Der Gott der Liberalen - Ton Veerkamp - E-Book

Der Gott der Liberalen E-Book

Ton Veerkamp

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Beschreibung

»Ungehemmt und ohne Skrupel erklären die bürgerlichen Wirtschaftseliten ihren Anspruch auf unangefochtene Führung, haben mit Demokratie und Menschenrechten nichts im Sinn. Eine Ordnung, die darauf beruht, dass einige die anderen arbeiten lassen können, aber nicht müssen, ist eine Gnadenordnung, keine Rechtsordnung. Recht auf Arbeit hat bei uns kein Mensch; wenn er sich bescheiden verhält, kann er hoffen, dass ihm ein Platz zum Arbeiten zugewiesen wird. Jeder neue Zyklus ›Aufschwung-Boom-Abschwung-Krise‹ beginnt auf einem höheren Arbeitslosensockel. Immer mehr Menschen müssen beschäftigt oder versorgt, in jedem Fall aber auf Magerkost gesetzt werden. Hartz IV ist das offene Eingeständnis maßgeblicher Kräfte in Politik und Gesellschaft, dass sie das Problem der Massenarbeitslosigkeit nicht mehr lösen können und wollen …« – Ton Veerkamp zeigt schlicht und mit Verve die Notwendigkeit auf, die aktuelle Not historisch deuten zu können. »Der Gott der Liberalen« erzählt die Geschichte des Liberalismus, des Kapitalismus, des Bürgertums und der Produktionsverhältnisse und bietet eine leicht verständliche Einführung in die dazugehörigen Theorien.

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Ton Veerkamp

 

 

Der Gott der Liberalen

Eine Kritik des Liberalismus

 

Argument Verlag

Deutsche Originalausgabe

Alle Rechte vorbehalten

© Argument Verlag 2005/2022

Glashüttenstraße 28, 20357 Hamburg

Telefon 040/4018000 – Fax 040/40180020

www.argument.de

Umschlaggestaltung: Martin Grundmann

 

ISBN 978-3-86754-823-6 (E-Book)

ISBN 978-3-88619-470-4 (Buch)

 

Für

Andreas Beck

Heidrun Günther-Weißbeck

Carl-Werner Weißbeck

 

 

Schatten, tretet hervor,

das Licht will beginnen mit kleinen

Schritten, zeigt ihm

den Weg.

 

Johannes Bobrowsk

 

Inhaltsverzeichnis

Vorwort

 

Einleitung
Das Märchen von der Wunderlampe Aladins

 

I Die Epoche der Bourgeoisie

 

1.1 Der Ursprung der Bourgeoisie
1.1.1 Zwischen Herren und Knechten
1.1.2 Die Anomalie des Abendlandes
1.1.3 Soziale Differenzierung
1.1.4 Der Handelskapitalismus
1.1.5 Die Disziplinierung der Arbeitskraft
1.1.6 Bourgeoisie und Reformation
1.1.7 Zwei Gesichter der Bourgeoisie

 

1.2 Mythen und Moral der Bourgeoisie
1.2.1 Adam Smith und die Unsichtbare Hand
1.2.2 Ricardo und der Mythos des Freihandels
1.2.3 Der Nutzen als höchstes Gut
1.2.4 Walras und der Große Auktionator
1.2.5 Pareto-optimales Himmelreich
1.2.6 Mythos Gleichgewicht
1.2.7 Liberale Moral – arbeitsame Arme
1.2.8 Ein kurzer Seitenblick auf den Staat

 

1.3 Das große Roll-back
1.3.1 Die Politikumstellung im letzten Kriegsjahr
1.3.2 Steigender Wohlstand nach 1950
1.3.3 Die Epochenschwelle
1.3.4 Ausweg aus der Stagflation
1.3.5 Brave new world
1.3.6 Kritik als Widerstand

 

1.4 Typologie des Liberalismus
1.4.1 Der vernunftgeleitete Liberalismus – John Maynard Keynes
1.4.2 Der zynische Liberalismus – Joseph A. Schumpeter

 

1.5 Der Gott der Liberalen
1.5.1 Der gläubige Liberalismus
1.5.2 »Gott«
1.5.3 Die Dämonisierung der Alternative
1.5.4 Die Antinomien des Liberalismus
1.5.5 Der Markt ist ein Stück Holz

 

1.6 Der letzte Liberale – John Rawls
1.6.1 Der archimedische Punkt
1.6.2 Gerechtigkeit als Fairness
1.6.3 Rawls und Marx
1.6.4 Kritik des Political Liberalism
1.6.5. Glosse: Rawls und die neue Sozialdemokratie
1.6.6 Stroh

 

II Die Gegenbewegung

 

2.1 Hegel
2.1.1 Den Umsturz denken
2.1.2 Hegels Staat, die Vernunft und das Absolute
2.1.3 Hegels Entwicklungstheorie
2.1.4 Ende der Geschichte oder Ende einer Geschichte?
2.1.5 Der Weltgeist mit der Coladose

 

2.2 Marx
2.2.1 Interesse und Ziel
2.2.2 Wert und Nutzen; Marx und Walras
2.2.3 Beim Geld hört die marginalistische Gemütlichkeit auf
2.2.4 »Das Kunststück ist endlich gelungen, Geld ist in Kapital verwandelt«
2.2.5 Gerechtigkeit und Marx
2.2.6 Kommt der Sozialismus? Das Problem des Epochenübergangs
2.2.7 Die Ausgeschlossenen – ein schwarzes Loch in der marxistischen Theorie
2.2.8 »Grassierende Göttinnen«

 

2.3 Eine Große Erzählung
2.3.1 Martin Andersen Nexö
2.3.2 Sehnsucht nach dem besseren Leben
2.3.3 »Alles, wofür wir gekämpft haben, das haben wir erreicht!«
2.3.4 Ein philosophisches Intermezzo
2.3.5 Die Fragmentierung der Gesellschaft
2.3.6 Neue Erzählungen – José Saramago

 

2.4 Abschied von einem messianischen Jahrhundert
2.4.1 Der Milan
2.4.2 Lenin. Auch Paulus
2.4.3 Stalin. Auch Christentum
2.4.4 1989 – Abschied vom Messias
2.4.5 Der Schlaf der Vernunft

 

III Recht

 

3.1 Zwei Verbote
3.1.1 Das Verbot der Sklavenhaltung
3.1.2 Das Verbot der Akkumulation
3.2 Das Wesen der Akkumulation
3.3 Gnadenordnung oder Rechtsordnung?
3.4 Würde

 

Epilog

 

Anmerkungen
Abkürzungen
Literatur
Liste der erwähnten Personen
Über den Autor

Vorwort

Das politische Hintergrundmilieu für dieses Buch war das Zentrum für ausländische Studierende in Berlin-Charlottenburg. Es befand sich in der Carmerstraße, die in den siebziger Jahren so etwas wie ein »befreites Gebiet« war. Zwei linke Buchhandlungen, eine trotzkistische Verlagsbuchhandlung, eine Galerie, das »Forschungs- und Dokumentationszentrum Lateinamerika (FDCL)« und der Treffpunkt chilenischer Flüchtlinge, das Restaurant El Parron, waren in dieser kleinen Straße zwischen Savigny- und Steinplatz ansässig, nicht zu schweigen von der legendären Kneipe aus Studentenbewegungszeiten, der Dicken Wirtin, die bis heute alle Stürme der Zeit überstanden hat. In der Carmerstraße war auch das Domizil der Evangelischen Studentengemeinde, die damals unter dem Kürzel ESG beim Verfassungsschutz als linksextremistische Organisation galt. Zumindest geht das aus Verfassungsschutzakten hervor, deren Offenlegung 1989 vom rot-grünen Senat Berlins erzwungen wurde. Von 1970 bis in die neunziger Jahre trafen sich dort Menschen, die Veranlassung hatten, sich jenseits von politischen Parteien über sozialpolitische Alternativen zu verständigen. Was aus diesen Menschen geworden ist, steht auf einem anderen Blatt. Manche haben es »weit gebracht«, sogar bis ins Bundeskabinett. Andere haben resigniert, wenige sind sich und ihrem damaligen Anliegen treu geblieben. Im Dezember 1998 verschwanden die letzten Relikte jener Zeiten, das Zentrum fiel den Sparorgien und der letzte linke Buchladen den neuen Leseinteressen der Studierenden zum Opfer. Inzwischen passt die Carmerstraße bis auf die Dicke Wirtin harmonisch in das Yuppieambiente um den Savignyplatz.

Als der Internationale Währungsfonds und die Weltbank 1985 ankündigten, ihre Herbsttagung 1988 in Berlin (West) abzuhalten, war das für eine Reihe von entwicklungspolitischen Gruppen, darunter das Zentrum für ausländische Studierende, der Anlass, sich eingehender mit der internationalen Schuldenkrise und mit wirtschaftlichen Fragen überhaupt zu beschäftigen. Die meisten ausländischen Studierenden waren in technischen, medizinischen und naturwissenschaftlichen Fachbereichen anzutreffen. Nicht wenige Studierende meinten damals, dass man sich neben dem Studium auch mit elementaren weltwirtschaftlichen Prozessen vertraut machen sollte, da die ökonomische Lage in den Ländern des Südens ihre spätere Berufsausübung in diesen Ländern direkt beeinflussen würde. Auf ihr Verlangen wurde im Sommersemester 1986 eine kontinuierliche Arbeit über Fragen der ökonomischen Praxis und Theorie begonnen; zwölf Jahre lang, bis zum Sommersemester 1998, wurde diese studienbegleitende Arbeit durchgeführt.

