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Alexander III. von Makedonien (356-323 v. Chr.) gilt als einer der größten Eroberer der Antike. Bereits zu seinen Lebzeiten wurden gezielt um seine Person und Politik Mythen gewoben. Seit der Antike polarisieren die schillernd konstruierten Kunstfiguren, zu denen Alexander stilisiert wurde. Fakten wurden dabei von Fiktionen überlagert. Sabine Müller dekonstruiert diese artifiziellen Images und zeichnet die Politik der historischen Person Alexander nach, der in den Traditionen seiner Dynastie, der Argeaden, stand und auf die politischen Zwänge innerhalb seines expandierenden Reichs achten musste.
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Seitenzahl: 631
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Sabine Müller studierte Mittlere und Neuere Geschichte, Kunstgeschichte und Alte Geschichte. Sie promovierte und habilitierte sich in Alter Geschichte und arbeitete an den Universitäten Gießen, Hannover, Siegen, Kiel und Innsbruck, bevor sie in Marburg auf die Professur für Alte Geschichte berufen wurde. Das argeadische Makedonien zählt zu ihren Hauptforschungsgebieten.
Für Beth Carney und Waldemar Heckel
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Umschlagbild: Alexander III., Silberdrachme, Makedonien (»Amphipolis«), vor 323, Av.: jugendlicher Herakles mit Löwenexuvie, Rv.: Adler auf Keule, Legende: ΑΛΕΞΑΝΔΡΟΥ, Price 145, Troxell 1997, 31, Group E (beizeichenlos) (Foto: U. Klöppel, Aarbergen)
1. Auflage 2019
Alle Rechte vorbehalten
© W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart
Gesamtherstellung: W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart
Print:
ISBN 978-3-17-031346-0
E-Book-Formate:
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I Einführung
II Quellen zur Geschichte Alexanders
Quellenproblematik
Epigraphische, papyrologische und bildliche Primärquellen
Münzen
Bematisten und Ephemeriden
Brief und Siegel
Die attischen Redner
Die primären Alexanderhistoriographen
Ephippos von Olynthos und andere
Die sekundären Alexanderhistoriographen
Weitere Quellen
II Alexanders background
Alexanders Dynastie: Die Argeaden
Der Aufstieg Makedoniens unter Alexanders Vater Philipp
IV Alexanders Jugend und Regierungsanfänge
Grunddaten
Kriegszug in Thrakien und Illyrien 335
Theben im Widerstand 335
V Die makedonische Invasion des Perserreichs
Phase I (334–330): Unter Kontrolle der führenden Generäle
Phase II (330): Wandel
Phase III (329–325): Probleme
Phase IV (324–323): Dem Ende entgegen
VI Alexander in vielen Gestalten: Schlaglichter auf ein Rezeptionsphänomen
Hellenismus
Rom
Mittelalter bis Moderne
VI (Forschungs-)Mythen um Alexander
Der Gordische Knoten
»Sohn des Zeus-Ammon«
Proskynese-Affäre
»Vergöttlichungsdekret«
Hephaistion und Alexander
VIII Anmerkungen
IX Appendices
Appendix 1: Datentafel
Appendix 2: Begriffserklärungen
Appendix 3: Regierungszeiten der argeadischen Herrscher
Appendix 4: Abbildungen/Karte
X Bibliographie
Quelleneditionen
Sekundärliteratur
XI Register
Wenn vor fünfzig Jahren eine Gottheit entweder den Persern oder dem König der Perser, den Makedonen oder dem Herrscher der Makedonen die Zukunft vorausgesagt hätte, denkt ihr, dass sie geglaubt hätten, dass heute nicht mal der Name der Perser bleiben würde, die einst fast die gesamte bewohnte Welt beherrschten? Während die Makedonen, die vorher gar keinen Namen hatten, ihr ganzes Reich einnehmen würden?1,2
So reflektiert der zeitgenössische athenische Philosoph und Politiker Demetrios von Phaleron über eine Entwicklung, die als die Überraschung des 4. Jhs. v. Chr. gelten kann: der Aufstieg Makedoniens zum weltweiten Reich. Untrennbar verbunden ist der Name des Herrschers, in dessen Regierung dieser Schritt gemacht wurde: Alexander III. von Makedonien, der damit zum Archetypus des antiken Eroberers und zu einem der größten Rezeptionsphänomene wurde.
Der sozio-politische und kulturelle Wandel, den der Kriegszug auslöste, trug dazu bei, Alexanders Herrschaft als Wegmarke ins kollektive westliche und östliche Gedächtnis einzuschreiben. Bereits früh, in Ansätzen schon zu Lebzeiten Alexanders, begann ein Prozess der Entrealisierung seiner Gestalt und Politik. Nach seinem Tod beschleunigte sich diese Entwicklung, trieb Blüten ungeahnten Ausmaßes und führte weg von der historischen Person und den politischen Strukturen, in denen Alexander stand.
Im Negativen wie im Positiven wurde er zum multifunktionalen schablonenhaften Exempel. Ob als Ideal oder Schreckfigur: Die künstlichen Alexanderfiguren mussten für die unterschiedlichsten Zwecke herhalten, die meist wenig mit Alexander und primär mit der sozio-politischen Situation zu tun hatten, in der er herangezogen wurde.
Feldzüge westlicher gegen östliche Mächte waren in der Antike unter anderen Vorzeichen weiterhin aktuell, ebenso wie in Mittelalter, Neuzeit und Moderne. Dies war eine Quelle der regelmäßigen Instrumentalisierung Alexanders als Rollenmodell (für kriegerischen Erfolg im Osten) oder als Negativfolie (wie man sich als Feldherr im Osten nicht verhält). Die Einbettung seiner Kunstfigur(en) in die mittelalterliche christliche Heilsgeschichte und die persische Heldenepik löste weitere Wellenbewegungen der vielschichtigen Rezeption Alexanders aus. Maßgebliche Basis war der spätantike griechische Alexanderroman (ca. 3. Jh. n. Chr.), eine farbenfrohe, größtenteils fiktive Abenteuergeschichte mit Ansätzen eines Entwicklungsromans, in seinen vielfältigen Varianten eins der am weitesten verbreiteten Werke der Weltgeschichte.
Ob in Kunst, Literatur, politischem Diskurs, Geschichtsschreibung oder den modernen Populärmedien – Alexander ist als einer der berühmtesten Vertreter der Antike, wenn nicht sogar als der berühmteste, präsent. In der Alexanderrezeption erscheint nichts als unmöglich, die Liste der Alexanderfiguren ist schier unendlich. Als Tyrann oder hochherziger »Weltenverbrüderer«, militärisches Genie oder alkoholkranker Versager, gottesfürchtiger Ritter oder Opfer von superbia, heiligmäßiger Tugendheld oder hypersexueller Wüstling, Philosoph auf dem Thron oder entarteter Philosophenschüler, Retter der Menschheit vor apokalyptischen Monstern oder selbst von der dunklen Seite der Macht verführt: Alexander wird so dargestellt, wie es ideologisch, politisch oder dramaturgisch gerade passt. Die vielschichtige Kunstfigur Alexander wurde zum Mann für alle Fälle, der historische Alexander ist dagegen auf der Strecke geblieben.
Hinter der Fokussierung auf Alexander als ikonische Figur und Einzelphänomen verschwinden nicht nur die politischen Strukturen seines Reichs, sondern auch seine Herrschaftsträger und seine Dynastie, die Traditionen etabliert hatte, in denen er stand. Alexander war weder ein Einzelakteur noch ein aus dem Himmel gefallenes Phänomen. Die Images von Alexander als alleiniger persona agens mit unbeschränktem Handlungs- und Entscheidungsspielraum von Beginn an sind nicht mit der politischen Realität gleichzusetzen. Kein antiker politischer Akteur stand für sich alleine. Auch wenn die politischen Handlungen in Alexanders Namen erfolgten, da er als Herrscher sein Reich repräsentierte, agierte er innerhalb von politischen Strukturen und Zwängen und gehörte bestimmten personellen Netzwerken an.
Alexanders Rezeption ist von der Antike bis teilweise in die aktuelle Debatte von drei Hauptfaktoren geprägt: (1) Konzentration auf ein (konstruiertes) Persönlichkeitsbild; (2) Ambivalenz der Bewertung; (3) Instrumentalisierung als Projektionsfigur. Häufig dienten fiktive Psychogramme Alexanders als Folie für Stellungnahmen zu oder Abrechnung mit dem jeweiligen Zeitgeschehen. So erfolgten etwa Vergleiche eines tyrannischen Alexanders mit Napoleon oder Hitler.
Einen Meilenstein in der modernen Alexanderforschung stellen die Studien von Gerhard Wirth dar, der den Ansatz der historischen Bewertung Alexanders anhand eines Persönlichkeitsbildes schon seit den 1960er Jahren kritisiert und stattdessen die militärischen und politischen Strukturen sowie Beziehungen zwischen Herrscher und Führungsschichten beleuchtet hat. Ebenso maßgeblich sind die Untersuchungen von Waldemar Heckel zu personellen Netzwerken, Heeres- und Befehlsstrukturen im Alexanderreich, von Elizabeth Carney zu Rolle, Repräsentation, Handlungsräumen und Darstellung der makedonischen royal women, von Sulo Asirvatham, Brian Bosworth, Elizabeth Baynham sowie Frances Pownall zum Verhältnis zwischen Ereignisgeschichte und Darstellung bei den Alexanderhistoriographen, von Edward Anson, Franca Landucci Gattinoni sowie Yossi Roisman zu Alexanders Generälen, von Miltiades Hatzopoulos und Michael Zahrnt zu den innermakedonischen Strukturen, von Marek Jan Olbrycht und Pierre Briant zur Rolle der achaimenidischen Tradition und iranischen Bevölkerungsanteile im Alexanderreich, von Bruno Jacobs zum makedonischen Verhältnis zu den vorgefundenen achaimenidischen Verwaltungsstrukturen und von Georges Le Rider, Martin J. Price und Hyla Troxell zu Alexanders Münzprägungen.
