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Materielles Eigentum war gestern. Die Zukunft gehört virtuellen Gütern – und dem Zugriff auf sie. Unter dem Stichwort »Access« brachte Jeremy Rifkin diesen Trend schon vor einigen Jahren auf den Punkt. Heute gibt ihm die Realität Recht: Seine Thesen sind jetzt aktueller denn je.
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Seitenzahl: 576
Jeremy Rifkin
Access - Das Verschwinden des Eigentums
Warum wir weniger besitzen und mehr ausgeben werden
Aus dem Englischen von Klaus Binder und Tatjana Eggeling
www.campus.de
Information zum Buch
Materielles Eigentum war gestern. Die Zukunft gehört virtuellen Gütern – und dem Zugriff auf sie. Unter dem Stichwort »Access« brachte Jeremy Rifkin diesen Trend schon vor einigen Jahren auf den Punkt. Heute gibt ihm die Realität Recht: Seine Thesen sind jetzt aktueller denn je. Rifkin analysiert die gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Umwälzungen in gewohnter Schärfe und entwirft ein eindrucksvolles Bild der Access-Gesellschaft: Aus Märkten werden Netzwerke, wir streben nicht mehr nach Eigentum, sondern nach Verfügbarkeit. Ein neuer Kapitalismus entwickelt sich, kulturelle Ressourcen werden in käufliche Erlebnisse verwandelt. Doch Rifkin sieht auch die Risiken. Unsere zentrale Aufgabe wird es sein, das Gleichgewicht zwischen Kultur und Kommerz neu zu finden.
Informationen zum Autor
Jeremy Rifkin ist streitbarer Intellektueller und Querdenker im besten Sinne. Er ist Gründer der Foundation on Economic Trends und unterrichtet an der renommierten Wharton School. In seinen Büchern bringt er die großen wirtschaftlichen, gesellschaftlichen und politischen Zukunftsthemen auf den Punkt. Mit Das Ende der Arbeit (Campus 1995), Access (Campus 2001) sowie Der Europäische Traum (2004) löste er hierzulande wichtige Debatten aus.
Die amerikanische Originalausgabe The Age of Access erschien 2000 bei Jeremy P. Tarcher/Putnam, New York.
Copyright © 2000 by Jeremy Rifkin.
Das Vorwort zur 3. Auflage wurde übersetzt von Jürgen Neubauer.
Copyright © 2007 by Jeremy Rifkin.
Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.
Copyright © 2002, 2007. Alle deutschsprachigen Rechte bei Campus Verlag GmbH, Frankfurt am Main
Umschlaggestaltung: Guido Klütsch, Köln
Konvertierung Koch, Neff & Volckmar GmbH,
KN digital – die digitale Verlagsauslieferung, Stuttgart
ISBN der Printausgabe: 978-3-593-38374-3
E-Book ISBN: 978-3-593-40356-4
www.campus.de
Als das Buch Access im Jahr 2000 erschien, befanden wir uns in der Frühphase einer Kommunikationsrevolution, die schon damals unsere Wirtschaft, unser gesellschaftliches Miteinander und unsere Wahrnehmung der Welt zu verändern begann. Heute dringt die Informationstechnologie bis in die entferntesten Winkel der Erde und das tiefste Innere des menschlichen Geistes vor und revolutioniert unser Verständnis von Raum, Zeit und sogar vom Sinn des Lebens. Wir verknüpfen die Zentralnervensysteme von Milliarden von Menschen, verorten uns in einem Labyrinth neuer Beziehungen und stellen liebgewonnene Selbstbilder in Frage. Die Vorstellung eines eindimensionalen und autonomen Selbst, wie es das Zeitalter der Aufklärung hervorgebracht hat, weicht der Vorstellung eines vieldimensionalen und interdependenten Selbst und eines sich ständig verändernden Menschen, der dank seiner chamäleon- und schauspielerhaften Natur besser in der Lage ist, seine Rollen zu wechseln und sich an die rasch veränderten Bezugssysteme und die vielfältigen Realitäten der global vernetzten Welt anzupassen. Die durch die IT-Revolution bewirkten Veränderungen der menschlichen Persönlichkeit und des gesellschaftlichen Umfeldes sind in Umfang und Bedeutung den Bewusstseinsveränderungen vergleichbar, die mit dem Übergang von der Schrift- zur Druckkultur einhergingen und die Moderne einläuteten.
In den vergangenen sechs Jahren haben wir eine schwindelerregende |4|Vielfalt an neuen Technologien erlebt, die Marshall McLuhans Vorstellung eines elektronisch vernetzten globalen Dorfes erstmals für Hunderte Millionen Menschen haben Wirklichkeit werden lassen. Google macht buchstäblich die gesamte jemals aufgezeichnete Geschichte für jedermann zugänglich und verwandelt jeden von uns in einen globalen Bibliothekar. YouTube, MySpace, Facebook und andere Internet-Communities erweitern unser Verständnis von Gemeinschaft, indem sie die traditionellen Wände der Privatsphäre einreißen und intimste Details aus dem Privatleben von Millionen von Menschen eröffnen. Die Demokratisierung des menschlichen Miteinanders und Austauschs erlaubt es einer jüngeren Generation, die herkömmlichen Barrieren von Klasse, Rasse, Ethnie und Religion abzubauen, die der gesellschaftlichen Kommunikation so lange Grenzen gesetzt haben.
Millionen von Bloggern, die selbsternannten Chronisten unserer Tage, stellen das herkömmliche Modell der Nachrichtenproduktion und -verbreitung in Frage und bieten eine Alternative zu den älteren, hierarchischen Kanälen der Massenkommunikation. Die Menschheit wird heute rund um die Uhr mit neuen Chats und Kommentaren versorgt, jeder wird zum potenziellen Produzenten, Verteiler und Empfänger von Nachrichten.
Gleichzeitig stellen die neuen Open Source-Modelle wie Linux orthodoxe Wirtschaftsmodelle auf den Kopf, was weitreichende Auswirkungen auf die zukünftige wirtschaftliche Theorie und Praxis haben wird. Die Aussage des schottischen Wirtschaftstheoretikers Adam Smith, nach der jeder Mensch auf dem Markt sein Eigeninteresse verfolgt und so zum Wohl der Menschheit beiträgt, wird radikal infrage gestellt von einem Open Source-Modell: Der Einzelne erfährt eine Aufwertung, indem er großzügig anderen seine Zeit, sein Talent und seine Ressourcen zur Verfügung stellt, um auf diese Weise globale Netzwerke aufzubauen und das gemeinsame Produkt zu optimieren. Die altmodische Vorstellung des Marktes als einem Schlachtfeld, auf dem die konkurrierenden Teilnehmer versuchen, auf Kosten der anderen den größtmöglichen persönlichen |5|Vorteil zu gewinnen, wird vom Netzwerkmodell in Frage gestellt, nach dem die Teilnehmer gemeinsam Risiken eingehen, Informationen frei zugänglich machen und zusammenarbeiten, um gemeinsam Werte zu schaffen. Der Wandel von ökonomischen Modellen, nach denen es Verlierer und Gewinner gibt, hin zu Modellen, bei denen alle Beteiligten gewinnen, ist ein Bruch mit der klassischen ökonomischen Theorie, dessen Tragweite wir noch nicht absehen können.
Wer hätte sich beispielsweise noch vor wenigen Jahren vorstellen können, dass Menschen in aller Welt ihre Zeit frei zur Verfügung stellen würden, um Artikel zu schreiben, zu redigieren, zu korrigieren und zu aktualisieren, um auf diese Weise eine Enzyklopädie des menschlichen Wissens zu schaffen, deren Fehlerquote nicht größer ist als die der professionell verlegten Encylopedia Britannica? Im Falle der Wikipedia wird der Inhalt kostenlos erstellt und das Ergebnis ist kostenlos zugänglich.
Wo die philosophische Tradition der Aufklärung das Bild eines Menschen als souveränem Einzelwesen vertrat, nimmt der Mensch im Internetzeitalter zahlreiche Rollen ein und gehört vielen Gemeinschaften an, die den gesamten Globus umspannen, die Grenzen von Raum und Zeit aufheben und ein Gefühl universeller Verbundenheit erzeugen. René Descartes’ berühmter Satz »Ich denke, also bin ich« wird abgelöst durch den Satz »Ich nehme teil, also bin ich«. In diesem neuen Zeitalter hat Freiheit weniger mit der Vorstellung zu tun, »im Besitz seiner selbst« zu sein, sondern vielmehr damit, »verbunden« zu sein. Aus diesem Grund verliert der traditionelle Wert des Besitzerwerbs, der als Mittel zur Vergrößerung der eigenen Autonomie und damit des Gefühls der Freiheit galt, an Bedeutung gegenüber dem neuen Wert der Zugangsoptimierung für andere. In diesen neuen Bezügen wird Lebensqualität nicht an materiellem Eigentum und Autonomie festgemacht, sondern am Grad der Teilhabe an Erfahrungen. Zugang ist der Schlüssel zur Vertiefung von Beziehungen. Wir sind umso freier, je mehr Zugang wir zum stetig wachsenden Netz von Beziehungen und Verbindungen |6|haben, von denen jede neue Möglichkeiten eröffnet, neue Dimensionen des eigenen Selbst zu erfahren.
Wie vorangegangene Epochen entwickelt sich das Access-Zeitalter in einem dialektischen Prozess und ist daher voller Widersprüche. In der Tat wird seine weitere Entwicklung davon abhängen, wie wir mit diesen Widersprüchen umgehen. So kann beispielsweise die Verringerung räumlicher und zeitlicher Distanzen die Menschheit näher zusammenführen und die damit verbundene größere Dichte und soziale Interaktion ein offeneres, toleranteres und kosmopolitischeres Bewusstsein hervorbringen; sie kann aber genauso die Entwicklung einer hektischen, hyperaktiven und narzisstischen Persönlichkeit befördern. Die wachsende Anzahl von Rollen und Zugehörigkeiten kann einen flexibleren und aufmerksameren Menschen hervorbringen, aber auch jemanden mit einer zersplitterten Selbstwahrnehmung und einem schwach ausgeprägten Identitätsgefühl, der nicht in der Lage ist, erfolgreich in einer komplexen und vernetzten Welt zu navigieren.
