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»Links sein und Engstirnigkeit schließen sich für mich aus.« Mitreißend, anekdotenreich und geschichtsbewusst erzählt der Theologe Ton Veerkamp sein Leben von der Kindheit in Kriegszeiten bis heute, ein Weg, der ihn von Amsterdam über Umwege nach New York und Berlin führte: vom Banklehrling zum Jesuiten und dann zum Studentenpfarrer, der 28 Jahre lang ausländische Studierende beriet und nicht selten ihr Überleben ermöglichte. Der Werdegang des ebenso bündnisfähigen wie unbestechlichen Aktivisten, prägende Gestalt der Westberliner Friedensbewegung, spiegelt akute gesellschaftliche Konflikte und geopolitische Entwicklungen. Alles zeugt von dem Willen, die Lektüre der Bibel nicht als frommes Hobby zu betreiben, sondern als politische Schulung zur Lösung drängender Probleme. Eine lebenslange Suchbewegung mit dem Credo: Es gibt immer eine Alternative. »Wir wuchsen auf in einer westeuropäischen Umwelt, wo es dreißig Jahre lang nur aufwärts ging, danach bis zum neuen Jahrhundert auf hohem Niveau stagnierte. Heute wissen alle, dass die nächste Krise kommt wie das Amen in der Kirche.«
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Seitenzahl: 469
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Ton Veerkamp
Abschied von einem messianischen Jahrhundert
Politische Erinnerungen
LiteraturbibliothekAriadne · Argument
Alle Rechte vorbehalten
© Argument Verlag 2020/2022
Lektorat: Iris Konopik
Umschlag: Martin Grundmann
ISBN 978-3-86754-821-2 (E-Book)
ISBN 978-3-86754-406-1 (Buch)
Für Julian und Janik
Wer in Amsterdam vom Palast Richtung Westen durch die Raadhuisstraat, Rozengracht und Clercqstraat geht, kommt an eine Zugbrücke, die mindestens zehn Mal am Tag hochgezogen wird. Die Gleise der Straßenbahn zeigen dann in den Himmel, und unten treibt langsam ein großes Schiff vorbei. Früher hatte der Brückenwart einen Angelstock mit einer Strippe in der Hand, an der Strippe hing ein holländischer Holzschuh. Der Schiffer steckte das Brückengeld in den Holzschuh, den der Brückenwart herunterließ. Ob und wie das Geld heute kassiert wird, weiß ich nicht, den Angelstock mit dem Holzschuh gibt es nicht mehr und der Brückenwart ist längst eingespart. Die Prozedur dauerte damals lange, deshalb spielte die Brücke in unserem Leben eine wichtige Rolle. Sie verbindet die zwei Ufer eines Kanals, der westlich der Altstadt von Norden nach Süden verläuft. Über diesen Kanal musste jeder, der aus dem Westen in die Stadt wollte. Die Oberschule lag in der Stadt. Wir verließen morgens das Haus keine Minute früher als notwendig, Aufenthalt an der Brücke wurde nie eingeplant, aber die Brücke galt weder zu Hause noch in der Schule als Entschuldigung. Am westlichen Ende der Brücke begann unsere Straße, der Admiraal de Ruijterweg. Er hielt sich zunächst an die vorgeschriebene Richtung, machte nach vierhundert Metern eine scharfe Rechtskurve, verlief in nördliche Richtung, um dann in einer sanften, lang gezogenen Kurve wieder nach Westen zu führen. Er endete beim Dorf Sloterdijk. Dort begann eine Straße, die ziemlich schnurstracks vierzehn Kilometer weit in die Nachbarstadt Haarlem führte.
In einem Haus an dieser sanften Kurve wurden wir geboren. Die Eltern haben in diesem Haus zweimal die Wohnung gewechselt, ansonsten blieben sie, wo sie nach der Eheschließung am 8. Oktober 1931 eingezogen waren, bis im Juli 1989 die Mutter starb und wir die Wohnung und damit eine Geschichte von achtundfünfzig Jahren auflösten. Der Admiraal de Ruijterweg war eine für Amsterdamer Verhältnisse ziemlich breite Straße. Die Gehsteige waren eher schmal, ebenso die beiden Fahrbahnen, die mit quaderförmigen rostfarbenen Ziegelsteinen gepflastert waren. Die nördliche Fahrbahn führte aus der Stadt hinaus, die südliche in sie hinein. Zwischen den Fahrbahnen lagen die Gleise einer Straßenbahn, die sich für eine Eisenbahn hielt. Die Gleise waren in einem Schotterbett ausgelegt und von der Fahrbahn durch einen Maschendrahtzaun getrennt. Über die Gleise donnerten die Bahnen nach Haarlem und zum Seebad Zandvoort. Dazu kam ein kleinerer Zug, der das Dorf Sloterdijk mit der Innenstadt verband. Als Kennzeichen hatte er ein grünes Schild, deswegen hieß er Kikker, Frosch.Die Leute nannten die Bahn Kindermörder, weil Kinder, die aus irgendeinem Grund im Gleisbett zu tun hatten, ihren Fluchtweg durch den Zaun versperrt sahen, manchmal in Panik gerieten und vom Zug erfasst wurden. Kinder hatten gerade an solchen Stellen unaufschiebbare Geschäfte. So fanden wir es nötig, einen Cent auf die Schiene zu legen und zu warten, bis ein Zug die Münze überfuhr, um dann feststellen zu können, dass daraus eine dünnere, aber viel größere Kupferscheibe wie ein Zweieinhalbcentstück geworden war. Auch Nägel, Schrauben und Hufeisen hatten die wunderbarsten Formen angenommen, wenn der Kindermörder über sie hinweggefahren war. Zu Hause durften wir unsere Kunstwerke nicht vorzeigen, damals war die Prügelstrafe noch nicht verboten.
Die Stadt Amsterdam hatte vor dem Ersten Weltkrieg beschlossen, westlich des Kanals und seiner Zugbrücke ein neues Stadtviertel zu bauen, das Seeheldenviertel. Der Teil zwischen Brücke und Nordkurve war vor 1914 fertig. Die Eckhäuser an den künftigen Straßenecken waren ebenfalls fertig. Sie sahen noch nach dem gediegenen 19. Jahrhundert aus. Dort wohnten Ärzte, Geschäftsleute; auch der reformierte Pfarrer residierte in einem dieser bürgerlichen Häuser. Die Lücken zwischen den Häusern wurden nach und nach bebaut und mit Wohnungen für kleine Leute aufgefüllt. Die Straße sollte als neue Hauptverbindung nach Haarlem dienen und bekam den Namen unseres größten Seehelden. Die anderen Seehelden wurden mit Vor- und Nachnamen benannt, Jan van Galen, Jan Evertsen, Maarten Harpertsz. Tromp, aber der Seeheld unserer Straße war so groß, dass der Vorname zu wenig Respekt einflößte, daher Admiraal de Ruijter. Sie lebten fast alle in jenem 17. Jahrhundert, das in unseren Geschichtsbüchern das Goldene genannt wird. Das war es für einige Leute tatsächlich, für die meisten jedoch war es alles andere als golden. Einige Helden stammen aus wenig heldenhaften Epochen. So sprengte sich ein gewisser Van Speyk mit Schiff und Bemannung in die Luft, als sein Versuch, die belgische Unabhängigkeit aufzuhalten, gescheitert war. Die Belgier umstellten sein Schiff. »Dann lieber in die Luft«, soll Van Speyk gesagt haben. Für diese bemerkenswerte Aktion in Antwerpen 1831 wurde ihm eine kurze Seitenstraße zugesprochen.
1911 wurde am westlichen Ende unserer Straße eine römisch-katholische Kirche errichtet. In diesem neuromanischen Kolossalbau wurden wir getauft, im katholischen Schulkomplex neben der Kirche machten wir die ersten Schritte auf unseren intellektuellen oder anderen Laufbahnen. Wenn wir später mit unseren Fahrrädern vom Strand zurückkamen, konnten wir hinter dem Dorf, das mitten zwischen Amsterdam und Haarlem lag und deshalb Halfweg hieß, schon den katholischen Riesenturm sehen. Mit seinen sechsunddreißig Metern überragte er die sonstige Bebauung fast um das Dreifache. Wir waren katholisch und unsere Kirche wurde unter den Schutz von Franz von Assisi gestellt. Die Priester der neuen Kirche waren Franziskanermönche. Sie liefen oder fuhren auf Damenrädern durch die Straßen, in ihren braunen Kutten mit der großen Kapuze und dem weißen Gürtel, der wie ein Seil aussah. Sie sollten uns zu braven Katholiken erziehen. Die Kirche ist jetzt ein Jahrhundert alt. Gläubige verlaufen sich kaum noch dorthin, aber sie steht unter Denkmalschutz. Hin und wieder finden Orgelkonzerte statt, einen festangestellten Pfarrer gibt es schon seit Ende der siebziger Jahre nicht mehr.