Die aktuellen Haupttrends der Alexanderforschung sind die Rückkehr zur quellenkritischen Analyse, die Abkehr vom biographischen Ansatz und die Hinwendung zur Spezialstudie (etwa zu Hofkultur; Kultursponsoring; Legitimationsstrategien; Beziehung zum Perserreich; Attentate; Rezeption) beziehungsweise zu issue books zu Alexander. Als Prämissen lassen sich feststellen:
1. Alexanders Laufbahn nicht auf der Basis von Persönlichkeitsbildern zu beurteilen;
2. Alexander nicht als von seinem sozio-politischen Umfeld isolierte alleinige Entscheidungsmacht und persona agens zu betrachten;
3. Alexander nicht losgelöst als Einzelphänomen von seinen argeadischen Amtsvorgängern zu sehen, sondern ihn als Teil dieser argeadischen Tradition zu verstehen;
4. Die literarische Ebene von der politischen zu differenzieren.
Auch den folgenden Ausführungen liegt kein biographischer Ansatz zugrunde. Die Behandlung der Ereignisgeschichte versteht sich als Betrachtung politischer Strukturen, argeadischer Traditionen und Netzwerke am makedonischen Hof und im Heer unter Alexanders Herrschaft.
Das Hauptproblem der Forschung zu Alexander ist der Verlust der literarischen Primärquellen, die aus seinen Lebzeiten oder den ersten Jahrzehnten nach seinem Tod stammten. Sie sind nur bruchstückhaft durch spätere griechische und römische Autoren tradiert, die in kultureller Fremdsicht auf die makedonischen Strukturen blickten. Die Fragmente können dabei in einen neuen Kontext eingefügt, in ihrer inhaltlichen Ausrichtung geformt bis verfremdet werden und vom originalen Wortlaut abweichen.
Die quellenkritische Analyse geht in vier Schritten vor: erstens eine Hinterfragung der Sekundärquellen hinsichtlich Abfassungszeit, kulturellem, intellektuellem und sozio-politischen Hintergrund des Autors, seiner Darstellungsintention, Tendenz, Sprachregelung und Quellen; zweitens die gleiche Hinterfragung der Fragmente der Primärquellen; drittens eine Identifizierung und Einrechnung von Verformungen und Interpolationen; viertens – nach Möglichkeit – eine Abgleichung der gewonnenen Erkenntnisse mit zeitgenössischen epigraphischem, numismatischem und archäologischem Material.
Das inschriftliche Material für Alexanders Herrschaft ist nicht sehr umfangreich, wenngleich es einen Anstieg im Vergleich zu den Zeiten seiner Vorgänger gibt.1 Die Inschriften beleuchten zumeist das Verhältnis Makedoniens zu den griechischen Poleis im Mutterland, in Ionien und der Ägäis. Die Datierung ist meist jeweils ebenso umstritten wie die Frage, ob der Originaltext durch spätere Redaktionen geformt wurde.2 Die Inschriften aus den kleinasiatischen Städten spiegeln die makedonische Kriegspropaganda der »Befreiung« von den Persern zu Kriegsanfang und die Unruhen wider, welche die Eingriffe von außen auslösten.3
Die papyrologische Evidenz ist noch karger.4 Neben einer Quelle zum frühen Feldzug unter Alexander gegen die Triballi 335 ist vor allem der stark fragmentierte Papyrus Oxyrhynchos 1789 (2. Jh. n. Chr.) mit einer anonymen Alexandergeschichte (BNJ 148) relevant. Er beinhaltet Informationen zur unmittelbaren Situation nach Philipps Ermordung, zu Thebens Zerstörung und den drei Schlachten gegen die persischen Heere.5
Zeitgenössische Porträts Alexanders sind verloren, Zuschreibungen von Kopien oder postumen Darstellungen debattiert.6 Bei dem berühmten Alexandermosaik aus der Casa del Fauno in Pompeji, dessen Alexanderdarstellung als ungewöhnlich gilt, ist etwa umstritten, ob es auf ein von Kassander beauftragtes Gemälde oder ein im ptolemäischen Ägypten entstandenes Original zurückgeht.7 Als Indiz für letzteres gilt das riesige Auge mit unüberschnittener Pupille, wie es auch als Darstellungsmerkmal der Ptolemäerinnen und Ptolemäer auf ihren Münzporträts erscheint.
Literarische Erwähnungen von Alexanderporträts sind häufig vage, vermitteln aber den Eindruck einer betont kriegerischen Prägung.8 So bezeugt Plinius d. Ä. ein Gemälde, das Alexander mit den Dioskuren und Nike zeigte, eine Darstellung des siegreichen Alexanders auf dem Streitwagen mit der gefesselten Allegorie des Krieges und Bilder von Schlachten zwischen Makedonen und Persern.9
Plutarch beschreibt eine Neigung des Halses und Alexanders »schwimmenden« oder glänzenden Blick (hygrotes) als Eigenheiten, die imitiert worden seien, wobei dieser besondere Blick gemäß der peripatetischen Physiognomie das Merkmal eines tapferen Mannes ist, dessen strahlende Augen Klugheit zeigten.10 Der Bildhauer Lysippos und der Maler Apelles bekamen viele Aufträge von Alexander und entwickelten jeder ein eigenes Konzept seiner Porträtierung, Anekdoten zufolge in Konkurrenz zueinander.11 Der makedonische Dichter Poseidippos von Pella, der am Hof Ptolemaios’ II. (282/1-246) wirkte, rühmte in einem Epigramm Lysippos’ Kunstfertigkeit, mit der er eine Bronzeskulptur Alexanders im Kampf geschaffen hatte:
Lysippos, Bildhauer aus Sikyon, kühne Hand,talentierter Künstler, Feuer ist im Blick der Bronzestatue,die du von Alexanders Gestalt geschaffen hast. Man kann den Persern nichts vorwerfen;Rindern vergibt man, wenn sie vor dem Löwen fliehen.12
Alexander erscheint in homerischer Stilisierung als überlegener Kriegsheld mit feurigem Blick. Er ist der Nachkomme des Herakles als Idealtypus, ein argeadischer Löwe, der den Gegner in die Flucht schlägt. Die Qualität seines lebensechten Blicks, der die persischen Truppen in Angst und Schrecken versetzt, ist determinierendes Merkmal des Porträts. Die These, es handle sich bei der Statue um Lysippos’ Alexander mit Lanze, lässt sich nicht verifizieren.13
Münzen liefern als wichtige Zeugnisse Hinweise auf die Selbstdarstellung eines Herrschers. So kann die Ikonographie darüber Aufschluss geben, inwiefern er sich in die Tradition seiner Vorgänger stellte oder Neuerungen einführte, auf welche Schutzgottheiten und Qualitäten er sich berief. Der Materialwert, die Nominale und der Standard informieren über die wirtschaftliche und politische Situation des Prägeherrn, die Verbreitung über den kulturellen und ökonomischen Austausch.14 Goldmünzen wurden nur für sehr wichtige Zahlungen verwendet; die wichtigste Währung für Transaktionen in der griechisch-makedonischen Welt waren Silbermünzen.15
Anfangs prägte Alexander die Münzen seines Vaters und Legitimationsfaktors Philipp fort, stellte sich damit in dessen Tradition.16 Seine frühesten eigenen Prägungen unter seinem Namen, ΑΛΕΞΑΝΔΡΟΥ, (Münze) des Alexander, fielen in 333/32. An Silbermünzen prägte er in Makedonien Tetradrachmen, Didrachmen, Drachmen, Triobole, Diobole und Obole.17 Auf den Tetradrachmen und Didrachmen erscheint auf dem Avers ein traditionelles argeadisches Münzbildsymbol, das Profilporträt des argeadischen Urahns Herakles mit der Löwenexuvie, der abgezogenen und zur Kappe verarbeiteten Haut des Nemeischen Löwen (Beute aus einer seiner Aufgaben). Herakles’ jugendliche Bartlosigkeit bedeutet nicht, dass es eigentlich ein Porträt Alexanders ist.18 Ein bartloser Herakles war in Makedonien schon auf Münzen von Archelaos (ca. 413–399) erschienen.19 Auf dem Revers ist der thronende Zeus abgebildet. Bei den Drachmen und Triobolen taucht der jugendliche Herakles auf dem Avers auf, ein Adler, Symboltier des Zeus, Schutzpatron der Argeaden, auf dem Revers.20 Bei den Diobolen und Obolen ist auch Herakles auf dem Avers, das Revers der Diobolen zeigt zwei gegeneinander gestellte Adler, das der Obole ein Blitzbündel, Attribut des Zeus.21
In Asien prägte Alexander an Silbermünzen Tetradrachmen und Drachmen, die den bartlosen Herakles mit Löwenexuvie auf dem Avers und den thronenden Zeus auf dem Revers zeigen.22 Dabei spielte die Münzstätte Tarsos eine besondere Rolle: Der thronende Zeus als Reversmotiv erhielt Züge des Baals von Tarsos, wie er zuvor auf den dortigen Satrapenprägungen erschienen war. Dies ist besonders auch an der dekorativen Ausgestaltung des Throns und floralen Szepters sowie dem Fußschemel erkennbar.23 Es wird vermutet, dass Alexander sich der lokalen Gemmenschneider bediente.24 Die kleinasiatische Bevölkerung konnte im thronenden Zeus weiterhin ihren Gott Baal erkennen,25 die griechischen Rezipienten eher den arkadischen Zeus Lykaios.26
Bis 332 folgte die makedonische Silberprägung dem thrako-makedonischen Standard. Das bedeutet, dass eine Tetradrachme 14,4 g wog. Alexander wechselte dann zum attischen Standard (17,2 g), der seit der 2. Hälfte des 5. Jhs. im Ägäisbereich, Kleinasien und der Levante der gebräuchlichste war.27 Die makedonische Intention war, den zu jener Zeit an der Westperipherie des persischen Reichs gängigsten Standard zu übernehmen und so eine »internationale« Münzprägung einzuführen.
