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Einer der bekanntesten Achtsamkeitsforscher John Kabbat Zinn schreibt: "Achtsamkeit ist die gezielte Aufmerksamkeitslenkung auf das Hier und Jetzt, absichtsvoll, nichtbewertend."
Was bedeutet das für die Fotografie, für uns als Fotografen?
Der Psychologe, Wissenschaftler und leidenschaftliche Fotograf Sven Barnow ist davon überzeugt, dass achtsames Fotografieren uns den fotografischen Prozess intensiver wahrnehmen lässt und wir so die Fotografie als Ausdrucksmittel unserer inneren Zustände nutzen können. Fotografie wird dadurch zum Mittel, die Konzentration auf den Moment zu schulen, das Beobachtungsvermögen zu schärfen und sich von üblichen Konzepten, Ablenkungen und Bewertungen so weit wie möglich zu befreien. Achtsames Fotografieren kann über den heilsamen Prozess der Entschleunigung die Begeisterung für die Fotografie wieder neu entfachen. Hierzu braucht es lediglich eine beliebige Kamera, etwas Zeit und den Wunsch, die innere Stille, die mit dem achtsamen Fotografieren einhergeht, zu genießen.
Sven Barnow zeigt uns in seinem Buch eine Vielzahl seiner so entstandenen Fotografien und vermittelt, wie uns, frei von Bewertungen und ohne Ergebnisorientierung, authentische und ausdrucksstarke Bilder gelingen.
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Seitenzahl: 125
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PROF. DR. SVEN BARNOW ist Psychologe und leitet den Lehrstuhl für Klinische Psychologie und Psychotherapie an der Universität Heidelberg. Er beschäftigt sich mit Themen wie Emotionsregulation und Achtsamkeit und hat hierzu gemeinsam mit seinem Team viele wissenschaftliche Publikationen verfasst. Seit 2010 verbindet er seine große Leidenschaft, die Fotografie, mit der Psychologie. Zunehmend interessiert ihn hierbei, wie sich Achtsamkeit mit dem fotografischen Prozess verbinden lässt. Mit dieser Frage beschäftigt er sich in diesem Buch eingehend.
Sven Barnow
Durch Fotografie zur inneren Ruhe finden
Sven Barnow
Lektorat: Gerhard Rossbach, Anja Weimer
Copy-Editing: Alexander Reischert, www.aluan.de
Layout & Satz: Anna Diechtierow
Herstellung: Stefanie Weidner, Frank Heidt
Umschlaggestaltung: Helmut Kraus, www.exclam.de, unter Verwendung eines Bilds des Autoren
Bibliografische Information der Deutschen NationalbibliothekDie Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
ISBN:
978-3-86490-894-1
978-3-96910-747-8
ePub
978-3-96910-748-5
mobi
978-3-96910-749-2
1. Auflage 2022
Copyright © 2022 dpunkt.verlag GmbH
Wieblinger Weg 17
69123 Heidelberg
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Als Sven Barnow mir sein Manuskript mit den Fotos zeigte, deren Entstehen er in diesem Buch analysiert, war ich sofort begeistert. Wie er bin auch ich als Psychologe in der Heilkunde aktiv, und ich fotografiere ebenso gern und oft. Wahrscheinlich habe ich einen etwas anderen Blick auf die Welt als er, weil jeder Mensch seine eigene Sicht auf die Welt hat. Was der eine Mensch als schön empfindet, mag ein anderer vielleicht als kitschig oder uninteressant kommentieren.
Ein steinernes Monument wie etwa ein Berg oder ein Rathaus ist zwar eine objektive Gegebenheit, doch man kann das unterschiedlich wahrnehmen und abbilden, je nach Perspektive, aktuellen Lichtverhältnissen und eigener Stimmung. Mich kann eine Wasserpfütze mit interessanten Lichtreflexen mehr anziehen als ein danebenstehender berühmter Dom, über den es jede Menge Postkarten und Bildbände gibt. Im Übrigen bin ich zusätzlich auch ein Arzt, der sich mit der Vergänglichkeit des menschlichen Lebens auseinandersetzt und darin geschult ist, die Kostbarkeit jedes einzelnen Augenblickes zu erkennen und zu würdigen.
