verlegen um. »Sobald wir da sind.«

Er grinste breit. Das Muttermal unter ihrem linken Nasenflügel verlieh ihr immer etwas Kesses, Herausforderndes, aber wenn er ihr in der Öffentlichkeit zu nahe kam, tat sie sehr schüchtern und sittsam. Er bedrängte sie erneut, ohne die Stimme zu senken. Um ihn zum Schweigen zu bringen, beugte sie sich hinunter zu der Tasche vor ihren Füßen und begann, darin herumzukramen. Die Straße wurde allmählich heller. Er sah hinaus: Der Wald war hier weniger dicht, und der hellblauen Luft nach zu urteilen, konnte das Meer nicht mehr weit sein. Er freute sich auf ihren nackten Körper in einem fremden Bett. In einer anderen Umgebung wurde die eigene Frau ganz von selbst anders, rätselhafter, genauso erregend wie beim ersten Mal. Sie breitete eine Karte auf ihren Knien aus und versuchte herauszufinden, wo sie nun entlangfuhren.

»De Molshoop«, rief der Fahrer, und der Bus hielt an. Zwei ältere Damen begaben sich mit ihrem Gepäck zum Ausgang; eine von ihnen trug eine modische Sonnenbrille. Er blickte ihr nach; so, wie sie da am Straßenrand stand, mit ihrem Koffer auf Rädern, erinnerte sie ihn an Martines Mutter. Nach einer flüchtigen Begegnung am Kai hatte er nie wieder an sie gedacht, aber jetzt spukte sie ständig in seinem Kopf herum.

Er räusperte sich. Auf der anderen Straßenseite lag ein Kiefernwald, und Martines Haus hatte auch in den Dünen gestanden, gegenüber einem Wald. Und wenn schon, auf der Karte hatte er gesehen, daß es mehrere Dünengebiete gab – die gesamte Nordseeküste der Insel war eine durchgehende Dünenlandschaft.

»Siehst du, hier am Hafen sind wir eingestiegen«, hörte er Manou sagen. Sie tippte mit dem Fingernagel auf die Karte. »Das ist der Weg am Watt entlang, dann nach links, durch den Wald, und meiner Meinung nach sind wir jetzt ungefähr hier, bei Duinkersoord.«

Sein Blick wanderte vom Fenster zu ihrem Finger. Schwarze Buchstaben auf einem hellgelben Untergrund, dünne Striche für die Dünengebiete. »Duinkers« – Dünenkirsche. Plötzlich fiel es ihm wieder ein.

»Und wo müssen wir hin?« Er fragte es so beiläufig wie möglich.

»Das wirst du schon noch sehen.«

»Ins Disneyland?«

Der höhnische Unterton war ihr nicht entgangen. »Da reiß ich mir fast ein Bein aus, um irgendwas Schönes zu organisieren, und dann bist du so … so unglaublich stur. Was ist denn heute mit dir los?« Sorgfältig faltete sie die Karte zusammen und steckte sie wieder in ihre Tasche. Als sie aufblickte, gab der Busfahrer ihr über den Rückspiegel ein Zeichen. »Nach der Kreuzung müssen Sie raus, Mevrouw.«

»Ist das der Strandweg?« fragte sie, während sie sich von ihrem Platz erhob. Noch bevor der Bus vollständig zum Halten gekommen war, stand sie bereits mit ihrem Gepäck am Ausgang. Er blieb sitzen, spürte, wie er innerlich erstarrte. Wie gelähmt blickte er auf seine Schuhe; der rechte Schnürsenkel hatte sich gelöst, aber er war nicht in der Lage, sich nach vorne zu beugen. Der Badweg führte zum Meer, und Martines Haus hatte auch an einem Weg gelegen, der geradewegs aufs Wasser zulief. Er erinnerte sich an das einschläfernde Rauschen der Brandung in den wenigen Sekunden zwischen Schlafen und Wachen, bevor er hochschreckte, in Panik nach seiner Armbanduhr griff und aus dem Bett sprang.