Eines lässt sich mit Sicherheit sagen: Die neuen Technologien schaffen die Bedingungen für eine globalisierte menschliche Erfahrung. Es ist nach wie vor offen, ob wir mit den neuen vernetzten Technologien einem besseren Verständnis unserer gemeinsamen Verantwortung und einer gemeinsamen Zielsetzung der menschlichen Art näher kommen, oder ob die menschliche Gesellschaft weiter in zahllose, miteinander konkurrierende Netzwerke zerfällt, von denen jedes seine eigenen Sprache spricht und seine eigene Mission verbreiten will. Indem wir definieren, was Zugang für uns bedeutet, definieren wir letztlich das Zeitalter selbst, und mit ihm die nächste Etappe der menschlichen Reise auf dem Planeten Erde.
2. Januar 2007
Jeremy Rifkin
|7|Teil I
|9|KAPITEL 1
Eigentum bleibt nicht, was es war. Und das wird weitreichende Folgen für das gesellschaftliche Leben haben. Seit Beginn der Neuzeit waren Eigentum und Märkte Synonyme. Im Zentrum der kapitalistischen Wirtschaftsweise steht der Tausch von Eigentum auf dem Markt. Das Wort market ist in der englischen Sprache erstmals im 12. Jahrhundert aufgetaucht und bezeichnete den physischen Ort, an dem Verkäufer und Käufer Waren und Vieh tauschen konnten. Ende des 18. Jahrhunderts wurde der Begriff von jedem räumlich-geografischen Bezug befreit und beschreibt seither den abstrakten Prozess des Verkaufens und Kaufens.1 Entsprechend hat auch das deutsche Wort Markt seine Bedeutung erweitert. Die Welt, wie wir sie kennen, ist so eng an den Prozess des Verkaufens und Kaufens gebunden, dass wir uns gar nicht vorstellen können, wie die Menschen ihre Angelegenheiten anders organisieren könnten. Der Markt ist die Macht, die unser gesamtes Leben durchdringt. Seinen Stimmungen und Umschwüngen können wir uns nicht entziehen. Sein Wohlergehen wird zum Maßstab unseres eigenen. Sind die Märkte gesund, fühlen wir uns im Auftrieb. Werden sie schwach, verzweifeln wir. Der Markt ist der Führer und Ratgeber, manchmal auch der Fluch unserer Existenz.
Schon kleine Kinder machen ihre Erfahrungen mit dem Markt. Welcher Youngster hat sich nicht die Nase an einem Schaufenster platt gedrückt und schüchtern gefragt: »Was kostet das?« Von klein |10|auf lernen wir, dass praktisch alles einen Preis hat und zu kaufen ist. Wenn wir älter werden, führt man uns an die dunkle Seite des Marktes heran, wir hören die Warnung caveat emptor: Käufer, nimm dich in Acht. Wir leben unter der unsichtbaren Macht des Marktes nach dessen Regeln und richten unser Leben nach der Maxime, billig zu kaufen und teuer zu verkaufen. Wir lernen, dass Erwerb und Akkumulation von Besitz ganz wesentlich zu unserem Dasein gehören, lernen, dass das, was wir sind, zu einem guten Teil Spiegelbild dessen ist, was wir besitzen. Unsere Vorstellungen davon, wie die Welt funktioniert, beruhen größtenteils darauf, was wir als quasi natürlichen Drang betrachten, nämlich Güter miteinander auszutauschen und wohlhabende Mitglieder der Gesellschaft zu werden.
Mit schier unerschütterlicher Ergebenheit haben wir den Markt zu unserer Sache gemacht. Wir singen sein Lob und mahnen seine Kritiker. Wer hätte nicht, zumindest hin und wieder, die Vorteile von Eigentum und Märkten mit Leidenschaft verteidigt? Ob Freiheit des Individuums, unveräußerliche Menschenrechte oder Gesellschaftsvertrag: Diese Ideen sind allesamt Ausgeburten dieser unsichtbaren und grundlegenden gesellschaftlichen Konvention.
Eben diese Grundlage des neuzeitlichen Lebens befindet sich heute in Auflösung. Die Institution, die einst Menschen in ideologische Kämpfe verwickelte, in Revolutionen und Kriege trieb, stirbt im Gefolge einer neuen Konstellation ökonomischer Realitäten langsam ab und die Gesellschaft steht vor der Frage, welche Bindungen und Grenzen die menschlichen Beziehungen im kommenden Jahrhundert bestimmen werden.
Im kommenden Zeitalter treten Netzwerke an die Stelle der Märkte, und aus dem Streben nach Eigentum wird Streben nach Zugang, nach Zugriff auf das, was diese Netzwerke zu bieten haben. Unternehmen und Verbraucher machen erste Schritte, den zentralen Mechanismus des neuzeitlichen Wirtschaftslebens auszuhebeln – den Tausch von Eigentum zwischen Verkäufern und Käufern auf Märkten. Das bedeutet nicht, dass es im kommenden |11|Zeitalter kein Eigentum mehr geben wird. Ganz im Gegenteil. Eigentum wird weiter fortbestehen, aber es wird wahrscheinlich viel seltener getauscht werden. Die Anbieter der neuen Ökonomie werden ihr Eigentum behalten, sie werden es verpachten und vermieten oder auch Zugangsgebühren, Abonnements- oder Mitgliedsbeiträge für seinen befristeten Gebrauch erheben. Der Austausch von Eigentum zwischen Verkäufern und Käufern – das Grundschema des neuzeitlichen Marktsystems – wird abgelöst vom kurzfristigen Zugang, wobei Anbieter und Kunden in einem Netzwerk miteinander verbunden sind. Märkte bleiben bestehen, spielen für die Beziehungen zwischen den Menschen jedoch eine immer geringere Rolle.
In der vernetzten Wirtschaft ist materielles wie geistiges Eigentum für Unternehmen etwas, auf das man zugreift, der Austausch wird zurückgehen. Eigentum an Sachkapital jedoch, im Industriezeitalter Kern nicht nur des Wirtschaftslebens, wird für den ökonomischen Prozess immer unbedeutender. Es wird von Unternehmen eher als Betriebsausgabe betrachtet denn als Vermögenswert, als etwas, das man besser leiht als besitzt. Auf der anderen Seite wird geistiges Kapital zur treibenden Kraft der neuen Ära und zum eigentlichen Objekt der Begierde. Konzepte, Ideen und Vorstellungen – nicht Dinge – sind in der neuen Ökonomie die Gegenstände von Wert. Reichtum wird nicht länger mit materiellem Kapital verbunden, sondern mit menschlicher Vorstellungskraft und Kreativität. Geistiges Kapital, das soll gleich gesagt sein, wird allerdings kaum ausgetauscht. Stattdessen steht es unter der Verfügung von Anbietern, die es potenziellen Nutzern zur begrenzten Nutzung verleihen oder in Lizenz vergeben.
Unternehmen sind in diesem Übergang vom Besitz zum Zugang schon ein Stück vorangekommen. In einem gnadenlosen Wettbewerb verkaufen sie ihren Grundbesitz, verschlanken ihr Inventar, leasen ihre Ausstattung und lagern ihre Aktivitäten aus; sie wollen sich von jeglichem immobilen Besitz befreien. Dinge, und zwar möglichst viele, zu besitzen, wird in der an Schnelligkeit und Flexibilität |12|orientierten Wirtschaft des neuen Jahrhunderts als überholt und lästig betrachtet. In der heutigen Geschäftswelt wird fast alles geliehen, was ein Unternehmen zu seinem Betrieb braucht.
Drehte sich auf den herkömmlichen Märkten alles um Verkäufer und Käufer, stehen heute Anbieter und Nutzer im Mittelpunkt. In der vernetzten Wirtschaft treten strategische Allianzen an die Stelle von Markttransaktionen: Man trifft Vereinbarungen über die gemeinsame Nutzung von Ressourcen und über die Aufteilung der Gewinne. Viele Unternehmen verkaufen nicht länger fertige Produkte an andere. Sie vereinigen und teilen ihre Ressourcen; sie schaffen riesige Netze, in denen Anbieter und Nutzer gemeinsam das Geschäft des jeweils anderen mit betreiben.
Es kann nicht überraschen, dass diese neue Organisation des Wirtschaftslebens auch neue Möglichkeiten schafft, ökonomische Macht in der Hand von immer weniger Unternehmen zu konzentrieren. Im Zeitalter der Märkte konnten Institutionen den Austausch von Gütern zwischen Verkäufern und Käufern infolge ihrer Akkumulation von materiellem Kapital zunehmend beherrschen. Im Zeitalter der Netzwerke gewinnen Anbieter, die wertvolles geistiges Kapital angehäuft haben, zunehmend Macht über die Bedingungen, unter denen Nutzer auf gewinnträchtige Ideen, Wissen und Fachkenntnisse zugreifen können.
Geschäftserfolg hängt in der vernetzten Ökonomie weniger vom wiederholten Austausch auf dem Markt ab, sondern eher davon, dass es gelingt, langfristige Geschäftsbeziehungen aufzubauen. Ein Beleg dafür ist das gewandelte Verhältnis zwischen Gütern und sie begleitenden Dienstleistungen. Im klassischen Industriezeitalter wollten Unternehmen vorrangig ihre Produkte verkaufen; kostenlose Servicegarantien setzten Kaufanreize. Heute ist dies geradezu umgekehrt. Immer häufiger geben Unternehmen ihre Produkte buchstäblich umsonst ab: Sie hoffen stattdessen auf langfristige Servicebeziehungen zu ihren Kunden.
Auch die Verbraucher orientieren sich um: Sie streben weniger nach dem Eigentum an einer Sache, denn nach ihrer Verfügbarkeit. |13|Zwar werden niedrigpreisige haltbare Dinge auch weiterhin gekauft und verkauft werden, teurere Objekte jedoch, Geräte, Autos oder Häuser, werden zunehmend von Anbietern gehalten werden, die den Konsumenten über zeitlich befristete Leasing- oder Mietverträge, Mitgliedschaften und andere Dienstangebote Zugang und Nutzung gewähren.
In 25 Jahren wird ein Großteil der Unternehmen und Konsumenten Eigentum wahrscheinlich für altmodisch halten. Es ist eine zu langsame Institution in einer Welt, die immer schnelllebiger wird, in der auch das kulturelle Leben im Takt von Nanosekunden pulsiert. Die Idee des Eigentums beruht auf der Annahme, dass materielle Vermögenswerte oder Anteile daran ihren Wert über eine lange Zeitspanne behalten. »Eigentum« und »akkumulieren« waren über lange Zeit hinweg sorgsam gehegte und gepflegte Lebenskonzepte. Nun jedoch überholen die rasante technische Innovation und die aktuellen ökonomischen Aktivitäten mit ihrem schwindelerregenden Tempo alle Vorstellungen, die wir an Eigentum geknüpft haben. Maßgeschneiderte Produktion, permanente Innovation und kontinuierliche Verbesserung sowie immer kürzere Lebenszyklen von Produkten: In dieser Welt hat nichts Bestand. In einer Ökonomie, deren einzige Konstante der Wandel ist, macht es wenig Sinn, bleibende Werte anzuhäufen.