Auch Alexanders Goldprägungen begannen gemäß mehrheitlicher Ansicht 332 in Tarsos.28 In punkto Standard folgte er seinem Vater, der für seine Goldprägungen in Makedonien Athener Standard eingeführt hatte (Stater zu 2 Drachmen: 8,6 g). Alexanders Goldmünzen zeigen auf dem Avers den Kopf der Athena mit einem korinthischen Federbuschhelm und im Nacken lang herabfallenden Locken und eine Nike, die Siegesgöttin, auf dem Revers. Sie wurden zu einer der am weitesten verbreiteten Goldmünzen in der Mittelmeerwelt.29 Die Athena erlaubt mehrere Lesarten: die athenische Stadtgöttin, die korinthische Athena, beide mit panhellenischem Anstrich, oder die in Pella verehrte Athena Alkidemos.30
Ein Rezeptionsphänomen führte zur Identifizierung Alexanders mit dieser Athena auf seinen Goldmünzen. Gelehrte der Renaissance folgerten analog zu ihrem eigenen Wahrnehmungshorizont, die Legende Alexandrou auf dem Revers müsse sich auf das Avers-Porträt beziehen.31 Helm, Federbusch und bartlose Jugendlichkeit schienen zudem dem antiken Image Alexanders zu entsprechen. Der Austausch zwischen Gelehrten und Künstlern führte dazu, dass sich die falsche Lesart verbreitete und Alexander in Renaissance- und Barockkunst, insbesondere italienischer und französischer, zumeist in Rüstung und korinthischem Helm erscheint, mit schulterlangen welligen Haaren und androgynen bis femininen Gesichtszügen. Da Hephaistion in der Kunst dank der (problematischen) antiken Tradition, er sei Alexanders Alter Ego, oft zwillingsgleich gestaltet wurde, ergab das eine doppelte falsche Athena.32 Zwar wurde das Missverständnis bereits 1719 am französischen Hof bemerkt, jedoch in der Kunst nicht nachhaltig korrigiert; der Typus hatte sich eingebürgert.33
Nach der Eroberung der persischen Schatzhäuser in den königlichen und satrapalen Residenzen des Perserreichs und vor allem ab 325, als Alexander die weitaus meisten seiner Soldaten und Söldner entließ und im Nachhinein ausbezahlen musste, wurde der Ausstoß der Gold- und Silbermünzen schwunghaft erhöht.34 So kam es, dass Alexanders Prägungen zu den am weitesten verbreiteten Münzen in der Mittelmeerwelt wurden.
Den Feldzug in den Osten begleiteten die sogenannten Bematisten, Vermessungsingenieure in Alexanders Diensten, die landeskundliche Informationen sammelten und Entfernungen berechneten.35 Der bekannteste war Baiton (BNJ 119), in dem teilweise der Leiter vermutet wird.36 Die Aufzeichnungen gelten teilweise als wichtige Quellen, die halfen, die östlichsten Gebiete des makedonischen Eroberungszugs, zuvor terra incognita, näher zu erschließen.37 Allerdings sind sie nicht direkt oder umfassend überliefert.38 Die meisten Fragmente tradieren Strabon, Plinius d. Ä. und Athenaios. Umstritten ist, ob die Bematisten unter Philipp II. im Rahmen seiner Militärreformen oder unter Alexander eingeführt wurden.39 Kegerreis nimmt letzteres an: Alexander habe Eilboten, zuvor in achaimenidischen Diensten, dafür eingesetzt.40
Die offiziellen Hofakten von Alexanders Regierung, Ephemeriden (BNJ 117), sollten Urkunden, Briefwechsel, Protokolle, Administratives und Kriegsberichte enthalten. Die Fragmente konzentrieren sich verdächtigerweise jedoch vor allem auf Alexanders hohen Weinkonsum beim Symposion und die Zeit, die er danach benötigte, um seinen Rausch auszuschlafen.41 Auch listen sie den Verlauf seiner tödlichen Krankheit mit plakativem Verweis auf Alkoholmissbrauch durch vorangegangene zwei Tage konstanten Trinkens und seine letzten Handlungen auf.42 Die Texte wurden offenbar postum verfälscht, um Alexander als maßlosen Säufer zu verunglimpfen.43
Briefe unter Alexanders Namen sind inschriftlich oder in den literarischen Quellen erhalten. Philipps und Alexanders Sekretär, (archi) grammateus, war Eumenes von Kardia.44 Der Herrscher unterschrieb sicherlich die Briefe selbst, Abschriften verwahrte die Kanzlei.45 Die Briefe trugen das beglaubigende Herrschersiegel.46 Curtius zufolge verwendete Alexander nach den Siegen über Dareios III. für innerasiatische Korrespondenz dessen persisches Siegel, für Briefe nach Europa sein makedonisches.47 Im Perserreich gehörten in mesopotamischer Tradition Königssiegel zum administrativen Alltag.48 Das makedonische Siegel dürfte der von Philipp geerbte Siegelring gewesen sein, den Alexander schon einmal in seiner Teenagerzeit als Philipps Statthalter getragen hatte.49 Plutarch macht die Verbindung zur Machtausübung deutlich: Alexander war damals Herr (kyrios) über die politischen Angelegenheiten (pragmata) und das Siegel (sphragis).50 Unklar ist, wann die Argeaden ein Siegel einführten; ein argeadisches Archiv mit Siegel(abdrücke)n ist nicht bekannt.51 Siegel aus dem seleukidischen Archiv aus Seleukeia am Tigris zeigen, dass die Motive sich an der Ikonographie der königlichen Münzen orientierten.52 Es könnte bei den Argeaden ebenso gewesen sein, was den Wiedererkennungswert des Beglaubigungselements als Zeichen herrschaftlicher Identität erhöht hätte.
Da Briefe das zentrale Kommunikationsmittel waren, hatte ein makedonischer Herrscher viel Korrespondenz zu erledigen, was teilweise als lästig empfunden worden sein soll.53 Jedoch erwartete die Bevölkerung, dass er sich für die Kommunikation mit ihr Zeit nahm.54 Plutarch lobt Alexanders enorme Korrespondenztätigkeit und zitiert von allen Alexanderhistoriographen die meisten Briefe von ihm und an ihn.55 Auch wenn Plutarch sie allesamt für authentisch hält, ebenso wie vereinzelt die Forschung,56 sind gravierende Zweifel angebracht. Er griff nämlich anscheinend auf die Publikation einer Briefsammlung zurück, die überwiegend aus späteren kreativen Eigenleistungen hellenistischer Schriftsteller bestand.57 In der Antike machte sich offenbar schon der satirische Schriftsteller Lukian, ein jüngerer Zeitgenosse Plutarchs, über die Gläubigkeit seiner Kollegen hinsichtlich angeblicher Briefe aus Alexanders Feldlager lustig.58 Plutarch wundert sich sogar selbst, dass Alexander die Zeit hatte, so viele Briefe, teils auch noch so banale, zu schreiben.59 Konsequenzen zieht er daraus jedoch nicht; bei ihm wirkt die Beglaubigungsstrategie seiner Quellen, die mit dem Namen Alexander als Absender punkteten.
Erhaltene literarische Primärquellen sind die zeitgenössischen Reden von Demosthenes, Aischines, Lykourgos, Hypereides, Deinarchos und Pseudo-Demades. Sie vermitteln schlaglichtartige Einblicke in die athenisch-makedonischen Beziehungen unter Philipp und Alexander.60 Der Fokus liegt naturgemäß auf innergriechischen, vor allem athenischen Problemen. Makedonien erscheint dabei als eingreifende Macht von außen. Die Reden geben die athenische Perspektive wider und sind intentional verengt (politische Reden vor der Volksversammlung; Gerichtsreden), liefern jedoch wichtige Informationen, wie die Makedonen zeitgenössisch wahrgenommen wurden, welche Agenden die athenische Führungsschicht verfolgte, um mit der makedonischen Hegemonie umzugehen, wie zerstritten sie darüber war und welche diplomatischen Krisen und Spannungsfelder auftraten.
Im Gegensatz zu den Reden aus Athen sind die Werke der primären Alexanderhistoriographen nur fragmentarisch erhalten. Der früheste war zugleich der offiziell bestellte Hofhistoriograph, Kallisthenes (BNJ 124) aus der griechischen Stadt Olynthos auf der Chalkidike, von Philipp II. 348 zerstört.61 Er verdankte seine – sicherlich lukrative – Ernennung seinen guten Beziehungen: Er war mit Aristoteles verwandt.62 Als Zusatzqualifikation konnte Kallisthenes darauf verweisen, eine Griechische Geschichte geschrieben zu haben, die auch die hellenisch-persischen Beziehungen behandelte.63 Seine Praxeis Alexandrou (Taten Alexanders) war eine Propagandaschrift, die den zuhause gebliebenen griechisch-makedonischen Rezipienten (vor allem den noch von Makedoniens Glorie Unüberzeugten) Alexander als tapferen panhellenischen Rächer von göttlichen Gnaden anpreisen sollte. Um Einblicke in den harten Feldzugsalltag ging es nicht. In stark geschönter Retrospektive rückte Kallisthenes Alexander als unbezwingbaren Helden ins Rampenlicht, wo er, von Götterzeichen begleitet und gelenkt, stets den Überblick behielt und das Geschehen dominierte. Um seinen Lesern die Ereignisse in ihnen vertrauten Formeln zu vermitteln (in der Hoffnung auf größere Akzeptanz), hob Kallisthenes den Feldzug durch die Parallelisierung mit dem Trojanischen Krieg auf eine universale Ebene, adaptierte Motive aus bekannter griechischer Literatur und stilisierte Alexander zum positiven Gegenbild von Herodots Xerxes auf seinem geographisch umgekehrt verlaufenden Feldzug.64 Heckel sieht einen deutlichen Aufruf zur Gefolgschaft: Einem so heldenhaften, erfolgreichen Anführer sollte man sich nicht verschließen können.65
Es war die offiziell gewünschte Sprachregelung. Vor der Veröffentlichung dürfte jeweils eine Redaktion durch die Führungsspitze – Alexander, seine Ratgeber, vermutlich Parmenion und Philotas oder ihre Gewährsleute – erfolgt sein; Kallisthenes konnte nicht schreiben, was er wollte.66 Betrachtet man die Fragmente, hielt er sich grundsätzlich an die Ereignisse, stilisierte sie aber teilweise fast bis zur Unkenntlichkeit. Er nahm die rohen Fakten, etwa den Umstand, dass die Makedonen Lykien einnahmen, rückte Alexander als persona agens in den Vordergrund, verlieh dem Geschehen eine panhellenische Färbung, reicherte es durch Götterzeichen an, die auf Alexanders Prädestination verwiesen, und kleisterte es mit Parallelen zu bekannten literarischen Motiven zu. Was den Verlauf und die Fakten der Ereignisgeschichte betrifft, erlaubte er sich keine Eingriffe ins Geschehen; seine kreative Zugabe war der Überbau aus Mythisierung, Idealisierung, Deutung und Ideologisierung. Kallisthenes wurde 327 beseitigt, sein Posten als Hofhistoriograph nicht neu vergeben.67 Die letzten bekannten Passagen seiner Praxeis Alexandrou, die 334 einsetzten, behandeln Ereignisse aus dem Zeitraum des sogdisch-baktrischen Widerstands 329/28.68
