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Hokuspokus Fidibus - Agatha Raisins 9. Fall
Agatha Raisins letzter Fall hat Spuren hinterlassen: Dank einer arglistigen Friseurin sind ihr die Haare ausgefallen, und zwar büschelweise. Ausgeschlossen, dass James Lacey sie so sehen darf! Also flüchtet Agatha in das Küstenstädtchen Wyckhadden, wo sie bleiben will, bis ihre Haarpracht wiederhergestellt ist. Um das Ganze zu beschleunigen, kauft sie bei der örtlichen Kräuterhexe eine Haartinktur. Und tatsächlich: Kaum wendet Agatha das Mittel an, sprießen ihre Haare wie von Zauberhand. Doch dann wird die Hexe ermordet und zu Agathas Leidwesen weist alles auf sie als Täterin hin ...
Band 9 der charmanten Krimireihe um die englische Detektivin Agatha Raisin von Bestsellerautorin M. C. Beaton.
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Seitenzahl: 277
Cover
Über das Buch
Über die Autorin
Titel
Impressum
Widmung
Eins
Zwei
Drei
Vier
Fünf
Sechs
Sieben
Acht
Neun
Zehn
Über das Buch
Hokuspokus Fidibus – Agatha Raisins 9. Fall Agatha Raisins letzter Fall hat Spuren hinterlassen: Dank einer arglistigen Friseurin sind ihr die Haare ausgefallen, und zwar büschelweise. Ausgeschlossen, dass James Lacey sie so sehen darf! Also flüchtet Agatha in das Küstenstädtchen Wyckhadden, wo sie bleiben will, bis ihre Haarpracht wiederhergestellt ist. Um das Ganze zu beschleunigen, kauft sie bei der örtlichen Kräuterhexe eine Haartinktur. Und tatsächlich: Kaum wendet Agatha das Mittel an, sprießen ihre Haare wie von Zauberhand. Doch dann wird die Hexe ermordet und zu Agathas Leidwesen weist alles auf sie als Täterin hin … Band 9 der charmanten Krimireihe um die englische Detektivin Agatha Raisin von Bestsellerautorin M.C. Beaton.
Über die Autorin
M.C. Beaton ist eines der zahlreichen Pseudonyme der schottischen Autorin Marion Chesney. Nachdem sie lange Zeit als Theaterkritikerin und Journalistin für verschiedene britische Zeitungen tätig war, beschloss sie, sich ganz der Schriftstellerei zu widmen. Mit ihren Krimi-Reihen um den schottischen Dorfpolizisten Hamish Macbeth und die englische Detektivin Agatha Raisin feiert sie bis heute große Erfolge in über 15 Ländern. M.C. Beaton lebt und arbeitet in einem Cottage in den Cotswolds.
M.C. BEATON
Agatha Raisin
und die tote Hexe
Kriminalroman
Aus dem Englischen von Sabine Schilasky
BASTEI ENTERTAINMENT
Vollständige E-Book-Ausgabedes in der Bastei Lübbe AG erschienenen Werkes
Bastei Entertainment in der Bastei Lübbe AG
Für die Originalausgabe:Copyright © 1999 by M.C. BeatonPublished by Arrangement with Marion Chesney GibbonsTitel der englischen Originalausgabe: »Agatha Raisin and the Witch of Wyckhadden«
Dieses Werk wurde vermittelt durch die Literarische Agentur Thomas Schlück GmbH, 30827 Garbsen.
Für die deutschsprachige Ausgabe:Copyright © 2017 by Bastei Lübbe AG, KölnLektorat: Judith MandtTextredaktion: Anke Pregler, RösrathTitelillustration: © Arndt Drechsler, RegensburgUmschlaggestaltung: Kirstin OsenauE-Book-Produktion: two-up, Düsseldorf
ISBN 978-3-7325-3965-9
www.bastei-entertainment.dewww.lesejury.de
In inniger Zuneigungfür Gladwen Williams aus Norton Lindsey
Für eine Frau mittleren Alters mit kahlen Stellen auf dem Kopf gibt es nichts Deprimierenderes, als sich außerhalb der Saison in einem englischen Badeort wiederzufinden. Der Wind fetzte über die Promenade, peitschte abgerissene Werbeplakate für die Spaßevents des Sommers durch die Luft, und die Wellen spien Gischt in die Höhe.
Agatha hatte ihr Haar verloren, als ihr eine rachsüchtige Friseurin Enthaarungscreme anstelle von Shampoo auf den Kopf getan und einmassiert hatte. Nun wuchs es büschelweise wieder nach, doch es waren noch einige niederschmetternd kahle Stellen übrig geblieben. Und damit sie der Mann ihrer Träume, James Lacey, bei seiner Rückkehr nicht in diesem Zustand sah, war Agatha aus Carsely in den Küstenort Wyckhadden geflohen, wo sie warten wollte, bis alle Haare wieder da waren.
Sie hatte ein Zimmer im Garden Hotel gebucht, das laut der Werbung klein, aber exklusiv sein sollte. Nun wünschte sie, sie hätte sich etwas Künstliches, Grelles und Modernes ausgesucht. Im Garden Hotel schien sich seit Königin Victorias Zeiten nicht viel verändert zu haben. Die Decken waren hoch, die Teppiche dick und die Wände so massiv, dass Agatha alles gedämpft und ruhig wie in einer Gruft vorkam. Die anderen Gäste waren alt, und niemand fühlte sich unwohler unter Alten als eine Frau, die selbst auf diese Lebensphase zusteuerte. Auf einmal verstand Agatha, warum sich Männer in mittleren Jahren plötzlich Jeans, Cowboystiefel und Lederjacken anzogen und nach einem jungen Ding suchten, das sie sich an den Arm hängen konnten. Agatha ging sehr viel spazieren, war sie doch fest entschlossen, abzunehmen und beweglich zu bleiben.