Zwischen 1914 und 1919 war erst einmal Schluss mit den Seehelden und den ihnen zugedachten Straßen. Die Niederlande waren damals neutral, weil die deutsche Heeresleitung der Meinung war, für eine schnelle Offensive lohne sich der Durchmarsch nicht, man könne sich die unvermeidlichen Kosten und Scherereien der Besetzung eines ganzen Landes sparen. 1940 war das Oberkommando der Wehrmacht anderer Ansicht, wir wurden besetzt. Während des Krieges von 1914 ruhte der Wohnungsbau, das Land war von seinen Kolonien abgeschnitten, der Überseehandel kam zum Erliegen und die Leute hatten immer weniger zu essen. 1918 war die europäische Bevölkerung größtenteils unterernährt. Viele starben an einer Grippewelle, die »Spanische Grippe« hieß. Sie kam in den Erzählungen der Eltern und Großeltern oft vor. Weltweit sind mehrere Millionen Menschen an der Krankheit gestorben. Die Veerkamps väterlicher- und die Graeffs mütterlicherseits wurden zwar mehrheitlich krank, überlebten aber.
1919 wurde der Volkswohnungsbau wieder aufgenommen. Die ersten Häuserreihen waren monoton, ohne Schnörkel. Einige Jahre später setzte sich überall in den niederländischen Großstädten die sozialdemokratische Wohnungsbauphilosophie durch. Arbeiter sollten nicht länger in Mietskasernen untergebracht werden; stattdessen sollten Türmchen, dreieckige Balkönchen, schräg vorgesetzte Mauerziegel, runde Fensterchen und Ähnliches sie daran erinnern, dass sie nicht weniger als die Fabrikherren Menschen waren. Die Wohnungen in unserem Viertel hatten fast alle Balkons. Sie lagen an der Rückseite der Wohnungen, die Blocks umschlossen kleine Gärten. Wir nannten den Balkon Veranda. Die Innenausstattung blieb dagegen unterster Standard. Die Arbeiter sollten zwar schwitzen, aber zu baden oder zu duschen brauchten sie nicht. Wir mussten uns in der Küche waschen, denn dort war der einzige Wasserhahn der Wohnung. Sauber wurden wir trotzdem, aber die Prozedur war umständlich. Wasser wurde heiß gemacht, in eine Zinkwanne gefüllt und mit Kernseife Marke Sunlight versetzt, dann wusch man sich von oben bis unten. Unterwäsche, Socken und Oberhemd wurden gewechselt. Dafür war der Samstagnachmittag vorgesehen. Erst zehn Jahre nach dem Krieg fingen die Leute an, selber Duschzellen in ihre Wohnungen einzubauen. Unsere Mutter wollte das auch, aber meinem Vater war es zu viel Arbeit. Es blieb beim Wasserhahn, freilich ließ sich der Vermieter dazu überreden, einen Warmwasserspeicher von zwanzig Litern anzubringen.
Waschmaschinen gab es nicht. Am Sonntagabend wurde die Wäsche in einem Zinkbottich eingeweicht. Auch Waschpulver gab es damals noch nicht, als Waschmittel diente Schmierseife. Sie sah nach Sirup aus. Ich musste diese sirupähnliche braune Flüssigkeit unbedingt probieren. Die Mutter bekam einen Lachanfall, als ich mit Schaum vor dem Mund losschrie: »Ich sterbe!« Sie ließ mich den Mund mit viel Wasser ausspülen und so entkam ich dem schmählichen Tod. Die Wäsche wurde auf dem Gasherd gekocht, in der Spüle auf eine moderate Temperatur gebracht, anschließend auf einem Brett mit gewelltem Zinkblech geschrubbt, mehrmals gespült, mit einer Kaltmangel halbwegs trocken gequetscht und aufgehängt. Für unsere Mutter war der Montag ein langer und harter Arbeitstag. Im Herbst und Winter wurde die Wäsche draußen selten trocken. Sie wurde auf Gestellen in der Küche getrocknet. Dienstags und mittwochs wurde gebügelt und kaputte Kleidung repariert. Der Lohn, den der Vater nach Hause brachte, reichte fürs Essen, für die Miete und für unabdingbare Ersparnisse, damit hin und wieder neue Schuhe und neue Oberbekleidung gekauft werden konnten. Alles andere wurde geflickt, bis die Sachen auseinanderfielen; auch dann landeten sie nicht im Müll, sondern dienten noch als Putzlappen. Die jüngeren Kinder trugen, was für die älteren zu klein geworden war. Oft wurden die Kleidungsstücke gewendet; die Innenseite kam nach außen, die abgeschabte Außenseite nach innen.
So wie wir lebten in unserem Viertel alle, die Menschen waren sich wirklich gleich, sie beklagten sich selten und waren froh, dass zumindest die Hungerzeiten während des Krieges vorbei waren. In Krisenzeiten wie den dreißiger Jahren reichte die Arbeitslosenunterstützung nicht einmal für das Notwendigste. Im April 1938, als die jüngsten Brüder, Zwillinge, geboren wurden, mussten die Eltern ihre goldenen Eheringe versetzen, um zahlungsfähig zu bleiben. Bankkonten hatte damals niemand, Kredite gab es nicht, allenfalls konnte man beim Bäcker, Fleischer, Kolonialwarenhändler anschreiben lassen. Solche kleinen Privatkredite mussten schnell getilgt werden, sonst wurde man nicht mehr bedient. Die Mutter schaffte es trotzdem, ohne anschreiben auszukommen. »Schulden macht man nicht«, erklärte sie. Der Vater griff manchmal zu unorthodoxen Mitteln. Er brauchte in den dreißiger Jahren, als er und hunderttausende andere arbeitslos waren und von elf Gulden in der Woche leben mussten, dringend Schuhe. Die alten waren so verschlissen, dass nicht mal der geniale Schuster in der Bestevâerstraat, der noch aus den schlimmsten Schuhruinen etwas Brauchbares machte, sie reparieren konnte. Geld für neue war nicht da. Als er mit der Mutter in der Kalverstraat – einer stark frequentierten Einkaufsstraße in der Nähe des Palastes – in einem Schuhgeschäft war, ließ er sich viele Paare zeigen, probierte sie an, gab sie zurück. Der arme Verkäufer verlor die Übersicht. Als die zwei den Laden verließen, sagte der Vater zur Mutter: »Lauf«, nahm sie an der Hand und rannte. »Was ist los?«, fragte sie nach hundert Metern atemlos. »Ich habe die neuen Schuhe an«, sagte er, »die alten habe ich in den Schuhkarton gesteckt.« – »Eines Tages landest du im Gefängnis«, sagte sie. Diese Geschichte erzählte sie mir erst Anfang der achtziger Jahre, als der Vater schon einige Jahre tot war. »Davon höre ich zum ersten Mal«, sagte ich. »Das war auch keine Geschichte für kleine Ohren«, erklärte sie.
Unser Haus wurde 1920 errichtet, hochgemauert mit dunkelroten Ziegelsteinen, die im Laufe der Jahre fast schwarz wurden. Die Wohnung galt als geräumig, etwa 55 Quadratmeter. Es gab eine »gute Stube«, von der Mutter spöttisch Salon genannt, das elterliche Schlafzimmer, zwei kleine Zimmerchen für je zwei Kinder, eine winzige Toilette und eine recht große Küche. In der Wohnung waren drei Kohleöfen, die mit Koks und später mit Anthrazitkohle geheizt wurden, einer stand im Salon, der andere im elterlichen Schlafzimmer und der dritte in der Küche. Der Salonofen war nur am Wochenende in Betrieb, das Schlafzimmer blieb lustfeindlich unbeheizt, das eigentliche Leben fand in der Küche statt. Nach der Geburt der Zwillinge zogen wir in den ersten Stock. Die Wohnung erreichte man über eine schmale und steile Treppe, die vor der Wohnungstür eine Kurve machte. Für die Mutter war es eine Tortur, erst den Zwillingskinderwagen um die Kurve hinunterzutragen, dann wieder hochzulaufen, um das eine Kind zu holen und unten in den Wagen zu packen, dann die gleiche Prozedur mit dem anderen Kind. Nach dem Einkaufen oder dem Gang zum Arzt das umgekehrte Verfahren: erst die Kinder hochbringen, dann die Einkäufe und schließlich den Wagen, Schwerarbeit für Frauen in Mietshäusern ohne Aufzug. Später in Berlin blieb der Kinderwagen meist unten, in Amsterdam ging das nicht, es gab keine geräumigen Hausflure.
Das Haus stand in einem Viertel der kleinen Leute– Arbeiter, kleine Angestellte. Die Entkirchlichung war noch nicht weit fortgeschritten, aber die Zahl der Menschen, die mit den Kirchen nichts zu tun haben wollten, lag in unserem Viertel über dem Durchschnitt. Trotzdem war die Mehrheit entweder katholisch oder protestantisch, sie hatten vor dem Krieg nicht viel miteinander zu tun. Katholiken waren in Amsterdam eine Minderheit, betrachteten sich aber als den besseren Teil der Menschheit: Sie gehörten zur einzig wahren, von Jesus Christus gegründeten und von Petrus als dem ersten Papst regierten Kirche. Protestantische Kirchen waren in ihren Augen keine, so verkündete es noch Herr Ratzinger, Papst von 2005 bis 2013. Protestantische Kinder gingen in »Schulen mit der Bibel«, Katholiken in katholische; Rote und solche, die nach Meinung der Christen eben »niks« waren, schickten ihre Kinder in staatliche Schulen. Liberale gab es in unserem Viertel wenig, Rote umso mehr. Die Mutter mochte die Protestanten nicht. Rote auch nicht, aber da musste sie vorsichtig sein. Ihr Mann, unser Vater, war ein Roter. Er wollte mit der Kirche nichts mehr zu tun haben, sie sei »Lakai des Kapitals«; der katholischen Mutter seiner Kinder legte er freilich keine Steine in den Weg. So praktizierten wir in unserer sechsköpfigen Familie unsere eigene Version des Westfälischen Religionsfriedens: cuius regio illius et religio, wem das Land gehört, der bestimmt auch die Konfession. Auf der Baustelle durfte der Vater Kommunist sein, zu Hause regierte die Mutter, die Familie war ihre regio, sie bestimmte ihre religio.