Die Alexandergeschichte des Griechen Onesikritos (BNJ 134) aus Astypalaia oder Aigina, einer von Alexanders Schiffskommandanten, der bei der Indusflotte 326–325 und der Anschlussfahrt zur Euphratmündung 325–324 mitwirkte, gilt als eine der frühesten nach Kallisthenes.69 Der Titel Wie Alexander erzogen wurde verweist auf sein literarisches Vorbild, Xenophons Kyroupaideia.70 An die Tugenden von dessen Titelhelden Kyros – Maßhaltung, Feldherrnqualitäten, Tapferkeit, Großzügigkeit zu Freunden, Respekt gegenüber Besiegten, insbesondere weiblichen, und soziales Engagement – glich Onesikritos wohl seine Alexander-Figur an. Sein schlechter Ruf als Historiograph resultiert auch aus der selektiven Rezeption seines Werks.71 Überlebt haben zumeist seine Wundergeschichten über unbekannte Regionen am Rand der Welt, die der Publikumserwartung geschuldet waren. Ein Paradebeispiel ist das literarische must have, wonach Alexander als Nachkomme von Herakles, der in mythischer Vorzeit gegen die Amazonen gekämpft hatte, einfach Amazonen zu treffen hatte, wenn er in die östlichen Gegenden vorstieß, wo sie vage lokalisiert wurden – ob es sie nun gab oder nicht.72 Onesikritos nur danach zu bemessen, dass er diesen Mythos aufwärmte, wird ihm nicht gerecht. So zeigte er – trotz seiner für die Alexanderhistoriographen üblichen panhellenischen Tendenz – Interesse an der persischen (Grab-)Kultur und überlieferte griechische Versionen mit authentischen Anklängen der Inschriften vom Grab Kyros’ II. und Dareios’ I.73
Onesikritos’ Vorgesetzter und offenbar Intimfeind, der in seiner eigenen Alexandergeschichte scharf gegen ihn schoss, war Alexanders Flottenführer (nauarchos) Nearchos von Kreta (BNJ 133), einer von Alexanders Jugendfreunden und Mitglied seines inner circle.74 Als Historiograph folgte er zumeist der offiziellen Sprachregelung. Nearchos’ Schrift ist vor allem für den Indienfeldzug von Belang. Arrian legte sie seinem Werk Indike zugrunde. Nearchos lieferte Informationen zur Topographie, Geographie, Hydrographie, Fauna und Flora der Küstengebiete vom Indus abwärts über den Indischen Ozean bis zum Persischen Golf.75 Das Werk nimmt eine Mittlerstellung zwischen Periplus (Reisebericht) und Historiographie ein und erschloss der griechisch-makedonischen Welt neue Kenntnisse über den Indischen Ozean.76 Nearchos operierte auch mit »Barbaren«-Topik, erfüllte exotistische Publikumserwartungen und stilisierte seine eigene Leistung hoch, wie Bucciantini herausgestellt hat, unter Anlehnung an den homerischen Odysseus.77
Marsyas von Pella, ein Halbbruder mütterlicherseits des Diadochen Antigonos, schrieb wohl an dessen phrygischem Satrapenhof, wo er ab 333 lebte, Makedonika in zehn Bänden von den argeadischen Anfängen bis zum Einmarsch des makedonischen Heers in Syrien 331.78 Fast nichts ist davon erhalten. Marsyas soll Alexanders Altersgenosse gewesen, mit ihm aufgewachsen, erzogen und vermutlich auch von Aristoteles unterrichtet worden sein.79 Es wird angenommen, dass in seine Makedonika Informationen aus höfischen Archiven oder oral tradition höchster Kreise einflossen.80
Chares von Mytilene (BNJ 125) war Alexanders »Zeremonienmeister« oder »Protokollchef« (eisangeleus), wohl 330 im Zug der Adaption persischer Hofelemente ernannt.81 Er vermittelte vor allem Einblicke in den gewandelten argeadischen Hof.82 Chares’ Ruf als glaubwürdiger Augenzeuge wird vielfach überschätzt.83 Er konnte sich nicht von den Vorgaben des griechischen kulturellen Gedächtnisses und der westlichen Imaginationen des Ostens lösen. Zwar basieren seine Berichte auf eigener Erfahrung im Perserreich, doch spiegeln sie traditionelle »Barbaren«-Klischees wider: Die Perserkönige lebten in dekadentem Überfluss, die Inder tranken gerne und andere »Barbaren« waren leicht zu erschrecken.84 Stilisiert ist auch sein Alexanderbild: ein apologetisch idealisierter Held, tapfer in der Schlacht, selbstlos gegenüber seinen Offizieren.85
Ptolemaios (BNJ 138), Sohn des Lagos aus Eordaia und Begründer der ptolemäischen Dynastie in Ägypten, war einer von Alexanders Jugendfreunden.86 Er schrieb eine Alexandergeschichte mit unbekanntem Titel, deren Fragmente hauptsächlich durch Arrians Anabasis überliefert sind.87 Ptolemaios wurde ab 330 einer von Alexanders wichtigsten Generälen. Sein Werk war eine propagandistische Legitimationsschrift: Indem er über Alexander als Feldherrn und Herrscher schrieb, berichtete er zugleich über sich, seinen verdienten Aufstieg und seine Prädestination, Alexanders Erbe anzutreten.88 Entsprechend unrealistisch sind Ptolemaios’ Figurenzeichnungen, soweit sie in den Fragmenten seines Werks zutage treten: Alexander, sein Legitimationsgenerator, ist eine lebensfern idealisierte Kunstfigur des gerechten Herrschers und mustergültigen Feldherrn.89 Ptolemaios ist seine fähige zweite Hand, immer bei strategisch wichtigen Erfolgen maßgeblich beteiligt und bei Problemsituationen abwesend.90 Mit ihm fehlt in solchen prekären Lagen auch Hephaistion, Alexanders andere zweite Hand, mit dem Ptolemaios offenbar eng befreundet gewesen war und dessen Gedenken er nach Hephaistions frühem Tod in Ehren hielt.91 Dagegen sind Ptolemaios’ Konkurrenten aus der Diadochenzeit, Lysimachos und ausgerechnet der bedeutende Antigonos, so schattenhaft, dass es kaum der Realität entsprochen haben kann.92 Sein Erzfeind Perdikkas, der in Ptolemaios’ ägyptische Satrapie einfiel, ist mehrfach als unfähiger Truppenkommandant dargestellt.93
Ethnographie und Wundergeschichten waren nicht Ptolemaios’ Themen; er konzentrierte sich auf die militärischen Ereignisse. Allerdings machte er eine Ausnahme, um seinen Herrschaftsbereich Ägypten ins rechte Licht zu rücken: Beim Zug zur Oase Siwa ließ er zwei sprechende Schlangen als Wegweiser auftreten, Codes ägyptischer Ideologie für Ober- und Unterägypten, Zeichen der Rechtmäßigkeit von Alexanders Herrschaft.94 Trotz dieser Tendenzen ist Ptolemaios’ Schrift die wichtigste der primären Alexanderhistoriographen. Ptolemaios war von ihnen allen am nächsten am Geschehen dran und besaß das meiste Insiderwissen. Er kannte sich mit den Heeres- und Kommandostrukturen, Herkunftsorten und Missionen der Generäle aus. In Problemfällen (Beseitigung von Funktionären) liefert er apologetische Erklärungen, die interessante Schlaglichter auf die offizielle Sprachregelung werfen. Ob dies auch bei seinen stark übertriebenen Gegner- und Gefallenenzahlen so war, ist zu überlegen.
Aristoboulos von Kassandreia (BNJ 139) zeichnete ein apologetisch-idealisierendes Alexanderporträt.95 Arrian zieht ihn als zweite Hauptquelle neben Ptolemaios heran, weil er ebenfalls Zugteilnehmer war.96 Gleichrangig in ihrem Quellenwert sind ihre Schriften allerdings nicht. Aristoboulos gehörte zum (bau)technischen staff, erlebte Alexander eher aus der Ferne und wird über die offizielle Version für das erweiterte Heerlager hinaus wenig an Interna mitbekommen haben. Seine große Stunde schlug, als er das Kyros-Grab in Pasargadai restaurieren durfte.97 Aristoboulos folgte der offiziellen Linie loyal, entschuldigte Alexander in jeder Situation und erwähnte sogar angebliche persische Untaten in Babylon, um Alexanders Licht als Heilsfigur, die alles wieder richtete, noch heller erstrahlen zu lassen.98 Zudem sparte er nicht mit Wundergeschichten und Götterzeichen, für die er eine Vorliebe hatte, oftmals wohl in Anlehnung an Kallisthenes’ Vorlagen.99
Als noch schlimmerer, sogar größter Fabulierer unter den Alexanderhistoriographen gilt Kleitarchos (BNJ 137), der keine Amazone ausließ.100 Es spricht für sich, dass seine Schrift so beliebt war, nicht zuletzt auch in Rom.101 Er schrieb unter ptolemäischem Einfluss in Alexandria, entweder unter Ptolemaios I. oder Ptolemaios IV.102 Kleitarchos wird sich in jedem Fall an die (glorifizierende) Sprachregelung des Reichsgründers zu Alexander, die auch unter seinen Nachfolgern bewahrt wurde, gehalten und sie bunt ausgeschmückt haben.103
Ephippos von Olynthos (BNJ 126) schrieb in Über den Tod/Über die Bestattung Alexanders und Hephaistions unschmeichelhaft über die aufwändige Hofführung eines wahnsinnig gewordenen Tyrannen.104 Er ließ Alexander als cross-dresser im Artemis-Kostüm vor seinem Heer erscheinen und bescheinigte ihm in dessen letzter Phase, unerträglich, mordlüstern und düster-depressiv zu sein.105 Alexanders Hofgesellschaft schrieb Ephippos klischeehaft die Trinksitten einer von Natur aus verrohten Proletenbande zu:
Die Makedonen, wie Ephippos von Olynthos in seiner Schrift Über die Bestattungen von Alexander und Hephaistion schreibt, wussten nicht, wie man auf manierliche Weise trinkt, sondern ließen sich gleich am Anfang auf so großes Zuprosten ein, dass sie schon bei den Vorspeisen betrunken waren und diese nicht genießen konnten.106
Ephippos zufolge war Alexanders Tod eine Strafe des Dionysos, weil er Theben, die Mutterstadt des Gottes, zerstört hatte. Dionysos’ Rache traf ihn demnach während eines Wettsaufens mit einem anderen Kampftrinker, Proteas, der zweimal (anscheinend auf Ex) einen Becher Wein mit dem Füllgehalt von circa 6,48 Litern leerte.107 Ephippos ließ wohl auch seinen zweiten Protagonisten, Hephaistion, an übermäßigem Weingenuß sterben. Vermutlich nahm er ihn wegen seines zeitnahen Tods zu Alexander gleichsam »in Sippenhaft«. Es ist anzunehmen, dass Ephippos Urheber der polemischen Tradition war, wonach Hephaistion nach einem finalen »makedonischen Soldatenfrühstück« starb, zu dem ein gekochtes Huhn und fast drei Liter (ungemischter) Wein gehörten. Hephaistion habe ihn besonders unzivilisiert statt aus einem Trinkbecher gleich aus einem großen Kühlgefäß (psykter) heruntergekippt.108
Man fragt sich, ob Ephippos im Nachhinein vor seinen Landsleuten rechtfertigen musste, wie er es mit seiner Moral hatte vereinbaren können, sich überhaupt bei den Makedonen aufzuhalten. Der Quellenwert für die makedonische Hofkultur ist jedenfalls gering. Abzulesen ist vielmehr etwas über die kurzzeitig aufgeflammte Aufbruchsstimmung in der griechischen Welt nach Alexanders Tod, die in den Lamischen Krieg führte. Eventuell wollte Ephippos nachträglich die makedonische Zerstörung seiner Heimatstadt Olynthos und Alexanders Beseitigung von Kallisthenes, einem bekannten Olynther, rächen, indem er »intellektuellen Widerstand« übte: kräftiges literarisches Nachtreten – und zwar besser gegen zwei als nur gegen einen Makedonen.109
Eine vergleichbar unschmeichelhafte Tendenz zeigen die beiden Fragmente einer zeitgenössischen Schrift mit unbekanntem Titel einer Nikoboule (BNJ 127), bei denen es um unmäßigen Weinkonsum an Alexanders Hof und seinen Tod durch Alkoholvergiftung geht.110 Athenaios, die Sekundärquelle, ist selbst unsicher, ob dies tatsächlich von einer Frau stammte oder ihr nur zugeschrieben wurde.111 Ebenso uneins ist die Forschung. Bei einer Frau, die bei einem griechischen oder makedonischen Symposion anwesend sein konnte, ist nicht mit einem Mitglied der Oberschicht, sondern mit einer Sklavin oder Hetäre zu rechnen.112 Entweder gilt der Name Nikoboule als Pseudonym eines männlichen Schreibers oder als authentischer Name einer schreibenden Frau, als deren Tagebucheinträge die Fragmente teilweise gedeutet werden.113 In jedem Fall ist die Schilderung der makedonischen Trinkexzesse klischeehaft.