Das Fotografieren hat mich schon seit meiner Kindheit (mit einer einfachen Kamera im damaligen Wert von zehn Mark) sehr bereichert, weil ich mithilfe dieses Mediums zunehmend erkannte, was ich als schön und festhaltenswert empfinden wollte und was nicht. Ich habe schon als Jugendlicher mithilfe des Fotografierens erkannt, dass auch das bewusste Ausblenden zur Lebenskunst gehört. Dazu kam, dass damals noch mit Filmmaterial gearbeitet wurde, das erst während der nachträglichen Entwicklung in der Dunkelkammer zu Offenbarungen über das Gesehene führte. Jedes einzelne Foto wurde so zu einer Kostbarkeit, denn die Filme und Chemikalien im Labor, das mit Rotlicht abgedunkelt wurde, kosteten Geld. Wo ich damals aus Kostengründen nur ein einziges Foto aufnahm, kann ich heute mit der Digitaltechnik Hunderte Aufnahmen machen und im Nachhinein Entscheidungen zur Auswahl treffen, die ich früher bereits während der Auslösung zu treffen hatte. Die Intuition beim Auswählen von Motiven hat sich im Laufe der Jahrzehnte verschoben.
Für Fotografinnen und Fotografen erweist es sich als nützlich, dass sie nicht nur Oberflächen wahrnehmen wie etwa eine gerunzelte Stirn, sondern zugleich auf eventuelle Gefühle achten, die sich vielleicht hinter dieser Stirn – und in unserem eigenen Seelenleben als Betrachterinnen und Betrachter – abspielen. Ich kann ein Gesicht als nachdenklich, neugierig oder selbstdarstellerisch wahrnehmen. Das Gesicht kann sich je nach der aktuellen Atmosphäre von Sekunde zu Sekunde verändern und ich habe die Wahl, in einem mir geeignet erscheinenden Augenblick auf den Auslöser zu drücken oder auch nicht. Während der letzten Jahrzehnte habe ich zunehmend erkannt, dass ein Verzicht auf das Fotografieren genauso ergiebig sein kann wie das aktive Fotografieren. Denn das, was in unserer Erinnerung verbleibt, ist nicht darauf angewiesen, ob wir es auch fotografiert haben. Die Kunst des Weglassens ist genauso wichtig wie die Konzentration auf das, was wir im Augenblick als das Wesentliche empfinden.
Beim Lesen dieses Buches und beim Ansehen der hier gezeigten Bilder können Sie, liebe Leserinnen und Leser, Ihre Ahnung davon verfeinern, dass es fließende Übergänge zwischen spontanem »Knipsen« und wohlüberlegtem Gestalten gibt. Beide Herangehensweisen können, wenn wir es wollen, zu einem künstlerischen Tun führen. An der Herangehensweise von Sven Barnow gefällt mir besonders seine tolerante Grundhaltung. Er macht uns Mut, unsere spontanen ersten Eindrücke möglichst wertfrei festzuhalten, aber dabei auch unser Gehirn einzuschalten und zu reflektieren, was wir gerade tun. Ob dabei ein Kunstwerk zustande kommt, ist erst einmal völlig egal. Seine Kunst besteht nun darin, uns zum Innehalten zu motivieren und die Fähigkeit zu entwickeln, Dinge wie unter einer Zeitlupe wahrzunehmen und sie im gegebenen Augenblick in ein Foto umzuwandeln.
Jeder Mensch kann beim Fotografieren auch etwas über sich selbst erfahren. Achte ich mehr auf das »Schöne« oder auf das »Hässliche«? Wieso und für wen will ich diesen einen Augenblick überhaupt »verewigen«? Was sagt das Foto, das ich im Moment mache, über mich selbst und meine Sicht auf die Welt in diesem Augenblick aus? Sind meine Fotos überhaupt wichtig oder könnte ich genauso gut auf sie verzichten und mich ganz einfach dem Erleben im Hier und Jetzt überlassen?
All diese Fragen werden im vorliegenden Buch reflektiert.
