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Viele Studien haben mit genetischen, neurobiologischen und -psychologischen Befunden zum besseren Verständnis von ADHS beigetragen. Doch es fehlt nach wie vor an theoriegeleiteten, praxistauglichen Interventionen, die es Lehrpersonen ermöglichen, aus einer vertieften Kenntnis der neurobiologischen Ursachen heraus effektive pädagogische und didaktische Maßnahmen im schulischen Bereich abzuleiten. Dabei geht es auch um motivationale und gedächtnisbezogene Aspekte. Das Buch verbindet aktuelle Forschungsergebnisse mit pädagogisch-didaktischen Konsequenzen und handlungsanleitenden Schritten.
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Seitenzahl: 326
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Die Autoren
Privatdozent Dr. Dr. med. Jan Frölich, Facharzt für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Kinderheilkunde, niedergelassen in freier sozialpsychiatrischer Praxis in Stuttgart.
Habilitation im Fach Kinder- und Jugendpsychiatrie und -psychotherapie an der Universität zu Köln, affiliiert an der Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie des Zentralinstituts für seelische Gesundheit (ZI) in Mannheim.
Autor zahlreicher wissenschaftlicher Publikationen mit den Schwerpunkten ADHS, Schlafstörungen, Mediensucht.
Mitautor der aktuell gültigen S1-Leitlinie »Nichtorganische Schlafstörungen (F51)«.
Universitätsprofessor Dr. sc. hum. Manfred Döpfner, Dipl.-Psych., Universitätsprofessor für Psychotherapie in der Kinder- und Jugendpsychiatrie an der Medizinischen Fakultät und kooptiertes Mitglied der Humanwissenschaftlichen Fakultät der Universität zu Köln. Leitender Diplompsychologe an der Klinik und Poliklinik für Psychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie des Kindes- und Jugendalters am Klinikum der Universität zu Köln. Leiter des Ausbildungsinstituts für Kinder- und Jugendlichenpsychotherapie an der Uniklinik Köln (AKiP). Psychologischer Psychotherapeut und Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeut, KBV-Gutachter für Kinder- und Jugendlichenverhaltenstherapie. Preisträger Deutscher Psychologie-Preis 2005.
Forschungsschwerpunkte: Epidemiologie psychischer Störungen, Entwicklung und Evaluation psychodiagnostischer Verfahren und psychotherapeutischer Interventionen, insbesondere bei Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörungen (ADHS), oppositionellen und aggressiven Verhaltensstörungen, Angst- und Zwangsstörungen, Ticstörungen und depressiven Störungen im Kindes- und Jugendalter.
Prof. Dr. Dr. Tobias Banaschewski, Facharzt für Kinder- und Jugendpsychiatrie. Ärztlicher Direktor der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie des Kindes- und Jugendalters und Professor an der Medizinischen Fakultät Mannheim der Universität Heidelberg, seit 2014 stellvertretender Direktor des Zentralinstituts für Seelische Gesundheit, seit 2015 Vorsitzender des European Network for Hyperkinetic Disorders (EUNEHYDIS). Von 2015 bis 2017 Präsident der Deutschen Gesellschaft für Kinder- und Jugendpsychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie (DGKJP). Seine Forschungsschwerpunkte sind Untersuchungen zur Ätiologie, Subtypisierung und Therapie der Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung (ADHS), der Autismus-Spektrum-Störungen und assoziierter Störungen, die mittels neuropsychologischer, bildgebender und molekulargenetischer Methoden und häufig in Zusammenarbeit mit verschiedenen internationalen Kooperationspartnern, vor allem aus dem European Network for Hyperkinetic Disorders (Eunethydis), durchgeführt werden. Für seine Forschung erhielt er 2003 den Kramer-Pollnow-Preis, 2014 den August-Homburger-Preis, 2016 den Saarländischen ADHS-Forschungspreis.
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2., aktualisierte Auflage 2021
Alle Rechte vorbehalten
© W. Kohlhammer GmbH Stuttgart
Gesamtherstellung: W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart
Print:
ISBN 978-3-17-038346-3
E-Book-Formate:
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Die großen internationalen Vergleichsstudien zu Schul- und Schülerleistungen vom Beginn des Jahrhunderts haben spürbare Innovationen im gesamten Bildungssystem bis hinein in die konkreten unterrichtlichen Praktiken mit sich gebracht. Auch die Forschungslandschaft rund um das Lehren und das Lernen wurde durch diese Impulse nachhaltig beeinflusst und wirkt ihrerseits weiter auf die Entwicklung von Schule und Unterricht ein.
Eine der Lehren aus diesen Studien war die Anerkennung der Notwendigkeit von Interdisziplinarität: Lehren und Lernen, wissenschaftlich betrieben, kann nur durch das Zusammenspiel pädagogischer, psychologischer, fachwissenschaftlicher und fachdidaktischer Theorien und Befunde befriedigend erklärt und gesteuert werden. In der pädagogischen Praxis kann keine Lerntheorie ohne Bezug auf eine konkrete Inhaltsdomäne und keine Lehrmethode ohne Curriculumsbezug und ohne Beachtung der individuellen Lernvoraussetzungen erfolgreich sein. Die je eigenen Perspektiven und Erkenntnisse der Psychologie, der Pädagogik und der beiden schulisch zentralen Fachdidaktiken Mathematik und Deutsch, vertreten in den Disziplinen der Herausgebenden, sollen in den einzelnen Bänden dieser Reihe jeweils zu einem kohärente Gesamtbild zusammengeführt werden. Neben der Interdisziplinarität liegt besonderer Wert auf einer – weit verstandenen – Empirie: Erfahrungswissenschaftlich gewonnene Erkenntnisse zum Lehren und Lernen stehen jeweils im Mittelpunkt der Darstellung. Schließlich fokussieren alle Bände der Reihe den Anwendungsbezug: Die entfalteten Themen, Diskurse und Fachgebiete sind jeweils unmittelbar bedeutend für Schule und Unterricht. Insgesamt präsentieren die Bände die wichtigsten unterrichtlich relevanten Forschungsthemen und -ergebnisse aus den unterschiedlichen Disziplinen.
Die vorliegende Reihe umfasst thematisch den Vorschul-, Grundschul- und weiterführenden Schulbereich bis etwa zur zehnten Klassenstufe. Konzipiert ist sie für (zukünftige) Lehrende, auch für PädagogInnen und PsychologInnen in weiteren Anwendungsfeldern im Bildungssystem. Mit dem »Lehren und Lernen« werden die oben angesprochenen politisch-praktischen Veränderungen im pädagogischen und fachlichen Feld und in der Aus- und Weiterbildung von Lehrerinnen und Lehrern aufgegriffen, indem die Ergebnisse der empirischen Forschung in den zentralen Bereichen des Lehrens und Lernens aus interdisziplinärer Perspektive für professionelle Anwenderinnen und Anwender verständlich und kompakt dargestellt werden.
Andreas Gold, Cornelia Rosebrock, Renate Valtin & Rose Vogel
Herzlichen Dank an Frau Dipl.-Betriebswirtin Helga Banhart, die in bewährter Weise exzellent durch ihr hohes Engagement, ihren exakten Blick und ihre ausgezeichnete Organisationsfähigkeit maßgeblich bei der redaktionellen Fertigstellung des Buches mitgewirkt hat.