Die wirtschaftstheoretischen und wirtschaftsgeschichtlichen Kapitel dieses Buches haben ihren Ursprung in der intensiven Arbeit mit diesen Studierenden, vor allem mit Studierenden der Betriebswirtschafts- bzw. Volkswirtschaftslehre. Noch kurz vor dem Diplom hatte keine(r) von ihnen einen klassischen ökonomischen Grundtext gelesen, weder Adam Smith noch Karl Marx, L. Walras, J.M. Keynes, J.A. Schumpeter usw., nicht einmal solche plötzlich wieder modischen Autoren wie F.A. Hayek und M. Friedman. Zwar konnten die Studierenden z.B. spielend mit Formeln und graphischen Darstellungen den Unterschied zwischen dem neoklassischen und dem Keynes’schen Modell erklären, aber auf die Frage, was Keynes gesellschaftspolitisch eigentlich wollte, hatten sie keine Antwort. Während der neunziger Jahre versuchten wir, solche Lücken mit einer kritisch-politischen Lektüre der »Klassiker« aus beiden Lagern aufzuarbeiten. Das Marx-Kapitel geht aus einer kontinuierlichen Arbeit in wechselnden Gruppen hervor. Unsere Sicht auf Marx hat sich in dieser Zeit – mehr als dreißig Jahren! – gründlich verändert. Frühere Fassungen der Kapitel »Mythen und Moral der Bourgeoisie«, »Hegel«, und »Abschied von einem messianischen Jahrhundert« wurden an anderen Orten veröffentlicht. Sie sind für dieses Buch mehr oder weniger stark überarbeitet worden.

Das Buch ist ein Niederschlag dessen, was ich von den Menschen gelernt habe, mit denen ich in Berlin – theoretisch und praktisch – politisch gearbeitet habe. Dreien von ihnen widme ich dieses Buch. Ich vermeide das Personalpronomen »ich« und schreibe durchgängig »wir«. Was »ich« zu wissen meine, habe ich von vielen, von »uns«, gelernt. Nicht wenigen bin ich beim Schreiben dieses Buches zu Dank verpflichtet. Namen zu nennen ist immer misslich. Dennoch möchte ich Teresa Orozco und Ulrich Duchrow erwähnen, die mich immer wieder ermutigt und mir wichtige Hinweise gegeben haben. Burkhard Tewes und Meike Heinrichs als Verlagslektorin haben mit ihren Vorschlägen sehr zur Verbesserung des Textes beigetragen.

 

Lemgow-Schmarsau, Frühjahr 2005

 

Einleitung

Das Märchen von der Wunderlampe Aladins

Aladins Lampe

Der Schneidersohn Aladin war ein richtiger Taugenichts, der von der Arbeit seiner Mutter lebte. Eines Tages wurde er von einem Fremden angesprochen, der ihn um einen Dienst bat. Aladin willigte ein und nach einigen Verwicklungen kam er in den Besitz einer alten Lampe, die der Fremde selber hatte haben wollen. Einige Tage später putzt er die alte Lampe. Plötzlich erscheint ein Geist, der dem verdutzten Faulenzer Aladin erklärt, er würde jeden Auftrag erfüllen, den jener ihm erteilt. Die Mutter, die das Leben klug gemacht hat, beschwört Aladin, die Lampe wegzuschmeißen. Aladin freilich ist sich schnell darüber im Klaren, dass er mit dieser Lampe keinen Finger mehr krumm machen muss. Er würde ohne große Sorgen von der Arbeit des Geistes aus der Lampe leben können. Mit der anfänglichen Bescheidenheit des kleinen Mannes schickt er den Geist los, um Essen zu besorgen. Der Auftrag wird zur Befriedigung Aladins ausgeführt, zumal der Geist das Essen auf Schüsseln und Tellern aus Feinsilber auftischt. Die Schüsseln und Teller macht er zu Geld. Nach und nach werden die Wünsche unbescheidener, bis auch das Unmöglichste möglich wird. Der Geist bringt ihm den unermesslichen Schatz, mit dem Aladin den Sultan dazu bewegen kann, ihm seine Tochter zu geben. Standesgemäß lässt er vom Geist der Lampe einen Palast errichten, der an Schönheit und Ausstattung alles übertrifft, was je ein Menschenauge gesehen hat. Solches Glück ist immer prekär, der Neider des Glücks, der Konkurrent, schläft nie. Der Bruder des betrogenen Fremden erscheint, bringt die Lampe und so den Palast samt Sultanstochter an sich.

Das Märchen geht gut aus, der Bösewicht wird getötet, Aladin und seine Braut erben das Königreich. Die Phantasie der Märchenerzählerin aus Bagdad war unerschöpflich. Sie, die persische Prinzessin Scheharazadeh, erzählte ihre Märchen während tausendundeins Nächten dem berühmten Beherrscher des Weltreichs von Bagdad, dem Kalifen Harun Arraschid. Die Märchen waren aber für die Kinder des Reiches und für die Kinder aller Reiche und aller Zeiten gedacht. Sie sollten von jung auf all die Weltklugheit entdecken, die Scheharazadeh in ihren Märchen versteckt hat. Es steckt in Aladins Wunderlampe sogar eine Parabel, die uns die Verhältnisse unserer Tage besser verstehen lässt.

»Lassen Sie Ihr Geld für Sie arbeiten«, inserierte eine große Geschäftsbank. Geld arbeitet, die Leute werden schlafend reich, suggeriert die Bank. Geld arbeitet nicht, Menschen arbeiten. Wer viel Geld hat, ist wie Aladin. Er besitzt eine wunderbare Lampe. Er kann den Geist in der Lampe wecken. Der Geist ist ein Heer von arbeitsamen Menschen. Dieser moderne Aladin muss nicht nur den schlafenden Geist in der wunderbaren Lampe wecken, er muss ihn dazu bringen, für ihn zu arbeiten. Der Geist, eben jenes Millionenheer von arbeitsamen Menschen, führt dann die Aufträge des Lampenbesitzers aus, und den Reichtum, den er schafft, legt er ihm zu Füßen. Der Lampenbesitzer kann die Menschen dazu bringen, für ihn zu arbeiten, indem er sie mit Gewalt dazu zwingt. Kostengünstiger ist es, wenn er sie glauben macht, es gehöre zum Lauf der Welt, dass manche wunderbare Lampen haben, andere die Aufträge der Lampenbesitzer ausführen müssen. Weiter müssen die Menschen glauben, dass dies alles letztendlich auch ihrem Wohl dient. Der erste Artikel dieses Glaubens lautet, dass das Eigentum an wunderbaren Lampen elementares und heiligstes Menschenrecht ist, der zweite, dass der Eigentümer solcher Lampen Befehlsgewalt über die dienstwilligen Geister hat. Der dritte Artikel verkündet schließlich, es entstehe so die beste aller möglichen Welten, wenn man Lampenbesitzer und Geister nur gewähren lässt. Dieser Glaube ist der Liberalismus. Freilich gibt es heute einige Probleme. Er gibt mehr Geister, als die modernen Aladins brauchen können. Die Parabel im schönen Märchen erklärt leider nicht alles; immerhin sagt sie uns: ohne dienstwillige Geister keine Aladins.

Überflüssige Geister

Adam Smith erzählt in seinem Hauptwerk von einem kleinen Jungen, der den Auftrag hatte, ein Ventil zu überwachen. Durch das Rucken an einem Seil musste er das Ventil, nachdem der Dampf es hochgetrieben hatte, wieder in seine Ursprungslage zurückversetzen. Der Junge war pfiffig, er befestigte das Seil an einem festen Gegenstand, und das Ventil gelangte durch das stramm gezogene Seil wieder in die Ursprungslage. In der Zeit konnte der Junge spielen. Der Fabrikant übernahm die Erfindung, und der Junge landete auf der Straße. Für den Jungen hätte der technologische Fortschritt eine Arbeitserleichterung und Verbesserung seiner Lebensumstände sein können, für den Fabrikanten bedeutete er Kostensenkung. Maschineneinsatz bei der Produktion bedeutet Arbeits- und Lebenserleichterung für die, die die Arbeit ausführen müssen. Der Fabrikant sieht das anders; für ihn lohnt sich die Anschaffung einer Maschine dann, wenn die Arbeitenden in der gleichen Zeit mehr Produkte herstellen bzw. weniger Leute die gleiche Arbeit machen können. Die Abschreibung einer Maschine muss weniger Kosten verursachen, als der Mehrausstoß oder die Reduzierung der Arbeitskosten einbringt.1 Der technologische Fortschritt findet im kapitalistischen Alltag seine Grenze genau in diesem Kalkül. Steigende Arbeitsproduktivität heißt, dass die Arbeitenden pro Kopf noch mehr produzieren. Das geht gut, solange das Mehrprodukt absetzbar ist. Solange es absetzbar bleibt, »wächst« die Wirtschaft; der Wohlstand, wie auch immer verteilt, nimmt zu. In dem Augenblick, wo eine gewisse Sättigung eintritt, wird technischer Fortschritt zu einem Problem, es sei denn, er wird für die Einschränkung des Personals benutzt. Pro Kopf schafft es mehr Produkte. Aber weil dieses Mehr nicht länger absetzbar ist, braucht es weniger Köpfe, Hände, Menschen. Nun ist die Steigerung der Arbeitsproduktivität von Branche zu Branche unterschiedlich. Wir zeigen das an einem Zwei-Branchen-Modell.

Wie viel schafft ein Malergeselle in einer Stunde? Die Antwort auf diese Frage ist eine Aussage über seine Arbeitsproduktivität. Eine genaue Antwort ist erst möglich, wenn eine Reihe von Fragen beantwortet sind, etwa: Was streicht er an, eine Wand, eine Tür, eine Fassade? Auch das ist nicht genau genug. Die Tür kann in einem ramponierten Zustand sein, die Wand hat Löcher, die erst verschmiert werden müssen, die Fassade ist reich gegliedert usw. Der Auftraggeber will wissen, wie lange die Arbeit dauert und was sie kostet. Der Malermeister, der einen Renovierungsauftrag bekommt, geht durch die Wohnung, schätzt ein, wie lange seine Leute brauchen, und geht dabei von Erfahrungswerten aus. Im Malergewerbe hat sich in den letzten zwanzig bis dreißig Jahren nichts Grundsätzliches geändert. Die Lacke sind etwas besser, Tapete, Pinsel und Rollen vielleicht auch, aber vor dreißig Jahren hätten Geselle und Lehrling auch nicht viel mehr Zeit gebraucht. Arbeitsproduktivität ist das Verhältnis zwischen dem Arbeitsprodukt (die renovierte Wohnung) und der Zahl der Arbeitsstunden. Das Malergewerbe ist eine Branche, in der sich die Arbeitsproduktivität wenig geändert hat. Nehmen wir an, dass die Zahl an Renovierungsaufträgen relativ konstant geblieben ist, bleibt die Beschäftigung auf dem gleichen Niveau.