Professor Dr. med. Diplom-Psychologe Rolf Verres war bis zu seiner Emeritierung der Ärztliche Direktor des Instituts für Medizinische Psychologie an der Universität Heidelberg. Als Fotograf hat er zwei Bildbände veröffentlicht: »Heidelberg« im Nicolai Verlag und »Paradies« bei Umschau-Braus.
TEIL I EINFÜHRUNG IN DAS KONZEPT ACHTSAMKEIT
01EINLEITUNG
02ACHTSAMKEIT VERSUS ABLENKUNG
03ACHTSAMKEIT – DIE ESSENZ DER FOTOGRAFIE
04ACHTSAME PORTRÄTFOTOGRAFIE
Meister der Porträtkunst
TEIL II ACHTSAMKEIT IN DER FOTOGRAFISCHEN PRAXIS
05DAS ACHTSAME PORTRÄT MIT TEXT
Das »Glück«-Projekt
Die Geschichte von Hans im Glück (Stefan Winkelhöfer)
Exkurs: Porträts hinter Glas (Fred Bschaden)
06DIE ACHTSAME REPORTAGE
Eine schwierige Reise – die Geschichte von Katharina
Der 100. Geburtstag meiner Großmutter
Menschen in Kuba (Volker Figueredo Véliz)
»Los Cubanos«
07ACHTSAME STRASSENFOTOGRAFIE – DAS INDIVIDUUM IM URBANEN KONTEXT
08GEFÜHLE ACHTSAM FOTOGRAFIEREN
09ACHTSAME REISEFOTOGRAFIE
Einführung
Venedig – Impressionen in Schwarz-Weiß
Meditative Landschaften (Beatrix Bossle)
EIN KURZES NACHWORT
DANK
LITERATUR
PUBLIKATIONEN, AUSSTELLUNGEN UND VORTRÄGE DES AUTORS
»Is man not the only animal that’s unaware?«
»Ist der Mensch nicht das einzige Tier, das unachtsam ist?«
LAURENT BAHEUX, »WILD AFRICA«
Lassen Sie mich direkt mit einer wichtigen Frage beginnen: Warum fotografieren Sie eigentlich?
In seinem Buch »Why I write« beschreibt der Schriftsteller George Orwell sinngemäß vier Gründe für das kreative Schreiben, die man gut auf das Fotografieren oder jede andere kreative Tätigkeit übertragen kann:
Erstens aus reinem Egoismus und Selbstdarstellung. Damit ist eine eher ergebnisbezogene Motivation gemeint. Man will Erfolg haben, anerkannt und bewundert werden.
Zweitens aus enthusiastischer Euphorie, dem Wunsch, die Schönheit einzufangen und zu teilen. Hierbei geht es um die Tätigkeit an sich. Mit dem Schönen meint er keinesfalls die Schönheit von Dingen, sondern Tiefe und Harmonie, die Schönheit, wenn man etwas geistig durchdringt. Euphorie bezieht sich auf die Motivation, die eine innere ist, keine äußeren Verstärker braucht und bei der die Tätigkeit selbst Lohn genug ist. Drittens Geschichten zu erzählen und zu dokumentieren. Dabei ist es unwichtig, ob diese Geschichten real oder fiktiv sind.
Viertens aus politischem oder wissenschaftlichem Interesse, wichtige Themen darzustellen, die Gesellschaft zu ändern oder zumindest Einfluss auf gesellschaftliche Prozesse zu nehmen.