Das neue Jahrhundert wird also von Geschäftsgrundlagen bestimmt, die völlig anders funktionieren als die der klassischen Marktwirtschaft. Netzwerke treten an die Stelle der Märkte, Verkäufer und Käufer werden zu Anbietern und Nutzern, und was bislang käuflich war, wird »zugänglich«. Zugang, Zugriff, »Access« sind die Schlüsselbegriffe des anbrechenden Zeitalters.
Der Wandel von einem Regime des Besitzens, das auf der Vorstellung von weit gestreutem Eigentum basiert, zu einem des Zugangs, das die kurzfristige und begrenzte Nutzung von Vermögenswerten sichert, die von Anbieternetzwerken zur Verfügung gestellt werden – dieser Wandel wird das Wesen ökonomischer Macht in den kommenden Jahren radikal verändern. Weil unsere |14|politischen Institutionen und Gesetze von Eigentums- und damit von Marktverhältnissen geprägt sind, führt der Übergang von der Idee des »Eigentums« zu der des »Zugangs« auch zu grundlegenden Veränderungen im politischen Leben des kommenden Jahrhunderts. Seit Jahrhunderten schon stiften persönlicher Besitz und Eigentum Identität und gelten als »Maß« für den Wert eines Menschen. Eine gewandelte Vorstellung von Eigentum im Wirtschaftsleben wird den Blick zukünftiger Generationen auf sich selbst und auf das Leben als solches nachhaltig verändern. Sehr wahrscheinlich wird eine Welt, die durch »Access«-Beziehungen geprägt ist, eine andere Art Menschen hervorbringen.
Die Umstrukturierung wirtschaftlicher Beziehungen ist Teil einer weit umfassenderen Transformation des kapitalistischen Systems insgesamt. Langfristig wird die rein industrielle Produktion an Bedeutung verlieren. Statt auf traditionelle Industriegüter und Dienstleistungen wird sich das Kerngeschäft zunehmend auf die Vermarktung von Erlebnissen und Erfahrungen konzentrieren. Reisen in alle Welt, Themenstädte und -parks, Entertainmentzentren, Wellness, Mode und Essen, Profisport, Glücksspiel, Musik, Film, Fernsehen, die virtuelle Welt des Cyberspace und elektronisch vermittelte Unterhaltung jeglicher Art – diese Produkte werden im Zentrum eines neuen Hyperkapitalismus stehen, der den Zugang zu kulturellen Erfahrungen kommerziell verwertet.
Die Metamorphose der industriellen Produktion in einen Kultur vermarktenden Kapitalismus wird begleitet von einem gleichermaßen nachhaltigen Wandel der bisherigen Arbeitsethik in eine Spaß- und Spielethik. Kennzeichen des Industriezeitalters war die Vermarktung der Arbeit, im Zeitalter des Zugangs wird dies vor allem die Vermarktung des Spiels sein – das Marketing kultureller Ressourcen, etwa der Künste sowie von Ritualen, Festivals, sozialen Bewegungen, spirituellen Aktivitäten, Gemeinschaftserlebnissen und staatsbürgerlichem Engagement: all das in Gestalt bezahlter persönlicher Unterhaltung. Die Konkurrenz zwischen Kultur und Kommerz wird im neuen Zeitalter ökonomisch bestimmend sein: |15|Es geht nun um die wirtschaftliche Kontrolle des Zugangs zu den vielfältigen Vergnügungen.
Überall auf der Erde bauen transnationale Medienkonzerne weltumspannende Kommunikationsnetze auf und beuten lokale kulturelle Ressourcen aus: neu verpackt als Unterhaltungsprodukte und Kulturware. Heute schon gibt das reiche obere Fünftel der Weltbevölkerung für den Zugang zu kulturellen Erlebnissen genauso viel aus wie für Fertigerzeugnisse und Dienstleistungen. Wir erleben die Transformation zu einer »Erlebnis«-Ökonomie – wie es die Wirtschaftsexperten getauft haben – in eine Welt, in der das Leben eines jeden Einzelnen zuletzt zum kommerziell ausbeutbaren Faktor wird. In bestimmten Branchen spricht man schon heute vom lifetime value eines Konsumenten, einem Maß für die Werte, die sich mit einem Menschen schöpfen lassen, wenn jeder Augenblick seines oder ihres Lebens in irgendeiner Form vermarktet wird. Im neuen Zeitalter kaufen die Menschen ihre bloße Existenz in kleinen kommerziellen Segmenten.
Zwischen zwei Welten
Auf den globalen Märkten beginnt die kulturelle Produktion die materielle zu überflügeln. Die alten Kolosse des Industriezeitalters – Exxon, General Motors, USX und Sears – weichen den neuen Giganten des kulturellen Kapitalismus – Viacom, Time-Warner, Disney, Sony, Seagram, Microsoft, News Corporation, General Electric, Bertelsmann AG und PolyGram. Diese transnationalen Medienkonzerne nutzen die digitale Revolution in der Telekommunikation, um die Welt zu verbinden. Sie kommerzialisieren Kultur zu maßgeschneiderten kulturellen Erlebnissen, professionellen Massenveranstaltungen und persönlicher Unterhaltung.
Im Industriezeitalter, als die Produktion von Gütern das ökonomische Handeln ausmachte, war Eigentum entscheidend für materielles Überleben und Erfolg. Im neuen Zeitalter, in dem die so genannte |16|kulturelle Produktion das ökonomische Handeln bestimmt, wird der gesicherte Zugriff auf psychisch relevante kulturelle Ressourcen und Erfahrungen genauso wichtig wie Eigentum.
Die Transformation der Ökonomie ist schon seit längerem im Gang. Der Prozess begann früh im 20. Jahrhundert, als sich das Hauptaugenmerk von der Güterproduktion auf die Dienstleistungen verschob. Nun erlebt die Wirtschaftswelt erneut einen grundlegenden Wandel; sie orientiert sich immer stärker an Erlebnissen. Die Produktion von Kultur ist die letzte Stufe des Kapitalismus, dessen wesentliche Triebkraft es seit jeher war, immer mehr menschliche Aktivitäten für das Wirtschaftsleben zu vereinnahmen. Die Konsequenz dieser Entwicklung belegt, dass die Wirtschaft kein anderes Ziel hat, als alle Beziehungen in Marktbeziehungen zu verwandeln.
Die Vermarktung aller Aspekte menschlicher Lebenswelten bedingt auch einen fundamentalen Wandel von Berufstätigkeit und »Arbeit«. Im Industriezeitalter stand die menschliche Arbeitskraft im Dienste der Produktion von Gütern und der Verrichtung von Dienstleistungen. Im Zeitalter des Zugangs wird die menschliche Arbeitskraft in den Sektoren Landwirtschaft, Produktion und Dienstleistung zunehmend von intelligenten, programmierbaren Maschinen ersetzt. Landwirtschaftliche Betriebe, Fabriken und viele Dienstleistungsindustrien werden zügig automatisiert. Von den einfachsten, repetitiven bis hin zu hoch anspruchsvollen, differenzierten Tätigkeiten wird im 21. Jahrhundert körperliche und geistige Arbeit zunehmend von denkenden Maschinen erledigt werden. Mit den neuen Technologien wird man billiger produzieren können als mit den billigsten Arbeitskräften; also werden diese »online« ersetzt werden. Gegen Mitte des 21. Jahrhunderts wird die Wirtschaft über die technische Ausstattung und die organisatorischen Möglichkeiten verfügen, Güter und Dienstleistungen für eine wachsende menschliche Bevölkerung mit nur einem Bruchteil der gegenwärtig Beschäftigten bereitzustellen. Wahrscheinlich wird man im Jahr 2050 nicht mehr als fünf Prozent der erwachsenen Bevölkerung |17|benötigen, um die herkömmliche Industrie und ihre Betriebe zu leiten und in Gang zu halten. Landwirtschaftliche Betriebe, Fabriken und Büros, in denen fast niemand mehr arbeitet, werden selbstverständlich sein. Neue Beschäftigungsmöglichkeiten werden sich eröffnen, jedenfalls für die meisten Menschen, allerdings als bezahlte kulturelle Arbeit im kommerziellen Bereich. Wenn immer größere Teile des persönlichen Lebens der Menschen zu bezahlten Erlebnissen werden, dann werden Millionen Menschen im kommerziellen Bereich arbeiten, um kulturelle Bedürfnisse und Wünsche zu befriedigen.
Die Entwicklung des Kapitalismus, die mit der Vermarktung von Raum und Material begann, endet mit der Vermarktung der Zeit und der Lebensdauer von Menschen. Wird Kultur zunehmend als zu vergütende menschliche Aktivität kommerzialisiert, führt das rasch in eine Welt, in der Geld bestimmte Formen menschlicher Beziehungen, nämlich die traditionellen sozialen Beziehungen ersetzt. Wir müssen uns eine Welt vorstellen, in der praktisch jede Aktivität außerhalb der Familie zum bezahlten Erlebnis wird, eine Welt, in der gegenseitige Verpflichtungen und Erwartungen – vermittelt durch Vertrauen, Empathie und Solidarität – durch Vertragsbeziehungen ersetzt werden, durch Mitgliedschaften, Abonnements, Eintrittsgebühren, Vorauszahlungen und Beiträge.
Überlegen wir nur, wie viele unserer täglichen Interaktionen mit anderen Menschen schon heute nur möglich sind, wenn wir kommerzielle »Medien« in Anspruch nehmen. Zunehmend kaufen wir die Zeit anderer, ihre Achtung und Zuneigung, ihre Sympathie und Aufmerksamkeit. Wir kaufen Information und Unterhaltung, Schönheit und Prestige und alles, was dazwischen liegt – sogar das Vergehen der Zeit selbst wird taxiert. Das Leben wird fortschreitend vermarktet, und zwischen Kommunikation und Kommerz lässt sich immer weniger unterscheiden. Schon für ein Gespräch greifen wir zum Handy.