»Kommst du endlich?«

Mühsam wie ein alter Mann zog er sich an der Metallstange hoch; seine Hände waren schweißnaß. Manou grüßte den Busfahrer noch einmal und bedankte sich, daß er so freundlich war, sie »direkt vor der Tür« abzusetzen. Lieber Gott, laß es dann wenigstens ein anderes Haus sein, dachte er, während er hinter ihr aus dem Bus stieg. Das da, auf der anderen Straßenseite, mit den gelben Fensterläden, oder das Haus daneben, mit der schiffsförmigen Wetterfahne. Nervös summte er den Refrain eines Liedes über ein Schifferkind, und dann schossen ihm verschiedene Textzeilen durch den Kopf. Fischer, Fischer, wie tief ist das Wasser … wieviel Sand in dem Meer … in dem Meere wieviel Müschlein, wieviel Tropfen in der See … wieviel Fischlein auch sich kühlen in der hellen Wasserflut?

Manou wartete, bis der Bus abgefahren war und rief dann: »Jetzt schau doch mal!« Sie hatte ihren Ärger überwunden. Erwartungsvoll sah sie ihn an und zeigte schräg nach oben: Da stand es, herausfordernd, auf der höchsten Düne am Strandweg. Ein schwarz geteertes Haus mit weißem Dachgesims, ein Satteldach mit orangefarbenen Dachziegeln. Direkt über dem kleinsten Fenster, in dem Dreieck, das durch das Dachgesims entstand, prangte ein Schild mit schwarzen Buchstaben: »Dünenrose«. Keine Kirsche, sondern eine Rose, eine Rose aus Fleisch, ein Garten der Lüste, die rote Haarsträhne zwischen Martines nackten Schulterblättern, ihre langen Nägel in seiner Haut. Ein Schauder lief ihm den Rücken hinunter.

Noch bevor er den Namen lesen konnte, hatte er das Haus wiedererkannt. Er kam nicht drum herum. Es wäre einfacher gewesen, eine Wasserrutsche hinaufzukriechen, direkt gegen die mächtige Strömung, als diesem Schicksal zu entgehen. Nach ein paar irreführenden Windungen waren sie hier ausgespieen worden, am Anfang des Wegs, der schnurstracks zu dem Haus führte, in dem er mit Martine gewesen war.

»Man hat mir von verschiedenen Seiten empfohlen, unbedingt dieses Haus zu mieten.«

Sie stand schon an der Eingangstür und winkte mit dem Schlüssel. Man sah ihr nicht an, daß sie früh aufgestanden war, noch alles mögliche geregelt und eine Autofahrt und eine Schiffsreise hinter sich hatte. Sie sprühte vor Energie und Lebensfreude. Das Stirnband lag wie ein loser Kragen um ihren Hals, das kurze dunkle Haar stand in alle Richtungen ab. Manou war ständig mit so vielen Dingen gleichzeitig beschäftigt, daß ihre Kleidung immer krumm und schief saß. Als sie zum ersten Mal gemeinsam in die Oper gingen, trug sie ihren Seidenpullover verkehrt herum, und heute hatte sie ihr Jeanshemd falsch zugeknöpft. Sie brannte darauf, endlich hineinzugehen, die Taschen auszupacken, sich in »Dünenrose« häuslich einzurichten.