Schwer einzuschätzen ist die Ausrichtung des zeitgenössischen Werks von Polykleitos aus dem thessalischen Larisa (BNJ 128).114 Teilweise gilt er als Aleuade, der den Alexanderzug, vielleicht auf einem Militärposten, begleitete.115 Eigenes Erleben könnte etwa seine Beschreibung von Susa spiegeln.116 Ein Fragment über Dekadenz und Suff an Alexanders Hof weckt wiederum Zweifel an einer sachlich-glaubwürdigen Berichterstattung.117
Der aus Kleinasien stammende Megasthenes (BNJ 715) schrieb in der Diadochenzeit ethnographisch orientierte Indika. Alexander figuriert darin als ein an Dionysos angeglichener Zivilisator.118 Der Philosoph Anaximenes von Lampsakos (BNJ 72) war ein Zeitgenosse Alexanders, wohl aber nicht, wie ihm zugeschrieben wird, einer seiner Lehrer und Zugteilnehmer.119 Über die Qualität und Anlage seiner Berichte über Philipp und Alexander lässt sich wenig sagen.120 Der athenische Historiograph Diyllos (BNJ 73) verfasste im frühen 3. Jh. v. Chr. Historiai zu den Ereignissen von 357/6-297/6, hat aber nicht den besten Ruf.121 Douris von Samos (BNJ 76) schrieb mit stark moralisierender Tendenz Ende des 4./Anfang des 3. Jhs. v. Chr. Makedonika oder Historiai von Philipp II. bis zum Ende des Diadochen Lysimachos. Er übte bezüglich Alexanders Hof nach den Siegen in Asien Kritik an dessen tryphe (Luxus im komplexen Sinne), ebenso wie sein »Fortsetzer« Phylarchos (BNJ 81).122
Die »kanonischen« Alexanderhistoriographen der Sekundärtradition sind Diodor, Trogus-Justin, Curtius Rufus, Arrian und Plutarch. Sie fanden in ihren Quellen verschiedene künstliche negative wie positive Alexanderbilder vor und erweiterten diese. Der ältere Ansatz, ihre Schriften in eine »Vulgata« (romanhafte Sensationsgeschichten, basierend auf Kleitarchos) und eine vermeintlich sachlich-nüchterne Kategorie (Arrian, basierend auf Ptolemaios und Aristoboulos) zu klassifizieren, gilt heute als überholt. Erstens hat keiner der Autoren nur Kleitarchos benutzt, zweitens sind Arrian und seine Hauptquellen keineswegs sachlich-nüchtern.123
Der Grieche Diodor aus Sizilien (1. Jh. v. Chr.) behandelte im 17. Buch seiner Bibliotheke historike, eine Universalgeschichte in 40 Büchern, die Regierung Alexanders, den er positiv darstellte.124 Als seine Hauptquelle gilt Kleitarchos,125 doch Diodor benutzte auch andere Quellen:126 die Schriften von Polykleitos von Larisa sowie vermutlich von Douris, Diyllos, Ephippos, Chares, Onesikritos und Aristoboulos.127 Das mag jedoch nicht alles gewesen sein. So sind Diodors Informationen oftmals verlässlich, teilweise verlässlicher als Paralleltraditionen,128 etwa in punkto Truppenstärken und Gefallenenzahlen. Diodor schätzt beispielweise auch die Situation von Tyros recht realistisch ein und zeigt Respekt vor dem Kriegsgegner, Dareios III.129 Bei der Belagerung von Halikarnassos könnte er sich auf Ptolemaios beziehen.130 Für die letzten Kapitel benutzte er zudem Hieronymos von Kardia.131 Es kursiert die These, ebenso wie für Curtius, Diodor habe auch Berichte von griechischen Söldnern in persischen Diensten gekannt, was sich jedoch nicht verifizieren lässt.132 Insgesamt wird Diodors Quellenwert für Alexander wegen des (Negativ-)Stempels, den er als Benutzer von Kleitarchos’ Werk trägt, häufig unterschätzt.
Der spätaugusteische Autor Pompeius Trogus aus der Gallia Narbonensis schrieb eine Universalgeschichte in 44 Büchern.133 Der Titel Historiae Philippicae entstand vermutlich in Anlehnung an sein literarisches Vorbild, Theopompos’ Philippika.134 Orientiert am griechischen Reichsfolgemodell schilderte Trogus die Geschichte von Assyrern, Medern, Persern, Argeaden und den hellenistischen Monarchien bis zum Arsakidenreich und Rom, das als vollendender Ordnungsfaktor figurierte.135 Dabei begründete er in starker Moralisierung mit der Befähigung zur Mäßigung (moderatio) der einzelnen Herrscher, warum Reiche aufstiegen und niedergingen.136 Alexander stand als letzter faktisch regierender Vertreter seiner Dynastie am Ende des Argeadenreichs. Mit seinem Tod begannen die Diadochenkriege. Folglich schildert ihn Trogus als den schlimmsten Argeaden von allen. Von seiner Quelle Theopompos hatte er ein negatives Zerrbild Philipps als skrupelloser Verbrecher, Wüstling und Trunkenbold übernommen, Alexander figuriert als die Steigerung.137 Unbeherrscht, überheblich, jähzornig und trunksüchtig zieht er eine Blutspur von Makedonien über Griechenland nach Persien, infiziert sich zusätzlich mit östlichen Lastern, terrorisiert und ermordet die eigenen Leute, verschmäht die makedonischen Traditionen und strebt mit betrügerischen Tricks nach der eigenen Vergöttlichung. Als er stirbt, sind nur die Perser traurig – bezeichnend für ihre Darstellung.138 Trogus benutzte zwar Kleitarchos, ging aber seinen eigenen Weg der Negativauslegung, vielleicht auch gestützt auf Phylarchos und Douris.139 Prägend wirkte zudem sein römischer zeitpolitischer Hintergrund. Das Thema Krieg gegen ein östliches Reich war aufgrund der Konflikte Roms mit dem Arsakidenreich aktuell. Trogus adaptiert die augusteische Sprachregelung, wonach das diplomatische Arrangement mit Phraates IV. 20 v. Chr. die Parther (angeblich) zu unterworfenen Bittflehenden gemacht habe.140 Angesichts dieses Hintergrunds könnte Trogus’ negatives Alexanderbild ein Gegenentwurf zum »guten« römischen Beispiel gewesen sein. Zusätzlich ist der Einfluss von Octavian-Augustus’ verdammender Sprachregelung hinsichtlich seines einstigen Bürgerkriegsgegners Marcus Antonius, der auch gegen die Parther gezogen und mit Kleopatra, einer makedonischen Königin, im Bund gewesen war, anzunehmen. Marcus Antonius war zum Inbegriff des östlichen Tyrannen mit Luxussucht, Hybris, Trunksucht und weitgehenden Ambitionen zur sakralen Überhöhung stilisiert worden – die Parallele zu Trogus’ Alexander ist deutlich.141
Trogus’ Geschichtswerk ist nur als Exzerpt des Autors Justin, meist im 3./4. Jh. n. Chr. verortet, erhalten. Bei seiner »Blütenlese« strich dieser nach eigener Angabe alles weg, was er weder unterhaltsam noch beispielhaft fand.142 Da die Inhaltsangaben (prologi) des Originals erhalten sind, wird deutlich, wie viel dies war: ungefähr ¾.
Quintus Curtius Rufus verfasste zu einem umstrittenen Zeitpunkt in der Kaiserzeit (meist wird das 1. Jh. n. Chr. angenommen) die einzige lateinische Alexandermonographie, Historiae Alexandri Magni.143 Er kannte Kleitarchos’ Werk, auf das er zweimal explizit verweist,144zudem die Schriften von Ptolemaios und Timagenes, eventuell auch von Aristoboulos, Nearchos und Onesikritos.145 Die Mehrheit seiner Quellen zeichnete ein positives Alexanderbild, aber Curtius beschrieb seine Entartung zum Tyrannen.146 Dabei erwies er sich als Meister der Dekadenzschilderung, der psychologisierend, mitunter subtil und ironisch-mokant, dann wieder offen polemisch zu Werke ging, um zu zeigen, wie sich ein westlicher Feldherr auf Kriegszug im Osten nicht verhalten sollte.