Selbst in einer voll ausgereiften Marktwirtschaft wird nur periodisch Handel betrieben. Verkäufer und Käufer kommen für einen |18|kurzen Moment zusammen, um über den Transfer von Gütern und Dienstleistungen zu verhandeln, und gehen dann wieder ihrer Wege. Der Rest ihrer Zeit ist frei von Markterwägungen und Handel. Kulturelle Zeit bleibt nicht vermarktete Zeit. Im Hyperkapitalismus, in einem Wirtschaftssystem, das Zugangsbeziehungen organisiert, wird praktisch unsere gesamte Zeit zur Ware. Kauft zum Beispiel ein Kunde ein Auto, ist die direkte Beziehung zum Verkäufer kurz. Wenn ein Kunde sich den Zugang zum gleichen Auto durch einen Leasingvertrag sichert, dann besteht die Beziehung zum Anbieter stetig und ununterbrochen bis zum Auslaufen des Vertrages fort. Anbieter schätzen diese Beziehungen zu ihren Kunden, weil sie sich erneuern lassen und zumindest theoretisch immerwährend sind. Ist jeder in kommerzielle Netzwerke und über Leasing- und Mietverträge, über Partnerschaften oder Mitgliedschaften in kontinuierliche Beziehungen eingebunden, dann ist Zeit stets nur kommerzielle Zeit. Es gibt keine kulturelle Zeit mehr. Was die Menschen und die Zivilisation zusammenhält, sind Geschäftsverbindungen. Das ist die eigentliche Krise der Postmoderne.
In den achtziger und neunziger Jahren grassierte die Deregulierung von Staatsfunktionen und öffentlichen Diensten wie eine Sucht. In weniger als zwanzig Jahren übernahm der globale Markt erfolgreich große Teile dessen, was Aufgabe des Staates war, darunter den öffentlichen Personenverkehr, versorgungswirtschaftliche und Telekommunikationseinrichtungen. Nun hat die Wirtschaft ihre Aufmerksamkeit dem letzten unabhängigen Bereich des menschlichen Lebens zugewandt: der Kultur selbst. In kulturelle Rituale, Gemeinschaftserlebnisse, Versammlungen, in die Künste, in Sport und Spiele, in soziale Bewegungen und staatsbürgerliches Engagement – überall dorthin dringt der kommerzielle Bereich vor. Die große Frage der kommenden Jahre ist, wie ein ziviles Zusammenleben bestehen kann, wenn Staat und kultureller Sektor ihre Selbstständigkeit weitgehend verlieren und als Mediator des menschlichen Lebens nur der kommerzielle Bereich übrig bleibt.
|19|In diesem Buch werde ich viele strukturelle Veränderungen untersuchen, durch die das neue Zeitalter sein ideologisches und organisatorisches Fundament erhält. Der Übergang von Märkten zu Netzwerken und vom Eigentum zum Zugang, die Marginalisierung von materiellem Besitz und der Bedeutungszuwachs von geistigem Eigentum sowie die zunehmende Vermarktung menschlicher Beziehungen führen uns langsam heraus aus einem Zeitalter, in dem der Austausch von Eigentum die zentrale Funktion der Ökonomie war, und hinein in eine neue Welt, in der Erlebnisse und Erfahrungen zur Ware schlechthin werden.
Die Transformation vom industriellen in einen kulturellen Kapitalismus wirft schon jetzt viele unserer Grundannahmen über den Haufen. Hergebrachte Institutionen, die auf Eigentum, Austausch, Markt und materieller Akkumulation basieren, werden allmählich ausgehöhlt. So bricht sich ein Zeitalter Bahn, in dem Kultur die wichtigste kommerzielle Ressource, Zeit und Aufmerksamkeit der wertvollste Besitz und das Leben eines jeden Menschen zum ultimativen Markt werden.
Die Kollision von Kultur und Kommerz
Wir sind auf dem Weg in eine neue Periode, in der immer mehr menschliche Erfahrung zur Ware wird: im bezahlten Zugang zu vielseitigen Netzwerken im Cyberspace. Diese elektronischen Netzwerke, in denen eine wachsende Zahl von Menschen ihren Alltag verlebt, werden von einigen wenigen mächtigen transnationalen Medienkonzernen kontrolliert werden. Sie sind Eigentümer der »Pipelines«, über die Menschen miteinander kommunizieren, und sie werden über einen Großteil der kulturellen Inhalte verfügen, in denen die bezahlten Erlebnisse der postmodernen Welt bestehen. Für diese umfassende Kontrolle gibt es in der Geschichte der menschlichen Kommunikation kein Beispiel. Gigantische Medienkonglomerate und die von ihnen kontrollierten Anbieter von |20|Inhalten werden zu »Pförtnern«; sie bestimmen die Bedingungen und Verhältnisse, unter denen Millionen Menschen im kommenden Zeitalter Zugang zueinander erhalten werden – ein völlig neues Monopoly, ein globales Spiel mit dem sozialen Leben eines großen Teils der Weltbevölkerung. Wenn aber der Zugang zur menschlichen Kultur zunehmend von globalen Konzernen vermarktet und vermittelt wird, dann wird die Frage nach institutioneller Macht und Freiheit wichtiger denn je zuvor.
Dass die kulturelle Sphäre in der kommerziellen aufgeht, zeigt einen grundlegenden Wandel in den menschlichen Beziehungen: mit beunruhigenden Folgen für die gesellschaftliche Zukunft. Vom Beginn der menschlichen Zivilisation bis heute ging das kulturelle Leben und Erleben den Märkten voraus. Menschen gründen Gemeinschaften, schaffen komplizierte Kodes sozialen Verhaltens, reproduzieren gemeinsame Bedeutungen und Werte und stellen – als »soziales Kapital« – soziales Vertrauen her. Nur wenn dieses Vertrauen und der gesellschaftliche Austausch gut entwickelt sind, tätigen Gemeinschaften Handel. Bislang also war der Handel stets ein Derivat der kulturellen Sphäre und von ihr abhängig. Denn bislang war Kultur die Quelle, aus der verbindliche Verhaltensnormen abgeleitet wurden. Diese Normen schaffen ein Klima des Vertrauens, in dem Handel und wirtschaftlicher Austausch überhaupt stattfinden können. Wenn aber die kommerzielle die kulturelle Sphäre verschlingt – wie, das zeige ich in Teil II –, droht sie, die gesellschaftlichen Grundlagen der Handelsbeziehungen zu zerstören.
Eine für das kommende Zeitalter ganz wesentliche Aufgabe wird sein, wieder eine sichere Balance zwischen Kultur und Kommerz herzustellen. Die Kommerzialisierung des Zugriffs droht die kulturellen Ressourcen über die Maßen auszubeuten und zu erschöpfen, vergleichbar etwa mit der Ausbeutung natürlicher Ressourcen im Industriezeitalter. Die Frage ist, ob und wie es gelingen kann, die bestehende reiche kulturelle Vielfalt zu erhalten und zu mehren. Denn sie ist der Lebensnerv jeder Zivilisation – auch der einer globalen, vernetzten Wirtschaft, die den bezahlten Zugang zu vermarkteten |21|kulturellen Erlebnissen ins Zentrum ihrer Aktivitäten stellt.
Proteus und Proletarier
Das Zeitalter des Zugangs wird einen neuen Menschentyp hervorbringen. Die jungen Menschen der neuen, »proteischen« Generation akzeptieren es, in der Welt des elektronischen Handels und des Cyberspace Geschäfte zu machen und sich dort sozial zu engagieren. Ohne Mühe passen sie sich den simulierten Welten an, die die kulturelle Ökonomie in großer Zahl schafft. Ihre Welt ist eher theatralisch als ideologisch, mehr an »Fun« als an einem Arbeitsethos orientiert. Für sie ist die potenzielle Verfügbarkeit ein Lebensstil. Eigentum mag wichtig sein, aber im Wesentlichen kommt es darauf an, dass man Zugang zum Netz hat. Die Menschen des 21. Jahrhunderts werden sich vermutlich eher als Knoten in Netzwerken gemeinsamer Interessen verstehen denn als autonome Individuen im darwinistischen Überlebenskampf des freien Wettbewerbs. Persönliche Freiheit erfährt diese erste Generation der vernetzten Wirtschaft nicht im Spannungsfeld zwischen dem Recht auf Eigentum und der Möglichkeit, andere auszuschließen. Freiheit definieren sie als das Recht, in Netze wechselseitiger Beziehungen eingebunden zu sein.
Die Erfindung des Buchdrucks hat das menschliche Bewusstsein über die letzten Jahrhunderte hinweg verändert; ähnliche Folgen wird der Computer für das Bewusstsein der nächsten zwei Jahrhunderte haben. Schon stellen Psychologen und Soziologen erste Veränderungen in der kognitiven Entwicklung von Kindern der »Generation @« fest. Die Zahl junger Menschen, die vor Computerbildschirmen aufwachsen und einen großen Teil ihrer Zeit in Chatrooms und simulierten Umwelten verbringen, wächst. Sie bilden »multiple Persönlichkeiten« aus. Für jede virtuelle Welt oder jedes Netzwerk, in dem sie sich gerade befinden, schaffen sie sich |22|flüchtige fragmentierte Bewusstseinsformen. Realität, so befürchten die Psychologen, wird für die Generation @ kaum noch etwas anderes sein als ständig wechselnde Handlungsfäden und Unterhaltungsräume. Damit würden sie die in der herkömmlichen Sozialisation tief verankerten Erfahrungen ebenso verlieren wie die Fähigkeit, ihre Aufmerksamkeit über längere Zeiträume zu konzentrieren. Beides aber sind Voraussetzungen dafür, einen kohärenten Bezugsrahmen auszubilden, in dem sich Umwelt verstehen und der Umgang mit ihr erlernen lässt.
Andere betrachten diese Entwicklung positiver: als eine Befreiung des menschlichen Bewusstseins, durch welche die Menschen spielerischer, flexibler werden, ja die Fähigkeit entwickeln, sich immer wieder zu verwandeln, um den sich rasch und ständig ändernden Realitäten, die sie erleben, genügen zu können. Die Kinder, so die optimistische Deutung, wachsen heute in einer Welt der Netzwerke und Verbindungen auf, in der aggressive Auffassungen von Mein und Dein, wie sie für die besitzorientierte Marktökonomie charakteristisch waren, von der Wahrnehmung wechselseitiger Abhängigkeiten und Beziehungen abgelöst werden. Es geht nicht mehr um Wettbewerb, sondern um Kooperation, um Denken in Systemen und um Konsensbildung.