Geleitwort
1 Klassifikation und diagnostische Einordnung der ADHS
1.1 Internationale Klassifikationssysteme und diagnostische Einordnung
1.2 Subtypen der ADHS
1.3 Auftreten der Kernsymptome in der Schule
1.4 Auftretenshäufigkeit
1.5 Verlauf während der Schulzeit
1.6 Komorbide Störungen
1.7 Differenzialdiagnosen
2 Ursachen und Entwicklung der ADHS
2.1 Genetische Aspekte
2.2 Neuroanatomische und neurochemische Abweichungen
2.3 Allergische und Nahrungsmitteleinflüsse
2.4 Psychosoziale Faktoren
2.5 Neuropsychologische Befunde
2.6 Dysfunktionale motivationale Prozesse
3 Diagnostik
4 Das multimodale Behandlungskonzept im Kontext schulischer Anforderungen
4.1 Allgemeine Behandlungsbedingungen
4.2 Umfeldzentrierte Interventionen
4.3 Patientenzentrierte Interventionen
4.4 Medikamentöse Behandlung
4.5 Schulbezogene Interventionen im Rahmen des multimodalen Behandlungskonzepts
4.6 Die Erstellung einer Behandlungshierarchie
5 Allgemeine Grundprinzipien des pädagogischen Umgangs
5.1 Möglichkeiten des Nachteilsausgleichs
5.2 Proaktives Lehrerverhalten bei Verhaltens- und Lernproblemen
5.3 Stärkung der Beziehung zwischen Lehrkraft und Schüler
5.4 Spezifische Verhaltens- und Lernprobleme strukturieren
5.5 Präventive Unterrichtsmethoden bei der ADHS
5.6 Interventionsmaßnahmen bei problematischem, störendem Schülerverhalten
5.7 Weitere ADHS-typische Problemkonstellationen in der Schule
6 Maßnahmen der Verhaltensmodifikation
6.1 Grundprinzipien
6.2 Konkrete Vorschläge für Maßnahmen im schulischen Rahmen
6.3 Selbstinstruktionstrainings
6.4 Selbstmanagement bei Kindern
6.5 Kompensationsmaßnahmen bei defizitärem Arbeitsgedächtnis
6.6 Förderung von Veränderungsmotivation in der Arbeit mit Jugendlichen
7 Aufmerksamkeitsstörungen und Teilleistungsstörungen
7.1 Lese-Rechtschreibprobleme
7.2 Mathematik
7.3 Graphomotorische Probleme
8 Kooperation mit dem Elternhaus
9 Ausblick
10 Hilfreiche Materialien und Internetseiten
Literatur
Stichwortverzeichnis
Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörungen (ADHS) zeichnen sich durch die Kardinalsymptome Aufmerksamkeitsschwäche, Impulsivität und motorische Hyperaktivität aus. Die Symptome müssen situationsübergreifend, aber nicht in allen Situationen, für das Alter und den Entwicklungsstand in unangemessenem Ausmaß und zeitlich überdauernd auftreten. In der Regel sind sie rückverfolgbar bis in das frühe Kindesalter. Außerdem dürfen sie nicht durch andere psychische Störungsbilder, organische Erkrankungen oder situative Bedingungen erklärbar sein. Hinzukommt, dass die Symptomatik in erkennbarer Form zu einer Beeinträchtigung wichtiger Alltagsfunktionen im Sozial- oder Lernverhalten und des seelischen Befindens bei den Betroffenen und ihren Bezugspersonen führen muss.
Es existieren zwei international anerkannte psychiatrische Klassifikationssysteme, zum einen das Diagnostische Manual Psychischer Störungen (DSM – Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders), welches von der American Psychiatric Association herausgegeben wird, und das Kapitel V der Internationalen Klassifikation der Krankheiten und verwandter Gesundheitsprobleme (ICD), herausgegeben von der WHO (World Health Organization). Derzeit liegt das DSM in der fünften Version vor (American Psychiatric Association, APA, 2013; deutsch: APA/Falkai et al., 2018), ICD-10 in der 10. Version (Dilling, Mombour & Schmidt, 2010). Die 11. Version (ICD 11) ist in der englischen Fassung im Internet publiziert (https://icd.who.int/browse11/l-m/en). Die Hauptaufgabe in der Entwicklung unterschiedlicher Versionen der Klassifikationssysteme besteht darin, die für die jeweilige Diagnose relevanten Merkmale zu definieren, zu ordnen und zu gewichten, um auf diese Weise zu einer möglichst präzisen Beschreibung psychischer Störungen zu gelangen. Jede neue Version versucht hierbei, die über die Jahre neu hinzukommenden Forschungsergebnisse zu einem psychischen Störungsbild angemessen zu berücksichtigen und einzuordnen. Auf diese Weise entstehen allgemein gültige Standards, die für die Diagnoseerstellung dringend erforderlich sind.
Grundsätzlich ist festzustellen, dass die Kernsymptomeder ADHS, d. h. motorische Unruhe, Hyperaktivität,mangelnde Aufmerksamkeit und Ablenkbarkeit sowie Impulsivität Extreme eines Spektrums ganz normaler Verhaltenszüge darstellen, welche jedes Kind zeigen kann, entweder temperaments-, situations- oder auch reifebezogen. Es besteht also bei der klinischen Abklärung einer ADHS die Aufgabe, eher dimensional als kategorial zu evaluieren, ab welchem Grad der Ausprägung der genannten Symptome diese als außerhalb der Norm befindlich einzuordnen sind und auch eine Behandlungsbedürftigkeit nach sich ziehen (McLennan, 2016). Wie bei allen Merkmalen, die kontinuierlich verteilt sind – sei es Bluthochdruck, Übergewicht oder ADHS – sind die Grenzen zwischen Normalität und Unauffälligkeit fließend. Von einer ADHS Betroffene weisen aber Symptommerkmale in besonders hoher Ausprägung auf, so dass sie bei der Verrichtung alltäglicher Aufgaben deutlich eingeschränkt sind und hierdurch ein erhöhtes Risiko für die Entwicklung weiterer Erkrankungen bzw. psychischer Störungen in sich tragen. Die »Internationale statistische Klassifikation der Krankheiten und verwandter Gesundheitsprobleme« (ICD-10) formuliert in ihren Leitlinien folgende Kriterien für die Diagnose einer ADHS (Dilling et al., 2010):
Beurteilungsmaßstab sollte sein, dass die Symptome im Verhältnis zu dem, was in der gleichen Situation von gleichaltrigen Kindern mit vergleichbarer Intelligenz zu erwarten wäre, stark ausgeprägt sind. Hinzu kommt, dass die Symptomatik in verschiedenen Situationen von verschiedenen Beobachtern gleich oder ähnlich vorhanden und als gleich oder ähnlich störend erlebt werden muss, d. h. situationsübergreifend auftritt. In aller Regel werden hierzu die Eltern oder die Erwachsenen, bei denen das Kind lebt, und die Lehrpersonen oder Erzieher/-innen als Informationsquellen herangezogen. Einschränkend ist festzuhalten, dass die Kernsymptomatik nicht zwingend in jeder Situation und immer ausgeprägt sein muss. Ein charakteristisches Kennzeichen von ADHS besteht darin, dass die betroffenen Kinder und Jugendlichen einerseits große Schwierigkeiten haben, sich in monotonen, Ausdauer erfordernden (Leistungs-)Situationen konzentrieren zu können, anderseits aber die Fähigkeit besitzen, in für sie persönlich hoch motivational besetzten Situationen auf eine bestimmte Aktivität sogar zu hyperfokussieren (Hupfeld, Abagis & Shah, 2019) ( Kap. 2.5, Dysfunktionale motivationale Prozesse). Dies schließt eine ADHS nicht aus, sondern diese Polarität gehört häufig zu dem Störungsbild dazu. Des Weiteren ist es möglich, dass die Symptomatik in hoch strukturierten Situationen im Kontakt mit einer oder nur wenigen Personen nur geringgradig oder gar nicht zum Vorschein kommt, so dass die Symptomausprägung zum Beispiel in der Schule stärker ist als bei den Hausaufgaben oder im schulischen Rahmen. Unterschiede bestehen zwischen freieren Situationen (Pause, Sport) und dem Unterricht oder der Stillarbeit (Purper-Quakil, Whol, Michel, Mouren & Gorwood, 2004). Mannuzza et al. (2002) unterscheiden diesbezüglich drei Subtypen (situationsübergreifende versus schulbezogene versus dominierend zuhause auftretende Symptomatik mit unterschiedlichen Risikoverläufen bis in das Erwachsenenalter hinein).