»Ist es nicht phantastisch?«

Zimmer- und Schranktüren wurden aufgerissen und nach einer kurzen Inspektion wieder zugeworfen. Rastlos lief Manou die Treppe hinauf und stand im Handumdrehen wieder unten: Da oben hatten sie nichts zu suchen, da gab es nur ein kleines Zimmer mit einem Einzelbett, und das andere Zimmer war abgeschlossen. PRIVAT. »Keine Badewanne, nur eine Dusche. Findest du das schlimm? Kein Toilettenpapier … müssen wir unbedingt noch besorgen. Merk du dir das bitte! Ach, wie schön, ein zusätzliches Zimmer, falls du sehr laut schnarchst. Altmodische Küche, aber soweit in Ordnung. Teebeutel im Überfluß, Cranberrytee – wachsen hier eigentlich Heidelbeeren? Schön warm ist es hier, irgend jemand hat offenbar die Heizung schon mal eingeschaltet … diese Vorhänge, wer denkt sich so was nur aus? Etwas Ähnliches hatte auch Oma Mirjam vor dem Fenster hängen. So ein Muster, bei dem ich mich schon als Kind gefragt hab, was das darstellen soll … eine Schlingpflanze, eine Riesenschlange, einen Irrgarten? Schade, daß du sie nicht kennengelernt hast und sie dich nicht.«

Sie bückte sich und schaute durch die Durchreiche zwischen Wohnzimmer und Küche, wo er wie ein Sack Mehl an der Anrichte lehnte. »Ach ja, jetzt fällt es mir wieder ein. Das wollte ich dir schon seit Tagen erzählen: Vor kurzem hab ich geträumt, daß sie noch lebte und daß ich dich ihr vorstellte …«

»Und, wie fand sie mich? War ich ihrer Enkelin würdig?«

»Sie hat mir strahlend zugenickt, als ob sie sagen wollte: Meinen Segen hast du. Ein schöner Traum, oder?« Noch bevor er antworten konnte, hatte sie sich bereits wieder umgedreht. »Setz du schon mal Wasser auf, dann mach ich die Betten.« Durch die Durchreiche sah er, wie Manou mit der Reisetasche in der Hand auf das Ehebett zusteuerte. Trotzdem fragte er beiläufig und mit schönster Unschuldsmiene: »Ach, gibt’s hier unten denn noch ein Schlafzimmer?«

»Ja, ist zwar nicht besonders groß, aber mit einer netten Aussicht. Meinst du, du kannst dich hier ein bißchen wie zu Hause fühlen?«

Er erinnerte sich jetzt bis ins kleinste Detail: Ein Fenster ging zur Straße hinaus, das andere auf die Dünen rechts vom Haus. Vor den Fenstern hingen helle Vorhänge aus dem gleichen Stoff wie die Tagesdecke. In einer Ecke der Zimmerdecke prangte ein Wasserfleck – all das stand ihm so klar vor Augen, als wäre der Raum eine Zelle, in der er Jahre seines Lebens verbracht hatte.

Manou tauchte wieder im Wohnzimmer auf, einen Kissenbezug über dem Arm. Lächelnd schob sie den Kopf durch die Durchreiche und hauchte ihm einen Kuß zu; glücklicherweise mit geschlossenen Augen, so daß sie sein Zögern nicht bemerkte. Er legte einen Finger auf ihre Lippen.

»Tut mir leid, daß ich mich im Bus so blöd benommen hab«, sagte er.

»Macht nichts, hatte ich längst vergessen.«

Sie öffnete die Augen und sah ihn ernst an. »Es ist wieder soweit …«

»Was?«

»Temperaturanstieg. Und das Ziehen im Rücken.«

Sie beschwerte sich nie über den Mittelschmerz, war ihrem Körper vielmehr dankbar, daß er ihr so deutlich zu verstehen gab, wann sie fruchtbar war. Vor drei Monaten hatte sie die Pille abgesetzt, und jedes Mal war sie wieder enttäuscht, daß es ihnen noch nicht gelungen war. Monat für Monat hoffte sie, daß es diesmal klappen würde.

»Heute wird es passieren – oder was meinst du? Aller guten Dinge sind drei.«

Er unterdrückte ein Seufzen.

»Hast du schon Wasser aufgesetzt?«

»Ich war gerade dabei.«

»Eine Tasse Tee geht doch wohl noch, oder haben wir es so eilig?«

Er brauchte ihrem Blick gar nicht auszuweichen, da sie bereits wieder ins Schlafzimmer unterwegs war, um die Betten zu machen.