Jeden Morgen strampelten hunderte Menschen auf ihren Fahrrädern auf der südlichen Straßenseite des Admiraal de Ruijterwegs ihrer Arbeit in der Stadt entgegen, gegen sechs Uhr abends kamen sie auf der nördlichen wieder zurück. Kurz darauf war die Straße wie ausgestorben, dann saß ganz Amsterdam, wie man sagte, »hinter den Kartoffeln«. Kantinen, die warme Mahlzeiten anboten, gab es in keinem Betrieb. Nach halb sieben nahm der Verkehr wieder zu.
In dieser langen, völlig baumlosen Straße wohnten mehrheitlich Arbeiter wie wir. In Wahlkampfzeiten demonstrierten sie ihr Klassenbewusstsein; während der Wahlkämpfe kurz nach dem Krieg waren die Häuserwände fast einfarbig rot: Liste 2 Sozialdemokraten, Liste 6 Kommunisten. Bei Wahlen zum Stadtparlament das gleiche Bild. Aber hier hieß es: Liste 1 Sozialdemokraten, Liste 2 Kommunisten. Der jeweilige Klerus machte sich in den Gemeinden für eine katholische bzw. drei protestantische Parteien stark; vor allem bei den Katholiken waren die Predigten in der heißen Phase des Wahlkampfs kaum mehr als Propaganda für die Katholische Volkspartei. Die Mutter verbat sich Wahlpropaganda in jeder Form, der Vater verbot meinem jüngsten Bruder Jan, Fan von Fahnen jedweder Art, das Aushängen der Nationalfahne. Unsere Fenster blieben auch in Wahlkampfzeiten und an den Geburtstagen der Mitglieder des Königshauses schmucklos. Selbst am 5. Mai, dem Tag, an dem die Befreiung vom deutschen Faschismus gefeiert wurde und fast jede Familie Flagge zeigte, blieb er eisern; die einzige Fahne, die er aushängen würde, wäre die rote Fahne am 1. Mai. Das wiederum untersagte die Mutter.
Der Erste Weltkrieg war für die Niederlande eine sorgenvolle Zeit, aber kein tiefer Einschnitt wie in Deutschland. Es gab 1918 ein leises Echo der mittel- und osteuropäischen Revolutionen, der Sozialdemokrat Troelstra hielt im Herbst 1918 lautstark revolutionäre Reden, eine Abspaltung der sozialdemokratischen Partei nannte sich jetzt CPH, Communistische Parteij Holland, deren Führung aus Linksintellektuellen bestand und außerhalb weniger tiefroter Inseln wie Amsterdam kaum Einfluss auf die Arbeiter hatte. Die eigentliche Partei der niederländischen Arbeiterklasse blieb die Sozialdemokratie. Der Vater hatte seine Ausbildung zum Büroangestellten um 1916 abgebrochen und vertrieb sich die Zeit mit dem Verkauf von gebrauchten Fahrradreifen vor allem auf Baustellen, einer Mangelware wegen des fehlenden Kautschuknachschubs aus den niederländischen Kolonien. Nach 1918 ging sein Reifengeschäft rapide zurück und er begann eine Lehre im Bauhandwerk, er wurde Stuckateur, ein Beruf, der heute so gut wie ausgestorben ist, seit Beton die Kalksteinwände ersetzt. Fachleute, die in den alten Grachtenhäusern die Stuckplafonds mit ihren vielen Schnörkeln restaurieren können, gibt es kaum noch. Bauarbeiter blieb er bis zu seiner Verrentung 1967.
Der Bau war »rot«, und man erzählte ihm, wie die Arbeiter vom Kapital ausgebeutet, von Monarchie und Kirche betrogen wurden. Zur Schande seiner sehr katholischen Familie brach er den Kontakt zur Kirche ab. Seine Brüder setzten ihm zu, und bis tief in die fünfziger Jahre kam es bei den zahlreichen Geburtstagsfeiern der Veerkamp’schen Großfamilie regelmäßig zu heftigen Auseinandersetzungen. Pack schlug sich, Pack vertrug sich, hin und wieder sprachen ein Onkel oder eine Tante ein halbes Jahr nicht mit unseren Eltern und ihrer Kommunistenbrut, dann wurden wir wieder in Gnade angenommen. Die einzige Unterstützung, die mein Vater erhielt, kam vom Mann der Schwester meiner Mutter, Onkel Gerrit, Mitglied der kommunistischen Partei. Er war schwerhörig, nahm an den Auseinandersetzungen kaum teil. Einmal trank er in einem Zug sein Glas aus, setzte es laut auf den Tisch und sagte: »Stalin wird euch alle Mores lehren.« Die Emotionen flackerten noch einmal heftig auf, als im Oktober 1956 die Rote Armee das rebellische Budapest besetzte, danach machten sie schnell anderen Streitereien Platz. Die Großmutter – große Oma, um sie von der anderen Großmutter zu unterscheiden – sagte regelmäßig zu unserem Vater: »Wie kann Gott es zulassen, dass ich auf meine alten Tage mit einem solch gottlosen Kind bestraft werde.« An ihrem Sterbebett bedrängten die Geschwister – darunter zwei Nonnen – den Vater, seiner Mutter feierlich die Rückkehr in den Schoß der allein seligmachenden Kirche zu versprechen. Er hatte Tränen in den Augen und blieb standhaft: »Ich kann nicht etwas versprechen, woran ich nicht glaube.« Unsere Mutter hielt die ganzen Bekehrungsversuche für widerliche Erpressung. Sie stand zu ihrem Mann und nicht zur katholischen Verwandtschaft. »Heuchler«, sagte sie.
Die Mutter war das jüngste Kind einer ziemlich armen katholischen Familie. Sie war die Prinzessin und sollte eines Tages etwas Besseres werden. Die normale Karriere eines Mädchens aus der Unterschicht war Näherin, Wäscherin, Dienstmädchen. Fabrikarbeiterinnen gab es damals kaum; den Niederlanden stand Anfang des 20. Jahrhunderts die großindustrielle Entwicklung noch bevor. Der Kleinbetrieb mit wenigen männlichen Arbeitern und Angestellten war die Normalform. Der mittelständische, durchweg fromm katholische oder fromm reformierte Unternehmer hieß Baas oder Patron, die Verhältnisse waren patriarchalisch. Als sie ihre sechs Grundschuljahre absolviert hatte, wurde die Mutter bei einer Großwäscherei angestellt. Nach dem Krieg 1914–18 landete sie als kaufmännische Angestellte in einem kleinen Verlag. Ihre Kolleginnen waren alle im gleichen Alter. Das war ihre große Zeit.
Die zweite Hälfte der zwanziger Jahre war eine Periode, in der »es« gut ging. »Es« heißt, man hatte Arbeit, bekam dafür relativ anständiges Geld. Die Verlobung der Eltern dauerte vier Jahre, von 1927 bis 1931. In dieser Zeit musste alles, was ein Haushalt braucht, erspart und angeschafft werden, Ratenkredite gab es nicht. Was sie damals kauften, war gediegen, so gediegen, dass einige Möbelstücke bis heute überlebt haben. Arbeiterhaushalte, die um diese Zeit gegründet wurden, sahen kleinbürgerlich aus.
Vermeldenswert ist ein Vorfall, der sich kurz vor dem Tod des Großvaters mütterlicherseits ereignete. Mein Großvater konnte 1930, etwas mehr als ein Jahr vor seinem Tod, nicht mehr arbeiten, die Gesundheit des knapp Einundsiebzigjährigen war ruiniert. Ein Leben lang hatte er Polster erneuert, Teppiche repariert. Möbel und Teppiche mussten per Handkarren zu den Kunden gebracht und dort über die halsbrecherisch steilen Treppen der Amsterdamer Häuser hochgeschleppt werden. So etwas wie eine existenzsichernde Altersrente gab es damals nicht, er und seine Frau waren auf die Unterstützung der Kinder angewiesen. Die drei Söhne hatten gerade geheiratet und mussten für ihre eigenen Familien sorgen. Die Schwester meiner Mutter, Tante Annie, blieb zu Hause, um sich um die Eltern zu kümmern; mit Näharbeiten verdiente sie selbst kaum genug, um leben zu können. Nur unsere Mutter trug einen Teil ihres Verdienstes ab. Onkel Thijs, der älteste Sohn, ging zum Baas des alten Graeff und fragte, ob der nicht etwas für seinen ehemaligen Angestellten tun könne, er habe mehr als fünfundvierzig Jahre hart für ihn gearbeitet. Der Baas lehnte ab: »Ich habe ihm fünfundvierzig Jahre lang zu fressen gegeben!« Dass er mit seiner Knochenarbeit fünfundvierzig Jahre lang zum Reichtum des Baas beigetragen hatte, spielte keine Rolle. Diese kleine Anekdote lehrte mich mehr als mancher Kapital-Kurs angehender Marxisten der siebziger Jahre.