Kritiker mögen hier einwenden, dass sich dann natürlich die Frage stelle, wie sich ein Kind mit einer ADHS von einem nicht betroffenen Kind überhaupt unterscheide, da es sich hierbei im Grunde genommen um ganz normale Verhaltenszüge handele. Dem ist zu entgegnen, dass sich die Symptome der ADHS auf einem dimensionalen Spektrum mit zunehmend extremerer Ausprägung präsentieren mit der Folge eines störungsspezifischen Wertes.
Die Reife des Kindes spielt in der Beurteilung der Symptomatik ebenso eine gewichtige Rolle, denn von einem jüngeren Kind wird ein deutlich höheres Maß an motorischer Unruhe, impulsbezogenem Handeln und Aufmerksamkeitsschwächen zu erwarten sein als von einem älteren Kind. Zugleich ist an dieser Stelle davor zu warnen, was im pädagogischen Bereich leider häufig praktiziert wird, das Vorhandensein der Kernsymptome der ADHS vorschnell mit einer allgemeinen Unreife des Kindes gleichzusetzen und dieses dann vom Schulbesuch zurückzustellen. Dies wäre beispielsweise nur dann zu erwägen, wenn eine allgemeine, auch sozio-emotionale Unreife des Kindes festzustellen ist. Charakteristisch für die ADHS ist, dass neben den Kernsymptomen, welche häufig als Unreife wahrgenommen werden, durchaus altersgerechte Entwicklungen stattfinden können.
Das internationale Klassifikationsschema der ICD-10 fordert des Weiteren, dass die Kernsymptome vor dem 6. Lebensjahr aufgetreten sein müssen. Das amerikanische Klassifikationsschema DSM-5 (APA, 2013) formuliert aktuell eine höhere Altersgrenze von 12 Lebensjahren bis zum Beginn einer beeinträchtigenden ADHS-Kernsymptomatik. Es gehört nicht zur Aufgabenstellung dieses Buches, auf die unterschiedliche Bewertung der ADHS-Symptome durch die gebräuchlichen psychiatrischen Klassifikationssysteme IDC-10 und DSM-5 differenzierter einzugehen. Beide Diagnosesysteme unterscheiden sich nur unwesentlich in der Definition der einzelnen Kriterien, durchaus aber bei den Anforderungen der Anzahl und Kombination dieser Kriterien, welche für die Diagnosestellung erforderlich sind. Die neue ICD-11 nimmt gegenüber der ICD-10 in der Störungsbeschreibung keine bedeutsamen Veränderungen vor. Wie beim DSM-5 wird in der neuen Fassung allerdings auch eine Typisierung in Untergruppen der ADHS vorgenommen mit drei hauptsächlichen Symptommanifestationen (primär unaufmerksame Präsentation, primär hyperaktiv-impulsive Präsentation sowie kombinierte Symptomkombination) (Steinhausen, 2019).
Wesentlich für die Diagnosestellung ist des Weiteren, dass die Symptomatik nicht durch andere psychische Störungen erklärbar ist, namentlich tiefgreifende Entwicklungsstörungen (autistische Störungsbilder), Störungen der Affektregulation, Manie (Zustand von extrem aufgehellter Stimmung und stark erhöhtem Antrieb), Depressionen, Angststörungen oder Störungen des Sozialverhaltens. Alle genannten Störungsbilder können zumindest in Teilaspekten Symptome einer ADHS aufweisen. Zugleich ist festzuhalten, dass die genannten Störungsbilder trotzdem gleichzeitig oder in Folge einer ADHS auftreten können ( Kap. 1.6, Komorbide Störungen). Gerade darin besteht häufig die Schwierigkeit des diagnostischen Prozesses.
Zusammenfassend ist hervorzuheben, dass bei der Betrachtung von Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätsstörungen ein dimensionaler Blick notwendig ist anstatt eines kategorialen (Steinhausen, 2010). Außerdem ist die Symptomatik heterogen in ihrer Zusammensetzung, d. h. es existieren verschiedene Subtypen (Unterformen) des Störungsbildes ( Kap. 1.2, Subtypen der ADHS), sie zeigt einen altersspezifischen, charakteristischen Verlauf und sie ist auch individuell teilweise inkonsistent auftretend, d. h., dass die Symptomatik beim selben Kind in der gleichen Situation nicht immer gleich ausgeprägt sein muss, sondern durchaus in Phasen mit geringerer als auch größerer Beeinträchtigung verläuft. Sie ist erheblich abhängig von der pädagogischen Strukturvorgabe der jeweiligen Situation. Somit kommt pädagogisch-didaktischen Kompensationsmöglichkeiten eine erhebliche Wichtigkeit zu, um die Ausprägung abzumildern.
Ein entscheidendes Kriterium für die diagnostische Beurteilung eines Kindes mit Symptomen einer ADHS stellen in der dimensionalen Betrachtung zwei Aspekte dar:
Eine über das normale Maß hinausgehende Symptomatik geht fast immer mit einem erhöhten Leidensdruck auf Seiten des Kindes und/oder der mit ihm interagierenden Gleichaltrigen bzw. Erwachsenen einher. Hierbei ist Wert darauf zu legen, dass dieser Leidensdruck nicht bei jedem betroffenen Kind vorhanden sein muss, vermutlich aufgrund der gestörten Selbstwahrnehmung der Betroffenen. Im Regelfall ist es dann allerdings so, dass entweder die Eltern oder die Lehrpersonen einen erhöhten Leidensdruck zeigen aufgrund des stark erhöhten pädagogischen Aufwands, der im Umgang mit dem Kind zu tätigen ist. Pädagogische Bezugspersonen fühlen sich individuell entweder psychisch überlastet oder sie klagen darüber, dass hierunter andere Alltagspflichten in geringerem Ausmaß wahrgenommen werden können oder die Schülergruppe1, Geschwister oder der Lebenspartner bzw. der Lebenspartnerin weniger Zuwendung erfahren. Die Beziehung zwischen den pädagogischen Bezugspersonen und dem betroffenen Kind ist auf Dauer oft erheblich belastet.