Tatsächlich ist es für Prognosen noch zu früh. Einerseits sind die kommerziellen Kräfte ebenso mächtig wie verführerisch und lenken bereits einen großen Teil der Generation @ in die neuen Welten der kulturellen Produktion. Andererseits nutzen viele junge Leute ihr neu gewonnenes Bewusstsein dazu, die zügellose Konkurrenz- und Wirtschaftsethik infrage zu stellen und neue Interessensgemeinschaften zu bilden. Ob sich die Kräfte des kulturellen Ausverkaufs letztlich durchsetzen oder ob eine neue Kultur des Zusammenlebens in der Lage sein wird, eine Balance zwischen den beiden Sphären zu schaffen, ist noch offen.
Neben dieser Kluft zwischen den Generationen verläuft ein ebenso tiefer Graben zwischen den Wirtschafts- und Gesellschaftssystemen. Während ein Fünftel der Weltbevölkerung auf dem Weg |23|in Cyberspace, Vernetzung und Zugangsbeziehungen ist, leidet der Rest der Menschheit noch immer unter materiellem Mangel. Für die Armen bleibt das Leben ein täglicher Kampf ums Überleben, für sie ist Besitz das dringendste – und für manche sicher ein fernes – Ziel. In ihrer Welt spielen Glasfaserkabel, Satellitenverbindungen, Mobiltelefone, Computerbildschirme und Netzwerke im Cyberspace keine Rolle. Auch wenn es sich manche von uns nur schwer vorstellen können: Über die Hälfte der heute lebenden Menschen hat noch nie telefoniert.
Der Graben zwischen Besitzenden und Nichtbesitzenden ist tief, der zwischen den Vernetzten und den Nichtvernetzten ist allerdings noch tiefer. Es entwickeln sich zwei verschiedene Zivilisationen – die Welt teilt sich in jene, die innerhalb der elektronischen Mauern leben, und jene, die draußen bleiben. Die neuen weltumspannenden digitalen Kommunikationsnetzwerke schaffen, weil sie so allumfassend sind, einen totalisierenden sozialen Raum, den Cyberspace, als eine zweite Weltsphäre über der »Mutter Erde«. Die Abwanderung von Handel und gesellschaftlichem Leben ins Reich des Cyberspace isoliert in bislang nicht vorstellbarer Weise einen Teil der Menschheit vom Rest. Die Teilung der Menschheit in zwei verschiedene Existenzbereiche – die so genannte digitale Kluft – ist ein bedeutender Wendepunkt in der Geschichte. Ist ein Teil der Erdbevölkerung nicht länger in der Lage, mit dem anderen Teil in Zeit und Raum zu kommunizieren, dann gewinnt die Frage des Zugangs eine politische Bedeutung von historischem Ausmaß. Die große Kluft der Zukunft verläuft zwischen denen, deren Leben zunehmend im Cyberspace stattfindet, und denen, die zu diesem mächtigen neuen Reich menschlicher Existenz niemals Zugang haben werden. Dieser Gegensatz wird viele der politischen Kämpfe in den kommenden Jahren bestimmen.
Der Wandel vom physischen Raum zum Cyberspace, vom Industrie- zum kulturellen Kapitalismus und vom Eigentum zum Zugang stellt den Gesellschaftsvertrag grundsätzlich infrage. Wir dürfen eines nicht vergessen: Die neuzeitliche Auffassung, dass Privateigentum |24|exklusiv verfügbar und auf einem Markt zu tauschen sei, war die zentrale Idee des Industriezeitalters. Sie diktierte die Bedingungen des täglichen Lebens, bestimmte den politischen Diskurs und diente dazu, den Status eines Menschen zu beurteilen. Nun, nachdem dieses Paradigma einige Jahrhunderte lang das zivile Leben bestimmt und strukturiert hat, beginnt das Marktsystem zu zerfallen, das Verkäufer und Käufer zusammenbrachte, die Eigentum tauschen mussten. Wir erleben, wie ein neues Zeitalter heraufzieht, in dem allein die Möglichkeit der Verfügbarkeit zählt. Es wird neue Formen des gesellschaftlichen Austauschs, des politischen Engagements und auch unserer Selbsterfahrung ausbilden.
Dass wir Marktsystem und Warentausch hinter uns lassen, dass die menschlichen Beziehungen nicht mehr über Eigentum, sondern über Vernetzung und Zugang aufgebaut werden, ist derzeit für viele Menschen noch genauso unvorstellbar, wie es die Einhegung und Privatisierung von Land und Arbeit und damit ihre Einbindung in Verhältnisse des Privateigentums vor einem halben Jahrtausend gewesen sein mögen. Doch ein Teil der Menschen hat sich bereits auf diesen Weg begeben; diejenigen nämlich, die ihr Leben immer mehr aus den geografischen Grenzen des Marktes heraus-, in das Reich des Cyberspace hineinverlagert haben. In dieser neuen Welt, die mit Information und Diensten, mit Bewusstsein, Erlebnissen und Erfahrungen handelt, in der das Materielle dem Immateriellen weicht und vermarktete Zeit wichtiger wird als die Aneignung von Raum, verlieren die konventionellen Auffassungen von Eigentumsverhältnissen und Märkten, die das Leben im Industriezeitalter bestimmt haben, immer mehr an Bedeutung.
Der Begriff »Access«, die Vorstellung des Zugriffs auf Netzwerke aber setzt sich durch, und sie wird die Dynamik gesellschaftlicher Entwicklungen nicht weniger machtvoll verändern, als es die Vorstellungen von Eigentum und Markt zu Beginn der Neuzeit getan haben. Bis vor kurzem war das Wort access generell auf Fragen des Zugangs zu physischen Räumen beschränkt. 1990, in seiner achten Auflage, führte das Oxford Concise Dictionary das Wort |25|zum ersten Mal als Verb auf, als Zugang haben – ein Zeichen dafür, dass sich zumindest im angelsächsischen Sprachraum und Alltagsleben etwas verändert hat. In deutschen Wörterbüchern findet man neben der räumlichen auch soziale und kulturelle Bedeutungen, meist mit restriktivem Unterton: keinen Zugang zu bestimmten Kreisen, zur modernen Kunst haben etc. Zugang ist so etwas wie die Eintrittskarte zu Aufstieg und persönlicher Erfüllung, und heute, wo man – angeblich – überall Zugang erwerben kann, ist diese Vorstellung so mächtig wie es die Vision demokratischer Verhältnisse für frühere Generationen gewesen ist. Zugang ist ein politisch hoch aufgeladenes Wort. Schließlich geht es um Unterschiede und gesellschaftliche Brüche, darum, wer dazugehört und wer ausgeschlossen wird. »Access«, Zugang, ist der Schlüsselbegriff, wenn wir verstehen wollen, was sich an unserer Wahrnehmung von Welt und Wirtschaftsgeschehen geändert hat – er wird die Metapher des kommenden Zeitalters sein.
|26|KAPITEL 2
1851 hat Nathaniel Hawthorne versucht, sich vorzustellen, wie die Elektrizität die Welt verändern wird: »Ist es nicht eine Tatsache ..., dass die materielle Welt durch elektrische Kräfte zu einem einzigen großen Nerv geworden ist, der in der Zeit eines Atemzuges 1000 Meilen durchzittert? Wahrlich, die runde Erdkugel ist ein ungeheurer Kopf, ein mit Intelligenz gefüllter Geist! Oder – wir wollen lieber sagen – sie ist selbst ein Gedanke, nichts anderes als ein Gedanke und nicht mehr die Materie, wie wir vermuteten!«1
Hawthornes Vision wird heute Realität: in der Vereinigung von Mikroelektronik, Computern und Telekommunikation zu einem einzigen einheitlichen Kommunikationsnetzwerk. Der Wandel von analogen zu digitalen Kommunikationsformen hat den Angleichungsprozess beschleunigt. Moderne Technik eröffnet einen neuen Weg, Geschäfte zu machen. Und auch in der ökonomischen Theorie ist vom »Netzwerkverfahren« modernen Wirtschaftens die Rede.
Der neue Handelsverkehr findet im Cyberspace statt, einem elektronischen Medium, das sich weit vom geografisch gebundenen Markt entfernt hat. Die Verlagerung des Primärhandels aus der physischen Welt in den Cyberspace ist einer der großen Umbrüche in der Organisation des menschlichen Lebens, ein Prozess, der zu enormen, ganz grundsätzlichen Veränderungen der menschlichen Wahrnehmung und des gesellschaftlichen Verkehrs führen wird. |27|Nichts wird sich vermutlich gründlicher verändern als unsere Vorstellungen von Eigentum. In einer an geografische Räume gebundenen Ökonomie tauschen Verkäufer und Käufer an bestimmten Orten Güter und Dienstleistungen, heute tauschen Anbieter und Kunden im globalen Netz eher Informationen, Wissen, Erlebnisse, sogar Fantasien. Ging es früher darum, Eigentum zu transferieren, so ist das Ziel heute, Zugriff auf unser Alltagsleben zu gewinnen.
Die Neupositionierung des Primärhandels im Cyberspace und der Übergang zu einer vernetzten, globalen Ökonomie sind durch die Ausbreitung der weltumspannenden elektronischen Netze möglich geworden, deren wichtigstes das Internet ist. Geschaffen hat es das Pentagon in den späten sechziger Jahren. Man wollte den Forschern, die an Universitäten und im Auftrag des Verteidigungsministeriums tätig waren, neue Supercomputer zur Verfügung stellen, doch sollte das möglichst wenig kosten. Also suchte man im Pentagon nach Methoden, wie Menschen trotz räumlicher Trennung Computer gemeinsam nutzen könnten. Zudem fürchtete man, dass zentral gesteuerte Kommunikationsverfahren bei möglichen Angriffen viel zu verletzlich seien. Gesucht wurden also neue dezentrale Kommunikationsmedien, die einer großen Zahl von Wissenschaftlern auf verschiedenen Wegen Nachrichten übermitteln könnten und auch dann noch funktionstüchtig bleiben würden, wenn Teile des Systems zerstört wären. Die Lösung war das ARPANET, das die Advanced Research Projects Agency des US-Verteidigungsministeriums entwickelt hatte.
Der erste Hostcomputer ging 1969 online. Im Jahr 1988 waren bereits mehr als 60000 Hostcomputer angeschlossen.2 Andere Netze folgten ARPANET dicht auf dem Fuß. Die National Science Foundation baute das NSFnet auf, um ihre Supercomputer an großen Universitäten Wissenschaftlern überall im Land zugänglich zu machen. Das ARPANET wurde 1990 geschlossen, damit rückte das NSFnet zum wichtigsten Medium zur Vernetzung von Computern auf. Das Energieministerium schuf ESnet, und die NASA ging mit NSInet online. Auch private Netze wurden in den achtziger |28|Jahren eingerichtet: Zu den Pionieren gehörten IBM, GTE und AT&T.3 Entwickelt für den internen Gebrauch und damit Anbieter und Kunden ohne Zeitverzug kommunizieren können, schufen diese privaten Netze die Grundlage dafür, dass sich eine elektronisch vernetzte Wirtschaft entwickeln konnte.