Wir schreiben das Jahr 1973. Das Postgiroamt beschäftigt viele Leute, die die oft handgeschriebenen, gelbbraunen Überweisungsaufträge lesen, den Auftrag ausführen, das eine Konto mit dem angegebenen Betrag belasten und dem anderen Konto gutschreiben, fast alles solide Handarbeit. Im Jahr 2003 werden viele Überweisungsaufträge durch Onlinebanking erledigt, die restlichen maschinell gelesen und ausgeführt. Für diesen ganzen Prozess ist nur noch ein Bruchteil der damals Beschäftigten nötig. Die Arbeitsproduktivität, der Quotient zwischen ausgeführten Aufträgen und der Arbeitszeit, hat sich in dreißig Jahren vervielfacht. Inzwischen ist aus dem Postgiroamt die Postbank AG geworden. Die Postbank hätte aus dieser dramatisch gestiegenen Arbeitsproduktivität schließen können, dass die Angestellten statt acht jetzt nur noch zwei bis drei Stunden arbeiten müssen, um die Arbeit zu erledigen. Bei vollem Lohnausgleich könnte sich die Arbeitsproduktivität in fünf bis sechs Stunden pro Tag mehr Freizeit auszahlen. Schön wäre es; tatsächlich hat die Postbank die überflüssigen Stellen gestrichen, die verbliebenen Beschäftigten erledigen die Aufträge, und ihr Arbeitstag bleibt so lang, wie er vor dreißig Jahren war. Nun bietet die Postbank neue »Produkte« an, vielfältige Sparformen statt des guten alten Postsparbuchs, Anlageberatung, Betreuung der eingesetzten neuen Technologie u.Ä. Dafür werden Arbeitsplätze »geschaffen«, wie es die neue Ökonomenlyrik will. Es blieben trotz »Produktinnovation« (auch Lyrik) viele Leute auf der Strecke, weil sie mit der neuen Technologie nicht klarkamen und die Anforderungen für die Herstellung der neuen »Produkte« nicht erfüllten. Von diesen Menschen werden einige in anderen Branchen beschäftigt, andere bleiben übrig und finden keine Arbeit. Die dienstbaren Geister sind nicht mehr gefragt.

Um diese Leute geht es in der öffentlichen Debatte der letzten Jahre. Durch keine wirtschaftspolitische Maßnahme und durch keine Arbeitsmarktreform kann die Zahl an renovierungsbedürftigen Wohnungen vermehrt werden, ebenso wenig gibt es eine wunderbare Vermehrung der Überweisungsaufträge und der beratungshungrigen Sparer und Anleger. Gleichzeitig verschieben sich die relativen Preise zwischen »renovierter Wohnung« und »Überweisungsdienstleistung«. Die Einkommen der Beschäftigten in beiden Branchen waren annähernd gleich hoch. Die Leute vom Postgiroamt erledigten die Überweisungsaufträge der Malergesellen, diese renovierten die Wohnungen der Postgiroleute. Die relativen Lohnstückkosten sind im Malerhandwerk schneller gestiegen als bei der Postbank, da man in der Postbank weniger Zeit brauchte, um die Aufträge der Malergesellen zu erledigen, als diese, um die betreffenden Wohnungen zu renovieren. Da die Maler zu teuer wurden, renovierten auch Postbankangestellte ihre Wohnungen selber oder ließen sie »schwarz« renovieren. In den siebziger Jahren begann die goldene Zeit der Heimwerkermärkte. Das Berliner Handwerk zahlt in nicht wenigen Branchen schon seit Jahren deutlich unter Tarif, und die Arbeitszeit liegt deutlich darüber. Man arbeitet zunehmend mit Leiharbeitern nach dem Prinzip »heure und feure«; der »entkrustete« Arbeitsmarkt ist hier verbreitet Realität – lange vor Hartz I–IV. Ein Ausweg aus der Krise war das für die Berliner Handwerksbetriebe nicht. Technologischer Fortschritt wirkt tief in das Sozialgefüge der Gesellschaft hinein und bedarf daher gesellschaftlicher Steuerung. Liberale Politik begreift ihn als unentrinnbares Schicksal.

Nun ist die ökonomische Wirklichkeit komplizierter als das Modell einer Volkswirtschaft, die aus einem Malerbetrieb und einer Postbank besteht. Aber die Tendenz ist in unseren Gesellschaften des Nordens unverkennbar: Um die notwendige Zahl an alten und neuen Produkten herzustellen, brauchen wir in den meisten Branchen immer weniger Arbeitsstunden. Nur in Ausnahmezeiten, wo es eine Explosion an neuen Produkten gibt, kann die Zahl an benötigten Arbeitsstunden gleich bleiben oder gar zunehmen. Diese Ausnahmezeit war manchenorts die Periode ~1996 ~2000. Selbst in dieser Zeit konnte der Verlust an benötigten Arbeitsstunden seit der Krise der achtziger Jahre nicht ganz ausgeglichen werden; aus diesem Grund blieb die reale Arbeitslosigkeit hoch. Wenn der Konsum im gleichen Tempo wie die Arbeitsproduktivität steigt, wenn Konsumstagnation in den alten Branchen durch hohen Konsum in den neuen Branchen ausgeglichen wird, gibt es keine Probleme. Da es nicht ohne weiteres möglich ist, die überschüssigen Arbeitskräfte aus den alten in den neuen Branchen unterzubringen, kann es passieren, dass es in manchen Branchen trotz hoher Gesamtarbeitslosigkeit Beschäftigungsengpässe gibt. Neue Produkte sind kein Allheilmittel gegen die durch die Arbeitsproduktivitätssteigerung verursachte Arbeitslosigkeit in den alten Branchen. Außerdem sind neue Branchen nicht lange neu; auch hier macht sich die Steigerung der Arbeitsproduktivität bemerkbar. Informatiker gibt es heute mehr als genug, es gibt sie in Indien, Osteuropa und China in großer Zahl; Datenverarbeitungs- und Programmierungsaufträge werden in diese Länder vergeben. Dort kostet die Arbeit bis zu 75% weniger als in Westeuropa bzw. Nordamerika. Unternehmen wie Philips, Siemens usw. verlagern Teile ihrer Forschungs- und Entwicklungsaktivität – bis dahin eine Bastion des Nordens – nach China, um auf den sich stürmisch entwickelnden Märkten mitspielen zu können, aber auch um Kostenvorteile wahrzunehmen. Verglichen mit deutschen Ingenieuren ist der chinesische Ingenieur unschlagbar billig. Auch eine Bildungsoffensive in den neuen Bereichen schafft keinen neuen Beschäftigungsschub. Jeder neue Zyklus Aufschwung-Boom-Abschwung-Krise beginnt auf einem höheren Arbeitslosensockel. Der beschriebene Mechanismus setzt immer mehr Menschen außer Kurs. Sie müssen irgendwie beschäftigt bzw. versorgt, aber auf alle Fälle auf Magerkost gesetzt werden, Kaufkraft entwickeln sie nicht mehr. Man kann ohne die geringste Einschränkung sagen, dass die Probleme mit den beabsichtigten »Reformen« nicht gelöst werden. Deswegen werden »Reformen« immer weitere »Reformen« verlangen, bis wir auch im Norden jene Schicht an hoffnungslos verarmten Leuten haben werden, die wir aus anderen Regionen kennen. Der amerikanische Philosoph John Rawls nannte sie »eine entmutigte und deprimierte Unterschicht«, die sich »im Stich gelassen fühlt und sich nicht an der öffentlichen politischen Kultur beteiligt« (2002, 217). Die Zahl von Menschen, die sich in Haft befinden, hat in den USA die Zwei-Millionen-Grenze längst überschritten, relativ zehnmal mehr als in jedem anderen Industrieland des Westens. Wir vermuten, dass ein Zusammenhang zwischen der Zahl der Inhaftierten und der Zahl solcher besteht, die durch die ökonomische Entwicklung des vergangenen Vierteljahrhunderts ausgemustert wurden. Allein gelassen, verursacht technologischer Fortschritt gesellschaftlichen Zerfall. Unsere Aladins brauchen zwar dienstwillige Geister, aber nicht allzu viele.

Was macht Aladin mit seinem Reichtum?

Wir sagten: Wenn der Konsum im gleichen Tempo steigt wie die Arbeitsproduktivität, können die Probleme über die Erhöhung der Nachfrage gelöst werden. Aber diese Voraussetzung gilt nicht mehr. Über den Konsum langlebiger Konsumgüter – materielle Grundlage der Vollbeschäftigung der Periode 1950–1975 – allein kann man heute das Problem, das die steigende Arbeitsproduktivität verursacht, nicht lösen. Der Ökonom K.G. Zinn formuliert ein Gesetz, das er die Gossen-Keynes’sche Regel nennt:

Oberhalb der Sparschwelle [wo die Leute anfangen, monatlich mehr zu verdienen, als sie ausgeben, d. V.] nimmt mit steigendem Einkommen die für Konsumzwecke aufgewandte Arbeitsmenge relativ ab bzw. der Arbeitsaufwand für die Geldvermögensbildung nimmt relativ zu. (Zinn 1986, 81)

Es gibt ein Problem der relativen Sättigung, darauf macht K.G. Zinn – wie einer der Rufenden in der Wüste – seit zwanzig Jahren vergeblich aufmerksam. Die Motorisierung der Deutschen hat z.B. ein Ausmaß erreicht, das eine deutliche Zunahme der Autos nicht mehr erwarten lässt; die Branche wird vom Ersatz alter Modelle durch teurere neue Modelle leben, nicht von der Erschließung neuer Marktsegmente in Deutschland. Ähnliches gilt für viele langlebige Konsumgüter. Es gilt für die alte Europäische Union. In den Ländern, die im Zuge der Osterweiterung hinzugekommen sind, mag es neue Märkte geben. Nur verdienen die Leute dort zu wenig. Steigen dort die Löhne, zieht die Karawane der Unternehmen weiter, in die Ukraine, nach Russland, Ostasien. Die Probleme, die relative Sättigung bei stetig steigender Arbeitsproduktivität in Ländern wie Deutschland verursacht, werden von den »Reformen« nicht gelöst, sie werden nicht einmal wahrgenommen.