Natürlich ließe sich das ergänzen, aber reflektieren Sie die vier Gründe für einen Moment: Was trifft auf Sie zu? Falls Sie vor allem den Punkten zwei und drei zustimmen, dann sollten Sie jetzt weiterlesen. Denn in diesem Buch geht es darum, über den fotografischen Prozess innere und äußere Schönheit zu entdecken und hierbei (Ihre) Geschichten zu erzählen. Dabei ist das Ergebnis, also das eigentliche Bild, nicht das Entscheidende, stattdessen die Art und Weise, wie es entstanden ist, und Ihre Interpretation der Wirklichkeit. Es geht also um den Prozess des Fotografierens, das bewusste und achtsame Gestalten und Aufnehmen von Motiven ohne den Wunsch, für die eigenen Bilder bewundert zu werden oder Anerkennung zu erlangen. Natürlich schließt das nicht aus, dass Ihre Bilder Anerkennung finden, aber das ist nicht Ihr eigentliches Anliegen. Achtsames Fotografieren bedeutet, etwas auf kreative Art und Weise darzustellen und sich dabei von den üblichen Bewertungen zu befreien. Der Stoiker und römische Kaiser Marc Aurel schreibt in seinen »Selbstbetrachtungen«:
»Denn die Dinge selbst können uns ihrer Natur nach keine Urteile abnötigen.«
MARC AUREL
Er meint damit, dass alle Bewertungen, die wir vornehmen, auf unseren Konzepten, unserem Wissen und unseren Einstellungen beruhen. Die Dinge selbst sind nicht gut oder schlecht, schön oder hässlich, erst unsere Bewertungen machen sie dazu. Achtsam zu sein bedeutet, sich dessen bewusst zu sein, also zu verstehen, dass wir alles durch eine Art Schauglas sehen und nicht so, wie es wirklich ist. Achtsames Fotografieren bringt uns dieser Erkenntnis näher, wir können fotografieren, ohne zu kategorisieren und zu bewerten, dabei entdecken wir vielleicht Dinge, die sich bisher unserer Wahrnehmung entzogen haben. Diese Art der Fotografie befreit uns von der Ergebnisorientierung und Technisierung, die aktuell so bedeutsam zu sein scheint.
Bevor wir uns jedoch der achtsamen Fotografie zuwenden, muss ich etwas gestehen. Obwohl meine Kritik unter anderem der immer stärkeren Technisierung der Fotografie gilt, erliege ich selbst gelegentlich GAS-Anfällen (engl. Gear Acquisition Syndrome). Beispielsweise habe ich Equipment gekauft und wieder zurückgegeben (mehrmals), die technischen Features neuer Kameras bewundert, YouTube-Videos angesehen, in denen es ausschließlich um die Technik der Kamera ging, und Ähnliches mehr. Dabei unterlag ich der »Attention Economy« und der damit verbundenen Aktivierung des Belohnungssystems. Gleichzeitig erlebte ich eine ausgeprägte kreative Stille.
Verschiedene Ereignisse bewogen mich jedoch dieses Buch zu schreiben. So führte ich mit meinen Studentinnen und Studenten ein Seminar zum Thema »Achtsamkeit« durch, in dem wir dieses Konzept auch kritisch diskutierten. Das Seminar endete mit einem eintägigen Schweige-Retreat. Wie wunderbar war das, als wir schweigend und konzentriert »Geh-Meditation« übten, wir uns in der Küche begegneten, ohne zu reden, all die Geräusche, Gerüche, Blicke, Mimik, Farben, Nähe, Distanz, Wärme und Kühle, das Quietschen der Tür, das Licht, das sich auf der Tischplatte spiegelte, ein Lächeln, ein konzentrierter Blick, eine freundliche Geste. Der Blick offen und wertfrei. Achtsamkeit beinhaltet genau das: die offene, nicht wertende Haltung den eigenen Gedanken und Gefühlen gegenüber.
Ein weiteres dieser nachwirkenden Ereignisse war der Geburtstag eines Freundes. Er erhielt als Geschenk u. a. ein Buch mit analogen Schwarzweiß-Fotografien von Sophie Gunther. Die Bilder waren zum Teil verrauscht, nicht besonders scharf, und stellten keine spektakulären Naturphänomene dar, sondern stattdessen Einfachheit und Momente der Stille einer wunderbaren Landschaft. Kurz gesagt: Sie waren schön, wenn man sie in Ruhe und Stille betrachtete. Beim Anschauen dieser Bilder wurde mir bewusst, dass ich meine Art der Fotografie eine gewisse Zeit verleugnet hatte – hier fand ich nun vorgeführt, was und wie ich selbst gern fotografiert hätte. Das führte dazu, dass ich begann (von gelegentlichen Rückfällen abgesehen), mein Equipment zu vereinfachen und mich wieder mit der »Essenz der Fotografie« zu beschäftigen. Ganz ähnlich ging es den Fotografen Volker Figueredo Véliz, dessen Kuba-Aufnahmen sowie mein Interview mit ihm Sie in Kapitel 6 (ab S. 122) finden und Stefan Winkelhöfer mit seiner Arbeit »Die Geschichte von Hans im Glück« in Kapitel 5 (ab S. 90).