Als sie sich im Speisesaal unter den anderen Gästen umsah, begann sie, über ein Facelifting nachzudenken.
Der Ort Wyckhadden hatte sich in den wirtschaftlichen Hochzeiten des späten 19. Jahrhunderts zu einem beliebten Badeort gemausert, woran sich weit ins 20. Jahrhundert hinein kaum etwas geändert hatte. Doch als Fernreisen günstig wurden, blieben die Feriengäste aus. Warum im verregneten England Urlaub machen, wenn das sonnige Spanien nur wenige Flugstunden entfernt war?
So kam es, dass Agatha an diesem stürmischen Tag, ihrem dritten im Ort, mit gesenktem Kopf gegen den Wind über die verlassene Promenade stapfte und sich fragte, wo sie eine geschützte Stelle finden könnte, um eine Zigarette zu rauchen und den überreichen Sauerstoff aus ihrer Lunge zu vertreiben.
Sie wandte sich vom unablässigen Meeresrauschen ab und ging eine schmale Kopfsteinpflasterstraße hinauf, in der die alten Fischerkaten sämtlich in Pastellfarben gestrichen waren wie in einem italienischen Dorf. Sie trugen putzige Namen wie »Home At Last«, »Dunroam in« und »The Refuge«, was bedeutete, dass sie von wohlhabenden Rentnern gekauft worden waren. Der Tourismus mochte rückläufig sein, aber die Immobilienpreise in den südenglischen Badeorten waren nach wie vor saftig.
Agatha kam zu einer Teestube und wollte schon hineingehen, als sie das Rauchen verboten-Schild an der Tür bemerkte. Wie Agatha in der Zeitung gelesen hatte, drohte die Regierung, das Rauchen in Pubs zu untersagen. Kein Wort über die Gefahren des Alkohols, dachte sie, als sie gegen eine besonders heftige Böe ankämpfte. Raucher kamen nicht mit dem Wagen von der Straße ab oder torkelten nach Hause und verprügelten ihre Frauen. Trinker schon. Und angesichts der Abgase von immer mehr Autos, welche die Luft verpesteten, fand Agatha, dass das Rauchen wohl eher zu einem politischen Thema geworden war. Die Linken waren gegen das Rauchen, die Rechten dafür, und der Haufen in der Mitte, der das Rauchen aufgegeben hatte, wollte schlicht, dass alle litten wie sie.
Agatha sah einen Pub an der Ecke, »Dog and Duck«. Er sah alt und hübsch aus: weißgekalkte Fassade mit schwarzen Balken und Hängekörbe mit Blumen, die im Wind hin und her schwangen. Agatha schob die Tür auf und ging hinein.
Der äußere Eindruck hatte getäuscht. Drinnen war es dunkel und schäbig. Es gab fleckige Tische, Linoleumboden, und falls geheizt wurde, merkte man davon nichts.
Agatha hatte einen Kaffee trinken wollen, den es dieser Tage auch in Pubs gab, doch jetzt war sie so niedergeschlagen, dass sie sich stattdessen einen doppelten Gin Tonic bestellte. »Wir haben kein Eis«, sagte der Barkeeper.
»Brauchen Sie auch nicht«, konterte Agatha. »Hier drinnen ist es eiskalt.«
»Da sind Sie die Erste, die sich beschwert«, sagte er und nahm ihr Geld vom Tresen.
Angesäuert dachte Agatha, dass dieser Spruch auf der britischen Fahne stehen sollte. »Sie sind die Erste, die sich beschwert« war die Standardantwort auf weniger schüchterne Kunden, die irgendetwas zu bemängeln wagten.
Vielleicht sollte sie sich geschlagen geben und nach Hause fahren. Sie zündete sich eine Zigarette an. Der Pub war fast leer. Außer Agatha war nur ein Paar da, das Händchen haltend in der Ecke saß, leise sprach und sich mit der traurigen Intensität von Ehebrechern ansah. Wahrscheinlich hatten sie sich hier verabredet, dachte Agatha, weil sie wussten, dass sich keiner ihrer Bekannten in diese Spelunke verirren würde.
In dieser Stadt musste es doch irgendwo Leben geben.
Die Pubtür öffnete sich, und ein großer Mann kam herein. Agatha musterte ihn, als er an die Theke trat. Er trug einen langen dunklen Mantel, hatte ein wehmütiges Gesicht und große blasse Augen unter schweren Lidern. Sein Haar war schwarz wie Lackleder und lag glatt am Kopf. Er bestellte einen Drink, drehte sich um und sah neugierig zu Agatha hinüber. Er war alles andere als ein Adonis, und dennoch wurde Agatha sich plötzlich ihres vom Wind geröteten Gesichts bewusst und des Tuchs, das sie um ihren Kopf gebunden hatte, weil sie ihre Perücke nicht tragen wollte.
Der Mann kam zu ihrem Tisch und beugte sich leicht vor. »Sie machen hier Urlaub?«, fragte er.
»Ja«, antwortete Agatha knapp.
»Da haben Sie sich eine miese Jahreszeit ausgesucht.«
»Ich habe mir einen miesen Ort ausgesucht«, erwiderte Agatha. »Anscheinend kommen hier nur Leute zum Sterben her.«
Seine blassen Augen blitzten amüsiert. »Oh, wir haben durchaus unseren Spaß. Heute Abend gibt es eine Tanzveranstaltung im Pier-Ballsaal.« Er setzte sich gegenüber von ihr hin.