Das Internet ist das Netz der Netze, seine Botschaften können über Telefonleitungen, Kabel und Satelliten versendet werden. Eine Gesellschaft, in der sich die Vorstellung von Eigentum auflöst, so James Gleick »muss sich vor allem eines klar machen: [Das Internet] ist kein Ding, es ist keine Einheit; es ist eine Organisation. Niemand besitzt es; niemand betreibt es. Es ist einfach der Computer eines jeden, nur vernetzt.«4
Heute haben nach Angaben des US-Handelsministeriums mehr als 200 Millionen Menschen überall auf der Welt Zugang zum Internet, und Prognostiker schätzen, dass es im Jahr 2005 mehr als eine Milliarde Menschen sein werden.5 1998 erzielte die Internetwirtschaft Erlöse von mehr als 301 Milliarden US-Dollar und schuf über 1,2 Millionen Arbeitsplätze. Nach einer Studie der University of Texas wächst die Internetökonomie jährlich um durchschnittlich 174,5 Prozent und verdoppelt sich derzeit alle drei Monate.6
Auch Firmennetze breiten sich aus. Im Jahr 1989 waren weniger als 10 Prozent der amerikanischen Unternehmen an Netze angeschlossen; bis 1993 sind mehr als 60 Prozent online gegangen.7 EDS rühmt sich des weltgrößten Netzes von Firmendaten. Das System, dessen Installation 1 Milliarde US-Dollar kostete, vernetzt 400000 Desktopcomputer und Terminals mit 95 Datenzentren. Das EDSnet steuert täglich 51,2 Millionen Transaktionen und Datentransfers und kann 49,7 Billionen Datensätze speichern: das 45-fache der Menge an Informationen, die in der Library of Congress zu finden sind.8
1998 tätigten Unternehmen in den USA online Business-to-Business-Geschäfte im Wert von mehr als 43 Milliarden US-Dollar. Forrester Research, ein Marktforschungsunternehmen in Cambridge, Massachusetts, schätzt, dass Online-Geschäfte bis |29|zum Jahr 2003 ein Volumen von 1,3 Billionen US-Dollar erreichen werden, das wären 9,4 Prozent aller Geschäftsabschlüsse. Auch in Deutschland werden die Umsätze von Online-Geschäften enorm ansteigen, von 2,6 Milliarden DM im Jahr 1998 auf voraussichtlich 100 Milliarden DM im Jahr 2002. Nach Einschätzung von Forrester Research wird Deutschland spätestens im Jahr 2004 mit Abstand der größte E-Commerce-Markt in Westeuropa sein. Bis zu diesem Zeitpunkt sollen rund 800 Milliarden DM allein über das Internet umgesetzt werden, was einem Anteil von 6,7 Prozent am Gesamtaufkommen der Bundesrepublik ausmachen würde.9
Die vernetzte Wirtschaft
Das wesentliche Kennzeichen des Geschäftslebens im Cyberspace ist Vernetzung. Elektronische Netze reißen Grenzen und Mauern nieder. Anders als der geografisch zu ortende Markt des Industriezeitalters – der auf der Idee souveräner und autonomer Verkäufer und Käufer beruhte, die, jeder unabhängig vom anderen, diskrete Transaktionen durchführten – verwebt die Cyberspace-Wirtschaft die Unternehmen in enge Netze gegenseitiger Abhängigkeit, in denen sie Aktivitäten und Ziele miteinander teilen. Kevin Kelly, der Herausgeber des Magazins Wired, spricht für viele Enthusiasten, wenn er anmerkt, es sei »die zentrale Leistung des kommenden Zeitalters, alles mit allem zu vernetzen«.10 Schon vernetzen sich Firmen mit Anbietern und Konsumenten, um immaterielle Ressourcen, also Informationen und Fachkenntnisse, gemeinsam zu nutzen. Man ist davon überzeugt, dass jedes Unternehmen die eigenen Ziele optimieren kann, wenn alle ihre Stärken vereinen.
Dieses Anknüpfen von Geschäftsbeziehungen hat nichts mehr mit den Beobachtungen und Thesen eines Adam Smith gemeinsam. Was der schottische Ökonom in dem 1776 veröffentlichten Werk |30|Der Wohlstand der Nationen schrieb, galt mehr oder weniger für die gesamte Industrielle Revolution:
Jeder Einzelne ist ständig bemüht, den vorteilhaftesten Einsatz für jegliches Kapital zu finden, über das er verfügt. Es ist aber tatsächlich sein eigener Vorteil und nicht der Nutzen für die Gesellschaft, auf den er aus ist. Doch die Suche nach seinem eigenen Vorteil führt ihn auf natürlichem Wege, oder besser notwendigerweise, dazu, den Einsatz zu bevorzugen, der für die Gesellschaft am vorteilhaftesten ist.11
In der Welt des Adam Smith gründet das Spiel des Marktes auf der Fähigkeit, Eigentum anzuhäufen, zu halten und andere auszuschließen. In einer vernetzten Ökonomie führt das Eigeninteresse auf einen ganz anderen Weg. Wenn jedes Unternehmen in ein Netz gegenseitiger, für alle nützlicher Beziehungen eingebunden ist, das geknüpft wurde, um die Gesamtleistung aller zu optimieren, rückt der Erfolg jedes Einzelnen in greifbare Nähe – was in der Geschäftswelt auch als Winner-Winner-Strategie bezeichnet wird.
Der Soziologe Manuel Castells von der University of California in Berkeley hat die Netze der neuen global vernetzten Wirtschaft in fünf Grundtypen unterschieden: Anbieternetze, in denen Unternehmen vertraglich zur Zulieferung einer Reihe von Inputs, von Planungsoperationen bis hin zur Herstellung von Einzelteilen, verpflichtet sind; Produzentennetze, in denen Unternehmen ihre Produktionsanlagen, ihre Finanz- und Arbeitskraftressourcen zusammenführen, um ihre Bestände an Gütern und Dienstleistungen auszudehnen, Märkte geografisch zu erweitern und die Kosten für Vorlaufrisiken zu minimieren; Konsumentennetze, die Hersteller, Verteiler, Vermarktungskanäle, wertschöpfende Händler und Endverbraucher miteinander verbinden; Koalitionen, die in einem bestimmten Bereich so viele Unternehmen wie möglich zusammenbringen, um sie an den technischen Standard zu binden, den ein führendes Industrieunternehmen entwickelt hat; und schließlich Netze technischer Kooperationen, in denen Unternehmen wertvolles Wissen und wertvolle Fachkenntnisse zur Forschung |31|und zur Entwicklung von Produktlinien gemeinsam nutzen können.12
Was man sich vor allem klar machen muss: Die vernetzte Wirtschaft wird von einer dramatischen Beschleunigung der technischen Innovation vorangetrieben, die sie wiederum ihrerseits beschleunigt. Weil Produktionsprozesse, technische Ausrüstungen, Güter und Dienstleistungen in einer elektronisch geprägten Umgebung schneller veralten, wird langfristiger Besitz immer unattraktiver, der kurzfristige Zugang dagegen zu einer immer häufigeren Option. Beschleunigte Innovation und beschleunigter Produktumsatz diktieren die Bedingungen für die neue Netzwerkökonomie; ein erbarmungsloser Wettbewerb, der großen Einsatz fordert.