Wenn das Bett mit Rosen bedeckt gewesen wäre und ihre gesamte Familie plus seiner eigenen Verwandtschaft vor dem Fenster gestanden hätte, um ihn mit Tamburinschlägen und mehrstimmigem Gesang beim Liebesakt anzufeuern, hätte er sich nicht gehemmter fühlen können. Er schloß die Durchreiche und lehnte sich gegen die Wand.

Das hatte er nie gewollt. Natürlich nicht. Er hatte Martine besucht, um einen Schlußstrich zu ziehen. Das war schon schwierig genug gewesen. Aber es ging nicht anders – er mußte den Knoten durchhauen, er hatte es Manou versprochen.

Als Hausarzt war er zwar häufiger der Überbringer schlechter Nachrichten, aber diese Erfahrung nutzte ihm nun gar nichts. Noch nie zuvor hatte er eine Frau grob von sich gestoßen; das hatte er immer zu vermeiden verstanden. Die meisten Liebesaffären waren von selbst eingeschlafen. Als er noch in Afrika arbeitete, bedeutete eine Versetzung meistens das Ende einer Beziehung. Doch nun war er zum ersten Mal in seinem Leben Bote und Krankheit in einer Person.

Nachdem er es ihr so sachlich wie möglich mitgeteilt hatte, auf dem Sofa im Wohnzimmer: daß er eine andere kennengelernt hatte – Manou, Krankenschwester in der Röntgenabteilung eines Krankenhauses, die Cousine seines Schulfreundes Dick –, waren sie doch noch im Bett gelandet. Eine Dummheit, das war ihm bereits klar, als er mit einer Hand sein Hemd aufknöpfte, während er mit der anderen ungeduldig den Gürtel seiner Hose löste.

Ich kann doch nicht einfach so aus ihrem Leben verschwinden, hielt er sich vor, das wäre wirklich zu herzlos. Aber gleichzeitig wußte er, daß er sich nicht aus Mitleid sein T-Shirt über den Kopf zerrte, so hastig, daß seine Ohren nach vorne klappten. Er mußte gestehen, daß er Martine noch nicht über hatte; noch immer wurde ihm heiß, sobald er sie sah, genau wie beim ersten Mal, als sie bei dieser Hochzeit in Twente auf der Terrasse erschienen war. Er wußte noch genau, was sie damals getragen hatte: eine rote Bluse aus weichem Leder und einen engen Rock. Zwischen all den anderen Frauen in ihren braven Leinenkostümchen war sie ihm sofort aufgefallen. Im Handumdrehen hatte sie ihre hochhackigen Sandaletten von den Füßen geworfen und unter einem Baum abgestellt; barfuß ging sie über die Wiese zu der Reihe von Wartenden, die sich vor dem Brautpaar eingefunden hatten.

Rund sechs Monate hatte ihre Beziehung gedauert, aber er mußte dem Ganzen ein Ende setzen. Er hätte es schon eher machen sollen, aber er war erst dazu in der Lage, als er Manou kennenlernte. Sie war jünger als Martine, aber viel souveräner, hatte weniger Angst, verlassen zu werden. Bei ihr fühlte er sich wohl. Als Martine von einem Kind angefangen hatte, war er zugeschnappt, aber mit Manou schien es, als hätte er immer schon ein Kind gewollt und all die Jahre nur darauf gewartet, daß er ihr begegnete.

Er zündete ein Streichholz an und beugte sich über den Herd. Der war sauber, genau wie die Granitanrichte, das schwarzweiße Spülbecken, der Boden und die Fenster. Sie waren bestimmt die ersten Gäste der Saison. Einen kurzen Moment verharrte er mit dem abgebrannten Streichholz in der Luft, aber dann entdeckte er die Dose neben dem Herd. Mit einem zielsicheren Wurf beförderte er das Streichholz hinein. Verrückt, bei solch läppischen Tätigkeiten hielt er kurz inne, um dann mit großer Präzision das einzig Richtige zu tun, aber in entscheidenden Momenten stümperte er vor sich hin.