Es gibt ein zweites Problem. Aladin zieht Reichtum an, für den er keine Verwendung hat. Gehen wir zurück in die goldenen siebziger Jahre der Bonner Republik. Das »624-DM-Gesetz« zur »Bildung von Vermögen in Arbeitnehmerhand« sah vor, dass alle Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer steuerfrei monatlich DM 13 erhalten, wenn sie monatlich zusätzlich DM 39 sparen. Die meisten Leute haben DM 52 monatlich in einen Bausparvertrag, eine Lebensversicherung auf Kapitalbasis usw. eingezahlt. Allzu viel an »Vermögen« kam in den meisten »Arbeitnehmerhänden« zwar nicht zusammen, aber volkswirtschaftlich war das eine bedeutende Summe von ungefähr 20 Milliarden DM jährlich. Dieses Geld wurde zwar nicht konsumiert, aber es diente in der Regel vernünftigen Vorsorgezwecken. Die Ersparnisse wurden von Versicherungsgesellschaften eingesammelt und in der Regel risikoarm in den Wirtschaftskreislauf eingespeist, so vertrackt dieser Prozess auch immer sein mag.

Außer für die Vorsorge wurde auch »gespart«, meistens in einer Weise, die das Gegenteil von Sparen zu sein scheint, durch vorgezogenen Konsum. Um 1970 wurde die letzte Lohntüte abgeschafft, die ganze Bevölkerung verfügte über ein Bankkonto, das zwanzig Jahre früher noch ein Privileg der Reicheren war. Nicht lange danach wurde die Bevölkerung für kreditwürdig erklärt, indem sie ihre Konten kurzfristig bis zu einer gewissen Höhe überziehen konnten; sie disponierten so über eine bestimmte Kreditsumme, deswegen Dispo(sitions)kredit. Die Zinsen sind extrem hoch.2 Da die Leute für langlebige Konsumgüter oft nicht genügend Bargeld hatten, wurde ihnen die Anschaffung durch Ratenkredite schmackhaft gemacht. Dieser vorgezogene Konsum wurde mit Zinsbelastung bestraft. Die Leute mussten nicht nur die geliehene Summe, sondern darüber hinaus auch Zinsen ansparen; die Zinsen sind nichts als ein verordnetes Mehrsparen. Bis 1960 sparte ein Arbeiterhaushalt zuerst das Geld an, um dann die Anschaffung zu tätigen. Jetzt schaffen die Leute zuerst die Sache an, um danach und vermehrt sparen zu müssen. Solche vermehrten Sparanstrengungen verursachen Probleme. Der Euro, der für Zinsen ausgegeben wird, wird nicht für den Konsum ausgegeben. Auf Zeiten des vorgezogenen Konsums folgen Zeiten des Unterkonsums. Das Übersparen (Tilgung plus Zins) ist nichts anderes als Unterkonsumieren, veranlasst von Dritten, eben den Banken. Wegen der Zinsen sparen die Kreditnehmer mehr, als sie an Hauseigentum, Auto, Möbeln usw. konsumieren. Dieses Mehr – es handelt sich volkswirtschaftlich um gigantische Summen – landet bei den Banken. Solange die Einkommen real steigen, Konsumbedürfnisse unbefriedigt sind und dieses Mehr an Ersparnissen über das Bankensystem für erweiterte Investitionen, also für höhere Nachfrage nach Investitionsgütern verwendet wird, hätte das System wenig Probleme. Die Mehrarbeit der Menschen, die sich in Zinsen verwandelt, dient nur dann dem Vorteil der Gesellschaft, solange ihre Wirtschaft expandiert. Sonst würde der größte Teil der Ersparnisse der Bildung von Geldschätzen – von virtuellem Kapital (Marx) – dienen, die durch eine kleine Gruppe von Menschen selbstherrlich und zum Zweck der Selbstvermehrung verwaltet werden. Marx nennt das, wie wir hören werden, den »vollendeten Kapitalfetisch« (§2.2.4). Beide Ausdrücke, virtuelles Kapital und Kapitalfetisch, sind, wie wir nachweisen werden, heute aktueller denn je. Der moderne Aladin weiß eigentlich kaum, was er mit seinem unermesslichen Reichtum anfangen soll. Sein Urahne, der Taugenichts Aladin aus Bagdad, verpulverte seinen Reichtum mit unbändigem Luxuskonsum. Das spricht gegen christliche Askese und die Armutsliebe mystischer islamischer Wanderasketen, genannt Derwische. Aber volkswirtschaftlich ist Luxuskonsum sinnvoller als Schatzbildung. Die modernen Aladins können nicht annähernd so viel Luxuskonsum veranstalten, dass ihr Reichtum wieder unter die Leute kommt. Was tut ein Mensch jährlich mit sieben Millionen Euro? Er legt das Geld an; er macht aus Geld, das er nicht braucht, mehr Geld, das er noch weniger braucht. Das Verhalten gehöre, sagte Keynes, eher in die Psychopathologie. Nein, unser moderner Aladin hat ein großes Problem, das nicht nur seine Seele, sondern auch die Gesellschaft beschädigt; er weiß nicht, wohin mit dem Geld. Wir können es auch spröder formulieren. Wenn die Gossen-Keynes’sche Regel von K.G. Zinn greift, wird nicht benötigtes Geld statt für Investitionen oder Konsum für Schatzbildung eingesetzt. Dann entsteht eine ausgesprochene Krisensituation: weder konsumieren noch investieren. Es schlägt die Stunde des virtuellen Kapitals.

Ein drittes Problem werden wir in diesem Buch nur streifen, jenes Problem, das mit der Vokabel Globalisierung eher zugedeckt als benannt wird. In fast jedem industriellen Aggregat, das noch in Deutschland hergestellt wird, stecken zur Hälfte oder mehr Teile, die von Zulieferern in Niedriglohnländern produziert werden. Würde die dazu notwendige Arbeit in Deutschland geleistet werden, so sagt die deutsche Industrie, könne man die Endprodukte nicht mehr absetzen, weil sie zu teuer werden. Die Gewinnmaximierung, die mit dieser Strategie erreicht wird, landet über die Aktionäre und sonstige Profiteure zu einem großen Teil in den verschiedenen Spekulationskassen, ohne in produktive, Arbeit schaffende Investitionen zu münden. Dieser Prozess ist weder schicksalhaft noch alternativlos, das Ergebnis dieses Vorgangs ist auf alle Fälle eine chronische und tendenziell steigende Arbeitslosigkeit. Steigende Arbeitsproduktivität in Kombination mit der relativen Sättigung, der Schatzbildung und der Auslagerung von industrieller Arbeit und von Arbeit im Dienstleistungssektor in Länder wie Indien macht die sozialen Probleme unlösbar, es sei denn, man würde entweder das deutsche Reallohnniveau auf das Lohnniveau der Schwellenländer herabsenken – daran wird nach Kräften gearbeitet – oder ein radikal anderes Wirtschaftssystem einsetzen – daran wagt heute kaum noch ein Mensch zu denken, geschweige denn, dafür zu werben. Harz IV ist das offene Eingeständnis maßgeblicher Kräfte in Politik und Gesellschaft, dass sie das Problem der Massenarbeitslosigkeit auch gar nicht mehr lösen können und wollen. Die Betroffenen werden der Beschäftigungstherapie des Ein-Euro-Jobs zugeführt – in der rot-grünen Lyrik: fördern. Das lässt sich für diese breiter werdende Schicht auf längere Sicht kaum von Arbeitsdienst unterscheiden: fordern.

Wir werden in diesem Buch nicht den Stein der Weisen präsentieren, mit dem die Probleme gelöst werden können. Uns geht es um die Diagnose. Es geht um den Glauben der Vermögenden, dass sie jederzeit den Geist, der Reichtum schafft, aufrufen und ans Werk setzen können, bzw. ihn dazu bringen, andere arbeiten zu lassen – »Arbeitsplätze schaffen« sagt man – vorausgesetzt, dass die Geister sich mit einem kärglichen Leben begnügen. Diesen Glauben predigt der Liberalismus. Die Botschaft Wolfgang Clements, des Bundeswirtschaftsministers seit 2002, lässt sich so zusammenfassen: »Durch die Verbilligung der Arbeit kommt es unweigerlich zu mehr Wohlstand für alle. Bleibt oder werdet arm, so werdet ihr reich!« Dieser Glaube hatte den Gesellschaften des industrialisierten Westens in den dreißiger Jahren des 20. Jahrhunderts eine unlösbare Dauerkrise beschert und sie in die Katastrophe des Zweiten Weltkrieges geführt. Das erste Dezennium des 21. Jahrhunderts ist nicht die Periode 1929–1939; umso erstaunlicher, dass die schon damals obsolete Wirtschaftspolitik, basierend auf einer nicht weniger obsoleten Wirtschaftstheorie, der sogenannten Neoklassik, heute als moderne Wirtschaftspolitik verkauft wird (vgl. Zinn 2002, 165ff). Wir werden uns mit der Wirtschaftsgeschichte der letzten drei Generationen befassen müssen. Keynes hatte um 1930 den vorausschauenden Aufsatz »Economic Possibilities for our Grandchildren« (»Ökonomische Möglichkeiten unserer Enkel«) geschrieben. Wir gehen den umgekehrten Weg, von den damaligen Enkelkindern, die heute Großeltern sind, zu den damaligen Großeltern; wir erzählen die Geschichte von 1929 bis 1999 (Kap. 3–5). Diese Geschichte ist aber ohne unsere Vorgeschichte, die im 11. Jahrhundert begann, schlecht zu verstehen. Deswegen sind die ersten zwei Kapitel des ersten Teils eine Übung in Vorgeschichte.