Von einer ADHS betroffene Kinder und Jugendliche können darüber hinaus im Entwicklungsverlauf fast immer alterstypische Entwicklungsaufgaben im Lern-/Leistungsbereich oder bezogen auf das Sozialverhalten nicht erfolgreich tätigen. Es entsteht also mittelfristig sehr häufig ein hierauf bezogener Entwicklungsrückstand, welcher weitere sozio-emotionale Auffälligkeiten zum Vorschein bringt. In der dimensionalen diagnostischen Betrachtung der ADHS müssen deshalb stets immer beide Aspekte, d. h. Leidensdruck und sich auftuende Entwicklungsrückstände, beachtet werden bei der Einschätzung, ob es sich um eine behandlungsbedürftige ADHS handelt.
Tabelle 1.1 verweist nochmals auf die zusätzlichen Kriterien, die bei einer ADHS nach ICD-10 und DSM-5 erfüllt sein müssen ( Tab. 1.1).
Tab. 1.1: Zusätzliche diagnostische Kriterien für HKS/ADHS in ICD-10 und DSM-5 (adaptiert nach Steinhausen, Rothenberger & Döpfner, 2010, S. 22)
Abschließend ist festzuhalten, dass Kinder und Jugendliche mit einer ADHS nicht nur durch Lern- und Leistungsdefizite und Verhaltensstörungen negativ auffallen. Mit den Kernsymptomen sind oft auch positive Eigenschaften, zuweilen sogar Vorteile gegenüber den anderen Kindern und Jugendlichen verbunden. Rief (2003, S. 9) nennt folgende Eigenschaften: Ein hohes Maß an Energie, verbale und kommunikative Stärken, Spontanität, Kreativität, Unternehmungslustigkeit, künstlerische Begabung oder Warmherzigkeit. Kinder mit ADHS sind oft unterhaltsam, sensitiv für die Bedürfnisse anderer, hilfsbereit, humorvoll, begeisterungsfähig, unternehmungslustig, neugierig und reaktionsstark. In einer Interviewstudie mit von ADHS betroffenen Erwachsenen erwiesen sich mehrere positive Eigenschaften als charakterisierend: Energie, dynamisches Denken, divergentes Denken, Hyperfokus, Non-Konformismus, Abenteurertum und Selbstakzeptanz (Sedgwick, Merwood & Asherson, 2019). Gerade um das schwache Selbstwertgefühl der betroffenen Kinder und Jugendlichen zu stärken, ist es wichtig, die Kompetenzen und Stärken zu erkennen und entsprechend zu fördern. Die diagnostischen, therapeutischen und pädagogischen Maßnahmen sollten dies stets berücksichtigen.
Von pädagogischer Seite hören Spezialisten, die mit der Diagnostik und Behandlung von ADHS betraut werden, immer wieder den Einwand, eine ADHS komme nicht in Frage, weil der Schüler keine Hyperaktivitätszeichen aufweise oder weil die Aufmerksamkeitsprobleme gar nicht so sehr in den Vordergrund träten oder eher Probleme bei der Kontrolle der kognitiven sowie emotionalen Impulse vorlägen. In der Klassifikation nach DSM-5 geht das Störungsbild allerdings mit unterschiedlich dominierenden Symptomkategorien einher, bei denen die Kernsymptome unterschiedlich stark zur Ausprägung kommen, so dass diesen in der pädagogischen Praxis zu beobachtenden Konstellationen durchaus Rechnung getragen wird.
Grundsätzlich werden drei Subtypen voneinander unterschieden:
• Die vorwiegend unaufmerksame Symptompräsentation, bei der die Aufmerksamkeitsdefizienz im Vordergrund steht, Impulsivität und Hyperaktivität dagegen nur in geringerem Ausmaße oder gar nicht vorhanden sind. Auffällig ist, dass vorwiegend unaufmerksame Kinder eher introvertiert sind, d. h. insgesamt deutlich weniger auffallen als Kinder vom kombinierten Subtyp. Zugleich weisen sie häufig ein erhöhtes Maß an sozialer oder leistungsbezogener Ängstlichkeit sowie Trennungsängstlichkeit auf (Levy, Hay, Bennett & McStephen, 2005; Nigg, 2006; Spencer, Biederman & Wilens, 1999).
• Bei der kombiniertenSymptompräsentation treten alle Kernsymptome in etwa gleich stark auf mit einer Häufigkeit von ungefähr 50 % (Nigg, 2006). Bei diesem Subtyp findet sich sowohl eine Häufung an internalisierenden (Ängste, depressive Symptome) als auch externalisierenden Störungen (aggressives und oppositionelles Verhalten) (Levy et al., 2005).
• Schließlich ist eine seltenere (in maximal 10 % der Fälle), hyperaktiv-impulsiveSymptompräsentation zu benennen, bei der zwar motorische Unruhe und Impulsivität auftreten, die Aufmerksamkeitsproblematik dagegen deutlich geringer vorhanden ist. Meist haben die betroffenen Kinder erheblich mehr Sozialverhaltensprobleme als Lern- und Leistungsschwierigkeiten (Fischer, Barkley, Smallish & Fletcher, 2002).
Die Symptome der ADHS zeigen sich im Rahmen der Schule mit Sicherheit nicht in jedem Kontext. Sie sind durchaus situationsabhängig und treten vor allem bei Aufgabenstellungen zutage, welchen ein hohes Maß an Routine und Wiederholungscharakter zu eigen ist. Des Weiteren sind sie eher erkennbar, wenn Selbstständigkeit bei der Arbeit gefordert wird. Schüler mit einer ADHS sind in Unterrichtseinheiten mit vielen Freiräumen häufig überfordert, weil sie die Aufmerksamkeit nicht angemessen zentrieren können und große Probleme bei der Selbstorganisation haben. Umgekehrt bedeutet ein hohes Maß an didaktischer Struktur und individueller Führung durch die Lehrperson häufig, dass die Symptomatik weniger zum Vorschein kommt. Charakteristisch ist im Übrigen, dass abwechslungsreiche und spannende Aufgabenstellungen die Aufmerksamkeit des Kindes stärker binden. Andere aufmerksamkeitsmodulierende Gesichtspunkte stellen beispielsweise das Maß an Ablenkbarkeit durch Geräusche im Klassenzimmer dar oder der Sitzplatz des Kindes im Unterricht. Hinzu kommt, dass die Aufmerksamkeitsdefizienz umso stärker in den Vordergrund drängt, je mehr ein Lerngegenstand auch mit fachlichen Schwächen des Kindes – beispielsweise einer Lese-/ Rechtschreibstörung – einhergeht. Schließlich ist anzumerken, dass die Kernsymptome der ADHS, insbesondere die Unaufmerksamkeit, nicht in der Form zu interpretieren sind, dass sich die Kinder überhaupt nicht konzentrieren können. Bei für die Betroffenen motivational hoch besetzten Aktivitäten oder Aufgabenstellungen besteht durchaus eine deutlich bessere Leistungsfähigkeit (Dovis, Van der Oord, Wiers & Prins, 2012).