»Und wie soll man da wohl hinkommen?«, fragte Agatha. »Jeder, der sich auf die Pier wagt, wird im gleichen Moment heruntergeweht.«
»Wissen Sie was? Ich gehe mit Ihnen hin.«
»Ich kenne Sie doch gar nicht!«
Er streckte ihr die Hand hin. »Jimmy Jessop.«
»Tja, Mr. Jessop …«
»Jimmy.«
»Dann eben Jimmy. Ich bin ein bisschen zu alt, um mich in einem schäbigen Pub von jemandem ansprechen zu lassen, den ich nicht kenne.«
Er schien ihren verärgerten Blick und die überhebliche Art witzig zu finden. »Wenn Sie immer so sind, haben Sie vermutlich gar keinen Spaß. Was sollte Ihnen denn Furchtbares zustoßen, wenn Sie mit mir tanzen gehen? Wahrscheinlich bin ich genauso alt wie Sie, also werde ich wohl kaum versuchen, mir die Kleider vom Leib zu reißen, um mich auf Sie zu stürzen.«
»Sie müssen sich nicht vollständig ausziehen, um sich auf jemanden zu stürzen.«
»Weiß ich nicht. Ich habe es noch nie probiert.«
Agatha dachte an einen weiteren öden Abend allein im Garden.
»Ach, warum nicht? Ich bin Agatha Raisin. Mrs. Agatha Raisin. Und ich wohne im Garden Hotel.«
»Und gibt es einen Mr. Raisin?«
»Tot.«
»Tut mir leid.«
»Mir nicht.«
Für einen Moment wirkte er erschrocken, dann sagte er: »Ich hole Sie um acht ab. Die Pier ist in der Nähe Ihres Hotels, also können wir zu Fuß gehen. Möchten Sie noch einen?« Er zeigte auf ihr leeres Glas.
»Nein, ich gehe lieber wieder zurück.« Agatha wollte schnellstens zurück zum Hotel und sich dort in Ruhe überlegen, ob sie wirklich mitgehen sollte. Falls sie sich dagegen entschied, könnte sie immer noch den Empfang anweisen, sie zu entschuldigen.
Sie nahm ihre Tasche und die Handschuhe. Er stand auf und öffnete die Tür für sie.
»Bis heute Abend«, sagte er. Agatha murmelte etwas und huschte an ihm vorbei.
In ihrem Hotelzimmer stand sie später vor dem großen Spiegel ihrer Kleiderschranktür und betrachtete sich. Was hatte sie an sich, das einen Fremden dazu bewegen sollte, mit ihr ausgehen zu wollen? Ihr Kopf war fest von einem dünnen Schal umhüllt, ihr ungeschminktes Gesicht glänzte, und ihre Nase war immer noch gerötet von der Kälte. Ihre Augen sahen sogar noch kleiner aus als sonst. Sie zog ihren Mantel aus, wickelte den Schal ab und blickte unglücklich auf die Haarbüschel auf ihrem Kopf. Nein, der Mann musste seltsam sein. Sie würde nicht mit ihm gehen. Sie sah auf ihre Uhr. Es war beinahe Zeit fürs Mittagessen. Also wusch sie sich das Gesicht und setzte sich anschließend an die Frisierkommode – nierenförmig mit einem dreiteiligen Spiegel und einem grünen Seidenvolant, passend zum Überwurf auf dem großen Bett. Wie Möbel für einen Backfisch, dachte Agatha. Sie fragte sich, ob es in diesem Hotel überhaupt moderneres Mobiliar gab. Sorgfältig schminkte sie sich und setzte sich eine schimmernde braune Perücke auf. Nicht schlecht, dachte sie. Hätte Jimmy Jessop sie so gesehen …
Sie schnappte sich wieder ihre Handtasche und ein Taschenbuch zur Abschreckung, damit nicht irgendeiner der Alten im Speisesaal ein Gespräch mit ihr anzufangen versuchte. So ging sie die mit dickem Teppich versehene Treppe hinunter. Ein verirrter Sonnenstrahl fiel durch ein großes Buntglasfenster am Treppenabsatz und warf harlekinbunte Würfel auf den tiefroten Teppich.
Der Speisesaal hatte eine hohe Decke und bodenlange Fenster mit Blick aufs Meer.
Agatha suchte sich einen Tisch in der Ecke aus und blickte verstohlen zu den anderen Gästen. Da war ein alter Mann, den die Kellnerinnen mit »Colonel« ansprachen. Er hatte dichtes schlohweißes Haar und ein faltiges, sonnengegerbtes Gesicht. Der Colonel war groß, hielt sich stets sehr gerade und trug ein altes, aber gut geschnittenes Tweed-Jackett. Zu ihm hinüber sah eine Frau mit unnatürlich blondem Haar, die offensichtlich seine Aufmerksamkeit auf sich lenken wollte. Ihr Gesicht war dick gepudert und ihr Lippenstift grellrot. Sie trug eine tief ausgeschnittene Bluse, die zu viel schrumpeliges, fleckiges Dekolleté zeigte. Dann war da noch ein weiterer Mann, klein und griesgrämig mit einem Witwenbuckel. Außerdem gab es zwei alte Frauen, die eine groß und maskulin in Tweed, die andere klein, dürr und mit einem Kaninchengesicht.
Eine echte Werbung für ein zeitiges Ableben, dachte Agatha verdrossen.
Das Essen, das bald serviert wurde, war gute englische Hausmannskost. An diesem Tag bestand der Hauptgang aus Schweinefilet mit Honigglasur, dazu Apfelsoße, Zwiebeln, Röstkartoffeln, Salzkartoffeln, Blumenkohl mit Käsesoße und Erbsen. Danach folgte eine Nougatcreme mit Schlagsahnehaube. Agatha aß alles und stöhnte, als sie merkte, wie sich ihr Rockbund spannte. Sie müsste noch einen langen Spaziergang machen, sonst würde sie für den Rest des Tages in Lethargie verfallen.