Dass die Lebenszyklen der Produkte auf diese Weise immer kürzer werden, folgt direkt aus dem so genannten Mooreschen Gesetz. Gordon Moore, Elektroingenieur und Gründer von Intel, hat bereits sehr früh vorausgesehen, dass sich die Prozessgeschwindigkeit von Computerchips kontinuierlich alle 18 Monate verdoppeln wird, während deren Produktionskosten gleich bleiben oder sogar geringer werden. Das Mooresche Gesetz gilt inzwischen auch für Computerspeicher, für die Kapazität zur Datenspeicherung und für die Fernmeldetechnik.13
Moores Voraussage ist eingetroffen. Die Computerleistung wächst, obwohl die Preise für Computer und Chips weiter fallen. Personalcomputer, die vor zehn Jahren im Einzelhandel 3000 US-Dollar kosteten, sind heute, obwohl die Rechenleistung in jedem Gerät um ein Vielfaches gestiegen ist, für weniger als 1000 US-Dollar zu haben. Und Chips sind, ob in Grußkarten oder Waschmaschinen, in Tausenden von Produkten eingebaut; die Geräte um uns herum werden immer intelligenter, der Informationsaustausch immer intensiver.14
Hinsichtlich der Lebenszyklen von Produkten richtet die dem Mooreschen Gesetz folgende Entwicklung verheerenden Schaden an. »Intelligente« Produkte, die Computerchips enthalten, sind zeitabhängiger als traditionelle Produkte; sie entwickeln sich ständig |32|fort, werden immer ausgereifter und übernehmen mit jedem neuen Übergang und in jeder neuen Generation neue Aufgaben.15 Weil sie abhängig vom Informationsfluss und animiert durch ständiges Feedback entstehen, wächst der Druck zur Verbesserung und Innovation. »In dem Maß, in dem ein Produkt dem Kontinuum der Informationsintensität voraus ist«, so Rashi Glazer, Professor für Marketing an der University of California, »wird es zwingender und auch einfacher, das Angebot zu verändern.«16 Je mehr ein vom Informationsfluss angereichertes Produkt – über Feedback-Schleifen – mit seiner Umgebung interagiert, desto wahrscheinlicher wird dieser Prozess selbst innovative Möglichkeiten generieren, das Produkt effektiver zu gestalten. Die Kosten für Forschung und Entwicklung zur Verbesserung der Informationskomponente mögen hoch sein, die tatsächlichen Kosten dafür, diese neuen Informationen in jedes neu auf den Markt gebrachte Produkt einzubauen, sind relativ gering. »Das Ergebnis«, so Glazer, »ist eine schnellere Evolution der Grundform des Produktes und eine Gewichtsverlagerung hin zu erfolgreichen Generationen des Produktes, wobei der Lebenszyklus jeder einzelnen Generation oder ›Version‹ ... an Bedeutung verliert.«17
In allen Branchen werden die Lebenszyklen von Produkten kürzer. Ende der siebziger und Anfang der achtziger Jahre brauchten 3100 Arbeitskräfte bei Chrysler 55 Monate, um das K-Modell zu entwickeln und zu produzieren. Nur wenige Jahre später entwickelte das gleiche Unternehmen das Modell Neon mit nur 700 Arbeitskräften in weniger als 32 Monaten. Heute kann die Chrysler Forschungs- und Entwicklungsabteilung ein neues Auto in weniger als zwei Jahren produktionsreif machen. Automobilhersteller verfolgen das Ziel, in weniger als einem Jahrzehnt ein maßgeschneidertes, fehlerfreies Auto in weniger als drei Tagen bauen und liefern zu können.18
1986 betrug die durchschnittliche Entwicklungszeit für ein neues Medikament zehn Jahre. Die neue Generation von Pharmazeutika, mittels Biotechnologie und viel mehr Informationen hergestellt, |33|wird in vier bis sieben Jahren entwickelt und zur Marktreife gebracht. Gleichzeitig sinkt die Lebensdauer pharmazeutischer Produkte. Zum Beispiel wurden Mitte der sechziger Jahre injizierbare Cephalosporine, Breitbandantibiotika, auf den Markt gebracht. Zwölf Jahre später überholten die Verkaufszahlen der zweiten Produktgeneration die der Vorläufer; die vierte Produktgeneration schließlich benötigte dafür weniger als ein Jahr.19
Elektromechanische Produkte wie Schreibmaschinen, elektrische Schalter und Regler für Subsysteme blieben früher für Jahrzehnte auf dem Markt. Ihre Nachfolger haben eine durchschnittliche Lebensdauer von drei bis fünf Jahren oder weniger, dann werden sie von neueren Modellen und Versionen verdrängt. Arbeitsplatzrechner hielten anfangs ein Jahrzehnt oder länger. Heute beträgt ihre Lebensdauer kaum 24 Monate.20
Die Konsumgüter japanischer Elektrokonzerne erreichen heute einen durchschnittlichen Lebenszyklus von drei Monaten. Im Jahr 1995 kam Sony mit 5000 neuen Produkten auf den Markt, eine unglaubliche Menge.21 Nathan Myhrvold, Vicepresident von Microsoft, bringt die schwindelerregende Verbreitung neuer Produkte auf den Punkt: »Dein Produkt kann so gut sein, wie es will: Nur 18 Monate trennen dich vom Misserfolg.«22 An der Spitze des Wettbewerbs zu liegen, heißt häufig, gegen sich selbst zu konkurrieren. Intel zum Beispiel arbeitet gleichzeitig an drei Generationen von Chips. Während die eine Generation noch produziert wird, wird eine zweite produktionsreif gemacht und eine dritte entwickelt.23 Bei IBM fiel die Entwicklungszeit für neue Produkte von 2500 Arbeitstagen auf nur drei Stunden.24 Der Honeywell-Konzern hat seine Produktentwicklungszeit um 60 Prozent gesenkt und zugleich die Arbeitsstunden um 5 bis 10 Prozent reduziert; Xerox hat seine Entwicklungszeiten halbiert.25
Forschung und Entwicklung werden, so Eric Schmidt, der Cheftechniker von Sun Microsystems, heute in »Webwochen« gezählt. Nach seiner Schätzung sind 20 Prozent des Wissens, das innerhalb seines Unternehmens generiert wird, in weniger als einem |34|Jahr überholt.26 Der größte Teil der Konzerneinnahmen, so Wim Roelands, Chef für die Planung von Computersystemen bei Hewlett-Packard, wird mit Produkten erzielt, die es vor einem Jahr noch nicht gab.27 Selbst Konsumgüter, die bisher eine langfristige Kundentreue garantierten, bleiben auf der Strecke. Mehr als 90 Prozent ihrer Einkünfte erwirtschaftet die Miller Brewing Company mit Biersorten, die zwei Jahre zuvor noch nicht auf dem Markt waren.28
Es sind die »schnellen Ökonomien«, so die Zukunftsforscher Alvin und Heidi Toffler, die auf dem neuen, von heftiger Konkurrenz geprägten Markt »große Ökonomien ersetzen«.29 Ein Unternehmen, das als erstes auf dem Markt ist, kann höhere Preise und Gewinnspannen erzielen. Nur wenige Monate Vorsprung vor der Konkurrenz können über Erfolg oder Scheitern entscheiden. Je rascher ein Produkt auf den Markt gelangt, desto länger ist seine Lebensdauer. Durch gesenkte Forschungs- und Entwicklungszeiten verlängert ein Unternehmen die Verweildauer seines Produktes auf dem Markt und kann so die Investitionen wieder erwirtschaften und sogar Gewinne erzielen, bevor das Produkt veraltet ist.
Natürlich spiegelt sich der kurze Lebenszyklus der Produkte in der kurzen Spanne, in der die Verbraucher aufmerksam bleiben. Wenn neue Produkte zu Tausenden immer schneller über den Markt flitzen, muss man damit rechnen, dass auch die Ungeduld der Konsumenten größer, ihre Aufmerksamkeit entsprechend geringer wird. Das Intervall zwischen Wunsch und Befriedigung tendiert rasch gegen Null, denn die Verbraucher haben sich darauf eingestellt, dass immer mehr neue Produkte und Dienstleistungen einander in fast halsbrecherischer Geschwindigkeit ablösen. Heute haben Verbraucher, und zwar alle bis hin zum Endverbraucher, kaum Zeit, eine neue Technik, ein neues Produkt oder eine neue Dienstleistung kennen zu lernen, bevor ihre verbesserten Nachfolger erhältlich sind. In einer derart durchkommerzialisierten Umgebung ist die Vorstellung von Eigentum oder Besitz wirklich fehl am Platz. Warum sollte man den Wunsch haben, eine Technik oder ein |35|Produkt zu besitzen, wenn sie wahrscheinlich veralten, noch bevor sie bezahlt sind? In der vernetzten Wirtschaft wird der kurzfristige Zugang zu Gütern und Dienstleistungen – zum Beispiel über Leasing- oder Mietverträge – als Alternative zu Kauf und langfristigem Besitz immer attraktiver.
Kürzere Herstellungsprozesse und Produktzyklen, die wachsenden Kosten von High-Tech-Forschung und -Entwicklung, dazu die Vermarktungskosten, die mit der ständigen Einführung neuer Produkte verbunden sind, all das hat Unternehmen veranlasst sich zusammenzuschließen, um gemeinsam strategische Informationen zu nutzen, um Ressourcen und Kosten zu teilen, sodass beide Spielführer bleiben und sich in einer immer sprunghafteren, unbeständigeren, schnelleren Cyber-Ökonomie gegen Verluste absichern können. Dass man sich Verluste aus gescheiterten Prozessen und technischen Entwicklungen teilt, ist eine Art kollektiver Versicherung, die den Beteiligten das Weiterspielen erlaubt.
Durch all das unterscheidet sich eine vernetzte Wirtschaft grundlegend von traditionellen Märkten und von hierarchischen Betriebsstrukturen. Walter Powell, Direktor des Social and Behavioral Sciences Research Institute der University of Arizona, zeigt, dass Markttransaktionen sich im Allgemeinen durchsetzen, wenn der Tausch selbst in seiner Natur einfach, direkt und nicht wiederholbar ist und zudem nur wenige transaktionsspezifische Investitionen verlangt. Auf Märkten braucht es wenig Vertrauen zwischen Verkäufern und Käufern. Rechtlich bindende Verträge sichern, dass der Transfer des Produktes beglichen wird oder das Versprechen der Dienstleistung auch erfüllt wird. Markttransaktionen sind flüchtige Begegnungen, die in der Regel keine Verpflichtungen für die Zukunft nach sich ziehen. Das spiegelt sich auch in Adam Smiths Vorstellung von eigennützigen Parteien wider, die in einem wettbewerbsbetonten und häufig feindseligen Umfeld versuchen, den maximalen Vorteil zu erringen.
Für komplexere Tauschaktionen sind hierarchische Organisationsstrukturen im Allgemeinen effektiver. Geografische Märkte |36|mit Massenprodukten verlangen eine genauere Kontrolle der Investitionen und eine engere Koordination von Produktionsprozessen und Verteilungsmechanismen. Formale Hierarchien mit klar geteilter Autorität ermöglichen es, dass Informationen die Kette von Entscheidungsfindung und Beschluss hinaufsteigen und mit einem Minimum an Störungen wieder nach unten fließen. Hierarchische Organisationen arbeiten in Zeiten ruhiger und stabiler Märkte am effektivsten, funktionieren in bewegten Zeiten jedoch jämmerlich: Ihre administrativen Verfahren sind viel zu starr, als dass sie an rasch wechselnde Marktbedingungen angepasst werden könnten.
Netze dagegen sind viel flexibler, sie entsprechen der Sprunghaftigkeit der neuen globalen Ökonomie. Mit kooperativen und teamorientierten Ansätzen zur Problemlösung können die Partner schneller auf Veränderungen im Umfeld reagieren. Die Spieler geben einen Teil ihrer Autonomie und Souveränität auf, gewinnen damit aber aus der Spontaneität und Kreativität, die der vernetzten Zusammenarbeit entspringen, gemeinsam einen Vorteil. Zur Vernetzung gehören komplexe Kommunikationskanäle, unterschiedliche Perspektiven, die parallele Verarbeitung von Informationen, ständige Rückkopplung; Vernetzung belohnt zudem ein Denken außerhalb eingefahrener Bahnen, darum werden die Spieler wahrscheinlich mehr neue Verbindungen eingehen, mehr neue Ideen kreieren und dort neue Aktionspläne einführen, wo eine hoch kommerzialisierte Umgebung entsteht. Walter Isaacson von Time Warner hat den Wandel der kapitalistischen Organisationsstrukturen in seiner eigentlichen Bedeutung erfasst: »Das alte Establishment war ein Club. Das neue Establishment ist ein Netz.«30
Das Organisationsmodell à la Hollywood
Die Kulturindustrien Hollywoods haben eine lange Erfahrung mit vernetzten Organisationsformen; genau darum werden sie zum Prototyp der Neuorganisation des kapitalistischen Systems. Im Unterschied |37|zu vielen anderen hatte die Unterhaltungsindustrie schon immer all jene Risiken zu bewältigen, die Produkte mit einem sehr kurzen Lebenszyklus begleiten. Jeder Film ist ein einzigartiges Erlebnis, das rasch ein Publikum finden muss, wenn die Produktionsfirma ihre Investitionen wieder einspielen will. Dadurch wird die Vernetzung der Geschäftstätigkeiten zu einer Notwendigkeit.