Als meine Mutter ihrem Vater ihren Verlobten vorstellte, fragte dieser ihn: »Womit verdienen Sie Ihr Brot?« – »Ich arbeite auf dem Bau«. Er kommentierte: »Alles Gesindel.« Der Großvater, Antonius Graeff, war Möbelpolsterer. Möbelpolsterer waren etwas Besseres als Bauarbeiter. Es gab unter den Arbeitern eine ausgeprägte Hierarchie der Berufe, Diamantarbeiter rangierten oben, Handwerker in der Mitte, Bau- und Hafenarbeiter unten. Unter den Bauarbeitern galten Stuckateure wieder etwas mehr als Maurer.
Am 8. Oktober 1931 heiratete der Stuckateur die jüngere Tochter des Möbelpolsterers, Marie. Mit der Eheschließung fand das eigenständige Leben der Marie Graeff ein abruptes Ende. Nach der Hochzeit musste sie ihre Stellung aufgeben, das verlangten damals nicht nur die christlichen Familienauffassungen. »Dann fingen die Sorgen an«, erzählte sie: Krise, Arbeitslosigkeit, die Geburt der vier Kinder. Ihre lustigen Geschichten aus Kindheit und Jugend endeten mit dem Hochzeitstag.
Bürgerliche Maßstäbe waren auch bei der Haushaltsführung proletarischer Familien normal. Die Frauen hatten oft eine Laufbahn als Dienstmädchen in großbürgerlichen Häusern hinter sich und übertrugen die Manieren der Arbeitgeber auf die eigene Familie. In den Arbeitervierteln herrschte eine Mischkultur aus proletarischem und kleinbürgerlichem Verhalten. Disziplin, Sauberkeit, Fleiß standen als benotete »Fächer« auf unseren Schulzeugnissen und sie spielten auch in den Familien eine wichtige Rolle. Dass Sauberkeit damals eine Haupttugend war, ist verständlich, weil es keine Waschmaschinen gab. Die Kleidung sollte auch beim Spielen so sauber wie irgend möglich bleiben. Die Löhne waren bis Mitte der fünfziger Jahre so niedrig, dass groschenweise gespart werden musste, um neue Kleidung anzuschaffen. Danach blieben sie niedrig, aber wir verließen nach und nach die Schule, gingen arbeiten und trugen einen Teil unseres Lohnes als Kostgeld ab. Niemand von uns kam auf die Idee, um die Höhe des Kostgelds zu feilschen. Die Eltern hatten für uns geschuftet, jetzt hatten wir die Pflicht, auch finanziell unsere Dankbarkeit zu zeigen. Diese Strukturen zerfielen erst Ende der sechziger Jahre.
Anfang der sechziger Jahre begannen die Reallöhne schnell zu steigen. Die Konsumgewohnheiten unserer Eltern änderten sich wenig. Darin unterschieden sie sich nicht von den Nachbarn. Die meisten Menschen in solchen Vierteln waren ziemlich immun gegen das, was man später Konsumterror nannte. Sie reisten kaum, gingen nie feudal essen, das Kino war das Äußerste des Ausgehluxus. Die Enkelkinder bekamen ihre Geschenke, darin waren sie nicht kleinlich, aber auch hier achteten sie darauf, nicht zu übertreiben. Sie lästerten über Leute, die Kindern riesige Spielzeugautos und anderen sinnlosen Schnickschnack schenkten. In den siebziger Jahren blieben die Mieten und die Kosten für Gesundheit relativ niedrig, Löhne und Sozialleistungen waren indiziert, sie erhöhten sich automatisch um die Inflationsrate. Wer bescheiden lebte, konnte mit der Altersrente auskommen. Der Vater hörte mit 65 auf, fand aber eine Halbtagsbeschäftigung, ausgerechnet beim Verband niederländischer Banken, als Aushilfe beim Pförtner. »Ich kann mich doch nicht hinter die Geranien setzen« (in unserem Viertel standen fast überall auf dem Fensterbrett Geranien). Der Verdienst war nicht üppig, aber zum ersten Mal in seinem Leben blieb Geld übrig, es kam auf ein Sparkonto, das langsam, aber stetig wuchs. Anfang der siebziger Jahre sagte er mir: »Wofür wir gekämpft haben, das haben wir erreicht.«
Die kurze gute Zeit der zwanziger Jahre ging vorbei, die harten Jahre begannen. Mein Vater sollte bald lernen, dass man unter den herrschenden Umständen im Baugewerbe sehr schnell seine Arbeit und das notwendige »Stück Brot« verlieren konnte. Die Arbeitslosenhilfe – Steun (Stütze) – war zum Sterben zu viel, zum Leben zu wenig. Die damals schon unsinnige Sparpolitik tat ein Übriges, die Probleme unlösbar zu machen: Je weniger die Menschen kaufen konnten, umso weniger fanden sich Leute, die etwas produzieren wollten, da sie ihre Produkte nicht absetzen konnten. Man schlug sich durch, so gut oder schlecht es ging Der Vater schaffte es immer, sich krankschreiben zu lassen, wenn das Arbeitsamt ihn in irgendeine Arbeitsbeschaffungsmaßnahme abzuschieben drohte. Diese Maßnahme hieß DUW, Dienst für die Ausführung öffentlicher Arbeiten. Das Schlimmste war die Arbeit in den neuen Poldern der ehemaligen Zuiderzee, jetzt IJsselmeer. Die Leute mussten Entwässerungsgräben ausheben; die Grabmaschine war die menschliche Hand und der Spaten. Die Entlohnung lag kaum über der Steun; da die Arbeiter während der Woche in Baracken wohnen mussten, wurde das Verpflegungsgeld vom Wochenlohn abgezogen. Was sie nach Hause brachten, reichte nicht mal für Miete und Essen. Der Vater empfand es als grobes Unrecht, für einen Hungerlohn im DUW schuften zu müssen. »Die sollten dafür sorgen, dass die Menschen anständige Arbeit haben«, meinte er, er sei weder faul noch arbeitsscheu, Arbeitslosigkeit sei nicht seine Schuld.
Wir wurden in den Krisenjahren geboren, aber keiner von uns hat Erinnerungen an diese Zeit ständiger Sorgen. Als ich in der ersten Klasse war, im Mai 1941, verschwand der Vater, tauchte nur ab und zu auf, mehr ein Gast als ein Vater. Die Bautätigkeit war zum Erliegen gekommen, die Arbeitslosenunterstützung wurde zurückgefahren. Arbeit gab es genug … in Deutschland. Millionen deutscher Männer waren in Europa und Nordafrika unterwegs, um für Deutschland die Welt zu erobern. Die Arbeit, die sie vorher hatten, mussten jetzt andere machen. Die Deutschen waren überall in Europa, und ganz Europa arbeitete in Deutschland. Auch die meisten Kollegen vom Bau waren gezwungen, in Deutschland zu arbeiten. Aber es existierte eine Alternative: In Frankreich gab es noch Bautätigkeit und vor allem gab es dort keinen Bombenkrieg. Also meldete der Vater sich freiwillig zur Arbeit in Frankreich. Er fand Arbeit im Norden, Cambrai, Amiens und Abbeville an der Küste des Ärmelkanals. Dort war er von Herbst 1941 bis Juni 1944. Die Deutschen suchten jemanden, der in der Großküche einer Kaserne kochen konnte. Er meldete sich, obwohl er meiner Mutter zufolge nicht mal ein Ei braten konnte. Er schaffte es, mit der Kontrolle der Warenlieferungen beauftragt zu werden, ohne seine nicht existenten Kochkünste vorführen zu müssen. Mein Vater witterte seine Chance. Da alle korrupt waren, verschoben alle Lebensmittel, die Deutschen ebenso wie mein Vater. Er ließ sich aber alles von Offizieren abzeichnen. Das war seine Lebensversicherung. Als er erwischt wurde, sagte der Offizier, der die Sache untersuchen musste: »Du kommst ins KZ.« Mein Vater antwortete: »Und du kommst an die Ostfront.« Vor der Ostfront und den Russen hatten die Deutschen eine Höllenangst. Die Sache wurde unter den Teppich gekehrt.
Die Großeltern väterlicherseits meinten, meine Mutter hätte ihm verbieten sollen, nach Frankreich zu gehen; sie sei selbst daran schuld, ohne Mann vier Kinder durchbringen zu müssen. Die Mutter erklärte mir später: »Er war kein Mann, der sich etwas verbieten ließ, auch nicht von mir; er wollte weg, also ging er weg.« Sie blieb mit vier kleinen Kindern zurück. Das hat sie ihm nie verziehen. Nach seinem Tod urteilte sie milder: »Er war eben kein Mann für ständig kranke kleine Kinder.« Sie war auch keine Frau für ständig kranke kleine Kinder, aber sie musste es sein. Sie hat uns alle vier durchgebracht – allein.