In diesem Buch möchte ich Ihnen zeigen, wie genussvoll Fotografieren sein kann, wenn man achtsam fotografiert, ohne sich zu stark auf das Ergebnis zu fokussieren. So richtig ist diese Botschaft bei mir selbst erst beim Schreiben dieses Buches angekommen. Während ich mich vorher oft gefragt hatte, ob mir wohl zumindest ein verwertbares Foto gelungen sei, spielt das bei meiner jetzigen Art zu fotografieren keine allzu große Rolle mehr. Ich genieße es einfach, durch die Stadt oder eine Landschaft zu gehen und zu fotografieren. Es geht darum, das Hier und Jetzt mit allen Sinnen aufzunehmen und den fotografischen Prozess auszukosten. Was nicht ausschließt, dass ich mein Bestes gebe, und auch nicht, dass ich bestimmte Projekte verfolge, an denen ich mich orientiere – doch das ist nicht Zweck des Ganzen. Das Wichtigste sind die Freude und der Fokus auf den Prozess des Wahrnehmens, also die Kamera als Instrument zu sehen, mit dem ich auch mein Inneres ausdrücken kann.
Ich werde deshalb mehr darüber sagen, wie ich fotografiert habe und was ich mit dem Bild zeigen möchte, als auf rein technische Aspekte im Detail einzugehen. In einigen der Projekte in Teil II lasse ich auch die Porträtierten zu Wort kommen. Wie in meinem letzten Buch »Psychologie der Fotografie: Kopf oder Bauch?« sind auch hier alle Bilder in Schwarz-Weiß gehalten. Ich möchte Form und Einfachheit miteinander verbinden und bin überzeugt, dass schwarz-weiße Fotografien mir dies besser ermöglichen. Schwarzweiß-Fotografie lebt vom Licht, von Kontrasten, den einzelnen tonalen Abstufungen. Meine Bilder sind meist kontrastreich, um den Bildeindruck zu dramatisieren. Für die achtsame Fotografie spielt es jedoch keine Rolle, ob Sie Schwarz-Weiß oder Farbe bevorzugen. Vielmehr sollten Sie Ihrem Gefühl folgen und jenes Mittel nutzen, das Ihnen am besten dazu verhilft, sich auszudrücken.
Da es in diesem Buch auch um die innere Stille geht, die sich beim achtsamen Fotografieren einstellen kann, und ich mich seit einigen Jahren auch mit der stoischen Philosophie beschäftige, habe ich das eine oder andere Zitat prominenter Stoiker eingeflochten. Der Begriff »Stoa« stammt von den Wandelgängen ab, in denen der Begründer des Stoizismus, Zenon von Citium, vor über 2000 Jahren seine Vorträge abhielt. Der Kerngedanke der Stoa ist, dass wir uns von Begierden und falschen Werturteilen, auf denen diese beruhen, so gut es geht befreien müssen, um die Seelenruhe zu erlangen. Seelenruhe meint jedoch keinesfalls, alles »stoisch« hinzunehmen oder gar gefühllos zu sein, sondern zur inneren Ruhe zu finden, die die Stoiker als Grundlage für das wahre Glückserleben (Eudämonie) ansahen. Das hat einen unmittelbaren Bezug zur Achtsamkeit, denn auch hierbei geht es um eine Form der inneren Stille.
Das folgende Bild drückt aus, was ich mit innerer Stille verbinde: unterwegs sein, Einfachheit und Selbstreflexion. Ich habe es nach einer langen Wanderung in Sils Maria aufgenommen. Friedrich Nietzsche lebte dort einige Zeit und der Wanderer schien mir wie aus der Zeit gefallen. Ich stellte mir vor, wie Nietzsche dort einsam zurück zu seinem Domizil wandert, in Gedanken wie diesem:
»Neue Wege entstehen, indem wir sie gehen.«
FRIEDRICH NIETZSCHE