Wenn er damals gewußt hätte, was er jetzt wußte, dann wäre es bei einem Abschiedskuß geblieben, bei einem Arm um ihre Schulter, bei einem Gespräch, in ruhigem Arztton. Dann hätte er sie auf Abstand gehalten. Stimmte das, hätte er auf dieses letzte Mal verzichten wollen? Nein, er hätte es nicht überspringen wollen, aber vergessen, in einem dichten Nebel verschwinden lassen, wie etwas, das ihm in betrunkenem Zustand widerfahren war.

Martine war nicht nur todunglücklich gewesen, sondern auch gieriger als je zuvor. Und wütend, auf ihn und auf sich selbst, wegen alldem, was sie trotz allem noch für ihn empfand. Durch diese Mischung aus Wut und unverhohlener Geilheit verwandelte sie sich vor seinen Augen in ein Wesen, das ihn anzog, zugleich aber auch ängstigte. Er mußte an den Hauptdarsteller in diesem Horrorfilm denken, der ständig seufzte »Das ist der Fick des Jahrhunderts«, ohne zu wissen, daß unter dem Bett ein Eispickel bereitlag, mit dem ihn die blonde, rittlings auf ihm hockende Frau gleich erstechen würde. Martine zog ihn an den Schultern zu sich heran, befahl ihm, sie anzusehen, direkt in die Augen: Ihr Blick war hart, ihr Mund ein messerscharfer Strich, aber als er vor Genuß aufstöhnte, begann sie zu weinen. Sie gestattete ihm nicht, sie zu trösten, er durfte sie nicht mehr berühren, nicht mal mit einem Finger, mit einem Ruck drehte sie sich von ihm weg, das Gesicht zur Mauer gewandt.

Er brachte kein Wort mehr heraus und starrte auf ihre Schulterblätter, die ihm plötzlich mitleiderregend mager erschienen, wie Stummel von ehemaligen Flügeln. Durch den Kontrast zu ihrem hennaroten Haar wirkte ihre Haut auch so weiß, fast totenbleich.

Wie versteinert blieb er liegen. Er wußte genau, daß sie nur so tat, als ob sie schliefe. Minutenlang hatte auch er sich schlafend gestellt, bis er zum Schluß tatsächlich kurz einnickte. Als sein Bein wegrutschte, schrak er hoch; leise hatte er seine Sachen zusammengesucht und sich aus dem Zimmer geschlichen.

Wieder zu Hause, hatte er Manou nicht angerufen, denn Martine steckte noch in seinem Körper, unter seiner Haut. Es war eher ein Kampf gewesen als eine Umarmung, ein Kräftemessen, das länger in ihm nachbebte, als ihm lieb war. Erst am nächsten Tag, nachdem er Dutzende Patienten behandelt und sich selbst wieder im Griff hatte, wagte er es, Manou unter die Augen zu treten.

»Und, wie war’s auf Ameland? Du siehst nicht sehr erleichtert aus. Du hast es ihr doch erzählt, oder? Das mit uns?«

»Natürlich.«

Er hatte es dabei belassen, die eine Insel oder die andere, was machte das schon aus? Sie wollte hören, daß es vorbei war, und er wollte nichts lieber als sie beruhigen. Also beließ er es bei der Mitteilung, daß er die nächste Fähre zurück aufs Festland genommen hatte.