Inzwischen war Ebbe, und sie ging hinunter zum Kiesstrand, wo graugrüne Wellen an Land krachten.
Plötzlich kam ihr eine Passage aus einem Gedicht in den Sinn, das sie in der Schule gelernt hatte.
Doch heute hör ich einzig
Sein melancholisch gedehntes Dröhnen
Wie es im Takt des Nachtwindatems
Fortzieht, fort von den breiten
Und nackten Kiesstränden der Welt.
Agathas Stimmung besserte sich. Es war herrlich, sich an Dinge erinnern zu können, und seien es nur Gedichtpassagen. Denn eine ihrer großen Ängste war es, eines Tages die Erinnerung zu verlieren.
Das Auf und Ab der Wellen hatte etwas Hypnotisches. Der Wind ließ langsam nach, und fahles Sonnenlicht tanzte über die unruhige See. Agatha lief meilenweit, bevor sie kehrtmachte und in Richtung Hotel zurückging. Sie fühlte sich gestärkt und erfrischt. Da könnte sie auch am Abend mit diesem mysteriösen Jimmy Jessop zum Tanzen auf die Pier gehen. Was sprach gegen ein kleines, unerwartetes Abenteuer?
Sie entschied sich endgültig dafür, als ihr am Hotelempfang die kunstblonde Frau entgegenkam und flötete: »Wir sind uns noch nicht vorgestellt worden. Ich bin Mrs. Daisy Jones.«
Agatha hielt ihr die Hand hin. »Agatha Raisin.«
»Nun, Miss Raisin …«
»Mrs.«
»Mrs. Raisin. Der Colonel, also der liebe Colonel Lyche, hat vorgeschlagen, dass wir uns nach dem Abendessen zum Scrabble zusammensetzen. Wir sind ja nur so wenige. Miss Jennifer Stobbs und Miss Mary Dulsey spielen mit Begeisterung, und Mr. Harry Berry schlägt uns normalerweise alle.«
»Das ist sehr freundlich«, sagte Agatha und wich zurück. »Aber ich bin schon verabredet.«
»Ach? Als ich Sie sah, dachte ich gleich, dass Sie eine Geschäftsfrau sind. Ich habe zu dem Colonel gesagt …«
»Ich meine, ich habe eine Verabredung mit einem Mann.«
»Oh, ach so. Na, dann vielleicht ein anderes Mal.«
Agatha floh auf ihr Zimmer. Sicher würde ein Tanzabend auf der Pier sehr viel unterhaltsamer sein, als mit diesem Haufen Scrabble zu spielen!
Um sieben Uhr griff Agatha zum Telefon und bestellte sich Sandwiches und eine Flasche Mineralwasser aufs Zimmer.
Als der alte Kellner zehn Minuten später hereingeschlurft kam, gab Agatha ihm ein sattes Trinkgeld, weil er viel zu alt und gebrechlich wirkte, als dass er die schweren Silbertabletts schleppen sollte, die das Hotel für den Zimmerservice benutzte.
Sie aß rasch und zog sich danach eine Abendbluse und einen schwarzen Samtrock an. Sorgsam setzte sie ihre Perücke auf und schminkte sich. Dann öffnete sie den Kleiderschrank. Aus dem wuchtigen viktorianischen Mahagonimöbel hätte man in einem anderen Hotel wohl ein Ankleidezimmer gemacht. Im Schrank hing Agathas Nerzmantel. Sie nahm ihn heraus und strich über den Pelz. Sollte sie ihn anziehen? Oder würde sie hier von irgendeinem Tierschutzfanatiker bespuckt, der ihr den Mantel herunterreißen wollte? Und konnte sie der Garderobe solch ein wertvolles Teil anvertrauen? Wenn sie einen anderen Mantel wählte, müsste sie noch eine Strickjacke drunter anziehen. Mit einem sündigen Gefühl hüllte Agatha sich in den Pelz und dachte daran, wie sie sich diesen Mantel in jenen fernen Zeiten gekauft hatte, als Pelz modern gewesen war. Dann wickelte sie einen Seidenschal um ihre Perücke, damit der Wind sie ihr nicht vom Kopf riss, falls er wieder auffrischen würde.
Als sie nach unten kam, wartete Jimmy in weißem Hemd und Smoking unter einem schwarzen Mantel an der Rezeption auf sie.
»Wird das eine elegante Veranstaltung?«, fragte Agatha.
»In Wyckhadden machen wir uns immer schick«, antwortete er. »Wir sind ziemlich altmodisch.«
»Was wird da überhaupt getanzt?«, fragte Agatha. »Disco?«
»Nein, Standard.«
Als sie die Pier entlanggingen, entdeckte Agatha ein Plakat. Gesellschaftstanz für Junggebliebene stand darauf und in kleineren Lettern: Halber Eintritt für Rentner.
Hier werde ich vorzeitig alt werden, ging es Agatha durch den Kopf, und schlagartig bereute sie, mitgekommen zu sein.
Sie gaben ihre Mäntel an der Garderobe ab und gingen in den Ballsaal. Die Tanzenden waren allesamt mittleren Alters oder alt und führten einen lebhaften, militärisch anmutenden Two-Step auf. »Wollen wir?«, fragte Jimmy. Agatha blickte sehnsüchtig zur Bar. »Ich könnte erst mal einen Drink vertragen.«
»Gute Idee.« Er führte sie zur Bar. »Gin Tonic?«
Agatha nickte. Er nahm ihre Drinks, und sie setzten sich an einen kleinen Tisch neben der Tanzfläche.