Zur Erläuterung der Kernsymptome der ADHS stellen wir das typische Zeugnis eines 10-jährigen Schülers der 5. Klasse voran:
Tobias zeigte aufgeschlossenes Interesse für bestimmte Fächer. Er ermüdete jedoch leicht bei umfangreichen Aufgaben. Es fiel ihm zudem schwer, sich längere Zeit zu konzentrieren. Er war stets bereit, sich von der Arbeit ablenken zu lassen. Oft schweifte er von der eigentlichen Aufgabe ab oder war unaufmerksam und konnte daher Aufgabenstellungen nicht umsetzen. Meist stand er sich dabei selbst im Weg. Beim selbstständigen Arbeiten brauchte er viel Zeit und meist gezielte Anweisungen. Häufig fehlte ihm die Übersicht. Daher beschäftigte er sich gerne mit anderen Dingen, die mit dem Lerngegenstand wenig zu tun hatten. Er hatte oft Mühe, mit seiner Zeit zurechtzukommen und sich in die Struktur des Schulalltages einzufügen. Abstrakte Aufgaben konnte er nur mit Mühe bewältigen. Es fiel ihm noch schwer, Gelerntes auf andere ähnliche Sachverhalte zu beziehen. Die Lösungen seiner Aufgaben stellte er oft sehr ungeordnet dar. Er neigte dazu, seine Arbeiten nicht zu Ende zu führen. Häufig erledigte er diese nur nach wiederholter Aufforderung. An seinem Arbeitsplatz sowie in seinen Heften fehlten Ordnung und Übersicht. Sein Schriftbild besserte sich gegen Ende des Schuljahres, wobei dies immer mit Anstrengung verbunden war. Wochenplanaufgaben konnte er nur dann zufriedenstellend erledigen, wenn er dabei Hilfe hatte. Sein Verhalten in der Klasse zeigte große Schwankungen und war oft nicht den Situationen angepasst. An vereinbarte Regeln konnte er sich nicht immer halten. Durch sein unruhiges Verhalten störte er häufig die Konzentration anderer. Bei Ermahnungen zeigte er sich oft uneinsichtig und verweigerte zum Teil die Mitarbeit. Aufgrund seines Verhaltens war Tobias nicht immer in der Lage, mit anderen zusammenzuarbeiten. Für seine persönlichen Interessen trat er dennoch nachhaltig ein. An Streitigkeiten beteiligte er sich immer wieder. In der Klasse war er noch nicht in der Lage, Einsicht zu zeigen und Verantwortung für sein Verhalten zu übernehmen.
Die Unaufmerksamkeit stellt das Symptom dar, das, gemessen an den anderen Kernsymptomen, am häufigsten auftritt und auch im Entwicklungsverlauf bis in das Erwachsenenalter hinein ( Kap. 1.5, Verlauf während der Schulzeit) überdauert (Wilens, Biederman & Spencer, 2002; Steinhausen & Sobanski 2010).
In vielen Fällen, v. a. beim vorwiegend unaufmerksamen, sogenannten »Träumertyp«, besteht insgesamt eine psychomotorische Unteraktivierung (sog. Hypoaraousal)oder eine Unterfunktion der Vigilanz (Orinstein & Stevens, 2014; Hvolby, 2015; James, Cheung, Rijsdijk, Asherson & Kuntsi, 2016). Die Kinder fallen im Alltag durch ihre Langsamkeit auf, vor allen Dingen bei der Bearbeitung von schulischen Aufgabenstellungen (Kibby, Vadnais & Jagger-Rickels, 2019) und sind häufig zusätzlich introvertiert oder sogar ängstlich. Seit längerem wird aufgrund einer zunehmend besseren Befundlage immer wieder diskutiert, ob dieser Subtyp der ADHS von den anderen Subtypen zu unterscheidende Verursachungsmechanismen besitzt mit anderen Begleitstörungen und einem anderen Verlauf und möglicherweise sogar ein eigenständiges Störungsbild darstellt (Barkley, 2014).
• Der Arbeits- und Lernstil ist von wenig Sorgfalt geprägt und wichtige Details einer Aufgabe werden übersehen.
• Die Aufmerksamkeit kann nicht über längere Zeit aufrechterhalten werden, was sich z. B. darin zeigt, dass zu Beginn einer Klassenarbeit wenige Fehler begangen werden, diese aber drastisch zu deren Ende hin zunehmen. Typischerweise resultiert hieraus eine Verlangsamung des Arbeitstempos, d. h., dass Aufträge nicht zeitgerecht zu Ende gebracht werden können. Auch bei Spiel- oder Sportaktivitäten – allerdings in diesem Kontext viel stärker abhängig von der Motivation und vom individuellen Können – wird oft ein geringeres Durchhaltevermögen beobachtet. Die Kinder verlieren schneller die Lust, an Gruppenaktivitäten teilzunehmen. Dies hat zum Beispiel zur Folge, dass Vereinstätigkeiten deutlich schneller abgebrochen werden und, je jünger die Kinder sind, die Gefahr, hierdurch in eine soziale Außenseiterposition zu geraten, deutlich erhöht ist.
• Viele Anweisungen müssen häufiger gegeben werden, weil das Kind diese nicht zu hören scheint oder auch faktisch nicht mitbekommen hat. Entsprechend kann diesen nicht korrekt oder gar nicht Folge geleistet werden, wobei hier immer auch zu differenzieren ist, inwieweit oppositionelles Verhalten oder eine fachliche Überforderung mit eine Rolle spielen.
• Es besteht eine erhöhte Ablenkbarkeit von externen Stimuli, sei es auditiver Natur, indem die betroffenen Kinder darüber klagen, dass sie den Geräuschpegel der Klasse als zu störend empfinden, um konzentriert bei einer Sache zu bleiben, sei es durch beliebige visuelle Stimuli, wie der veränderten Frisur der Mitschülerin oder dem vorbeifliegenden Flugzeug am Horizont. Gut verständlich ist, dass hierdurch jeweils Unterbrechungen des Arbeitsflusses zustande kommen mit der Folge, diesen nicht (korrekt) fortzusetzen, zumindest aber langsamer zu arbeiten als die Klassenkameraden.
• Typisch ist des Weiteren die hohe Vergesslichkeit der betroffenen Kinder für Materialien oder vergebene Aufträge, wobei bislang nicht vollständig geklärt ist, ob diese Auffälligkeit Folge der Aufmerksamkeitsdefizienz ist, also ein Auftrag gar nicht wahrgenommen wurde, oder dass dieser nicht im Kurzzeitgedächtnis gespeichert wurde.
Ganz verschiedene Aufmerksamkeitsfunktionen können betroffen sein, welche dann im Prozess der Diagnostik abgeklärt werden müssen, durchaus aber auch im Alltagsbereich beobachtbar sind.
Tabelle 1.2 gibt einen Überblick über die betroffenen Aufmerksamkeitsfunktionen ( Tab. 1.2, adaptiert nach Sohlberg & Mateer, 1989).