Er hatte die Erinnerung an diesen Nachmittag aus seinem Gedächtnis verbannt, sich selbst verboten, daran zurückzudenken, denn sonst wurde daraus eine Phantasie, an der er sich aufgeilen würde. So eine Szene aus einem Pornofilm, die auch dann in seinem Kopf herumspukte, wenn er es nicht gebrauchen konnte. Er warf einen Blick durch die Durchreiche. Die Schlafzimmertür stand weit offen … Wer hatte Manou empfohlen, nach Vlieland zu fahren und ausgerechnet dieses Haus zu mieten? Vielleicht die Bekannte einer Kollegin einer Freundin von Martine? Er war ihr in dem einem Jahr nur einmal begegnet, aber vielleicht war die Welt doch kleiner, als er angenommen hatte, war die ganze Stadt ein verfilztes Knäuel aus Männern und Frauen, die einander nette Restaurants empfahlen und überall lautstark verkündeten, welchen Film man sehen und welche Oper man besuchen müsse, auf welche Insel man zu fahren hatte und welches Ferienhaus es zu mieten galt …

»Ich bin soweit«, rief Manou aus dem Schlafzimmer.

Sie lag nackt unter einem sauberen Laken, wartete auf ihn, voller Ungeduld.

Sie hob den Vorhang hoch und sah ihm nach. Er war auf dem Weg zum Hotel, das ein kurzes Stück weiter direkt am Meer lag. In ein paar Minuten würde alles geregelt sein, in einer Viertelstunde konnten sie hier weg. Ein Mann in einem eleganten Mantel, die Hände tief in die Taschen gesteckt. An seinem Rücken war nichts abzulesen, oder fast nichts. Er ging ein wenig gekrümmt, wie immer, wenn er sich Sorgen machte. Einmal hatte sie das erwähnt, und da hatte er sie erschrocken gefragt, ob sie ihn denn überhaupt attraktiv fände. Wollte sie vielleicht, daß er ins Fitneßstudio ginge? Nein, nein, bitte nicht … Er war so eitel. Wenn sie ihm sagte, daß sie ihn so liebe, wie er war – ein bißchen schwabbelig um die Taille und derart behaart, daß sie richtig suchen mußte, wenn sie seinen Bauchnabel sehen wollte, und tatsächlich ein wenig krumm –, dann hörte er nur ihre Bemerkung und nicht den Ton, in dem sie es sagte.

Vor nicht einmal einer halben Stunde war er hereingekommen. Ohne sie anzusehen, hatte er seine Hand auf die Decke gelegt, dorthin, wo sich ihr Fußknöchel abzeichnete. Er machte keinerlei Anstalten, sich auszuziehen. Als sie ihn fragte, was er denn habe, stand er wieder auf, ging aus dem Zimmer und sagte schroff: »Nicht hier.«

Rasch hatte sie einen Pullover übergestreift, direkt über den nackten Körper, dazu nur ihren Slip und einen Kniestrumpf, den linken konnte sie in der Eile nicht finden. Ein Katastrophenszenario nach dem anderen schoß ihr durch den Kopf: Er hat Probleme in der Praxis, eine falsch gestellte Diagnose mit fatalem Ausgang – vielleicht irgendwas im Zusammenhang mit diesem Meneer Karnemelk? Nein, er selbst ist krank und hat es gerade erst erfahren. Deshalb wagt er nicht, an Kinder zu denken. Deshalb war er so schweigsam, so mürrisch: Er weiß nicht, wie er es mir sagen soll.

In ihrer spärlichen Bekleidung – als wäre sie aus einem brennenden Haus geflohen – hatte sie sich ihm gegenübergesetzt. »Sag schon, was ist los?« Ein Altersunterschied von sechzehn Jahren war schließlich keine Kleinigkeit, und den allgemeinen Erwartungen entsprechend, würde sie ihn überleben. Eines Tages würde sie allein zurückbleiben, aber doch noch nicht jetzt? Ihr gemeinsames Leben hatte gerade erst begonnen, ein Großteil seiner Bücher war noch nicht einmal ausgepackt und stand in Kartons auf dem Speicher. Sie wollte noch so vieles, zu vieles, um es alles aufzuzählen: Viele Sonntagvormittage mit ihm zusammen auf der Dachterrasse frühstücken, sich einen langen, gewundenen Tropenfluß hinabtreiben lassen, ein paar Monate in Italien leben, in einem großen, mit Bougainvillea bewachsenen Haus, in das sie all ihre Freunde einladen konnten, eine Woche lang ein Festival besuchen, um möglichst viele Filme anzuschauen, zusammen ihr erstes Kind aufwachsen sehen, dann das zweite, das dritte … alles Jungs, und sie hoffte, daß alle drei ihm ähnlich sehen würden. Auf dem Land wohnen vielleicht, oder am Stadtrand, in einem Haus mit Garten, Hühnern und einer Ziege – wie ging das Lied noch mal? With two cats in the yard, life used to be so hard, now everything is easy ’cause of you.