Im Sommer 1944 verschwand mein Vater, ohne eine Spur zu hinterlassen. Die letzte Nachricht kam Anfang Juni 1944, danach bis Ende Mai 1945 kein Wort. Lebte er noch? Wo war er? Wir wussten es nicht. Wir hatten uns längst an seine Abwesenheit gewöhnt. Später erfuhren wir, dass nach einem schnellen Vorstoß der Alliierten Abbeville unter alliierte Kontrolle geraten war. Die Nichtdeutschen wurden zunächst interniert und von Geheimdienstleuten verhört. Stellte man fest, dass die Internierten »sauber« waren, transportierte man sie nach England, wo sie zum Militärdienst eingezogen wurden. Der Vater hatte Glück, er war 42 Jahre alt, Frontdienst mussten nur Männer bis zum vierzigsten Lebensjahr leisten. Nach der Grundausbildung in Schottland kam er in eine große Kaserne in der Stadt Wolverhampton. Dort wurde er angelernt, um im großen Kinosaal Filme vorzuführen, Instruktionsfilme für das Militär, aber auch Hollywoodfilme. Es war für ihn kein schlechtes Leben, ohne viel Verantwortung und bei guter Verpflegung. Samstags ging er ins Stadion, um sich die Spiele der Wolverhampton Wanderers in der ersten britischen Liga anzuschauen. Sein gutes Leben in England fiel in die Zeit, in der seine Familie mit dem Hungertod kämpfte. Deshalb erzählte er zunächst so gut wie nichts. Sobald er davon anfing, unterbrach ihn meine Mutter: »Du hattest es gut und wir waren am Verrecken.« Als ihr Gerüchte über Weibergeschichten in Frankreich zugetragen wurden, wollte sie ihn nicht mehr ins Haus lassen. Aber die Nachkriegszeit war eine sorgenvolle Zeit, und Arbeit gab es damals schon gar nicht für Frauen. Wer sollte uns ernähren, wenn nicht er? Als er im Juni 1945 in seiner Uniform vor der Tür stand, ließ sie ihn herein.
Der Kindergarten wurde in Amsterdam Fröbelschool genannt, nach Friedrich Fröbel (1782–1852), der sich fortschrittliche Gedanken über Kindererziehung gemacht hatte. Die Fröbelschool in der Gibraltarstraat bot Spiel, Unterricht in allerlei Fertigkeiten, aber alles lief ab wie in einer Kaserne. Die Pausen auf dem Schulhof glichen dem Hofgang eines altmodischen Gefängnisses. Während der Aktivitäten war Sprechen nicht erlaubt, es war auch nicht statthaft, sich ohne Erlaubnis von seinem Platz zu entfernen. Ohrfeigen der Erzieherinnen waren an der Tagesordnung, Protest der Eltern dagegen gab es nicht.
Am Freitag, dem 10. Mai 1940, kam Ferry de Jong mit einem Holzschwert und einem aus Zeitungspapier gefalteten Hut auf den Schulhof und rief: »Hurra, es ist Krieg, es lebe die Königin.« Da er der stärkste Junge unserer Gruppe war, machte das großen Eindruck. »Meine Mutter hat geweint«, sagte ich. Ferry: »Meine Mutter weint nie. Mein Vater wird Soldat!« Es war ein strahlend schöner Maitag, Pfingsten war früh in diesem Jahr. Am ersten Tag des Krieges wurde Schiphol, der Flughafen bei Amsterdam, bombardiert. Der Vater kletterte aufs Dach unseres Hauses, um die Flugzeuge und die kleinen Wölkchen der explodierenden Flakgranaten zu bewundern. Die Mutter schrie ihn an: »Hast du keinen Verstand im Kopf? Meinst du, dass das ein Spiel ist? Es ist Krieg, kein Feuerwerk, denk an die Kinder!« – »Kann doch nichts passieren«, sagte der Vater. »Hast du das schriftlich? Du gehst nicht mehr nach oben, wenn Fliegeralarm ist.« Die niederländische Luftwaffe wurde schon am ersten Tag außer Gefecht gesetzt. Ein deutsches Flugzeug stürzte ab und zerstörte ein Haus am Blauwburgwal. Tote und Verletzte. Über unserer Straße trieb eine riesige pechschwarze Wolke am leuchtend blauen Maihimmel; sämtliche Öltanks im Hafen brannten. Es war kein Spiel, kein Feuerwerk. Und die Mutter ahnte, was kommen sollte. Drei Tage später legte die deutsche Luftwaffe die ganze Innenstadt Rotterdams in Schutt und Asche – nicht den Hafen, der wurde ja noch gebraucht. So ließen sie die niederländische Regierung wissen, dass es ihnen ernst war; alle Großstädte kämen nach und nach an die Reihe, wenn nicht kapituliert würde, Utrecht am 14., Amsterdam am 15., Den Haag am 16. Mai. Nach Rotterdam wusste die Regierung, dass es sich nicht um leere Drohungen handelte. Am Nachmittag des 14. Mai setzten sich die königliche Familie und die Regierung nach London ab, am Abend streckten die niederländischen Streitkräfte die Waffen. Das Sagen in den Niederlanden hatte für die kommenden fünf Jahre ein österreichischer Faschist, Arthur Seyß-Inquart, Hitlers Statthalter.
Im September 1940 kam ich in die Schule. Es war ein Neubau aus den dreißiger Jahren, alles war freundlich und hell. Bis 1942 blieben wir in dieser Schule, dann kamen die Deutschen und requirierten sie. An die Wand des Turnsaals malten sie einen großen Raubvogel mit einem um ein Hakenkreuz geflochtenen Kranz in seinen Klauen. Unter diesem Aasgeier irgendein Spruch mit komischen Buchstaben, Frakturschrift. Unsere Klasse pilgerte unterdessen durch den Westteil der Stadt. In wechselnden Schulgebäuden an wechselnden Ecken des Viertels hatten wir schichtweise morgens von acht bis eins oder nachmittags von eins bis sechs Unterricht. Vor dem Krieg ging die Schule in Amsterdam von neun bis halb eins und von zwei bis vier. Zwischendurch gingen wir zum Mittagbrot nach Hause; die warme Mahlzeit gab es um sechs. Jetzt musste ich vor acht los; um halb zwei war ich zu Hause. Inzwischen war der ältere Bruder um halb eins aufgebrochen. Die Zwillinge mussten um neun in die Fröbelschool gebracht und um zwölf abgeholt werden, die gleiche Tour noch einmal am Nachmittag. Das Chaos war komplett, die Mutter schimpfte, wie sie das alles allein organisieren sollte. An allem seien diese rot Moffen (Scheißdeutschen) schuld. In ganz Europa ging es den Müttern nicht viel anders, die Männer waren unterwegs zum Töten oder Getötet-Werden, die Frauen hielten die Familien zusammen. In den Niederlanden mussten sie zumindest nicht in die Fabrik, um den Männern das Mordwerkzeug herzustellen, mit dem sie andere Männer, Frauen und Kinder töten sollten.
Der Vater schickte uns Lebensmittel. Eines Tages klingelte es, vor der Tür stand ein deutscher Soldat mit einem großen Paket. Wenn deutsche Soldaten irgendwo klingelten, bedeutete das Unannehmlichkeiten. »Hier, für Mutter, vom Vater«, sagte er. »Moeder niet da« – ich meinte, das sei deutsch genug, um verständlich zu sein. Daraufhin wollte er hinein, um seine Ware abzuliefern. Ich ließ ihn aber vor der Tür stehen: »Ik haal moeder!« Er setzte sich auf die Treppe, und ich rannte los zur Drogerie Ebeling am Bos en Lommerweg. Ich rief: »Mutter, ein deutscher Soldat für Sie!« In Holland sagten die Kinder zu ihren Eltern immer »Sie« und niemals »du«. Der Laden war voller Leute, die wir und die uns kannten. Meine Mutter wurde kreidebleich. Auf dem Weg sagte sie mir: »Du darfst nicht so laut sein; alle haben es gehört, jetzt denken sie schlecht über mich.« Begriffen habe ich das damals nicht. Später wusste ich: Wenn die Menschen vermuteten, dass eine holländische Frau eine Beziehung mit einem deutschen Soldaten hatte, dann war sie eine Moffenhoer, eine Hure für die Deutschen. Nach dem Krieg wurde Rache genommen. Die angeblichen Moffenhoeren wurden nach der Befreiung im Mai 1945 kahlgeschoren und der Schädel mit roter Mennige angestrichen. Das Zeug konnte man kaum entfernen, die Frauen mussten auch bei großer Hitze ein Kopftuch tragen. Die Angst der Mutter war berechtigt. Im Treppenhaus trafen wir den Soldaten, der höflich seine Ware ablieferte, Grüße bestellte und sich mit Handschlag verabschiedete. In normalen Zeiten hätte man ihn zu einer Tasse Kaffee eingeladen. Aber es gab weder Tee noch Kaffee und die Zeiten waren nicht normal. Man verkehrte nicht mit Deutschen, erst recht nicht mit deutschen Soldaten. Im Paket waren ein Sack Bohnen und ein riesiger geräucherter Schinken. Im Herbst 1943 war das ein Vermögen. Wir haben lange davon gezehrt.