Tab. 1.2: Pädagogisch relevante Beispiele von Aufmerksamkeitsfunktionen (adaptiert nach Sohlberg & Mateer, 1989)
AufmerksamkeitstypFunktionen
Impulsivität bedeutet ein generelles Defizit an Selbstkontrolle, welches sich in verhaltensbezogener, kognitiver und emotionaler Hinsicht zeigt. Eine funktionierende Impulskontrolle ist eingebunden in die sogenannten exekutiven Funktionen. Hierunter werden Funktionen verstanden, welche die kognitive Verarbeitung steuern. Neben der Impulskontrolle gehören hierzu noch andere exekutive Teilfunktionen wie kognitive Flexibilität, Planungsfähigkeit, Arbeitsgedächtnis und die Fähigkeit zur Aktualisierung von Funktionen (Diamond, 2013). Bei den von einer ADHS Betroffenen sind die exekutiven Funktionen in unterschiedlicher Ausprägung beeinträchtigt.
Tabelle 2.2 gibt hierüber eine Übersicht ( Tab. 2.2).
Vor allem beim Mischtyp und beim hyperaktiv-impulsiven Typ sticht die defizitäre Impulskontrolle in lern- und sozialverhaltensbezogener Sicht hervor, deutlich weniger bis gar nicht beim vorwiegend unaufmerksamen Typ. Kinder und Jugendliche mit einer ADHS sind zwar grundsätzlich durchaus in der Lage, reflexive Denk- und Handlungsprozesse nachzuvollziehen; in vielen Situationen handeln sie aber oftmals, »bevor sie denken«. Dieser Befund macht es den Eltern und Lehrpersonen häufig so schwer, zu verstehen, dass auch nach mehrfachem Erklären selbst banale Alltagsregeln von Kindern mit AHDS nicht angewendet werden können. Die Betroffenen können aufgrund ihres impulsiven Denk- und Handlungsstiles viel weniger aus Fehlern lernen als nicht Betroffene. Das bei anderen Kindern und Jugendlichen mitunter empfehlenswerte Prinzip, sie aus ihren selbst verantworteten Fehlern und den mit ihnen verbundenen Folgen lernen zu lassen (wenn z. B. Eltern in »pädagogischer Absicht« das Kind zur Schule schicken, ohne dass es seine Hausaufgaben nicht vollständig gemacht hat), ist folglich bei von einer ADHS betroffenen Kindern und Jugendlichen in viel geringerem Maße erfolgreich anwendbar.
• Die Impulskontrolle ist die Fähigkeit zu einer angemessenen Steuerung des eigenen Verhaltens. In kognitiverHinsicht zeigt sich die Impulsivität von Betroffenen mit einer ADHS darin, dass flüchtig gearbeitet wird, wichtige Details übersehen werden und das Bedürfnis besteht, so schnell wie möglich eine Aufgabenstellung zu Ende zu bringen, ohne diese ausreichend zu kontrollieren. Eine gute Aufgaben- und Handlungsplanung gelingt nicht, der Arbeitsstil wirkt ungeordnet und chaotisch. Arbeiten werden begonnen, unterbrochen, es wird mit einer anderen Tätigkeit fortgefahren und diese wiederum vorzeitig beendet. Der Gedankengang ist ungeordnet: Häufig kann im Gespräch ein stark aufgelockerter Gedankengang beobachtet werden, wodurch von Thema zu Thema gesprungen wird, wichtige und unwichtige Gesichtspunkte werden beim Erzählen nicht beachtet, es fehlt oft der »rote Faden«, was es dem Zuhörer sehr schwer machen kann, zu folgen. Überdies besteht oft ein erhöhter Rededrang, ohne die Reaktion des Interaktionspartners zu realisieren. Im schriftlichen Leistungsbereich kann, z. B. bei Aufsätzen, beobachtet werden, dass themenrelevante Ideen unverbunden und ohne Ordnung nebeneinanderstehen.
• In emotionalerHinsicht zeigt sich die Impulsivität dadurch, dass eine hohe Frustrationsintoleranz besteht, wenn Aufgabenstellungen nicht schnell erfolgreich erledigt werden können. Zu warten, bis sie an der Reihe sind, fällt den Betroffenen sehr schwer und sie wirken hierdurch egoistisch oder dominant im Kontakt. Sie mischen sich ungefragt in Spiele oder Gespräche anderer ein, unterbrechen diese oder stören sie. Im Unterricht platzen die Betroffenen mit der Antwort heraus, bevor die Frage zu Ende gestellt ist, was sowohl bei den unterrichtenden Lehrpersonen als auch den Klassenkameraden oft zu Unmut führt. Es besteht eine erhöhte Stimmungslabilität verbunden mit einer Neigung, rasch wütend zu werden und die Selbstkontrolle zu verlieren. Übergänge in offen aggressives Verhalten sind fließend.
• In verhaltensbezogener Hinsicht zeigt sich Impulsivität darin, dass Bedürfnisse nicht aufgeschoben werden können. Kleinere, rasch erhaltbare Belohnungen werden in der Regel zeitlich weiter entfernt liegenden, größeren Belohnungen vorgezogen. Es wird aus dem Moment heraus gehandelt, ohne an die Konsequenzen der eigenen Handlungen zu denken. Die Impulsivität führt die betroffenen Kinder und Jugendlichen auch häufig in Risikosituationen, weil sie die Konsequenzen des eigenen Handelns nicht übersehen, sei es im Straßenverkehr oder bei sportlichen Aktivitäten, im Entwicklungsverlauf dann auch zu stärkerem Betroffensein von Substanzmissbrauch, Verkehrsdelikten, ungewollten Schwangerschaften und delinquenten Handlungen ( Kap. 1.6, Komorbide Störungen). Ein weiteres Problem besteht in der mangelnden Fähigkeit zu einer situativ angemessenen Handlungsflexibilität, also das Verhalten in Abhängigkeit sich verändernder situativer Bedingungen (z. B. Änderungen von gewohnten Tagesabläufen) angemessen anpassen zu können. Dies ist ein häufig von Eltern und Lehrern geschildertes Verhaltensproblem, welches oft zu konflikthaften Zuspitzungen mit dem Kind führt.
Von den Lehrpersonen wird das Symptom der Hyperaktivität häufig als besonders störend wahrgenommen, da es den Unterrichtsablauf unterbricht oder aber die Klassenkameraden hierdurch beim Arbeiten beeinträchtigt werden. Hyperaktivitätszeichen treten gegenüber den anderen beiden Kernsymptomen besonders stark in den Vordergrund, gleichwohl kommen sie aber nur bei ca. der Hälfte der Kinder mit einer ADHS vor. Zugleich spielen bei der Wahrnehmung dieses Symptoms häufiger unterschiedliche Einschätzungen der jeweiligen Beurteiler eine wichtige Rolle, weil es individuell höchst unterschiedlich als störend oder nicht störend erlebt wird. Außerdem spielen natürlich reifungsbezogene und geschlechtsspezifische Aspekte eine wichtige Rolle, da jüngere Kinder, v. a. Jungen, auch in der Grundschule noch ein deutlich höheres Maß an physiologischer motorischer Unruhe aufweisen. Dem wird im Rahmen der Grundschule nicht immer Rechnung getragen und ein Teil der als hyperaktiv eingeschätzten und dann zur Diagnostik vorgestellten Kinder wird lediglich zu hohen, normierten Ansprüchen an motorische Ruhe in den ersten Grundschulklassen noch nicht gerecht (Ford-Jones, 2015).