Das war jedoch nicht immer so. Die frühe Filmindustrie verließ sich auf quasi »fordistische« Produktionsprinzipien, wie sie in vielen Branchen der zwanziger Jahre eingesetzt wurden. Wie Automobile am Fließband wurden so genannte »Rezeptfilme« produziert. Universal Film Manufacturing Company, einer der Pioniere auf diesem Gebiet, produzierte in einem einzigen Jahr über 250 Filme. In den ersten Jahren wurden diese, so wie sie kamen, nach einem Schema verkauft, und nicht nach ihrem Inhalt differenziert vermarktet – ein Kennzeichen der Massenfertigung.31
Anfang der dreißiger Jahre beherrschte eine Handvoll Studiogiganten die Filmindustrie – unter anderem Warner Brothers, Paramount, Metro-Goldwyn-Mayer und Twentieth Century Fox. Ihr Aufbau war hierarchisch und darauf ausgelegt, jeden Aspekt des Produktionsprozesses vom Drehbuch bis zum Vertrieb zu überwachen und zu regeln. Michael Storper, Professor der University of California an der School of Public Policy and Social Research in Los Angeles, erklärt, wie das System funktioniert hat:
Die großen Studios beschäftigten einen festen Stab von Drehbuchschreibern und Produktionsplanern, die den Auftrag hatten, standardisierte Drehbücher in Massen herzustellen und durch das Produktionssystem zu peitschen. Produktionsgruppen und Stars wurden in Teams zusammengefasst, die mehr als 30 Filme im Jahr abdrehen sollten. Die Studios besaßen große Abteilungen, die die Szenen aufbauten, den Ton produzierten, die Filmlabors betrieben und für Marketing und Vertrieb sorgten. Wie auf dem Fließband wanderte jedes Produkt von einer Abteilung zur anderen. ... Die innere Organisation – beziehungsweise die technische Teilung der Arbeit – glich sich in jener Phase der industriellen Massenproduktion immer stärker an, deren Leitprinzipien Routine und Aufgabenteilung sind.32
|38|Im Jahr 1944 flossen 73 Prozent aller inländischen Kinoeinnahmen in die großen Studios, die 4424 Spielstätten, damit fast ein Viertel aller Lichtspielhäuser in den Staaten besaßen oder gemietet hatten. Mit mehr als 90 Millionen verkauften Eintrittskarten pro Woche erreichten die Kinobesuche im Jahr 1946 ihren Höhepunkt.33
Zwei große Schläge zwangen die Filmindustrie Ende der vierziger, Anfang der fünfziger Jahre dazu, sich nach damals bestehenden Grundlagen der Vernetzung neu zu organisieren. Der Supreme Court der USA verurteilte die großen Studios – in einem Prozess gegen Kartellbildung, der zum Wendepunkt wurde – dazu, sich von ihren Kinoketten zu trennen. Als sie die Endverbraucher nicht mehr von der Kinokasse aus kontrollieren konnten, sahen die Filmstudios ihre Einnahmen sinken. Das Aufkommen des Fernsehens ließ die Gewinne weiter schrumpfen. Millionen ehemaliger Kinogänger blieben lieber zu Hause und ließen sich dort kostenlos unterhalten. Die Einnahmen an den Kinokassen fielen zwischen 1946 und 1956 um 40 Prozent, die Besucherzahlen gingen um 50 Prozent zurück. Die Bruttoeinnahmen der zehn führenden Filmgesellschaften sanken um 26 Prozent, die Gewinne um 50 Prozent.34
Mit der wachsenden Konkurrenz des neuen Mediums Fernsehen konfrontiert, änderte die Filmindustrie die Art ihrer Produktion. Als man begriff, dass das Kino mit einem kostenfreien Medium, das standardisierte kulturelle Produkte in den Markt pumpte, nicht Schritt halten konnte, begannen die Studiochefs mit dem Experiment, weniger, dafür aber unterhaltsamere Filme zu produzieren – jeder Film ein einzigartiges Produkt, das um die Zuschauergunst wetteifern konnte. Für diese neuen Filme, zunächst »spectaculars«, später »blockbusters« genannt, musste die Filmindustrie die Massenproduktion zugunsten der Einzelanfertigung aufgeben. Anders ließ sich das Ziel, dem Kinopublikum bei jedem Besuch ein »Kinoerlebnis« zu bieten, nicht erreichen.
Das neue Genre war ausgereifter und teurer, vor allem aber kam jeder Film als einzigartiges Produkt und deshalb ungetestet auf den Markt. Darum mussten zusätzlich riesige Summen in die Werbung |39|investiert werden. Kurzum, die wachsenden Kosten, die entstanden, weil weniger Filme und diese jeweils individueller gedreht wurden, erhöhten das finanzielle Risiko und machten die Rendite des eingesetzten Kapitals unsicherer.
Das vernetzte System der Filmproduktion entstand in den fünfziger Jahren. Es war der Weg, auf dem sich für jedes einzelne Projekt verschiedene Talente zusammenbringen und das Risiko, dass ein Produkt an der Kinokasse scheiterte, auf mehrere Schultern verteilen ließ. Die Studiogiganten begannen, Schauspieler, Spezialisten und Dienstleister für jedes Projekt neu und gezielt unter Vertrag zu nehmen. Immer mehr unabhängige Produktionsfirmen entstanden, gegründet von Bühnenbildnern und Schauspielern, die vorher bei den großen Studios beschäftigt gewesen waren. Heute produzieren die verbliebenen Studiogiganten kaum noch Filme im eigenen Haus. Stattdessen agieren sie als Kapitalgeber, die den unabhängigen Produzenten die Finanzierung bereitstellen und dafür das Recht erhalten, das Endprodukt in den Kinos und später über Fernsehen und Video zu vermarkten.
Jede Filmproduktion bringt ein Team von spezialisierten Produktionsfirmen und unabhängigen Auftragnehmern zusammen, alle bringen sie spezifische Fachkenntnisse und Talente mit. So bilden die Unternehmen ein Netzwerk, dessen Lebensdauer auf die Laufzeit des Projektes beschränkt ist. Drehbuchschreiben, Casting, Szenenaufbau, Kinematografie, Kostümproduktion, die Aufnahme und das Mischen von Ton und Geräuschen, Schnitt und Filmentwicklung werden jeweils von unabhängigen Fachleuten besorgt, die in einer kurzfristigen Partnerschaft mit einer unabhängigen Produktionsfirma zusammenarbeiten. Wenn sie die Fachkenntnisse einer Reihe von spezialisierten Firmen zusammenbringen, können die Produzenten das Know-how in genau der Kombination finden, die sie brauchen, um ein bestimmtes Filmprojekt zum Erfolg zu führen. Die unabhängigen Auftragnehmer wiederum minimieren ihre Risiken, indem sie sich gleichzeitig und quer durch die gesamte Branche an einer Reihe von Projekten beteiligen. Zum Beispiel ist es für ein |40|Unternehmen, das Spezialeffekte produziert, nicht ungewöhnlich, in mehreren kurzfristig bestehenden Netzwerken gleichzeitig mitzuarbeiten und an einem Tag hier spezielle Aufgaben für einen Film, dort für einen Fernsehwerbespot oder anderswo für eine Bühnenshow zu übernehmen. Die Produzenten können damit die allgemeinen Kosten der Arbeit gering halten, weil die Arbeitskraft »auf Abruf« oder vertraglich festgelegt nur für begrenzte Aufträge in Anspruch genommen wird. Von 1979 bis 1995 verdreifachte sich die Zahl der in Südkalifornien produzierten Unterhaltungsfilme. Die meisten Unternehmen der Filmindustrie beschäftigen jedoch weniger als zehn feste Mitarbeiter.35 Unabhängige Produktionsfirmen, die 1960 gerade 28 Prozent aller Filme in den USA produziert haben, produzierten nur 20 Jahre später 58 Prozent aller Filme, die großen Studios dagegen weniger als 31 Prozent.36
Obwohl die Methode der Vernetzung in der kommerziellen Organisation eine wachsende Zahl kleinerer Unternehmen in die Branche gebracht hat, beherrschen die großen Studios und Unterhaltungskonzerne noch immer den größten Teil des Prozesses, weil sie die Produktionen teilweise finanzieren und weil sie die Vermarktung der Produkte kontrollieren. Asu Aksoy und Kevin Robins, Analytiker der Filmindustrie, haben gezeigt, wie die großen Studios die vertikale Auflösung und die Verlagerung auf organisatorische Vernetzung gezielt vorangetrieben haben, um ein Produkt effektiver herstellen und dabei die finanziellen Risiken minimieren zu können. Damit sie weiterhin eine wirksame Kontrolle über die Branche ausüben können, müssen die Studios vor allem anderen den Zugang zu den Vertriebskanälen unter ihrer Regie behalten.
Indem sie ihre Macht als nationale und internationale Vertriebsnetzwerke behielten, konnten die Großen ihre Finanzkraft dafür einsetzen, das Filmgeschäft zu dominieren und die unabhängigen Produktionsfirmen zu schröpfen oder zu nutzen.37
Nach Robins und Aksoy sind die Branchenstatistiken häufig irreführend. Obwohl unabhängige Filmfirmen die Masse neuer Filme |41|produzieren, bleibt der größte Teil der erwirtschafteten Gewinne noch immer bei den ganz Großen hängen. 1990 zum Beispiel erhielten die fünf größten Unternehmen 69,7 Prozent der Kasseneinnahmen.38 Wenn sie ein Netzwerk zur Organisation des Vertriebs aufgebaut haben, können die größten transnationalen Konzerne – wie wir im Verlauf des Buches immer wieder sehen werden – sich von Betriebsanlagen und technischen Ausrüstungen, von Mitarbeitern und Spezialisten befreien. Um die Inhalte für ihre Vertriebsnetze zu produzieren, knüpfen sie strategische Beziehungen mit Anbietern aller erforderlichen Leistungen. In einer Welt wachsender Konkurrenz, immer differenzierterer Produkte und Dienstleistungen sowie immer kürzerer Produktzyklen halten sich Konzerne an der Spitze, indem sie Finanzen und Vertriebskanäle kontrollieren und gleichzeitig den kleineren Einheiten die Lasten des Eigentums und des Managements materieller Vermögenswerte aufbürden.
Der Ansatz Hollywoods weist den Weg zu einer neuen, vernetzten Wirtschaft im Cyberspace, spielt also heute die gleiche Rolle wie in den zwanziger Jahren die Hierarchie bei General Motors. In einem Artikel für die Zeitschrift Inc.