An die ersten Jahre in der Schule habe ich keine schlechte Erinnerung. Im Allgemeinen kam ich mit den Lehrerinnen und Lehrern gut klar, die gelegentliche Ohrfeige nahm ich als unvermeidlichen Lohn für meine Geschwätzigkeit hin. Ich fand fast alles, was wir lernen mussten, interessant und ich war damals kein schlechter Schüler. Das Schönste aber war die Zeit nach der Schule, auf der Straße mit den anderen Kindern. Westlich vom Admiraal de Ruijterweg lag ein riesiges Gelände, das kurz vor dem Krieg baureif gemacht worden war. Amsterdam lag drei bis fünf Meter unter dem Meeresspiegel in einem Sumpf. Auf dem Sumpfboden wurde mit einer riesigen Druckleitung Sand aus der Nordsee aufgebracht. Es entstand einer Sandfläche, die nach und nach zuwuchs, weil die gesamte Bautätigkeit eingestellt wurde. Das war unser Revier. Hier fanden unsere großen Spiele statt, wir bildeten wüste Räuberbanden mit geheimen Verstecken, die von konkurrierenden Banden aufgespürt werden mussten. Man lernte alles Mögliche, vor allem fluchen. Ich war ein mageres Jungchen, anderen Kindern körperlich unterlegen. Aber meine starken Flüche machten Eindruck: Hinter einer so großen und groben Schnauze konnten nur unheimliche Kräfte stecken. Nur selten haben sie es gewagt, die Probe aufs Exempel zu machen. Hin und wieder wagte jemand es doch, dann bezog ich meist eine Tracht Prügel.
Auch Religion wurde unter uns Straßenjungen verhandelt. In unserem Block wohnten wenige Katholiken, viele Protestanten und Leute, die »niks« waren. Kees Hoede zum Beispiel war »niks«. Aber Kees Hoede hatte einen echten ledernen Fußball, Kees war aus diesem Grund unersetzlich. Wir fragten ihn, warum er »niks« war. »Gott gibt es nicht«, erklärte er. Das hielten wir für Blödsinn, wer habe das denn alles gemacht? Wir deuteten mit großen Armbewegungen die Weite des Universums an. »Was weiß ich, Gott ist Kinderkram, Märchen. Sagt meine Mutter.« Wir konnten ihn nicht überzeugen, genauso wenig wie er uns. Die Theologie wurde schnell abgehakt und wir spielten Fußball. Bolzplätze gab es genug.
Dennoch wurde mir die Religion zum Problem. Ein Junge aus meiner Klasse starb im Herbst 1943 an Diphtherie. Diese heimtückische Krankheit forderte vor allem unter Kindern viele Opfer. Der Junge hieß Harry Opmeer, ein nettes Kind, ruhig, zurückhaltend. Er trug eine Brille. Sein Vater war Fleischer, Mitglied der NSB, des niederländischen Ablegers der faschistischen NSDAP. Für uns war er ein Landesverräter. Die katholische Kirche hatte ihn exkommuniziert, das deutsche Neuheidentum, wie sie den deutschen Faschismus nannte, vertrage sich nicht mit dem katholischen Glauben. Harry, seine Geschwister und seine Mutter wurden nicht exkommuniziert. Harry starb und wurde während einer Messe, an der alle Klassen beider Schulen, der Jungen- und der Mädchenschule, teilnahmen, ausgesegnet. Wir defilierten an seinem offenen Sarg vorbei. Da lag er, kleine Leiche, ganz bleich, rote Flecken um seinen schmalen geschlossenen Mund, die kleinen Hände mit einem Rosenkranz zusammengebunden auf seiner Brust. Ich fand das sehr traurig. Ich erzählte meine Trauer zu Hause. Meine Tante Annie, die Schwester meiner Mutter, sagte: »Das ist die Strafe Gottes.« Ich sagte: »Harry hat nichts getan, warum ist nicht sein Vater gestorben?« Sie insistierte: »Gott straft die Eltern in ihren Kindern.« Einige Wochen später starb ein kleines Mädchen aus der Fröbelschool, in die auch meine jüngeren Brüder gingen. Sie hieß Greetje Bleekemolen. Der Vater war ein kleiner Milchbauer, versah in unserer Kirche das Amt eines Ordners. Er stand meistens zwischen den Reihen der Kirchenbänke und machte die Leute auf freie Plätze aufmerksam. Er hielt in seinen Händen einen Holzstab mit einem silbernen Kreuz. Um seine Schultern lag eine Stola aus rotem Plüsch, darauf mit goldenen Buchstaben: »Ehrfurcht im Haus Gottes«. Für uns war er ein echter, gottesfürchtiger Katholik. Seine Tochter starb an Diphtherie wie Harry Opmeer. Ich befragte meine Mutter: »Greetjes Vater ist kein NSBler; warum musste sie sterben?« Meine Mutter sagte: »Niemand weiß, warum Gott das macht. Hier kann man das nicht begreifen, später, im Himmel. Vielleicht.« Es war für mich das erste Mal, dass ein erwachsener Mensch zugab, so etwas Wichtiges wie den Tod eines Kindes nicht erklären zu können.
Die schlichte Theologie der Tante Annie zeigte sich auch bei der Beurteilung der Judenverfolgung in Amsterdam. Die Juden haben den Sohn Gottes ermordet, dafür haben sie in alle Ewigkeit zu zahlen. Diese grauenhafte Vorstellung der ewigen Blutschuld der Juden blieb auch nach dem Krieg Standardelement in den Predigten vieler Pfarrer aller christlichen Kirchen. Die Mutter mochte die Juden nicht, sie seien laut und frech, aber die Verfolgung durch niederländische und deutsche Faschisten empörte sie. Ihre Mutter, die kleine Oma, hatte Mitleid mit ihnen; als eine Nachbarin Zeugin einer großen Razzia wurde und davon erzählte, sagte die Oma: »Diese armen Schafe, die kommen nie wieder zurück.« Alle ahnten, dass die Juden nicht nur, wie die offizielle Sprachregelung es wollte, »in Polen arbeiten mussten«, sondern dass sie diese »Maßnahme« nicht überleben würden.
Im Frühjahr 1943 musste mein Vater während einer seiner seltenen Urlaubswochen wegen irgendeiner Angelegenheit zu einer Verwaltungsstelle im Judenviertel. Er nahm mich mit. Wir gerieten in eine Razzia, die Straßenbahn, in der wir fuhren, wurde auf einer Brücke angehalten, wir mussten aussteigen. Juden wurden aus ihren Häusern geholt und auf offene Laster getrieben, um zur Sammelstelle in einem bekannten Theater transportiert zu werden. Von dort wurden sie nachts zum Bahnhof gebracht, weil dann die Stadt menschenleer war; von zehn Uhr abends bis sechs Uhr morgens war Sperrstunde. Am nächsten Tag brachte man sie nach Westerbork im Osten des Landes, einem Durchgangslager. Von dort fuhr jede Woche ein großer Güterzug, mit dem die Menschen nach Auschwitz oder Sobibor verfrachtet wurden. Dort wurden sie vergast. Niemand von denen, die aus ihren Häusern geholt wurden, wusste es, aber alle ahnten, dass ihnen Böses bevorstand.
Wir sahen es, es gab ein großes Durcheinander, Familien wollten zusammenbleiben, Eltern riefen nach ihren Kindern. Bis heute habe ich die Farbe der Decken, die sie mitnehmen sollten, vor Augen: cremefarben mit orangem Muster. Deutsche schrien fluchend herum. Ein Polizist fragte den Vater nach seinem Personalausweis. Ich war im Ausweis meiner Mutter eingetragen. Mein Vater zeigte einen Pass vor. Der Polizist fragte: »Zu wem gehört der Junge?« – »Zu mir«, sagte mein Vater, »das ist mein Sohn.« Der Polizist war misstrauisch, er inspizierte den Pass, mein Vater erklärte ihm, warum ich im Ausweis seiner Frau eingetragen war, zeigte ihm eine schriftliche Aufforderung der Verwaltungsstelle. Nach einer Zeit, die vielleicht zehn Sekunden dauerte, ihm aber wie eine Ewigkeit vorkam, sagte der Polizist: »Gut, weitergehen.« Einige Amsterdamer haben damals offenbar versucht, zumindest das eine oder andere jüdische Kind vor dem Zugriff der Deutschen zu retten. Die Angst, die meinen Vater überfiel, war nicht unbegründet: Der Polizist, kein Deutscher, sondern ein Niederländer, hätte den Verdacht schöpften können, hier versuche jemand, ein Judenkind zu retten. Wir hatten Gründe genug, die Deutschen zu hassen, aber wir sollten nie vergessen, dass sie ihre Verbrechen ohne die Unterstützung niederländischer Behörden und niederländischer Polizisten nie hätten verüben können. Als wir mit der Straßenbahn nach Hause fuhren, sagte mein Vater: »Da haben wir noch mal Glück gehabt.« Ich verstand nicht, was er meinte. Später, lange nach dem Krieg, erklärte er mir, was auf dem Spiel gestanden hatte.