Zwei Gesichter

Der Liberalismus sieht die Menschen nicht als Personen, sondern als Individuen. Eine Person ist ein Mensch, der mitten unter anderen Menschen und durch sie seine unverwechselbare Eigenheit hören lässt (per-sonat). Ein Individuum ist ein Mensch, sofern er sich von anderen Menschen unterscheidet, gemäß der alten scholastischen Definition: indivisum in se, divisum ab omne alio, ungetrennt in sich, getrennt von jedem anderen. Deswegen setzen Person und Gesellschaft einander voraus, Individuum schließt Gesellschaft aus. Wenn von Gesellschaft die Rede ist, dann ist nur die Summe aller Individuen gemeint. Die bürgerliche Ideologie des Liberalismus ist vor allem Individualismus. Deswegen ist der bekannte Spruch der britischen Premierministerin Margaret Thatcher in den achtziger Jahren die Quintessenz bürgerlicher Ideologie: »There is no such thing as the social; there are only individuals and families, so etwas wie das Gesellschaftliche gibt es nicht, es gibt nur Individuen und Familien« (letzteres Wort eine Konzession an ihren Konservatismus, Tony Blair und sein Ghostwriter Antony Giddins werden auch damit aufräumen). Dieser Satz ist nicht die Dummheit einer verbiesterten Person; Margaret Thatcher spricht nur den Grundsatz des Utilitarismus aus, wie der Liberalismus in Großbritannien heißt. Gesellschaft findet im Liberalismus grundsätzlich nicht statt.

Freilich war die Bourgeoisie nicht nur liberal. Sie war von ihrem mittelalterlichen Ursprung her eine Schicht zwischen den geistlichen und weltlichen Herren (Klerus und Adel) und den produktiven, aber unfreien Knechten in einer vorwiegend agrarischen Gesellschaft, die Schicht Weder-Herr-noch-Knecht. Sie betätigte sich nicht nur, aber sehr oft als kaufmännische Schicht. Deswegen hatte sie von Anfang an zwei Gesichter, das Gesicht der Freiheit und das Gesicht des Geschäfts. Im Konflikt zwischen Geschäft und Freiheit gewinnt fast immer das Geschäft, wie der Fleischfabrikant Pierpont Mauler in Brechts Die heilige Johanna der Schlachthöfe als Fazit singt:

Ach in meine arme Brustist ein Zwiefaches gestoßen Wie ein Messer bis zum Heft.Denn es zieht mich zu dem GroßenSelbst- und Nutz- und VorteilslosenUnd es zieht mich zum GeschäftUnbewusst.

Die großen Unternehmen der nördlichen Industrieländer drängt es in ein Land wie China, nicht obwohl, sondern gerade weil es eine Diktatur ist, die nicht einmal die Spur einer autonomen Vertretung der Interessen Arbeitender zulässt. Die Sonntagspredigt der Politiker über »Menschenrechte« bei Staatsbesuchen in China ist ein schäbiges Ritual. Den Wirtschaftsdelegationen in ihrem Gefolge kommt das Fehlen jeglicher Menschenrechte gerade recht. Wenn der inzwischen für unerlaubt erklärte Ausdruck »herrschende Klasse« je einen Sinn gehabt hat, dann heute. Ungehemmt und ohne jegliche Skrupel erklären die bürgerlichen Wirtschaftseliten ihren Anspruch auf unangefochtene Führung und haben mit Demokratie und Menschenrechten nichts im Sinn, genauso wenig wie ihre Großväter, die Hitler den Weg bereiteten. Ihnen haben sich Gesellschaft und Politik zu fügen. Dass eine Scheindebatte über »ethische Standards«, Offenlegung der Managergehälter und Mäßigung geführt wird, ist nichts als boshafter Schabernack. Ethik, ethische Standards, sind hier lächerlich3. Pierpont Mauler ist für ethische Standards zu haben, solange sie nichts kosten. Seine Seele kauft er mit Sponsoring frei und setzt es als Werbeausgabe von den Steuern ab.

Dennoch ist das zweite Gesicht nicht vollständig durch die Maske der Geschäftsfreiheit bedeckt. Immer wieder meldete es sich zu Wort. Wir werden in John Maynard Keynes und John Rawls zwei Vertreter jener Bourgeoisie kennen lernen, bei denen Freiheit nicht nur für Geschäftsfreiheit steht, sondern für eine umfassende gesellschaftliche Vision. Man kann Karl Marx auch als konsequenten Vertreter jenes zweiten Gesichts der Bourgeoisie deuten, indem er konsequent mit den Halbheiten und Widersprüchen der bürgerlichen Gesellschaftsvisionen aufräumte. Der Liberalismus ist kein homogenes Gebilde. Außerdem hat die Vokabel in den USA eine andere Bedeutung als auf dem europäischen Kontinent. In Europa ist Liberalismus inzwischen fast ausschließlich zur Ideologie der Geschäftemacher geworden, die durch soziale Rücksichten, erst recht, wenn der Staat sie anmahnt, nicht gestört werden wollen. Dieser Liberalismus ist heute hegemonial und von ihm müssen wir in erster Linie reden. Er ist die Ideologie fast aller politischen Parteien in Deutschland, auch und gerade der neuen Sozialdemokratie.

Was ist »neo« am Neoliberalismus?

Wir erweisen dem heutigen Liberalismus viel zu viel Ehre, wenn wir ihn als Neoliberalismus bezeichnen. Inhaltlich ist am heutigen Liberalismus nichts neu. Was er überhaupt an zusammenhängender Theorie bietet, wurde schon früher und besser gesagt. Inhaltlich hat er uns nicht viel anderes zu sagen als das, was der Liberalismus schon seit Adam Smith und spätestens seit dem Paradigmenwechsel der bürgerlichen Nationalökonomie um 1870 sagt. Das sogenannte neoklassische Dogmengebäude wurde in jener Zeit errichtet und steht – abgesehen von einigen Schönheitsreparaturen und Anbauten (etwa das keynesianische Modell) – bis heute. Prinzipiell lernen Studierende der Volkswirtschaftslehre heute nicht viel anderes als die Studierenden um 1900.

Neu ist freilich die Situation der tragenden Schicht der liberalistischen Mythenbildung, der Bourgeoisie. Zum ersten Mal in ihrer Geschichte ist sie ohne wirkliche Gegenkraft. Weit und breit ist nichts in Sicht, was mit dem alten Adel und der alten Kirche oder nach deren Untergang mit der Arbeiterbewegung verglichen werden könnte. Nur das ist neu und Neoliberalismus kann nur heißen: Liberalismus in einer neuen Lage. Globalisierung trifft die Sache nicht. Sicher hat das Niederreißen nationaler Grenzen auf den Finanz- und Kapitalmärkten dazu geführt, dass internationale Unternehmen überall in der Welt tätig werden konnten. Sie wurden vor allem dort tätig, wo sie Widerstand einer politisch und gewerkschaftlich organisierten Arbeiterbewegung nicht fürchten mussten. Es war der Bourgeoisie seit dem letzten Drittel des neunzehnten Jahrhunderts nie gelungen, den Arbeitsmarkt lückenlos in ihr Gesamtsystem einzugliedern. Man kann die Arbeiterbewegung in den kapitalistischen Ländern auch als gelungenen Versuch werten, den Arbeitsmarkt nach anderen Gesetzen als nur nach dem Gesetz von Angebot und Nachfrage funktionieren zu lassen. Ein idealer Markt war und ist nach neoklassischer bzw. liberaler Ansicht ein Markt von individuellen (!) Einzelanbietern, sogenannten »Mengenanpassern«, also solchen, die jeder für sich keine preisbestimmende Wirkung entfalten können. Ein solcher Markt tendiert dazu, die Angebotspreise sehr niedrig zu halten, zumal wenn die Nachfrage das Arbeitskraftangebot nicht ganz absorbieren kann. Eine solche Situation haben wir in Ländern wie China, mag es dort auf Teilmärkten anders aussehen (etwa wenn Spezialisten gesucht werden). Möglichst niedrige Arbeitskraftpreise könnten für die einzelnen Betriebe vorteilhaft sein, für die Volkswirtschaft als solche und letztlich auch für die Einzelunternehmen kaum. Die dreißiger Jahre des 20. Jahrhunderts haben das bewiesen. Die Struktur eines idealen Marktes – die Ohnmacht der vielen vereinzelten Anbieter von Arbeitskraft – entspricht nicht den Interessen der Angebotsseite. Machtbildung auf dem Arbeitsmarkt würde die Entstehung solcher idealer Märkte verhindern, weil Angebotskartelle entstehen, die preisbestimmende Wirkung haben. Die Bildung solcher Kartelle ist eine Hauptaufgabe der Gewerkschaften.4 Heute sind die Unternehmen international verknüpft, die Arbeitenden, wenn überhaupt, national organisiert. Deswegen können die Arbeitenden keinen effektiven Druck ausüben. Wirksam wären ihre Kartelle nur unter der Voraussetzung einer Arbeiterbewegung, die politischen Druck ausüben kann. Fehlt sie, verlieren vor allem in Krisenzeiten die Angebotskartelle an Macht und Wirkung. Margaret Thatcher setzte sich die Entstehung idealer Arbeitsmärkte als politisches Hauptziel. Sie erreichte weitgehend das Ziel, indem sie nach einem erbarmungslosen und keineswegs unblutigen Kampf die Bergarbeitergewerkschaft zerschlug (1985). Sie konnte es, weil es keine Solidarität seitens der anderen Gewerkschaften gab, anders gesagt, weil es in Großbritannien schon damals kaum noch eine politisch zielbewusste Arbeiterbewegung gab.

Die Arbeiterbewegung war im westlichen Teil Europas nicht in der Lage, die bürgerliche durch eine sozialistische Gesellschaft zu ersetzen, aber sie konnte sehr wohl die reibungslose Integration des Arbeitsmarktes in das Gefüge der bürgerlichen Wirtschaft verhindern und eine Art von Gleichgewicht der Kräfte erreichen. Die große Zeit des Gleichgewichts nach außen und nach innen war die Epoche nach dem Zweiten Weltkrieg. Der Liberalismus konnte seine gesellschaftlichen Vorstellungen nicht verwirklichen, solange es eine politisch effektive Arbeiterbewegung gab. Sie war die Gegenbewegung gegen den Liberalismus, sie war die praktische »Kritik des Liberalismus«. Der Untertitel unseres Buches weist auf die Arbeiterbewegung hin. Wer den sogenannten Neoliberalismus kritisieren will, muss den Liberalismus kritisieren; wer den Liberalismus kritisieren will, muss sehen, dass die Arbeiterbewegung historisch gesprochen die einzig effektive und praktische Kritik des Liberalismus war. Deswegen ist unser zweiter Teil ein wesentlicher Bestandteil der Kritik des Liberalismus. Wir reden von der theoretischen, ins Praktische treibenden Kritik des Liberalismus, die Karl Marx formuliert hatte und die die Arbeiterbewegung schulte, motivierte, mobilisierte. Was die Arbeiterbewegung konkret für konkrete Menschen bedeutete, können wir nur andeuten. Die Folgen ihres Scheiterns können wir heute noch nicht übersehen. Wir können freilich ahnen, welche Ungeheuer ihr Scheitern freisetzen wird.