Sie rieb ihre Füße gegeneinander. Als er aus dem Zimmer gestürmt war, hatte sie sich sofort zähneklappernd unter die Bettdecke verkrochen und sich möglichst klein zusammengerollt. Aber jetzt schien die Sonne funkelnd durch die Fenster, und es war wohlig warm im Haus. Was tat sie noch im Bett – sie war doch nicht krank?

»Komm schon, nicht herumjammern. Steh auf, zieh die Betten einfach wieder ab.«

Zum x-ten Mal ermahnte sie sich, aber es schien, als würde irgend etwas sie zurückhalten. Stirnrunzelnd nahm sie einen Schluck Tee, der viel zu stark und widerlich süß war. Sie schauderte und spuckte ihn wieder in den Becher. Wußte er denn noch immer nicht, wie sie ihren Tee mochte, trank diese Martine, dieses blöde Weib, vielleicht schwarzen Tee mit haufenweise Zucker?

Während sie den Becher wieder auf den Boden stellte, fiel ihr Blick auf das Sofa im Wohnzimmer. Dort, auf diesem braunen Sofa hatte er also gesessen und mit Martine geredet. Das Ding zählte zu der Sorte von Möbeln, die man nur noch auf Flohmärkten und in Trödelläden fand. Sie verstand natürlich, daß die Erinnerung an Martine in diesem Haus noch nachklang, aber er hätte es ihr einfach sofort sagen sollen. Sofort und nicht hinterher. »Ich wollte dir die Überraschung nicht verderben. Du hast dich so darauf gefreut.« Er hatte sie unterschätzt.

Oder lag es an ihr? War sie in diesen ersten Monaten zu fordernd gewesen? Jedesmal, wenn Martine zur Sprache kam, hatte sie rasch das Thema gewechselt, und schon bald war ihr Name nicht mehr gefallen. Obwohl sie genau wußte, daß es ebenso viele verschiedene Formen des Abschieds wie Menschen gibt. Der eine winkt seinen Gästen noch lange nach, der andere schlägt die Tür zu und blickte sich nicht mehr um.

Sie friemelte noch einen Keks aus der angebrochenen Rolle, die auf dem Boden neben dem Becher stand; wenn sie durcheinander war, mußte sie irgend etwas im Mund haben. Ihr Blick wanderte nach oben zur Decke. In einer Ecke prangte ein großer Wasserfleck. Ein Fleck auf einem Röntgenbild bedeutete selten etwas Gutes, und sie war stets die erste, die es sah. Manchmal begegnete sie in der Straßenbahn einem Patienten, dessen Röntgenbild sie am Morgen dem behandelnden Internisten gezeigt hatte und der selbst noch nicht wußte, wie schlecht es mit ihm stand.

Was ist nur mit mir los? Kann ich nicht ertragen, daß alles etwas anders läuft, als ich es mir vorgestellt hatte? Er ist doch schon dabei, das Problem zu lösen, gleich ziehen wir in ein Hotelzimmer mit Meeresblick um. Schade um die ganze Mühe, auch um das Geld, ich hab die Miete im voraus bezahlt, aber er will ja partout nicht hier …

Sie strampelte die Bettdecke von sich. »Nicht hier« – das war es, mit diesen Worten hatte er sich verraten. Er hatte