Die Vernichtung der jüdischen Menschen in den Niederlanden begann unmittelbar nach dem Beginn der Besetzung. Schon im Sommer 1940 gab es die ersten diskriminierenden Verordnungen. Schrittweise wurden die Juden aus dem öffentlichen Dienst gedrängt. 1941 verschärfte sich die Lage. Anfang Februar marschierten Trupps der holländischen SA, bei uns WA genannt, durch das Judenviertel in der östlichen Altstadt. Sie randalierten, drangen in Häuser jüdischer Familien ein, schlugen alles kurz und klein. Jüdische Jugendliche bildeten kleine Selbstschutztrupps; bei einer Auseinandersetzung kam ein WA-Mann, Ton Koot, zu Tode. Die faschistische Presse schäumte: Karikaturen blutsaugender Juden, Bilder, auf denen junge jüdische Männer aussahen wie bewaffnete Gangster, »Judenbrut«. Das Parteiorgan der niederländischen Nationalsozialisten Volk en Vaterland veröffentlichte einen Artikel, der so eingeleitet wurde: Juda hat die Maske abgeworfen. Ermordet? Nein, totgetreten mit sadistischer Wut. Zerschmettert unter den Lumpenpfoten eines nomadischen Volkes, das nie unser Blut hatte. Geschrieben von Niederländern, nicht von Deutschen.
Aber die Juden im Viertel um den großen Platz mit der katholischen Moses-und-Aaronkirche, den Waterlooplein, erfuhren dort viel Solidarität seitens nichtjüdischer Amsterdamer, genauso kleine Leute wie die Juden dort, kleine Kaufleute, Menschen, die auf Handkarren Waren aller Art anboten, Arbeiter. In dem Viertel in Amsterdam-Süd, wo die Straßen nach den großen Flüssen der Niederlande benannt sind, wohnten ebenfalls viele Juden. Zwei von ihnen, in den dreißiger Jahren aus Deutschland geflüchtet, betrieben in der Rijnstraat einen Eissalon. Er wurde gut besucht, von Juden und Nichtjuden. Die niederländischen Nazis provozierten die Kunden, andere nichtjüdische Niederländer ergriffen die Initiative, eine Selbstschutzgruppe zu bilden. Juden beteiligten sich nicht daran, rieten von solchen Maßnahmen ab: »Wir kennen die Deutschen besser als ihr«, sagten sie. Einer der Betreiber ließ sich dennoch überreden und installierte einen Druckbehälter aus Metall, gefüllt mit Ammoniakgas. Es gelang zunächst, die Nazis am Besuch des Salons zu hindern, bis ein deutscher Polizeitrupp das Geschäft betrat. Sie wurden mit Ammoniaknebel bespritzt, es wurde geschossen, Juden wurden verhaftet. »Es reicht«, schrieb die einschlägige Presse, »Schluss mit den jüdischen Frechheiten«. Inzwischen hatten die Deutschen das jüdische Viertel um den Waterlooplein hermetisch abgeriegelt und ein Ultimatum gestellt: Bis zum 19. Februar sollten die Juden ihre Waffen abliefern. Das Ultimatum wurde bis zum 21. Februar verlängert; es verstrich ohne Ergebnis: Es gab eben keine Waffen, allenfalls Eisenstangen, Beile, Küchenmesser. Dann geschah der Zwischenfall im Eissalon. Die Deutschen schickten am 23. Februar Truppen ins Viertel, nahmen vierhundert junge Männer fest. Sie kamen ins KZ Buchenwald. Einige von ihnen starben bald, aber der Großteil, etwa 380 Männer, überlebte und wurde ins KZ Mauthausen geschickt. Innerhalb einer Woche waren alle tot, zerschmettert in der berüchtigten Steingrube von Mauthausen.
In Amsterdam riefen die Bau- und Hafenarbeiter sowie die Beschäftigten der öffentlichen Verkehrsbetriebe am 25. und 26. Februar aus Protest gegen die Razzien im Judenviertel einen Solidaritätsstreik aus. Der Vater hatte damals noch Arbeit, kam an diesem Tag früh am Morgen nach Hause, wir waren noch nicht zur Schule aufgebrochen. »Was machst du denn hier?«, fragte die Mutter. »Wir haben die Arbeit hingeschmissen, wegen der Juden«, sagte er; er ging wieder weg, tauchte den ganzen Tag nicht auf, die Mutter hatte Todesangst. »Hoffentlich machen die« – die Kollegen meines Vaters und er selber – »keine Dummheiten.« Der Streik wurde blutig unterdrückt, viele wurden verhaftet, einige an die Wand gestellt, andere nach Deutschland verschleppt. Der Streik für die Juden war eine der ganz seltenen Protestaktionen gegen die Vernichtung der Juden in den besetzten Gebieten Europas. Der niederländische Bildhauer Mari Andriessen hat ein Monument für den Februarstreik geschaffen, einen mächtigen Mann aus Bronze, Symbol der Hafenarbeiter, die sich am Streik beteiligten. Jedes Jahr findet am 26. Februar am Jonas Daniël Meijerplein eine Gedenkfeier statt. Vor allem Linke nahmen und nehmen daran teil. In den Jahren des Kalten Krieges nach 1946 war diese Kundgebung als Kommunistenveranstaltung verschrien. Tatsächlich hatte sich die kommunistische Partei aus dem Untergrund für den Streik starkgemacht, und sie rief nach dem Krieg zur Teilnahme an der Gedenkveranstaltung auf, Grund genug für die christlichen und sonstigen Antikommunisten, davon abzuraten. Es gab – und gibt – vieles in den Niederlanden, für das man sich als Niederländer schämen muss.
Das Monument des Bildhauers Andriessen ist neben dem Anne-Frank-Haus an der Prinsengracht eine der wichtigsten Gedenkstätten Amsterdams. Von den 140.000 Juden in den Niederlanden wurden ungefähr 104.000 ermordet. Achtzig Prozent von ihnen lebten in Amsterdam. Die meisten wurden in den Vernichtungslagern Auschwitz (65.000) und Sobibor (30.000) vergast. Nach dem Krieg fand Amsterdam nie wieder zu seiner Vergangenheit zurück. Vor dem Krieg waren von 800.000 Einwohnern knapp 100.000 jüdischer Herkunft; sie prägten mit ihrem Humor und ihrer bildhaften Sprache das Flair der Stadt. Eine erste Welle jüdischer Einwanderung fand Ende des 16., Anfang des 17. Jahrhunderts statt, als die Juden aus Spanien und Portugal vertrieben wurden. Die Nachfahren dieser Menschen, sogenannte sephardische Juden, haben spanische und portugiesische Namen, Rodriguez, Da Costa, Spinoza (!) usw. Die zweite Einwanderungswelle geschah in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Diese Menschen kamen aus dem östlichen Mitteleuropa und aus Russland. Sie sprachen Jiddisch, eine Sprache, die sich aus einem mittelalterlichen süddeutschen Idiom entwickelte, angereichert mit vielen Wörtern hebräischen und aramäischen Ursprungs, dazu solchen aus dem slawischen Sprachraum. Viele jiddische Wörter fanden Eingang in die Umgangssprache der Amsterdamer. Wir benutzten sie, ohne zu wissen, dass sie jüdischen Ursprungs waren. Wir nannten unsere Stadt Mokum,von maqum, Ort, man nannte einen Amsterdamer Mokumer. Zum Entsetzen meiner Mutter begann ich das Amsterdamer Platt mit den vielen jiddischen Ausdrücken zu sprechen, was als unfein galt; ich übernahm es von meinen Schulkameraden. Diese Wörter waren in den Augen und Ohren der Eltern und Lehrer ungehörig, nicht weil sie jüdischen Ursprungs, sondern weil sie Unterschichtwörter waren. In der Schule wurden wir dazu angehalten, sie zu vermeiden. Ein unübersetzbares Wort ist Gein. Ursprünglich bedeutet das jiddische Wort chejn graziös, aber in Amsterdam kennzeichnet es die Lebensart der einfachen jüdischen Leute. Sie waren respektlos und fröhlich, lachten gern und sahen oft die komischen Seiten des Lebens. Die Amsterdamer hatten sich von diesem jüdischen Gein anstecken lassen und in den Niederlanden aus diesem Grund einen ganz besonderen Ruf. Mit der Vernichtung der Amsterdamer Juden haben die deutschen Faschisten der Stadt das Herz aus dem Leib gerissen.
Die Grausamkeit des Bombenkrieges ging größtenteils an Amsterdam vorbei. Nur der Norden der Stadt, wo die Flugzeugwerke von Fokker lagen, wurde getroffen. Im Frühsommer 1943 flogen die Briten von Westen an, versuchten die Fokker-Fabriken zu treffen, verfehlten das Ziel und zerstörten das angrenzende Wohnviertel. Es gab 200 Tote, an die tausend zum Teil schwer Verletzte. Die Menschen waren entsetzt, nicht über die Bombardements an sich, sondern darüber, dass die »Freunde«, ihre Verbündeten, sie nicht schonten. Als im Sommer 1943 die Alliierten besonders schwere Angriffe gegen Hamburg flogen, hörten wir den ganzen Tag die Flieger, die außer Reichweite der Flakgeschütze ihre weißen Wölkchen an den blauen Sommerhimmel malten. Kleine Oma, ein außergewöhnlich sanftmütiger Mensch, sagte über das Brummen Dutzender Flugzeugmotoren: »Himmlische Musik für meine Ohren.« Der Krieg ist nicht nur grausam, er macht alle Menschen grausam, auch die Sanftmütigen. Erst sehr viel später erfuhr ich, dass die Alliierten in Hamburg nicht nur die kriegswichtigen Hafenanlagen zerstörten, sondern auch – und vielleicht vor allem – möglichst viele Wohnviertel. Und Hamburg war nur eine unter den zahlreichen deutschen Großstädten, in denen die Menschen in den fürchterlichen Feuerwalzen erstickten und verkohlten. Die Lektion daraus ist: Wenn irgendein Mensch einem Kriegstreiber auf den Leim geht, muss er wissen, dass Krieg nie beherrschbar ist; einmal entfacht, kann ihn niemand zähmen, in Deutschland nicht, in Afghanistan nicht, in Syrien nicht, nirgends, niemals.