Begriff und Diagnose

Um heute überhaupt noch eine Richtung sehen zu können, gehen wir noch tiefer in die Geschichte zurück. Unsere Freiheits- und Rechtsvorstellungen haben eine Hauptwurzel in der Tora des Judentums. Befreiung aus dem Sklavenhaus, von der Sklavenarbeit, die »das Leben verbitterte« (Ex.1,14), ist der Kern der Gesellschaftsordnung, die die alten Judäer im 5. Jahrhundert v.u.Z. schufen. Freiheit, so dachten sie, kann nur durch eine Rechtsordnung geschützt werden, die die Konzentration von Macht in den Händen einiger Mitglieder der Gesellschaft gegen alle anderen wirksam verhindert. Vor allem der Konzentration wirtschaftlicher Macht – in der agrarischen Gesellschaft wie im alten Judäa in der Form der Akkumulation des Grundbesitzes – ist ein Riegel vorzuschieben, damit nicht die Mehrheit der Menschen zu Sklaven der Besitzeliten wird. Die Tora wollte keine Aladins, die nach Belieben Heerscharen dienstbarer Menschen kommandieren; das hat sie mit der modernen Arbeiterbewegung gemein. Heute, so schließen wir, leben die Menschen nicht in einer Rechtsordnung, sondern in einer Gnadenordnung, in einer Ordnung, in der die meisten Menschen bei der Produktion ihres Lebens von den Entscheidungen einiger weniger abhängig sind. Eine Ordnung, die darauf beruht, dass einige die anderen arbeiten lassen können, aber nicht müssen, ist eine Gnadenordnung, keine Rechtsordnung. Recht auf Arbeit hat bei uns kein Mensch; wenn er sich bescheiden verhält, kann er hoffen, dass ihm ein Platz zum Arbeiten zugewiesen wird. Als die Menschen begannen, die Willkür der Gnade durch die Ordnung des Rechts zurückzudrängen, erfanden sie die Zivilisation. Die Gegenmacht der Arbeiterbewegung verteidigte die Zivilisation des Rechts. Heute haben wir die Willkür der Gnade.

Wir können und müssen die Vorstellung »Willkür der Gnade« durch den Begriff »Logik des Privateigentums« ergänzen, die Logik jenes Eigentums, das den Eigentümern das Kommando über den gesellschaftlichen Arbeitsprozess zusichert. Zur Veranschaulichung gibt es kein besseres Bild als Aladin und seine Wunderlampe. Zum Begreifen und somit zur Diagnose unseres Zustandes will dieses Buch ein Beitrag sein.

I Die Epoche der Bourgeoisie

 

1.1 Der Ursprung der Bourgeoisie

1.1.1 Zwischen Herren und Knechten

In der Ideologie des abendländischen Mittelalters war die Bourgeoisie nicht vorgesehen. Vorgesehen waren Herren und Knechte. Manche Herren waren dazu erwählt, sich und ihre Knechte mit der Waffe in der Hand zu verteidigen oder mehr Knechte und mehr Land zu erobern. Anderen Herren oblag es, sich den Seelen aller, der Knechte und der Herren, zu widmen, da die Seelen, anders als die Körper, nach dem Tode weiterleben würden und für Wohl und Weh dann andere Qualitäten als die des Körpers entscheidend wären. Die erste herrschaftliche Gruppe hieß Adel, die zweite Geistlichkeit. Beide Gruppen lebten von dem, was die Knechte produzierten. Die Knechte lebten auf dem Land und erzeugten Produkte des Landes. Adel und Geistlichkeit einerseits und das Bauerntum andererseits waren die einzig legitimen sozialen Orte für die damaligen Menschen. »Im Allgemeinen war Knechtschaft die normale Situation der Landbevölkerung, das heißt, des ganzen Volkes«, sagt Henri Pirenne (Pirenne 1969, 10). Das Handwerk wurde auf dem Lande ausgeübt. Entweder stellten die Leute die Geräte, die sie brauchten, selber her, oder sie ließen sie von Spezialisten im Dorfe herstellen, etwa Eisengeräte vom Dorfschmied. Der Hof des adligen Herrn oder des Bischofs und die großen Klöster beschäftigten Spezialisten für bestimmte Aufgaben, aber sie gehörten als Gesinde unmittelbar zum Haushalt der Herren. Größere Fürsten beschäftigten Verwaltungsleute, die Ministerialen. Diese Ministerialen konnten in die Klasse des grundbesitzenden Adels aufsteigen; die Herren gaben ihnen Grundbesitz in Form eines Erblehens. Dieses Beispiel vertikaler Durchlässigkeit war aber eine Ausnahme; wer Knecht war, blieb Knecht.

Die Periode ~600 ~900 erwies sich für das Abendland – die europäischen Gebiete zwischen dem Atlantik und dem Baltikum – als eine Zeit, in der das Alte restlos verschwand. Wenig blieb, wie es in der spätantiken Zeit gewesen war – z.B. in Norditalien nach der Machtübernahme durch die Langobarden; Ähnliches galt für Gallien, das römische Germanien und die Gebiete an den Mündungen der großen Flüsse. Nachrichten aus jener Zeit sind schlecht belegt. Auch das konstantinische Papsttum, das mit Gregor (590–604) und Hadrian (782–795) jene großen Persönlichkeiten aufwies, die noch von der Spätantike geprägt waren, ging in diesem Umbruch unter. Wie man das Problem der Chronologie5 des frühen Mittelalters auch löst, zu erklären bleibt die Tatsache, dass mit der mittelalterlichen Stadt und ihren Vorformen einer Bourgeoisie ab 1000 u.Z. etwas ganz Neues entstanden ist. Aus den gehobenen städtischen Schichten der Spätantike kann man das Entstehen der Bourgeoisie nicht erklären. Ab Mitte des 11. Jahrhunderts sind nicht nur die Stadt, sondern auch das Papsttum völlig neue Institutionen.

Umherziehende Kaufleute gab es im frühen Mittelalter nur sporadisch, da der interregionale Handel mit der islamischen Expansion im 7. Jahrhundert und dem Zusammenbruch der spätantiken Ordnungen im Mittelmeergebiet praktisch verschwand. Die iberische Halbinsel schied aus dem Austausch mit West- und Mitteleuropa aus. Der Warenverkehr auf dem Mittelmeer wurde von den Sarazenen, auf der Nord- und Ostsee von den Wikingern monopolisiert, der interregionale Warenstrom lief fast ganz am Abendland vorbei. Der Weg Richtung Osten wurde von nachrückenden slawischen Völkern, Richtung Balkan und Byzanz von den Awaren versperrt. Nur Venedig konnte an die alten römisch-byzantinischen Zeiten anknüpfen. In Teilen Deutschlands, vor allem im Rheinland, wie auch im zentralen und südlichen Frankreich hielten jüdische professionelle Kaufleute durch ihre guten Kontakte mit Geschäftspartnern im christlichen Byzanz und im islamischen Kalifat den interregionalen Handel mit dem Orient aufrecht, vor allem was den Vertrieb von Luxusgütern betraf (Gidal 1997, 28ff; Pirenne 1969, 9f). In Nord- und Westeuropa besorgten die Wikinger das, was früher der interregionale Handel besorgte. In der Erinnerung späterer Geschlechter war dieser Handel nichts anderes als Raub: »Als sie [die Wikinger] Ende des 9. Jahrhunderts ihre Plünderungen aufgaben, verwandelten sie sich in Händler«, sagt Pirenne (a.a.O., 18). Tatsächlich wurde geraubt, aber bevor es geraubt werden konnte, musste das Raubgut erst einmal produziert sein. Die Wikinger müssen also ein Interesse daran gehabt haben, dass die Produktion weiterlief, und das bedeutet, dass irgendeine Form von Tausch stattfand. Wie der Dieb den Hehler zieht Plünderung notwendig Handel nach sich. Die Tauschbedingungen diktierte zunächst das nordische Schwert; Macht ist bis heute eine Grundbedingung des Tausches und das Fundament jeder Marktordnung. Ein Teil der Wikinger siedelte sich als Kaufleute vor den Toren der Herrensitze slawischer Fürsten an und begründete die Stadt (Gorod) als neue Siedlungsform im weiten sarmatischen Raum, dem späteren Russland. Die Händler von Pisa und Genua übernahmen um die gleiche Zeit das Handelsgeschäft der Sarazenen; sie hatten auch militärisch viel von ihren Vorgängern gelernt. Die Katholisierung der westslawischen Völker im und westlich vom heutigen Polen, der Awaren im heutigen Ungarn und der Kroaten auf dem westlichen Balkan schufen einen gigantischen Raum, in dem der Austausch von Waren prinzipiell möglich wurde. Wie die Wikinger im späteren Russland siedelten sich auch die neuen, nichtjüdischen interregionalen Händler vor den Toren einer adligen oder bischöflichen Burg (französisch: bourg) an. Man nannte diese Siedlungsform forisburgus (»außerhalb der Burg«, faubourg, Freiburg); die Siedler wurden bourgeois genannt, also Leute, »die zur Burg gehörten«. Bald wurde die Vorstadt der Händler ummauert, eine neue Stadt mit einer »bürgerlichen« Bevölkerungentstand. Aus diesem Namen ergibt sich, dass sie in das Schema »Herren und Knechte« gepresst wurden; die Bourgeois wurden als Schützlinge des Burgadels eingeschätzt, einen sozial eigenständigen Platz hatten sie nominell nicht. Außer Kaufleuten siedelten sich auch Handwerker an, die oft von landflüchtigen Bauern abstammten. Bereits in Mailand um 980 erhoben sich die Bewohner der Vorstadtgegen die adlige und geistliche Herrschaft, und im 11. Jahrhundert war der Kampf um die Emanzipation von dieser Herrschaft voll entbrannt. Sie erkämpften sich Sonderrechte (Privilegien). Diese Privilegien wurden dem Adel in der Regel abgekauft. Ein wichtiges Privileg war das Recht der Kaufleute, in der Stadt Markt abzuhalten nach den Regeln der Marktteilnehmer selbst. Hier begann die Verselbständigung dessen, was später »die Ökonomie« genannt wurde.