Ein Paar kam zu ihnen. Die Frau war groß und hatte rotes, hoch aufgetürmtes Haar, einen gewaltigen Busen und so viel Wimperntusche aufgetragen, dass es aussah, als säßen zwei Spinnen auf ihrem Gesicht. Ihr Partner war klein, trug ein leuchtend rotes Jackett und eine weiße Hose. »Jimmy, wie geht’s?«, fragte die Rothaarige.
»Agatha«, sagte Jimmy, »darf ich Ihnen Maisie und Chris Leeman vorstellen? Agatha Raisin.«
»Dürfen wir uns zu euch setzen?«, fragte Maisie. Die beiden zogen sich bereits Stühle an den Tisch und nahmen Platz. »Hol mir einen Brandy und einen Piccolo, Chris, sei so lieb«, sagte Maisie, bevor sie sich zu Agatha wandte. »Ich habe Sie noch nie hier gesehen.«
»Ich mache hier nur Urlaub«, sagte Agatha.
»Und wo wohnen Sie?«
»Im Garden.«
»Uh, ganz schön vornehm.« Sie knuffte Jimmy in die Rippen. »Hast dir eine reiche Witwe geangelt, was?«
Was für furchtbare Leute, dachte Agatha. Könnte ich doch bloß weg hier. Chris kam mit den Getränken. Er fragte Agatha, was sie in Wyckhadden machte, und sie erklärte nochmals, dass sie hier nur in Ferien war.
»Komischer Ort für einen Urlaub. Die meisten kommen zum Sterben her.« Chris knuffte Maisie in die Rippen, und sie kreischte vor Lachen.
»Wollen wir tanzen, Agatha?«, fragte Jimmy.
»Ja, gerne.« Agatha stand auf und ließ sich dankbar auf einen St. Bernard’s Waltz mit ihm ein. Warum bin ich so ein Snob?, schalt sie sich. Aber ich ertrage Chris und Maisie wirklich nicht, und wenn er ausschließlich solche Freunde hat, will ich ihn nach diesem Abend nie wiedersehen. Jimmy tanzte gut und grüßte andere Paare auf der Tanzfläche. Er schien schrecklich viele Leute hier zu kennen; andererseits war Wyckhadden auch ein kleines Nest. »Wohnen Sie schon lange hier?«, fragte Agatha und vollführte eine saubere Drehung. Eigenartig, wie man die Schritte sofort wieder wusste.
»Mein ganzes Leben«, sagte er.
»Ich habe noch gar nicht gefragt, ob Sie verheiratet sind.«
»War ich«, sagte Jimmy. »Meine Frau ist gestorben.«
»Ist das schon länger her?«
»Zehn Jahre.«
»Kinder?«
»Zwei. Mein Sohn ist achtundzwanzig und meine Tochter zweiunddreißig.«
»Und was machen die beiden so?«, fragte Agatha und überlegte, ob sie ihn nach dem Tanz irgendwie von Chris und Maisie weglotsen könnte.
»John, mein Sohn, ist Ingenieur. Unverheiratet. Joan ist verheiratet. Ihr Mann ist Dozent an der Essex University. Sie haben zwei Kinder und sind sehr glücklich.«
Der Tanz endete. Ein Tango wurde angekündigt, und erfreut stellte Agatha fest, dass Chris und Maisie auf die Tanzfläche gingen.
Agatha und Jimmy setzten sich wieder. Ein Paar tanzte vorbei. »Na, nimmst du dir einen Abend frei von den Bösewichten, Jimmy?«, rief die Frau.
Er lachte und bejahte stumm.
»Was hat sie gemeint?«, fragte Agatha.
»Ich bin Police Inspector.«
Agathas Augen leuchteten. »Wie witzig! Ich bin nämlich eine Art Amateurdetektivin«, sagte sie. Und dann erzählte sie ihm – in recht schillernden Farben – von einigen ihrer »Fälle«. Sie war so gebannt von ihren Geschichten, dass ihr entging, wie Jimmy zunehmend nervöser wurde.
Als sie mitten in einer ihrer Meinung nach höchst faszinierenden Schilderung eines Mordfalls war, in dem sie mit ermittelt hatte, kehrten Chris und Maisie an den Tisch zurück.
»Möchtest du tanzen, Maisie?«, fragte Jimmy, der anscheinend nicht bemerkt hatte, dass Agatha noch immer redete.
Agatha wurde rot vor Scham, als Jimmy mit Maisie auf die Tanzfläche ging. »Wollen wir?«, fragte Chris.
»Warum nicht?«, antwortete Agatha finster.
Chris entpuppte sich als einer dieser aufgesetzten Tänzer, die ständig Drehungen und Gleitschritte machten, ungeachtet der Musik. Er roch so intensiv nach Old Spice, dass Agatha mutmaßte, er hätte in dem Zeug gebadet.
Für den Rest des Abends machte Jimmy sie immer wieder mit Paaren bekannt, und irgendwie lief es jeweils darauf hinaus, dass Agatha mit dem Mann tanzte und Jimmy mit der Frau. Agatha war gekränkt. Ein Police Inspector sollte doch entzückt sein zu erfahren, dass sie ebenfalls Verbrechen aufklärte.
Endlich war der Abend vorüber. Jimmy half Agatha in ihren Nerz und führte sie nach draußen. Der Wind hatte wieder zugelegt. Zornige Böen peitschten über die Pier, sodass die Lichter zu beiden Seiten flackerten. Agatha wühlte in ihrer Manteltasche nach dem Seidenschal, doch als sie ihn herauszog und um ihren Kopf wickeln wollte, riss der Wind ihn ihr aus den Händen und blies ihn hinaus aufs Wasser.