Hyperaktivitätssymptome können sich auf unterschiedliche Weise manifestieren:
• Es liegt nicht nur ein hohes Aktivitätsmaß vor, sondern hinzu kommt, dass diese Tätigkeiten planlos und ziellos wirken.
• Am auffallendsten im Schulunterricht ist das unruhige Sitzen oder Aufstehen vom Arbeitsplatz. Aus der klinischen Erfahrung heraus sind sich viele der hyperaktiven Kinder durchaus im Klaren darüber, dass sie unruhig oder nervös sind und sich als solches auch empfinden, zugleich aber noch nicht über ausreichende Steuerungsfähigkeiten verfügen, diese zureichend zu reduzieren. Zugleich kann sich Hyperaktivität aber auch subtiler zeigen, indem beispielsweise ständig ein Bein in Bewegung sein muss oder das Kind etwas in den Händen hält und mit ihm ständig spielt, ohne es zu bemerken.
• Hyperaktive Kinder laufen oder klettern oft in exzessiver Form, und das Maß der Unruhe wird vor allem dadurch deutlich, dass sie in Situationen auftritt, in denen dies als unpassend wahrgenommen wird. Auffallend hierbei ist, dass die Symptomatik erfahrungsgemäß umso stärker zum Vorschein kommt, je geringer die pädagogische Strukturierung und je umfangreicher die soziale Gruppe ist. In der Schule ist die Pause eine typische Problemkonstellation, die die Lehrpersonen als besonders problematisch erleben.
• Eine andere Äußerungsform ist das Sprechen oder Singen während des Arbeitens oder das Produzieren von Geräuschen.
• Spiel- oder Freizeitaktivitäten können nicht ruhig durchgeführt werden, was nicht nur von den Erwachsenen, sondern oft auch von anderen Kindern als störend wahrgenommen wird.
• Die Nervosität, die von den betroffenen Kindern ausgeht, wird häufig mit dem Begriff »auf dem Sprung befindlich« beschrieben.
• Im Verlauf der ADHS nimmt die Hyperaktivität mit dem beginnenden Jugendalter deutlich ab und wird oft ersetzt durch ein Gefühl permanenter innerer Unruhe. Die Jugendlichen beschreiben mehr oder weniger übereinstimmend, dass sie immer etwas tun müssten und nie zur Ruhe kämen. Im Symptomkontext der Hyperaktivität ist aber auch die umgekehrte Symptomkonstellation zu beschreiben. Im angloamerikanischen Sprachraum wird von »cognitive sluggish tempo« gesprochen, die sich bei einem Teil der Kinder und Jugendlichen mit einer Aufmerksamkeitsstörung findet. Sie zeichnet sich durch eine psychomotorische Unteraktivierung, Tagträume, Schwierigkeiten beim Aufbringen und Aufrechterhalten von Anstrengungsbereitschaft bei Aufgabenstellungen und durch Lethargie aus (Jacobson, Geist & Mahone, 2018).
Die ADHS gehört insgesamt mit einer weltweiten epidemiologischen Prävalenz von 5,3 % [5,01–5,56] gemäß der DSM-5-Kriterien zu den häufigsten psychischen Störungen im Kindes- und Jugendalter (Wittchen et al., 2011). Die strengeren ICD-10-Forschungskriterien führen allerdings zu deutlich niedrigeren Schätzungen von etwa 1–2 % (NICE, 2018; Döpfner et al., 2008; Polanczyk & Rohde, 2007). Eine bundesweite Auswertung von Krankenkassendaten zur Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung (ADHS) bei Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen ergab zwischen 2009 und 2014 einen Anstieg der Häufigkeit von ADHS-Diagnosen bei 0- bis 17-Jährigen von 5,0 % auf 6,1 % (mit einem Maximum von 13,9 % bei 9-jährigen Jungen) und bei 18- bis 69-Jährigen von 0,2 % auf 0,4 % (Bachmann, Philipsen & Hoffmann, 2017). In einer anderen Studie betrug die Diagnosehäufigkeit 2016 bei Kindern und Jugendlichen in Deutschland auf der Grundlage der Auswertung der bundesweiten, vertragsärztlichen Abrechnungsdaten 4,3 %. Zwischen 2009 und 2016 war demnach aber kein Anstieg der ADHS-Häufigkeit zu verzeichnen, wohl aber gab es ausgeprägte regionale Unterschiede. Diese lagen im Kreisvergleich zwischen 1,6 % und 9,7 % (Akmatov, Hering, Steffen, Holstiege & Bätzing, 2019).
In einer finnischen Registerstudie wurde eine Kohorte von ADHS-Kindern, die zwischen 1991 und 2004 geboren wurden, mit Kindern der Jahrgänge 2004 bis 2011 verglichen. In den Geburtsjahrgängen 1991 bis 2004 erhielten die jüngsten männlichen Kinder bis zu 26 % häufiger eine ADHS-Diagnose, bei den Mädchen waren es sogar 31 % mehr im Vergleich zu den etwas älteren Kindern. Die Autoren schlussfolgerten, dass Lehrer und Eltern Symptome einer ADHS fälschlicherweise mit Unreife verwechseln könnten (Sayal, Chudal, Hinkka-Yli-Salomäki, Joelsson & Sourander, 2017).
Die Verhältnisse in den USA zeigen einen anderen Trend: In einem nationalen Survey wurde ermittelt, dass die Prävalenz einer ADHS-Diagnose zwischen 1997 und 1998 sowie zwischen 2015 und 2016 von 6,1 % auf 10 % signifikant zunahm, und zwar über alle Subgruppen hinweg (Alter, Geschlecht, ethnische Zugehörigkeit, soziodemographischer Status sowie geographische Region) (Xu, Strathearn, Liu, Yang & Bao, 2018).
Unterschiedliche Prävalenzen der ADHS können durch folgende Faktoren verursacht sein:
Die öffentliche Wahrnehmung des Störungsbildes ist in den letzten Jahren stärker in den Vordergrund getreten, so dass Kinder auch schneller einer fachkompetenten Diagnostik zugeführt werden. Zugleich haben die Kenntnis bei Eltern und Lehrpersonen und die Ausbildung von Kinderärzten im Hinblick auf die kompetente Abklärung und Behandlung des Störungsbilds deutlich zugenommen (Lougy, DeRuvo & Rosenthal, 2009). Anzumerken ist, dass je nachdem, welches psychiatrische Klassifikationssystem zugrunde gelegt wird, unterschiedliche Prävalenzraten zum Vorschein kommen. In einer bundesweiten deutschen Studie konnte bei 7- bis 17-Jährigen auf der Basis von Elternurteilen eine Häufigkeit von 5 % nach DSM-5-Kriterien ermittelt werden, aber von nur 1 % nach den strengeren ICD-10-Kriterien. Hinzuzufügen ist des Weiteren, dass die Prävalenzraten immer dann sinken, wenn nicht nur die Symptomatik, sondern auch vor allem die Funktionseinschränkung bzw. auch der Symptombeginn zugrunde gelegt werden (Döpfner et al., 2008).