Die Geschichte des frühen Mittelalters scheint zunächst geprägt von den Kämpfen der Adligen um das Eigentums- oder Verfügungsrecht über das Land. An diesen Kämpfen beteiligte sich auch die höhere Geistlichkeit. Diese unterschied sich vom Adel kaum; die Inhaber höherer geistlicher Ämter gehörten weitgehend adligen Familien an. Die Ämter waren in der Regel käuflich. Erst nach den großen Kirchenreformen im 11. Jahrhundert nahmen die gesellschaftlichen Auseinandersetzungen eine andere Form an. Diese Reformen begannen an der Peripherie der Gesellschaft, bei den Mönchen. Vorreiter war die berühmte Abtei Cluny in Burgund. Die Mönchsgemeinschaften wurden im 10. Jahrhundert durchgängig aus der Aufsicht der lokalen Bischöfe ausgenommen. Diese exemtio war strukturell verwandt mit den Privilegien der Städte, sie waren buchstäblich eine privilegierte, eine Ausnahmeerscheinung. Es ist kein Zufall, dass die von den Klöstern ausgehende Kirchenreform seit der Zeit um die Mitte des 11. Jahrhunderts mit den gesellschaftlichen Kämpfen in den jungen Städten Italiens verbunden wurde. Tatsächlich war das Mittelalter zunehmend von den Kämpfen der Städte gegen Herren jeder Art in wechselnden Koalitionen geprägt. Die Kommune von Benevento im Jahr 1015 eröffnete jene Bewegung, in der sich die Städte von ihrer Einbindung in die feudale Struktur Herren-Knechte emanzipierten. Die Kommune ist eine eigengesetzliche Institution der nicht-adligen und nicht-geistlichen Stadtbevölkerung. Mit der Kirchenreform prägte die Bewegung der Kommune das Gesicht des 11. Jahrhunderts. Viele Städte in Italien, Frankreich und in den südlichen Niederlanden (Flandern, Hainaut und Brabant) folgten. Papst Stephan IX. schickte im Jahr 1057 seinen Berater Hildebrand, der Mönch in Cluny gewesen war, nach Mailand, wo die Stadtbevölkerung gegen eine korrupte Obrigkeit des metropolitanen Bischofs und des mit ihm verbundenen Adels aufgestanden war. Auf dem ersten Blick ging es um eine Kampagne gegen die Priesterehe und die Ämterkäuflichkeit; tatsächlich wollte das Volk eine Kirche, die frei von Herrschaftsinteressen war, also eine Kirche, die sich nicht durch direkte Ausbeutung oder Beteiligung an der Ausbeutung durch die Herren beim Volk verhasst machte. Das Zölibat hatte seine Wurzel weniger in der Lustfeindlichkeit des Christentums als vielmehr in der Vorstellung, dass der Geistliche frei für die Dinge Gottes sein sollte und somit frei von familienbestimmten Abhängigkeiten – etwa Lebensunterhalt sichernden Pfründen. Beide, Zölibat und unentgeltliche Einsetzung in geistliche Ämter durch die Kirche allein, gehörten zur Voraussetzung der Emanzipation der Kirche von adliger Bevormundung und Unterjochung. Die rebellische Stadtbevölkerung sah in der Reformgeistlichkeit eine Verbündete. Die Aufständischen wurden vom Adel verächtlich Lumpen (Patari) genannt, aber es waren diese Lumpen, die den geistlichen und weltlichen Herren die ersten rechtlichen Zugeständnisse (Privilegien) abtrotzten. Durch den Mönch Hildebrand entstand das Bündnis des Papsttums mit den Städten. Papst Alexander II. (1061–1073) war einer der Führer des Mailänder Aufstandes gewesen, Hildebrand unter dem Namen Gregor VII. sein Nachfolger (1074–1085). Er wurde zum großen Gegner des Kaisers Heinrich IV. Der Kampf gegen die Käuflichkeit der Ämter (Simonie) – wo die Verkäufer die weltlichen Herren waren – und gegen das Recht des weltlichen Adels, kirchliche Ämter selber zu besetzen (Laieninvestitur), war, wie schon angedeutet, nichts anderes als der Kampf um vollständige Autonomie der Kirche gegenüber der weltlichen Herrschaft. Dieses Papsttum hat sich im Hochmittelalter weitgehend durchgesetzt. Es drehte seinerseits den Spieß um und reklamierte die Oberaufsicht über die Politik und somit das Recht, gegebenenfalls Könige ein- und abzusetzen (das könnte man Klerikalinvestitur nennen). Ihren Höhenpunkt erreichte die Macht des Papsttums unter den Päpsten Innozenz III. (1198–1215) bis Gregor IX. (1227–1241). Diese Entwicklung verhinderte, dass sich im abendländischen Feudalismus eine geschlossene absolute Herrschaft, ein homogen politisch-ideologischer Hegemonialbereich, herausbilden konnte. Das Abendland wurde nicht zum westlichen Duplikat des christlichen Ostens. Die Kirche im Abendland war auch, aber nicht nur ein ideologischer Apparat der Grundherrschaft. Die gesellschaftspolitischen und ideologischen Implikate des Reformpapsttums hat Ulrich Duchrow mit großer Genauigkeit beschrieben (Duchrow 1983, 321–436). Dieses »nicht nur«schlug Lichtungen in den Urwald der gewöhnlichen Herrschaft. In diesen Lichtungen konnten sich die gesellschaftlichen Gruppen ansiedeln, die in Handel und Gewerbe ihre materielle Basis hatten und das ganze gesellschaftliche Gefüge aufzubrechen drohten. In der Ketzerei zeigten diese städtischen Schichten zum ersten Mal ihr ideologisches Gesicht – sei es auch religiös maskiert. Den Heiden und Juden gegenüber übte die offizielle kirchliche Lehre – nicht die Praxis – eine gewisse Toleranz; sie bedrohten den politischen Status quo nicht. Die Ketzer aber wurden mit unnachsichtlicher Grausamkeit behandelt, weil sie tatsächlich eine Gefahr für den Status quo – die Struktur Herr-Knecht – darstellten:

Wenn er [der Ketzer] hartnäckig befunden wird, muss sich die Kirche, wenn sie auf seine Bekehrung nicht mehr hofft, um das Heil der anderen kümmern und ihn durch das Urteil der Exkommunikation von der Kirche trennen. Dann überlasse man ihn dem weltlichen Gericht, um ihn aus der Welt durch den Tod auszurotten (exterminandum!). (Thomas von Aquin, STh II, II, 11, 3)

Die städtische Protobourgeoisie – wie man diese Schichten nennen könnte – wurde zur Trägerin der gesellschaftlichen Aufspaltung im feudalen Abendland. Sie war der Ort der großen mittelalterlichen Ketzerbewegungen, die schließlich in die ideologische Revolution der Reformation mündeten. Hätten sich die Kaiser restlos gegen das Papsttum durchgesetzt, wäre auch das Abendland zu einem absoluten Gebilde wie Byzanz geworden. In Russland z.B. ist es zur folgenreichen Spaltung der herrschenden Klasse nicht gekommen. Zwar konnten die Einwohner der russischen Gorod vor allem in Kiew und Nowgorod (11. bis 12. Jahrhundert) ihre Interessen durch eine Volksversammlung (Vetsche) artikulieren (Hellmann 1973, 58ff), sich aber nicht zu einem privilegierten, eigenen Gesetzen gehorchenden, außerhalb des Feudalsystems Herr-Knecht stehenden Stand, zur Protobourgeoisie entwickeln. Die tatarische Herrschaft kontrollierte vom 13. bis zum 16. Jahrhundert die interregionalen Handelswege nach Zentralasien und in die Gebiete um das Schwarze Meer. Sie bedeutete eine schwere Belastung für den interregionalen Handel, die materielle Basis der maßgeblichen städtischen Schichten. Außerdem konnte sie die größeren Territorialfürsten gegeneinander ausspielen, und in den Kämpfen der russischen Fürsten gegeneinander wurden auch solch mächtige Städte wie Nowgorod zerrieben. Als die Moskauer Großfürsten die russischen Gebiete einigen konnten, fanden sie kein selbstbewusstes und materiell gesichertes Stadtbürgertum vor. Ihre Autokratie unterschied sich deshalb wesentlich vom Absolutismus etwa im Frankreich der gleichen Epoche. Die Kirche fügte sich nahtlos in das System der Autokratie ein, die sich auf die Grundherrschaft, das Bojarentum, stützte. Eine Reformation konnte nicht stattfinden, weil die gesellschaftliche Trägerschicht fehlte.