Die ersten Kriegsjahre waren in meiner Erinnerung glücklich. In unserem Viertel sahen wir keine Grausamkeiten. Die normalen deutschen Soldaten, die in unseren Schulgebäuden einquartiert waren, beachteten uns nicht, und wenn, waren sie meistens freundlich. Wir hatten gelernt, zwischen den verschiedenen deutschen Uniformen zu unterscheiden. Man hatte uns eingeschärft, nicht zu provozieren. An einer Ecke Admiraal de Ruijterweg/Bos en Lommerweg verhökerte ein NSBler sein Parteiblatt Volk en Vaderland. Ich hatte meine Hose in die Gummistiefel gesteckt, einen Fetzen Zeitung gefunden und rief an der gegenüberliegenden Ecke zur großen Freude der Passanten: Volk en Vaderland, Volk en Vaderland. Ich freute mich über meinen Erfolg. Auf einmal riss jemand mir mein Papier aus den Händen, gab mir eine Ohrfeige und brüllte: »Ab nach Hause!« Es war meine Mutter. Zu Hause schrie sie mich an: »Du willst uns wohl alle ins Unglück stürzen. Die NSBler verstehen keinen Spaß, sie bringen uns zu den Deutschen und die stecken uns in ein Konzentrationslager.« Das Wort Konzentrationslager war uns bekannt – es bedeutete einen Ort, wo man hinkam, um umgebracht zu werden. Es war ein Wort, das bei allen, auch bei Kindern, Angst auslöste. Nur verstand ich nicht, was mein in meinen Augen harmloses Straßentheater mit Konzentrationslagern zu tun haben sollte. Die Mutter war anderer Ansicht. Überhaupt war mein loses Mundwerk eine Gefahr, aber ich lernte, spätestens nach der Geschichte mit der Judenrazzia und dem niederländischen Polizisten, rechtzeitig den Mund zu halten.
Das Jahr 1944 begann für mich mit einer ernsten Erkrankung. Mitte Januar durfte ich ausnahmsweise bei der kleinen Oma und Tante Annie übernachten und wurde krank. Am nächsten Tag hatte die Tante Geburtstag, deshalb kamen die Mutter und die Brüder. Da keine Straßenbahn fuhr, mussten wir abends die ganze Strecke von der Potgieterstraat zum Ruijterweg laufen, knapp drei Kilometer. Normalerweise machte mir das nicht viel aus, aber ich hatte ziemlich hohes Fieber. Die Mutter glaubte, es sei eine Erkältung, aber nach einigen Tagen war ich kaum noch ansprechbar. Sie holte den Arzt, Doktor Schoen – auszusprechen als Sguhn –, ein Mann von über ein Meter neunzig, laut und etwas grob. Er duzte alle Patienten, ob sie nun kleine Kinder oder Erwachsene waren. Die Patienten siezten ihn und Schoen fand das ganz in Ordnung. Wir wohnten im ersten Stock, meine Mutter öffnete, er kam die Treppe hoch und sagte: »Ich rieche es schon, Diphtherie!« Diphtherie soll einen ganz unverwechselbaren Mundgeruch hervorrufen, unbehandelt führt die Krankheit meistens zum Tod. Er guckte in meinen Hals, sah die eitrige Entzündung an Kehlkopf und Mandeln und sagte zu meiner Mutter: »Wenn du noch eine Nacht gewartet hättest, hättest du gleich das Beerdigungsinstitut rufen können.« Einige Stunden später kam er wieder, gab mir eine Spritze und meinte: »Viel trinken, morgen sehen wir weiter.« Am nächsten Tag war die Halsentzündung wie von Zauberhand weggewischt. »Mein Herzchen, was willst du mehr«, sagte Schoen. In einer Woche könne ich zwar wieder aufstehen, aber ich solle dennoch sechs Wochen zu Hause bleiben. Diphtherie kann Herzschwäche verursachen und scheinbar völlig Geheilte sollen nach mehreren Wochen tot umgefallen sein: Herzversagen. Für die Mutter wurde das Ganze zu einem großen Problem. Denn just an dem Tag, als ich wieder in die Schule durfte, erkrankte einer der Zwillinge, eine Woche darauf der andere: Diphtherie, Spritze, sechs Wochen daheim bleiben. Die zwei fühlten sich nach wenigen Tagen pudelwohl, fünf Jahre alt, lebhaft und sechs Wochen strenger Stubenarrest: Es kam regelmäßig zu handgreiflichen Auseinandersetzungen. »Ich werde hier noch wahnsinnig«, sagte die Mutter mehr als einmal. Von Mitte Januar bis Ende April kranke und nicht selten unleidliche Kinder im Haus, der Vater in Frankreich, die Versorgung ständig schlechter. Auch wenn kranke Kinder Anspruch auf extra Lebensmittelmarken hatten, bedeutete das noch lange nicht, dass man damit etwas kaufen konnte. Man musste früh aufstehen, sich vor dem Geschäft anstellen, möglichst sofort nach dem Ende der Sperrstunde.
Anders als die Kinder in den großen Städten Deutschlands, die nach und nach plattgebombt wurden, hatten wir es bis 1944 noch gut. Die hatten zwar mehr zu essen als wir, aber sie mussten täglich und vor allem jede Nacht damit rechnen, dass Bomben auf ihre Häuser fielen. Das blieb uns erspart. Bis zur fünften Klasse mussten wir kaum Hausaufgaben machen, was zu lernen war, wurde in der Schule erledigt. Es gab wöchentlich zweiunddreißig Unterrichtsstunden: montags, dienstags, donnerstags und freitags je sechs und jeweils vier am Mittwoch und Samstag. Mehr Spaß machte die Straße. In Zeiten, da Kinder aus armen Familien wenig Spielzeug hatten, bot die Straße unendliche Möglichkeiten. Komplizierte Spiele, bei denen strenge, sich immer wieder ändernde Regeln einzuhalten waren. Wir lernten, Regeln auszuhandeln und durchzusetzen. Moralischer Grundsatz war, ernste Verletzungen zu vermeiden, alles andere war Verhandlungssache. Die Grundregeln lernten wir zu Hause, die praktischen Details auf der Straße. Das Spiel war unser eigentlicher Ethikunterricht.
War es für uns eine sorgenlose Zeit? Wir lernten und spielten und dachten dabei nicht an den Krieg. Aber der Krieg war immer da. Die Erwachsenen sprachen über wenig anderes. Nachrichten kamen über Onkel Theo. Irgendwann im Sommer 1943 klingelte er bei uns. »Mies« – so hieß die Mutter bei der Familie Veerkamp – »hast du gehört: Italien hat kapituliert. Jetzt stehen die Moffen allein da.« Die Mutter reagierte mit Unverständnis, woher wollte er das wissen? Radio war Kabelrundfunk. Wir konnten nur das hören, was die Deutschen verlautbaren ließen. Onkel Theo hatte aber ein Radiogerät, mit dem er die niederländischen Nachrichten im britischen Sender BBC hören konnte. Das Abhören eines »Feindsenders« war streng verboten und bei Entdeckung wären er, seine Frau und die älteren Söhne ins Gefängnis – oder schlimmer – ins KZ gekommen. Um diese Zeit begann ich mich für die Kriegsgeographie zu interessieren. Im Sommer 1943 hörte ich immer wieder die Namen Belgorod, Kursk, Orel. Ich nahm den Atlas und sah, dass dies alles im fernen Russland stattfand. Auch Onkel Theos Nachricht Anfang Oktober: »Kiew ist gefallen, jetzt ist der Krieg vorbei«, erzeugte bei der Mutter keinen großen Optimismus. Sie fragte mich: »Wo liegt Kiew?« Ich sah nach und sagte: »Tief in Russland.« Ich wurde zu einer Art Vertrauensperson. Sie las viel, ich las viel. Am Wochenende durfte ich länger aufbleiben. Die Kleinen waren im Bett, der ältere Bruder bei der Oma, wir zwei, die Mutter und ich, lasen. Ich schmökerte dicke Bücher aus der Leihbibliothek, über unsere Seehelden des 17. Jahrhunderts, aber auch über die Heldentaten junger Soldaten in den vielen Kriegen Preußens im 18. Jahrhundert, später dann Karl May. Die gemeinsamen Leseabende gaben mir ein Gefühl großer Geborgenheit. Die Mutter war immer da, sie sorgte für uns, das war für uns so selbstverständlich, dass wir nicht mal im Traum daran dachten, einmal ohne sie auskommen zu müssen.