»Oh nein!«, jammerte Agatha. »Das war mein schönster Schal.«
»Was?«, rief Jimmy, damit Agatha ihn bei dem heulenden Wind und der donnernden See verstand.
»Ich habe gesagt …« Und dann stieß Agatha noch einen Schrei aus. Eine besonders fiese Böe hatte sich ihre Perücke geschnappt. Die Perücke verfing sich am Geländer der Pier, und Agatha rannte hinüber, um sie einzufangen. Doch als sie eben danach griff, wurde diese von einem neuerlichen Windstoß erwischt und entschwand in der rauen dunklen Nacht.
Agatha ging zurück zu Jimmy, wobei sie ihren Kragen so weit hochzog, wie es irgend ging. Die schwankenden Lichter auf der Pier beleuchteten ihren ruinierten Schopf.
»Ich habe meine Perücke verloren«, klagte Agatha.
»Meine Frau starb an Krebs«, rief Jimmy.
»Es ist kein Krebs!«, heulte Agatha.
Seite an Seite eilten sie weiter zu Agathas Hotel. Im Schutz des überdachten Eingangs sagte Agatha: »Vielen Dank für den netten Abend. Entschuldigen Sie, wenn ich Sie nicht noch auf einen Drink hineinbitte, aber ich bin sehr müde.«
»Hoffentlich genießen Sie den Rest Ihres Urlaubs«, sagte er steif, drehte sich um und ging. Mrs. Daisy Jones war an der Rezeption, als Agatha gesenkten Hauptes zur Treppe lief.
»Guten Abend, Mrs. Raisin.«
Agatha grummelte nur etwas und huschte die Treppe hinauf und in ihr Zimmer wie ein wildes Tier in seinen Bau. Endlich in Sicherheit. Was für ein entsetzlicher Abend! Und diese Perücke hatte ein Vermögen gekostet.
Panik überkam sie. Was in aller Welt tat sie eingesperrt in diesem Hotel? Sie würde gleich morgen auschecken.
Am nächsten Morgen beendete Agatha gerade ihr Frühstück, als sie Daisy Jones zu ihrem Tisch kommen sah. Agatha hob die Daily Mail wie ein Schutzschild vor sich, doch die unbeirrbare Daisy sagte munter: »Mir ist gestern Abend Ihr Haar aufgefallen. Was ist passiert?«
»Das kommt von einer Nervenkrankheit«, sagte Agatha, der nicht mehr danach war, mit ihren Erfolgen zu prahlen.
Daisy setzte sich hin und beugte sich über den Tisch. Weißer Puder füllte die Falten und Grübchen in ihrem Gesicht, und ihr kleiner, schmaler Mund war grell geschminkt. »Ich kenne jemanden, der Ihnen helfen kann«, flüsterte sie.
»Meine Ärzte sagen, dass mein Haar bald wieder von allein nachwächst«, erwiderte Agatha trotzig. Sie hatte ihren Kopf in ein blaues Tuch gehüllt.
»Haben Sie schon mal von Francie Juddle gehört?«
»Wer soll das sein?«
»Nun …« Daisy schnalzte leise mit der Zunge und blickte sich misstrauisch um. »Sie ist die hiesige Hexe, aber sie vollbringt Wunder. Sie hat Mary Dulseys Warzen weggemacht.«
»Und wo wohnt diese Hexe?«
»In dem pinkfarbenen Cottage in der Partons Lane, am anderen Ende der Stadt. Wenn Sie am Ende der Promenade nach links abbiegen, finden Sie es. Es ist das dritte Cottage vom Wasser aus gesehen.«
»Danke«, sagte Agatha höflich, aber bestimmt.
»Probieren Sie es mal mit ihr. Sie besitzt Zauberkräfte. Wir spielen heute Abend nach dem Essen übrigens wieder Scrabble. Kommen Sie doch dazu.«
»Wenn ich Zeit habe«, sagte Agatha und nahm ihre Zeitung wieder auf.
Als Daisy gegangen war, stellte Agatha fest, dass ihre Neugier auf diese Hexe geweckt war. Ein Besuch bei ihr könnte den Tag beleben. Außerdem erschöpfte Agatha schon der Gedanke daran, dass sie packen und an einen anderen Ort weiterziehen müsste.
Eine halbe Stunde später wanderte Agatha in ihrem Nerz die Promenade entlang. Es war ein stahlgrauer Tag ohne einen Windhauch. Große, glasige Wellen kräuselten sich auf dem Kiesstrand und zogen sich mit einem gedehnten Gurgeln wieder zurück.
Im Geiste ließ Agatha die Szenen des Vorabends noch einmal Revue passieren. Zumindest konnte sie sich sicher sein, dass Jimmy nicht von ihrer verlorenen Perücke abgeschreckt worden war. Das war er schon lange vorher gewesen. Agathas alte Entschlossenheit meldete sich zurück. Wenn sie nach Carsely zurückkehrte, würde James Lacey einer fröhlichen, gesunden Agatha mit vollem Haar begegnen. In den Unterständen aus Eisen und Glas an der Promenade drängten sich alte Menschen und starrten hinaus aufs Meer. Sie warten auf ihren Tod, dachte Agatha fröstelnd. Nummer neun, bitte eintreten. Ihre Zeit ist abgelaufen.
Sie eilte mit gesenktem Kopf an ihnen vorbei. Am Ende der Promenade war die Partons Lane. Agatha ging die schmale Straße hinauf zu einem pinkfarbenen Cottage und betätigte den Messingklopfer, bei dem es sich um einen Teufelskopf handelte.