Die Darstellung ist geprägt von der konstruierten Dichotomie von virtus und fortuna. Beide Eigenheiten sollte ein guter Feldherr in römischen Augen gleichermaßen besitzen.147 Curtius’ Resümee zur Person Alexanders, dass er mehr der Fortuna als seiner Tugend verdankt habe, ist bezeichnend für die Gesamtanlage.148 Curtius führt vor, wie ein charakterlich ungefestigter junger Mann trotz guter Anlagen von seinen Kriegserfolgen korrumpiert wird, der Hybris anheimfällt, sich in »östlicher Dekadenz« ergeht und zum Tyrannen wird.149 Dabei vervielfältigt Curtius seine Dekadenzschilderung, indem er neben dem Herrscher als Symbolfigur des Niedergangs auf moralische Negativentwicklungen am Hof und bei den Truppen verweist.150 Zudem stellt Curtius Alexanders Absturz von einer hohen moralischen Ausgangsbasis nicht als geradlinigen Fall, sondern als ein stetiges Auf und Ab dar.151 Der Niedergang ist zwar erkennbar, innerhalb dieses Entwicklungsprozesses sind jedoch kontinuierlich Fallhöhen eingebaut, von denen Curtius seinen Protagonisten wieder und wieder stürzen lässt. Überdies schreibt er Dareios III. einen diametral verlaufenden moralischen (Wieder)Aufstieg als Kontrastfigur zu Alexander zu: Alexander wandelt sich vom tugendhaften Vorbild mit dem Wendepunkt Gaugamela zum korrumpierten Tyrannen. Dareios verliert durch die Rückschläge seine superbia und findet zu seinem ursprünglich guten Wesen zurück. Curtius wendet einen weiteren Kniff an, stilisiert Hephaistion zu Alexanders Doppelgänger und Spiegelbild, erklärt ihn deswegen zu seinem gleichaltrigen Jugendfreund und lässt ihn einen identischen Sittenverfall erleben: der doppelte Alexander, die doppelte Depravation, die doppelte Wirkung beim Publikum.152
Ein zentrales Stilmittel der Negativdarstellung Alexanders bei Curtius ist die Sexualisierung als mit dem Osten assoziierter Gradmesser der Unmäßigkeit. Kein anderer Autor unterstellt Alexander so viele Sexualpartnerinnen und Sexualpartner – die in römischen Augen zudem allesamt als unpassend und größtenteils skandalös erscheinen mussten: 366 Frauen (durchgehend »Barbarinnen«), ein – nirgendwo sonst bezeugter – Junge und ein erwachsener Mann (freie Makedonen – ein Unding aus römischer Sicht) sowie eine unbezifferte Menge persischer Eunuchen (verachtete Grauzonen zwischen Mann und Frau, zudem »Barbaren«, schockierend).153 Die Anzahl der 360 Konkubinen des Dareios, die Alexander angeblich nach dem Sieg übernimmt und damit in höchst anrüchiger Weise seinen Spuren folgt,154 ist eine Übernahme aus griechischer Persika-Literatur. Herakleides von Kyme (4. Jh. v. Chr.) nennt 300 oder 360 Konkubinen des Großkönigs.155 Curtius verstärkt die Negativwirkung, indem er – was anscheinend zuvor bei griechischen Persika nicht der Fall war – gleich noch die Eunuchen, Standardelemente griechischer Vorstellungen vom Perserhof, dem großköniglichen Sexualgefolge zuschlägt, das Alexander angeblich übernimmt.156 Curtius’ Behandlung von Alexanders angeblicher Affäre mit dem Eunuchen Bagoas ist besonders drastisch. Um das Ausmaß von Alexanders Depravation zu veranschaulichen, baut Curtius eine Bettszene inklusive pillow talk zwischen ihnen in seine Geschichtsschreibung ein. Dabei unterläuft ihm der kleine Schnitzer, zuvor zu erwähnen, dass die beiden in solchen Situationen (wie anzunehmen) ganz unter sich waren.157 Man fragt sich, von wem Curtius dann diese detaillierten Informationen überhaupt haben konnte. Doch es ging nicht um Authentizität, sondern darum, Alexander als Projektionsfigur »unrömischer‟ Laster zu inszenieren.
Bei Arrian und Diodor taucht Bagoas gar nicht auf. Es gibt (berechtigte) Zweifel, entweder an seiner Existenz selbst oder zumindest an der Historizität seiner Rolle an Alexanders Hof und an der Sexaffäre.158 Erstens ist »Bagoas‟ offenbar ein typischer »Eunuchen-Name‟ in antiker Literatur, den auch suspekterweise jener Eunuch trägt, der Artaxerxes III. und seinen Sohn Arses (Artaxerxes IV.) gestürzt und Dareios III. auf den Thron geholfen haben soll.159 Zweitens wirkt Curtius’ Bagoas wie ein fleischgewordenes Klischeebild der Laster des »Orients« aus römischer Sicht.160 Drittens gibt es bereits bei griechischen Persika die Tendenz, persische Hofbeamte generalisierend zu Eunuchen zu erklären, auch solche, die vermutlich gar keine waren: eine topische »Eunuchisierung«.161
Plutarch, der Ende des 1./Anfang des 2. Jh. n. Chr. vor dem Hintergrund der Zweiten Sophistik schrieb, benutzte unter anderem Kleitarchos, Kallisthenes, Onesikritos, Chares und Douris als Quellen.162 Er war kein Historiograph, sondern Moralphilosoph, der mit einem biographischen Ansatz literarische Porträts als Vorbilder oder Negativexempel gestalten wollte.163 Zu diesem Zweck beleuchtete er die Wesensart seiner Protagonisten anhand von Anekdoten, die ihre charakterliche Disposition und Entwicklung seiner Meinung nach widerspiegelten. Seine Haltung zu Alexander ist ambivalent und von der jeweiligen Schrift abhängig. In De Alexandri Magni Fortuna aut Virtute verteidigte er, vermutlich gegenüber einem römischen Publikum, Alexander gegen den Vorwurf, seine Erfolge mehr fortuna als virtus verdankt zu haben und stellte ihn als Zivilisatoren des Ostens und philosophischen Vertreter einer Weltverbrüderungsidee dar.164 In seiner Alexandervita kombinierte er Feldherrnideal und Depravationsgeschichte zu einem ambivalenten Mix.165 Da Plutarch sich über den ikonenhaften Status Alexanders in der Zweiten Sophistik klar war, verteidigte er Alexander gegen Vorwürfe der Trunksucht, Grausamkeit, sexuellen Entartung und Vergöttlichungsbestrebung.166 Zudem stilisiert er sein Porträt stark nach dem Tugendmodell Kyros in Xenophons Kyroupaideia. Die Anklänge sind so deutlich, dass teilweise angenommen wurde, dies bilde die Realität ab und Alexander sei mit der Kyroupaideia in der einen und dem Schwert in der anderen Hand durch das Perserreich marschiert und habe sich eng an diese Vorlage gehalten.167 Tatsächlich ist die politische von der literarischen Ebene zu trennen: Wenn Alexander Xenophons Kyros gleicht, liegt es an der Überformung durch Alexanderhistoriographen wie Plutarch. Trotz aller Glorifizierung lässt Plutarch Alexander andererseits am Ende doch als Tyrannen dastehen. Als signifikant erscheinen Alexanders letzte Tage und sein Tod, bei Plutarchs Viten Schlüsselpassagen für die Gesamtbewertung. Alexanders topische Tyrannenfurcht entspricht nicht der mustergültigen Art, dem Tod, durch Prophezeiungen angekündigt, gegenüberzutreten, ebenso wenig wie die starke Trunksucht.168
Ein typischer Vertreter der Zweiten Sophistik ist auch Arrian (Flavius Arrianus) aus Nikomedien. Der römische Bürger und zugleich griechische Gelehrte lebte unter Trajan, dessen Partherfeldzug er vermutlich mitmachte, und Hadrian, unter dem er langjähriger Statthalter Kappadokiens war.169 Von den Selbstdarstellungsstrategien Intellektueller in der Zweiten Sophistik geprägt, präsentierte Arrian sich als »Wiederentdecker« von Alexanders »wahrer« Geschichte.170 Zur Abfassung sei er als einziger in der Lage, weil er auf intellektuellem Gebiet ebenso bedeutend sei wie Alexander auf militärischem (den er zuvor als größten Feldherrn aller Zeiten bezeichnet hatte).171 Arrian beschließt sein Werk mit dem Verweis, dass es der Wahrhaftigkeit und dem Nutzen für die Menschheit diente und, ebenso wie Alexanders Krieg, eine göttliche Mission gewesen sei.172 Arrian, der sich als zweiten Xenophon bezeichnete, nannte seine Alexandergeschichte in Anlehnung an dessen Anabasis, ein ikonisches Werk in der Zweiten Sophistik, Anabasis Alexandrou.173 Er zog die Schriften von Ptolemaios und Aristoboulos (als Hauptquellen), zudem unter anderem von Kleitarchos, Eratosthenes, Nearchos, Megasthenes und Onesikritos heran. Relevant für die Geschichte des makedonischen Indienzugs ist sein Werk Indike, dem die Schriften von Nearchos (als Hauptquelle) und Megasthenes zugrunde lagen. Da Arrian sich über den Ruhm seines Sujets definierte, zeichnete er ein positives Bild Alexanders, übernahm häufig die apologetischen Tendenzen seiner Hauptquellen und versuchte, Standardvorwürfe gegen Alexander mit Rationalisierungen zu entkräften.174 Wie sehr Arrian als Intellektueller seiner Zeit schrieb, zeigt exemplarisch sein Bericht über Alexanders Ansprache an seine Truppen vor der Schlacht bei Issos.175 Arrian zitiert eine Tradition, nach der Alexander seine Soldaten mit einer Referenz zur Tapferkeit von Xenophon und den Zehntausend ermutigen wollte. Diese Bezugnahme auf Xenophons Anabasis ließ sicherlich Arrians Herz höherschlagen, doch schwerlich das von Alexanders Soldaten. Es ist unwahrscheinlich, dass sie alle Xenophon gelesen und soweit verinnerlicht hatten, dass die Erwähnung sie für den Kampf motivierte. Überdies könnte es, wenn es Xenophon-Kenner unter ihnen gab, komisch wirken, dass Alexander vor der Schlacht an ein Heer erinnerte, das auf der Verliererseite gekämpft und dann nach Hause gewollt hatte. Es ist die Sicht eines Literaten der Zweiten Sophistik wie Arrian, dass Alexander vor Issos die Literaturkenntnisse seiner Truppen abrief.