Der Kampf um die Hegemonie im Abendland wurde nicht entschieden. Nutznießer dieser historischen Anomalie waren die Städte und ihr Zweckverband, der entstehende Nationalstaat. Am Ende des 13. Jahrhunderts hatten sich Papsttum und Kaisertum in ihrem verbissenen Kampf restlos verausgabt. Jener König, der sich nicht länger König der Franken, sondern König Frankreichs nannte6, Philippe Auguste (1180–1223), dokumentierte damit, dass er, anders als der römische Kaiser deutscher Nation und anders als der römische Papst, keine universellen, sondern nur regionale Ansprüche hatte. Als der Nationalstaat Frankreich aus den Wirren der mörderischen Bürgerkriege (bekannt geworden als Albigenserkriege 1209–1229) hervorging, fand sein König privilegierte Städte mit einer selbstbewussten Bevölkerung vor. Auf sie war er in seinem Kampf gegen jenen Adel angewiesen, der sich der Macht einer nationalen Monarchie widersetzte.Seine Macht war zwar auf ein bestimmtes Territorium beschränkt, innerhalb dieses Territoriums hatte sich aber auch die Kirche der königlichen Macht zu fügen. Philippe IV. (1285–1314) ließ den Papst Bonifatius VIII. wissen, er sei in seinem Königreich genauso souverän wie der Papst in seinem Bereich.7 Bonifatius dagegen bestand weiterhin darauf, von allen, auch von Kaisern und Königen, als höchste Autorität in geistlichen und weltlichen Dingen anerkannt zu werden. Philippe holte nach dem Tod des Bonifatius im Jahr 1303 den Papst Klemens V. (1305–1314) nach Frankreich, wo das Papsttum von den Königen Frankreichs sozusagen zum Nationaleigentum erklärt wurde; man internierte die Päpste in Avignon (1305–1376). In der ersten Hälfte des 14. Jahrhunderts wurde sowohl in Frankreich wie auch im Königreich Bayern die Ideologie des Reformpapsttums umgedreht. Das Volk und seine gewählten Fürsten sind der Souverän; der Staat, und nicht der Papst, ist der »Verteidiger des Friedens«. Dies war der Titel einer Schrift des Philosophen Marsilius von Paduaaus dem Jahr 1324 (Defensor pacis); die Kirche sei demnach lediglich »Teil und Funktion der Gesellschaft bzw. des Staates«, pars et officium civitatis. Das ist weniger eine Vorform der demokratischen Volkssouveränität als vielmehr des Absolutismus. Die politische Theorie des Marsilius wollte die Anomalie des Abendlandes beseitigen und Herrschaft normalisieren, das heißt, an die Normen der Herrschaft in Byzanz, des Kalifats usw. anpassen. Dieser Versuch scheiterte, weil die Emanzipation der Protobourgeoisie zu weit fortgeschritten war, um sie zurückdrängen zu können.Bereits hier zeigt sich die Weggabelung der Neuzeit: auf der einen Seite der absolutistische Nationalstaat mit dem Merkantilismus als ökonomischem Fundament und der Kirche als ideologischem Apparat des Staates; auf der anderen die bürgerliche Republik in den Niederlanden nach 1579, wo der Freihandel in den Mittelpunkt rückte und die Kirchen tunlichst auf Distanz gehalten wurden. In beiden Fällen war das Hegemonieprojekt der herrschenden grundbesitzenden Klassen, die Herren-Knechte-Struktur, endgültig zerschlagen. Denn der absolutistische Nationalstaat lebte zunehmend vom Gewerbe und dem Geld der Bourgeoisie. Dass diese ökonomisch wichtigste Klasse eines Tages ihre politischen Ansprüche anmelden und den absolutistischen Staat zerschlagen würde, war nur eine Frage der Zeit.

1.1.2 Die Anomalie des Abendlandes

Wir unterbrechen die historische Darstellung des Werdegangs der Bourgeoisie, weil wir zunächst eine Frage beantworten müssen: »Warum konnte so etwas wie eine Bourgeoisie nicht überall entstehen?« Sonst bleiben wir im Rahmen eines falschen Selbstbewusstseins des Abendlandes, das sich bis heute als das Maß aller Dinge sieht. Wir werden sehen, dass eine solche Fragestellung in die Irre führt. Die einzige Frage, auf die eine vernünftige Antwort möglich ist, lautet: »Wie ist sie in Europa entstanden?« Die Beweislast liegt bei Europa und nicht bei den anderen Kulturen. Die Bewegung der Kommune schuf eine eigene Gesetzlichkeit, die auf die Interessen der städtischen Handwerker und der Kaufleute abgestimmt war. Es gab Kaufleute, es gab Gewerbetreibende, es gab Stadtregierungen, die nach eigenen Gesetzen walteten, Gesetzen, die jenseitsder Gesetzlichkeit(privi-legium!) der abendländischen Feudalstruktur Geltung hatten. Henri Pirenne schrieb:

Der wesentliche Unterschied zwischen den Kaufleuten und den Handwerkern der entstehenden Städte einerseits und der ländlichen Gesellschaft, innerhalb deren sie erschienen, andererseits, ist, dass ihre Lebensart nicht länger durch ihre Beziehung mit dem Land bestimmt war. In dieser Hinsicht bildeten sie im buchstäblichen Sinne des Worte eine Klasse der Entwurzelten [déracinés]. (a.a.O., 39)8

Sie wurden geschützt von solchen neuen Souveränen wie dem französischen König, dem brabantinischen Herzog oder dem holländischen Grafen seit Mitte des 13. Jahrhunderts und von Adligen, die sich nicht länger als Gefolgsleute irgendeines Kaisers betrachteten, sondern Herr im eigenen Land waren. Für ihre Politik waren sie vor allem auf die finanzielle Unterstützung der Städte angewiesen, und die Abzweigung dieses Geldes war nicht selten mit Gewaltanwendung verbunden. Zwischen der monarchischen Führung des sich bildenden Nationalstaates und den Städten bestand ein politisches, aber konfliktdurchsetztes9 Zweckbündnis. Aus dem politischen, sozialen und wirtschaftlichen Chaos der Periode 1300–1500 gingen der Hochadel und die Protobourgeoisie der Städte gestärkt hervor, die kleinen und mittleren Grundbesitzer des niederen Adels und die Geistlichkeit verloren an Macht und Einfluss.10

In allen Kulturen gab es städtische Handwerker und städtische Kaufleute, auch in den afrikanischen Reichen vor dem Kolonialismus, in China, in Indien, auch in der altorientalischen Antike. Ihre Lebensart war ebenfalls nicht länger bestimmt durch die Abläufe des bäuerlichen Lebens. Handwerk und Vertrieb von Waren prägten die Lebensführung in den Städten. Überall, wo durch technische Erneuerungen, außenpolitische Ruhe und effektive Verwaltung das ökonomische Gesellschaftsprodukt wuchs und neue Produkte zur Befriedigung neuer Bedürfnisse entstanden, wurden die arbeitsteiligen Strukturen in der Produktion vertieft. Das Handwerk fertigte seine Produkte nicht länger für den Herrn und für die Bevölkerung auf dem Lande, sondern auch für Angehörige anderer Gewerbezweige und sogar für auswärtige Märkte. Der Bedarf an Luxuskonsumgütern wie erlesenen Textilien oder exotischen Gewürzen musste von Händlern gedeckt werden, die bereit waren, ein erhebliches finanzielles Risiko auf sich zu nehmen. Die Geldmittel für den Ankauf von teuren Waren in weit entfernten Gebieten mussten beschafft werden. Wo der Warentransport über das Meer erfolgte, mussten kostspielige Transportmittel hergestellt werden. Wir sehen, dass überall Spezialistengruppen in neuen Gewerben und bei neuen Dienstleistungen tätig waren. Das gewerbliche Bild, das wir uns von den norditalienischen Städten und von den flämischen und brabantinischen Textilindustriezentren im 13. Jahrhundert machen können, unterscheidet sich äußerlich nicht wesentlich vom geschäftlichen Treiben in den Städten Mesopotamiens, Syriens und Nordafrikas in der gleichen Zeit (Hourani 1992, 149ff.; Cahen 1968, 158ff). Wir scheinen keine grundsätzlich andere Welt zu betreten, wenn wir uns mit den städtischen Zentren während der chinesischen Dynastien der Tang und der Sung zwischen 600 und 1000 u.Z. beschäftigen. Dort gab es Bevölkerungsschichten, die ihr Auskommen im Handwerk fanden und es gelegentlich zu großem Wohlstand brachten, auch dort gab es reisende Kaufleute und städtische Kaufmannsschichten (W. Böttger 1979, 171ff). In den westafrikanischen Reichen gab es in der Zeit ab 1000 u.Z. große Handelsmetropolen, wo Kaufleute und Gewerbetreibende den Hauptanteil der Bevölkerung stellten (Ki-Zerbo 1979, 175ff). Die Bewohner solcher Städte waren keine Bauern mehr, lebten nicht länger wie die Bauern, aber waren sie deswegen »Entwurzelte«? Überall sehen wir ein lebendiges politisches und kulturelles Leben, große Städte (Bagdad, Damaskus, Kairo, Konstantinopel waren deutlich größer als alles, was es bis zum Anfang der Neuzeit im Abendland an Städten gab), rege und vertieft arbeitsteilige Wirtschaft, internationalen Handel (Sindbad der Seefahrer!), Ansätze zu einem funktionsfähigen Kreditwesen11. Aber nirgends sehen wir eine privilegierte, also aus der normierten Gesetzlichkeit der Herren-Knechte-Struktur herausgenommene Protobourgeoisie und einen von ihr durchweg ökonomisch abhängigen, mit ihr kooperierenden Nationalstaat. Alle Bewohner des islamischen Ostens blieben eingebettet in einer uniformen Herrschaftsstruktur mit uniformem Recht für alle, auf dem Land, in der Stadt, soweit die Rechtsmaterie (Großhandelsgeschäfte, Kontrakte über Veräußerung von Immobilien usw.) nicht detaillierte Spezialregelungen verlangte. Das Recht blieb überall Königs- bzw. Sultansrecht. Ähnliches kann vom chinesischen Kaiserreich gesagt werden. Auch Max Weber hat die Anomalie gesehen. Er typisiert im Nachlassband Wirtschaft und Gesellschaft die Stadt als »nichtlegitime Herrschaft«, schreibt aber:

Nicht jede ›Stadt‹ im ökonomischen und nicht jede im politisch-administrativen Sinne einem Sonderrecht der Einwohner unterstellte Festung war eine ›Gemeinde‹. Eine Stadtgemeinde im vollen Sinne des Wortes hat als Massenerscheinung vielmehr nur der Okzident gekannt. (Weber1972, 736)

Weber kennt, ohne ihm auf den Grund zu gehen, den Unterschied zwischen der mittelalterlichen Stadt des Abendlandes und den chinesischen, indischen, orientalischen Städten:

Unbekannt oder nur in Ansätzen bekannt war ihnen die autonome Verwaltung, vor allem aber – das ist das Wichtigste – der Verbandscharakter der Stadt und der Begriff des Stadtbürgers im Gegensatz zum Landmann. (a.a.O.)

Das abendländische Mittelalter war wesentlich vom sozialen Kampf der städtischen Schichten geprägt. Oft spielten sich die Auseinandersetzungen auf der ideologischen Ebene als Ketzerbewegungen