Nach wenigen Momenten wurde die Tür von einer molligen, kleinen Frau mit faltenfreien Zügen und hellgrauen Augen geöffnet. Ihr dickes schwarzes Haar war zu einer Banane aufgesteckt.
»Ja?«
Für eine Sekunde hatte Agatha Daisys Namen vergessen. Dann fiel er ihr wieder ein. »Daisy Jones aus dem Garden Hotel hat gesagt, dass Sie mir vielleicht helfen können.«
»Eigentlich müssen Sie telefonisch einen Termin vereinbaren«, sagte Francie Juddle. »Aber Sie haben Glück. Mrs. Braithwaite sollte kommen, doch sie ist gestorben.«
Agatha blinzelte erschrocken, folgte der Frau aber ins Haus.
Sie hatte erwartet, in eine Art dunkles Gemach geführt zu werden, dominiert von einem mit schwarzem Samt verhüllten Tisch mit einer Kristallkugel darauf. Stattdessen fand sie sich in einem gemütlichen kleinen Wohnzimmer wieder, in dem einige hübsche Möbel standen, ein Kaminfeuer knisterte und eine große Katze – weiß, nicht schwarz – auf einem geknüpften Läufer vor dem Feuer schlief.
»Setzen Sie sich«, sagte Francie und nickte zu einem Sessel vor dem Kamin. Agatha zog ihren Pelz aus, bevor sie Platz nahm. »So etwas sollten Sie nicht tragen«, sagte Francie.
»Warum nicht?«
»Denken Sie an die vielen kleinen Tiere, die sterben mussten, um Sie warm zu halten.«
»Ich bin nicht hergekommen, um mir einen Vortrag über Tierschutz anzuhören.«
Francie nahm auf einem Sessel gegenüber Platz. Sie hatte sehr kurze Beine und trug eine helle Feinstrumpfhose.
»Also, wie kann ich Ihnen helfen?«
Agatha wickelte sich das Tuch vom Kopf. »Sehen Sie sich das an.«
»Was ist passiert?«
»Eine gemeine Frau hat mich mit Enthaarungscreme shampooniert. Es sollte wieder nachwachsen.«
»Oh, da habe ich etwas, mit dem es schneller geht«, sagte Francie lächelnd.
»Könnte ich etwas davon haben?«, fragte Agatha ungeduldig.
»Natürlich. Macht achtzig Pfund.«
»Wie bitte?«
»Die Tinktur kostet achtzig Pfund.«
»Das ist eine Menge Geld«, sagte Agatha, »für etwas, das vielleicht nicht wirkt.«
»Es wird wirken.«
»Ich schätze, die Leute kommen wegen der verschiedensten Mittel zu Ihnen«, sagte Agatha.
»Das stimmt – von Warzenlösung bis hin zu Liebestränken.«
»Liebestränke? So etwas gibt es doch gar nicht.«
»Doch.«
»Francie … Sie heißen doch Francie, nicht? Wir sind beide Geschäftsfrauen. Ich habe schon ein Vermögen für Kosmetika ausgegeben, die angeblich Falten mindern sollen und es nicht tun, für Lippenstifte, die kussfest sein sollen und es nicht sind. Also warum sollte ich an Ihr Haarwundermittel glauben?«
Francies Augen blitzten auf. »Das werden Sie nie erfahren, wenn Sie es nicht ausprobieren.«
»Was kostet der Liebestrank?«
»Zwanzig Pfund.«
»Demnach ist Liebe günstiger als Haarwuchs.«
»Könnte man so sagen.«
»Aber«, sagte Agatha, »falls dieses Haarwuchsmittel wirkt, könnten Sie damit steinreich werden.«
»Ich könnte mit vielen meiner Mittel steinreich werden, wenn ich damit in eine größere Produktion ginge. Aber dann müsste ich mir auch den ganzen Ärger mit Fabriken und Personal antun.«
»Nicht unbedingt«, sagte die allzeit geschäftstüchtige Agatha. »Sie müssten bloß das Rezept für ein paar Millionen verkaufen.«
»Ich erwarte gleich eine Kundin. Wollen Sie jetzt das Mittel, oder nicht?«
Agatha zögerte. Allerdings machte sie die Vorstellung, dass ihr Haar womöglich nie wieder nachwuchs, zusehends panisch. »Na gut«, sagte sie mürrisch, »und ich nehme auch etwas von dem Liebestrank.«
Francie stand auf und verließ das Zimmer. Agatha erhob sich gleichfalls und trat an das kleine Fenster, um hinauszusehen. Im Sonnenlicht leuchtete das Kopfsteinpflaster golden. Es war wieder Wind aufgekommen. Agatha kam sich jetzt albern vor. Was wäre, wenn sie James Lacey von dem Liebestrank gab und ihm nur schlecht davon wurde?
Francie kam mit zwei Flaschen zurück, einer kleinen und einer großen. »In dem kleinen Fläschchen ist der Liebestrank, das andere ist für Ihr Haar«, sagte sie. »Tragen Sie den Haarerneuerer jeden Abend vorm Schlafengehen auf. Von dem Liebestrank geben Sie fünf Tropfen in das Getränk des Mannes. Sind Sie verwitwet?«
»Ja.«
»Ich gebe auch Séancen und könnte einen Kontakt zu Ihrem lieben Verstorbenen herstellen.«
»Er ist verstorben, aber er war nie lieb.«
»Das macht hundert Pfund.«
»So viel Bargeld habe ich nicht bei mir.«
»Ein Scheck tut es auch.«
Agatha holte ihr Scheckheft hervor und legte es auf einen kleinen Tisch. »Stelle ich den auf Francie Juddle aus?«
»Ja, bitte.«
Agatha schrieb den Scheck und reichte ihn der Frau. Dann zog sie ihren Mantel an, steckte die beiden Flaschen in ihre Handtasche und ging zur Tür.