Weiterhin finden sich Berichte zu Alexander vor allem bei Strabon (1. Jh. v. Chr.), Pausanias (2. Jh. n. Chr.) und Athenaios (2. Jh. n. Chr.). Der spätantike griechische Alexanderroman stellt den Höhepunkt der Entfremdung vom historischen Alexander dar – und ist zugleich die am meisten rezipierte Schrift über ihn. Mit seinen zahlreichen Übersetzungen und Adaptionen gilt sie sogar als das am weitesten verbreitete Werk der Weltliteratur nach der Bibel.176 Der anonyme Autor ist aufgrund der Zuschreibungen des Texts in mehreren Handschriften an Alexanders Hofhistoriograph Kallisthenes als Pseudo-Kallisthenes bekannt.177 Verfasst gegen Ende des 3. Jh. n. Chr. in Ägypten, vermutlich Alexandria, setzt sich die farbenfrohe Abenteuer- und Entwicklungsgeschichte als eine Art Flickenteppich aus Traditionen unterschiedlicher kultureller Kontexte und Zeiten (griechisch, makedonisch, ägyptisch, römisch, pagan, christlich) und Genres (Periplus, Historiographie, Epos, Epistel, Biographie, Roman, ägyptische Königsnovelle, Ethnographie, Ekphrasis, philosophischer Dialog) zusammen.178 Mit hohem Unterhaltungsfaktor und in künstlerisch äußerst freier Gestaltung wird Alexanders Leben beschrieben. Die Rolle des Kriegers und Eroberers bildet nur die Vorstufe zu dem, was den Autor eigentlich interessierte: Alexander als Entdecker fremder Welten und Grenzen überschreitender Forscher, der nach Unsterblichkeit sucht, letztlich aber seine irdische Natur anerkennt.179 Nach einem dramatischen Tod durch perfiden Giftmord kommt das happy end in Gestalt seiner Entrückung.180 Diese Darstellung konturierte das Bild Alexanders als Kosmokrator, wie es vor allem die mittelalterliche Rezeption prägte.
Die Metzer Epitome aus dem 4./5. Jh. n. Chr., eine Handschrift aus Metz (MS Mettensis 500), beinhalten zwei anonyme, problematische Texte, Epitoma rerum gestarum Alexandri (Abriss der Alexandergeschichte von Dareios’ Tod bis zur Fahrt den Indus hinab) und Liber de Morte Alexandri über Alexanders letzte Tage und sein angebliches Testament.181
Die Quellenübersicht zeigt deutlich, dass Alexander von Anfang an eine Projektionsfigur war, erst für makedonische Rechtfertigungen des Perserkriegs, in der Folgezeit für die Propaganda der Diadochen im Kampf um sein Erbe, dann weiterhin als politisches, militärisches oder moralisches Leitmodell oder Negativexempel.
Alexander entstammte einer Familie, die seit der Reichsgründung ungefähr Mitte des 7. Jhs. durchgehend den Herrscher gestellt hatte. Trotz zeitweiliger Konflikte in den Familienzweigen und schwieriger Zeiten hatte die Mehrheit der Bevölkerung die Dynastie als einzig herrschaftsfähig angesehen.
Der Begriff Argeaden, wie ihn die Forschung mehrheitlich für Alexanders Familie gebraucht, ist zuerst im frühen Hellenismus überliefert, in einem der Epigramme des Mailänder Papyrus, die dem makedonischen Dichter Poseidippos von Pella zugeschrieben werden.1 Es ist ungewiss, ob Alexanders Familie sich jemals selbst so bezeichnet hatte. »Argeaden« leitet sich von der genealogischen Rückführung der Dynastie auf die peloponnesische Stadt Argos ab. Als Ahnherr figurierte König Temenos, ein Nachkomme des Herakles.2 Die frühesten literarischen Zeugen, welche Vertreter der Dynastie erwähnen, die griechischen Historiographen Herodot und Thukydides (5. Jh.), nennen sie daher Temeniden.3 Als dritte Möglichkeit findet man in frühhellenistischer Zeit die Bezeichnung Herakliden nach dem mythologischen Urahn von Alexanders Familie.4 Die griechische Abkunft des Hauses gilt mehrheitlich als propagandistischer Kunstgriff.5 Woher die Dynastie tatsächlich kam, ist umstritten. Häufig gilt Appians Information als glaubwürdig, dass es Orestis war, eine der obermakedonischen Berglandschaften.6
Die Führungsrolle verdankte die Familie wohl der Leitfunktion des Oberhaupts zu »Gründerzeiten«, als sie an der Spitze einer Siedlerschar ihr Ursprungsgebiet verließ und neues Territorium in den fruchtbaren makedonischen Talebenen um Pierien und Bottiaia eroberte. Sie nahmen der ansässigen Bevölkerung das Land weg, vertrieben sie und siedelten sich dort an.7 Die weitere kriegerische Expansion umfasste Anthemous, Krestonia, Mygdonia und zeitweise, zumindest unter Alexander I., Teile der Bisaltia.8 Die Anführerrolle der Familie bei der Ansiedlung war grundlegend: Der Herrscher blieb bis zum Ende des Argeadenreichs oberster Kriegsherr und Truppenführer. Sein primärer Legitimationsfaktor waren kriegerische Erfolge, die ihm die Möglichkeit gaben, Beute (Land, Weiden, Äcker, Städte, Nutztiere, Schmuck, Prachtgeschirr, Edelmetall, Waffen, Pferde, wertvolle Textilien), erstrebenswerte Kommandos und Posten zwecks Loyalitätserhalts zu verteilen.9 Die einflussreichsten Makedonen hießen hetairoi (Kampfgefährten) und hatten entsprechend hohe Heeresposten.10 Ein makedonischer Herrscher benötigte Feldherrnqualitäten und Durchsetzungsvermögen. Es wurde erwartet, dass er bei den Feldzügen dabei war und in den Schlachten in vorderster Reihe kämpfte. Dafür musste er von Kindesbeinen an militärisch ausgebildet werden und frühzeitig praktische Feldzugserfahrungen machen. Der Argeadenherrscher war Repräsentant von Reich und Bevölkerung, oberster Priester – da er theoretisch als göttlicher Auserwählter eine besondere Nahbeziehung zur überirdischen Sphäre hatte – und oberster Richter.11
Allerdings war er zugleich in der eingeschränkten Position eines primus inter pares, von der sich erst Alexander lösen konnte, wie plakativ seine gewandelte Herrschaftsrepräsentation ab 330 zeigt.12 Der argeadische primus inter pares hatte zwar theoretisch im Entscheiden, Delegieren, Kommandieren und Schenken die oberste Hand – allerdings in enger, ihn oftmals limitierender Abstimmung mit den pares, den einflussreichen makedonischen Familien, aus denen seine höchsten Kommandeure und Funktionäre kamen. Sie achteten im eigenen Interesse darauf, dass es bei »flachen Hierarchien« blieb.13
Dieser Stellung entsprechend taucht der Königstitel, basileus, in Dokumenten und Münzlegenden für Argeaden nicht auf, nur ihre jeweiligen Namen, teilweise mit Patronym (Name des Vaters).14 Auch wenn Herodot und Thukydides mitunter einen Argeaden als basileus oder tyrannos bezeichneten oder spätere griechisch-römische Autoren mit den hellenistischen Königen im Hinterkopf universell von basileus sprechen,15 war dies nicht die zeitgenössische argeadische Eigenbezeichnung. Ob Alexander, in dessen Regierung sich so vieles wandelte, die Ausnahme war, ist umstritten.16 Zwar taucht der basileus-Titel auf einigen Münzen und Inschriften unter seinem Namen auf, doch ist unklar, inwieweit dies auf Alexanders eigene Vorgaben zurückgeht. Bei den Münzen werden teilweise postume Prägungen seiner Nachfolger vermutet, die den Titel hinzufügten – postume und späte lebenszeitliche Münzen Alexander lassen sich kaum unterscheiden.17 Bei den Inschriften ist unklar, ob basileus ein Zusatz von Redakteuren war, als sie nach Alexanders Tod gesetzt wurden.18 Gesichert ist der basileus-Titel für Makedonen als Eigenbezeichnung erst für die Diadochen.19
Eine fixierte Nachfolgeregelung wie die Primogenitur gab es im Argeadenreich offenbar nicht, auch wenn idealiter ein Sohn des vorangegangenen Herrschers nachfolgte.20 Unabdingbar war die Zugehörigkeit zum Argeadenhaus. Daneben entschieden Faktoren wie die Förderung durch den Amtsvorgänger, eigene Qualifikationen, reichs- und überreichsweite Netzwerke, Prestige der Mutter sowie ihrer Familie und Rückhalt in den Führungsschichten über die Thronchancen.21 Wer zum Zeitpunkt der Vakanz die meiste Unterstützung vonseiten der maßgeblichen factions hatte, konnte sich durchsetzen und wurde von der Heeresversammlung akklamiert.22 Ab wann ein Thron üblich wurde, der erstmals für Philipp II. 336 bezeugt ist, bleibt ungewiss.23
In Alexanders Zeit war Pella am Loudias-See die Residenz seiner Dynastie, entweder von Archelaos oder Alexanders Großvater Amyntas III. von Aigai dort hinverlegt.24 Aigai, den argeadischen Aufstiegsgeschichten zufolge die erste Gründung des Reichsgründers, war herrschaftliche Grablege und Festveranstaltungsort.25
Vor der Eroberung des Achaimenidenreichs war ein Argeade finanziell nicht auf Rosen gebettet. Makedonien konnte sich selbst versorgen, war aber kein reiches Land.26 Es gab einen Exportschlager: makedonisches Holz aus den regenreichen Wäldern, das aufgrund seiner Festigkeit als das beste Material für Schiffe und Ruder galt.27 Athen war Hauptkunde, wollte aber auch die Bedingungen diktieren (und sich zeitweise gleich selbst an die Quelle setzen).28 Der Argeadenherrscher war Eigentümer und zugleich Geschäftsführer des Exports von Holz, Rudern und ganzer Schiffe.29 Die politische Limitierung und der begrenzte Zugang zum Meer bedingten, dass die Argeaden trotz vorhandener Ressourcen und Werftanlagen vor Philipp II. nur ein paar (Handels-)Schiffe, jedoch keine Kriegsflotte besaßen.30
Was und wie die Makedonen sprachen,31 ist unzureichend überliefert.32 Aktuell wird mehrheitlich angenommen, dass es ein nordgriechischer Dialekt mit charakteristischen phonetischen Eigenheiten war, die sich vom Griechischen unterschieden.33 So hatten die Makedonen einige eigene Worte,34 eine teilweise andere Aspiration und Aussprache:35
Aber die Leute aus Delphi verwenden nicht β (beta) statt φ (phi) wie es die Makedonen tun, die Bilipp und Balakros und Berenike sagen.36
Ob dieser makedonische Dialekt für Griechen kaum oder zumindest schwer verständlich war, mag auf den Sprecher angekommen sein.37 Zu Alexanders Zeit sprach die höfische Oberschicht Makedoniens Griechisch und die Truppensprache war koine, die griechische Gemeinschaftssprache.38 Verständigungsprobleme mit Griechen kann es daher kaum gegeben haben – jedenfalls nicht auf sprachlicher Ebene.