Inwieweit als Katalysatoren für die Ausprägung des Störungsbildes Faktoren wie erhöhte schulische Anforderungsbedingungen, eine Zunahme des Medienkonsums oder Schlafmangel bei dieser Entwicklung mit eine Rolle spielen, muss noch offen bleiben.
Eine erste Langzeitstudie über zwei Jahre hinweg wies allerdings nach, dass vor allen Dingen eine überdurchschnittlich starke Nutzung digitaler Medien zu einer Zunahme von ADHS-Symptomen bei Jugendlichen führen kann (Ra et al., 2018). Dass eine exzessive Mediennutzung ADHS-Symptome zumindest verstärkt, kann indes als mittlerweile gut belegt erachtet werden (Weiss, Baer, Allan, Saran & Schibuk, 2011). Da eine exzessive Mediennutzung oft zugleich mit nichtphysiologischen Schlafgewohnheiten einhergeht, bestehen auch hierdurch Risiken für die Entwicklung von ADHS-Symptomen (Cassoff, Wiebe & Gruber, 2012).
Andere Autoren betonen, dass die Leistungserwartungen von Eltern gegenüber ihren Kindern die Diagnosehäufigkeit beeinflussen könnte einschließlich eines erleichterten Zugangs zu einer medikamentösen Behandlung zur Leistungssteigerung (Davidovitch, Koren, Fund, Shrem & Porath, 2017).
Es ist wichtig anzumerken, dass diese Faktoren Einfluss auf die Häufigkeit und Ausprägung von ADHS-Symptomen haben können, eine hinreichende Erklärung für die Entwicklung des Störungsbildes bieten sie indessen nicht (Weiss et al., 2011).
Es bestehen beträchtliche Geschlechtsunterschiede für das Störungsbild: Das Verhältnis Jungen zu Mädchen variiert zwischen 4:1 und 9:1. Hinzu kommt, dass Jungen häufiger impulsive und aggressive Verhaltensweisen zeigen, während Mädchen häufiger Symptome des unaufmerksamen Subtypus aufweisen (Biederman, Faraone, Monuteaux, Buber & Cadogen, 2004). Die Jungendominanz ist zudem stärker ausgeprägt beim hyperaktiven im Vergleich zum unaufmerksamen Subtypus (Sadiq, 2007).
Die Wendigkeit hin zum männlichen Geschlecht ist in klinischen Stichproben (3–4:1) allerdings stärker ausgeprägt als in epidemiologischen Studien (2:1). ADHS ist zudem mit einem niedrigeren sozioökonomischen Status assoziiert (Larsson, Sariaslan, Långström, D'Onofrio & Lichtenstein, 2014; Döpfner et al., 2008).
Mit der Einschulung fokussiert die Problematik vor allen Dingen auf den Lern- und Leistungsbereich. Die Stabilität des Störungsbildes ist über das Grundschulalter hinweg sehr hoch. In den ersten Schulklassen ist es möglich, dass die Symptomatik zwar bereits klar erkennbar ist und in Teilen auch als problematisch erachtet wird, zugleich aber in Abhängigkeit der kognitiven Ressourcen des Schülers, der Ausprägung der Symptomatik und der Abwesenheit von Komorbiditäten, v. a. von Sozialverhaltensauffälligkeiten, noch recht gut kompensiert wird. Eine hohe erzieherische Struktur zu Hause und in der Schule sowie die enge Kooperation miteinander tragen erfahrungsgemäß in dieser Phase hierzu erheblich bei. Im umgekehrten Fall kommt es dagegen häufig zu einer raschen Zunahme der Problematik bereits in der frühen Schulzeit. Diese zeigt sich dann je nach Subtyp der Störung unterschiedlich.
Der vorwiegend unaufmerksame Subtyp zeichnet sich vor allem dadurch aus, dass die Arbeitsgeschwindigkeit immer langsamer wird mit der Folge einer immer stärker werdenden Arbeitsbelastung des Schülers und der nachfolgenden Entwicklung sekundärer emotionaler Auffälligkeiten, z. B. in Form von Schulangst, depressiven Symptomen als auch, dass psychosomatische Beschwerden in den Vordergrund treten, bis hin zur völligen Blockade der Kinder und Schulverweigerung (Solanto, 2000).
Der Mischtyp sowie der hyperaktiv-impulsive Subtyp werden dagegen v. a. im Sozialverhalten auffällig in Form von Unterrichtsstörungen, Opposition gegenüber den Lehrkräften sowie vermehrt impulsiv aggressivem Verhalten gegenüber Mitschülern (Saylor & Amann, 2016) mit der Folge mangelnder sozialer Integration in der Gleichaltrigengruppe, sei es als Reaktion auf das erlebte Leistungsversagen, sei es primär durch die Kernsymptomatik bedingt.
Subtypen übergreifend kommt es gegenüber unauffälligen Kindern vermehrt zu Klassenwiederholungen, Unterrichtsausschluss sowie Schulverweisen. Es erfolgt häufiger ein Wechsel in Förderschulen, entweder für Lern- oder Erziehungshilfe (Fischer, Barkley, Edelbrock & Smallish, 1990). Insgesamt ist die Schullaufbahn von Kindern mit einer ADHS trotz in der Regel normaler Intelligenz noch weniger erfolgreich als bei lerngestörten Kindern. Dieser Zusammenhang gilt umso mehr, je stärker die ADHS ausgeprägt ist. Im Sozialverhaltensbereich dominieren Konflikte mit der Gleichaltrigengruppe die Problematik. Es muss betont werden, dass die Konzentrationsprobleme und die Impulsivität häufig auch zu einer verzerrten Wahrnehmung von Konfliktsituationen mit entsprechenden sozialen Fehlreaktionen führen. Hieraus entsteht für sie ein verhängnisvoller Teufelskreis, weil die Klassenkameraden hierauf mit Ablehnung und Zurückweisung reagieren. Entsprechend sind Kinder mit einer ADHS häufig in einer Außenseiterposition.
Kinder vom unaufmerksamen Subtypus sind häufig weniger integriert, weil sie als verlangsamt von der Gleichaltrigengruppe wahrgenommen werden oder weil sie situationsunangemessen oder nicht schnell genug reagieren können. Bei Kindern mit einer ADHS, die zusätzlich eine Störung des Sozialverhaltens aufweisen, kommt es durch impulsive Verhaltensweisen zu einem fließenden Übergang zu verbalen oder körperlich aggressiven Handlungen. Bei diesen Kindern sind die Sozialverhaltensprobleme umso stärker ausgeprägt, je früher sie auftreten, in der Regel bereits im Kindergarten (Fischer, Barkley, Fletcher & Smallish, 1993; Saylor & Amann, 2016). Gerade diese Subgruppe von Kindern trägt ein erhöhtes Risiko für die Entwicklung einer Delinquenzentwicklung sowie einer Persönlichkeitsstörung im Erwachsenenalter, zum Beispiel einer antisozialen, narzisstischen oder paranoiden Unterform (Barkley, Fischer, Smallish & Fletcher, 2004; Miller et al., 2008).