»Werden Sie diesen Mantel los«, sagte Francie. »Er ist eine Schande.«
Agatha warf ihr einen wütenden Blick zu und verließ wortlos das Cottage. Doch wie konnte irgendwer ahnen, was ihr dieser Mantel bedeutete? Er war die erste teure Anschaffung ihres Lebens gewesen, nachdem sie sich aus dem Armenviertel von Birmingham, wo sie geboren wurde, erfolgreich nach oben gekämpft hatte. Für sie war der Mantel wie eine schimmernde Rüstung gewesen, ein Ausdruck dafür, dass eine neue, wohlhabende Agatha Raisin existierte. Und das zu Zeiten, als es noch nicht verwerflich war, Pelz zu tragen.
Draußen schien die Sonne, und Leute schlenderten umher, recht viele von ihnen waren sogar jung. Als wäre Wyckhadden urplötzlich zum Leben erwacht. Agatha beschloss, noch einmal zu dem Pub zu gehen, in dem sie Jimmy getroffen hatte. Sie ertrug es nicht, dass er sie auf einmal nicht mehr mochte.
Sie öffnete die Tür zum Pub. Es war Mittag, und drinnen wimmelte es von Büroangestellten. Trotzdem fand Agatha einen leeren Tisch und setzte sich, nachdem sie sich an der Bar einen Gin Tonic geholt hatte.
Wenn sie sich nicht beeilte, würde sie das Mittagessen im Hotel verpassen, und sie hatte wenig Lust, das Essen hier zu versuchen, denn es roch abscheulich. Sie trank gerade den letzten Schluck von ihrem Gin Tonic, als die Tür aufging und Jimmy hereinkam. Er warf ihr einen kurzen Blick zu, drehte sich um und ging wieder hinaus.
Agatha wurde ein bisschen weinerlich zumute. Doch dann tröstete sie der Gedanke, dass ihr Jimmy schon eigenartig erschienen war, als er sie im Pub angesprochen und zum Tanzen eingeladen hatte. Warum sollte sie sich also darüber wundern, wie er sich jetzt verhielt?
Sie begab sich zurück in den Sonnenschein, war jedoch froh über ihren warmen Mantel, denn der Wind war eisig.
Auf dem Weg zum Hotel kam sie an einer Gruppe junger Leute vorbei, die auf einer Mauer hockten, Bier tranken und Hamburger aßen. Eine von ihnen, ein junges Mädchen mit Nasen- und Ohrringen, stürzte auf einmal auf Agatha zu, zerrte an ihrem Mantel und schrie: »Mörderin!«
Erschrocken versetzte Agatha ihr einen heftigen Stoß, sodass die junge Frau zurücktaumelte. Dann rannte sie davon.
Im Hotel lief sie nach oben auf ihr Zimmer und hängte ihren kostbaren Mantel vorsichtig in den Schrank zurück.
Es reichte ihr. Noch ein Tag, dann würde sie abreisen.
Nach dem Abendessen gesellte sie sich widerwillig zu den anderen Gästen in den Salon, wo der Colonel gerade das Scrabble-Brett aufklappte.
Wie sich herausstellte, hießen die große, maskuline Frau Miss Jennifer Stobbs und die kleine, dürre Miss Mary Dulsey. Der mürrische alte Mann, Harry Berry, roch nach Mottenkugeln und Pfefferminz. Daisy Jones flirtete scheu mit Colonel Lyche.
»So wenige Gäste«, sagte Agatha.
»Wir wohnen hier alle fest, abgesehen von Ihnen«, entgegnete Jennifer. Sie hatte ein teigiges Mondgesicht mit auffälligem Bartflaum über der Lippe. Ihr grau gesträhntes Haar war kurz geschnitten. »In der Hochsaison und an den Wochenenden gibt es hier viele Gäste.«
»Sind Sie gut im Scrabble, Agatha?«, fragte der Colonel. Agatha war für einen Moment irritiert, weil er sie mit ihrem Vornamen ansprach. Die Mitglieder des altmodischen Frauenvereins in ihrem Heimatdorf Carsely sprachen sich gegenseitig mit Mrs. Dings und Miss Sowieso an.
»Mittelmäßig«, antwortete Agatha und erinnerte sich wehmütig an die gemütlichen Abende, an denen sie mit James Scrabble gespielt hatte. Damals waren sie verlobt gewesen.
Sie spielte, so gut sie konnte, aber die anderen waren nicht bloß leidenschaftliche Spieler, sondern auch kreuzworträtselsüchtig, weshalb Agatha sich neben ihnen erbärmlich schlecht ausnahm.
»Waren Sie bei Francie?«, fragte Daisy.
Doch Agatha schämte sich bereits, dass sie einhundert Pfund für etwas ausgegeben hatte, bei dem es sich höchstwahrscheinlich um zwei Flaschen mit gefärbtem Wasser handelte, daher log sie. »Nein.«
»Oh, das sollten Sie aber. Sie ist sehr gut.«
Ein weiteres Spiel begann. Diesmal strengte Agatha sich mehr an, schnitt jedoch immer noch am schlechtesten ab. »Das war es dann für heute Abend«, sagte Colonel Lyche. Agatha war überrascht, als sie sah, dass es schon nach Mitternacht war.
Sie lehnte das Angebot des Colonels ab, noch etwas zu trinken, ging nach oben in ihr Zimmer und kam zu dem Schluss, dass es wirklich nett mit den anderen gewesen war. Lernte man die alten Leute erst einmal richtig kennen, staunte man, wie viel jünger sie auf einmal wirkten.