Makedonien war zweigeteilt, in Niedermakedonien (kato) und Obermakedonien (ano). Die geographischen Zuschreibungen können in den antiken Quellen variieren; die Forschung versteht unter Niedermakedonien die Gebiete um den Olymp mit den fruchtbaren Ebenen von Bottiaia und Pierien bis an den Golf von Therme, in argeadischer Zeit nach Westen hin weiter ins Landesinnere reichend, unter Obermakedonien das gebirgige Hochland mit Pelagonia, Lynkestis, Eordaia, Almolpia, Elimeia und Orestis.39 Die Zweiteilung wird darauf zurückgeführt, dass die Makedonen vor der Reichsbildung an der Küste aus dem westlich gelegenen Bergland kamen, wo viele Makedonen auch geblieben seien.40 Niedermakedonien war von den Argeaden beherrscht, die obermakedonischen Gebiete davon unabhängig von ihren eigenen Lokaldynasten, die häufig nicht an einem Strang mit den Argeaden zogen.41 Trotz der politischen Teilung gingen auch die antiken Autoren von einer übergeordneten ethnischen Zuordnung aus: In beiden Teilen lebten Makedonen, nur standen sie unter verschiedenen Herrschaften.42 Wird in den antiken Quellen von Makedonien gesprochen, meint dies daher in politischer Konnotation das Herrschaftsgebiet des jeweiligen Argeaden.43
Die Autonomie der obermakedonischen Lokaldynasten war für die Argeaden ein stetiger Unsicherheitsfaktor, zumal ihre Gebiete einen Einfallskorridor für illyrische Ethnien darstellten, die unbequemsten der unmittelbaren Nachbarn der Argeaden.44 Von frühester Zeit an bezeugen die Quelle eine Bedrohung durch illyrische Einfälle.45 Kam es zu Allianzen zwischen obermakedonischen Dynasten und illyrischen Herrschern, konnten erstere illyrische Truppen durch ihre Gebiete passieren lassen, um im argeadischen Makedonien einzufallen. Die Unterwerfung der obermakedonischen Dynastentümer gelang erst unter Philipp II.46 Durch die Etablierung personeller Netzwerke, die beide Teile Makedoniens überspannten, war schon zuvor versucht worden, die Gefahr zu minimieren, so dass es im Heer und in den höfischen factions unter Alexander einen ausgeglichenen Anteil an ober- und untermakedonischen Vertretern gab.47
Makedoniens Nachbarn waren Thessalien, Epeiros, Illyrien, Paionien und Thrakien. Kulturkontakt und -austausch ist in allen Fällen anzunehmen, doch mit thrakischen, paionischen und illyrischen Ethnien war das Verhältnis problematischer als mit Thessalien und Epeiros. Die beste nachbarschaftliche Beziehung der Argeaden scheint traditionell nach Thessalien bestanden zu haben, besonders zu den Aleuaden, der einflussreichsten Familie aus Larisa, neben Pherai und Pharsalos die führende Stadt Thessaliens.48 Teilweise prägte man sogar gleiche Münzbildsymbole.49
Amyntas I., der erste historisch fassbare Argeade, erkannte um 513 die persische Oberhoheit an.50 Damit stellte er sich unter den Schutz Dareios’ I., des einflussreichsten Königs seiner Zeit, der bei seinem Grenzsicherungszug gegen die europäischen Sakā durch thrakische Gebiete gekommen war und diese und die makedonischen Nachbarn zu kontrollieren befahl.51 Für Amyntas muss dies der Jackpot gewesen sein: Die Verbindung zu den Achaimeniden stellte seine Herrschaft auf eine eigenständigere Grundlage und verlieh der Dynastie ein back up gegenüber den anderen einflussreichen makedonischen Familien, zumal eine Heiratsverbindung zwischen seiner Tochter Gygaia und dem hochrangigen Perser Bubares, vielleicht ein Achaimenide, folgte.52 Herodot bezeichnet Amyntas’ Stellung als hyparchos der Makedonen, was in diesem Fall keinen Satrapen meinen kann, da Makedonien nicht als Satrapie eingerichtet wurde.53 Mehrheitlich wird eine lockere Handhabung der achaimenidischen Kontrolle über das Argeadenreich angenommen, auch aufgrund der peripheren Lage.54 Die Priorität Makedoniens mag sich etwas relativiert haben, als es für Xerxes’ Hellaszug zu einer wichtigen Zwischenstation wurde, doch lassen sich keine persischen Repressalien fassen. Nicht einmal die makedonischen Handelsbeziehungen zu den Griechen scheinen beschränkt worden zu sein.55 Mit kurzer Unterbrechung stand das Argeadenreich für knapp drei Jahrzehnte unter persischem Einfluss; eine persische kulturelle Beeinflussung Makedoniens, gerade in punkto Hof und Herrschaftsrepräsentation, wird in der Forschung diskutiert.56 Alexander I., Sohn und Nachfolger Amyntas’ I., nutzte die Bindung an das Perserreich als Sprungbrett auf die politische Weltbühne. Er unterstützte Xerxes bei dessen Hellaszug 480/79 logistisch, militärisch und diplomatisch: Er war sein Gesandter an die Griechen.57 In dieser Zeit begann auch die argeadische Münzprägung.58 Auf einer von Alexanders Münzserien erschien ein makedonischer Reiter mit einem akinakes, einem persischen Kurzschwert, deutlich betont in der Faust.59 Verdiente Funktionäre konnten vom Großkönig einen goldenen akinakes als Ehrengeschenk bekommen.60 Vielleicht hatte auch Alexander diese Gabe erhalten. Der Reiter könnte entweder ihn selbst, eine ideale Personifikation seiner Herrscherwürde oder ein Sinnbild argeadischer Herrscherqualifikationen darstellen, wobei auch eine mehrdeutige Lesart mit fließenden Grenzen in Betracht zu ziehen ist.61
Dann verlor der mächtige persische Verbündete in Griechenland. Die makedonischen Truppen blieben bis zuletzt loyal, auch der persische Rückzug wurde in Makedonien nicht behindert.62 Doch auf Alexanders Münzen musste der akinakes des Reiters weichen, wurde erst diskret in eine Mantelfalte verwandelt und verschwand dann ganz.63 In einer diplomatischen Meisterleistung rettete Alexander sein Reich vor einer Strafaktion durch die griechischen Sieger, stilisierte sich zum persischen Zwangsverbündeten und natural born Greek und behauptete offenbar sogar, der griechische Sieg bei Plataiai sei eigentlich ihm zu verdanken gewesen.64 Eventuell kappte er seine guten Beziehungen zum Achaimenidenhof jedoch gar nicht; in den 460ern half er jedenfalls dem athenischen Politiker Themistokles bei dessen Flucht an den persischen Hof.65
Bis in die Zeit Philipps II., als erneut argeadisch-achaimenidische Kontakte belegt sind, klafft eine Lücke in der Überlieferung, was die Beziehungen zwischen Persien und Makedonien betrifft. Womöglich waren sie nicht eingeschlafen. Bis 341/40, als Philipp mit einem Vorstoß in die Interessenssphäre von Artaxerxes III. einen Konflikt heraufbeschwor,66 ist jedenfalls von Spannungen nichts zu hören. Vielmehr berichtet eine – indes umstrittene – Tradition von einem Bündnis zwischen Artaxerxes und Philipp.67 Die politischen Faktoren, die den Argeaden das Leben schwermachten, kamen vielmehr aus Griechenland.
Insbesondere die argeadisch-athenischen Beziehungen waren spannungsgeladen. Der erste historische Hinweis deutet eine Beziehung zwischen dem Argeadenhaus und den Peistratiden, der Tyrannendynastie in Athen vor der Etablierung der Demokratie, an. Amyntas I. offerierte dem gestürzten Tyrannen Hippias nach dessen Vertreibung 510 seine Hilfe, die aber nicht angenommen wurde.68 Es wird vermutet, dass schon zuvor argeadische Verbindungen zu Hippias’ Familie bestanden hatten, eventuell seitdem sich dessen Vater Peisistratos vor seiner Rückkehr nach Athen 546 im thrakisch-makedonischen Raum aufgehalten hatte.69
Alexander I. war ein proxenos (Gastfreund) und euergetes (Wohltäter) Athens – beides offizielle Ehrentitel, die Wohlwollen und Verpflichtungen auf beiden Seiten implizierten.70 Hintergrund waren vermutlich verbilligte Lieferungen von Schiffsbauholz.71 Nach dem Xerxeszug konnte Alexander sich und sein Reich durch geschmeidige Diplomatie aus der Affäre ziehen, indem er sich als Hellene in Olympia präsentierte,72 offenbar gute Beziehungen zu Argos unterhielt und als Stifter in Delphi auftrat. Frecherweise ließ er seine eigene Statue neben die griechische Siegesweihung aus der Beute von Salamis stellen, obwohl er zum Zeitpunkt der Schlacht Xerxes’ Verbündeter gewesen war.73 Alexander I. förderte griechische Künstler an seinem Hof – eine Tradition, die seine Nachfolger – und Alexander III. im erweiterten Umfang – fortführten.74
Als die persischen Truppen den thrakisch-makedonischen Raum verließen, rückten Thraker, Athener und Makedonen in das entstandene Vakuum nach. Alexander I. gelang es vermutlich, anscheinend ohne Konfrontationen, Teile der Bisaltia mit ihren Edelmetallminen zu beanspruchen.75
Die Zeiten änderten sich, als Athen in der Hochphase des ersten Seebunds in Nordgriechenland Fuß fasste und das makedonische Reich durch die Ausbreitung athenischer Einflusszonen gleichsam in einen Zangengriff nahm. Alexanders Sohn und Nachfolger, Perdikkas II., befand sich die meiste Zeit seiner Regierung im Kampf um die Autonomie seines Reichs. Er musste athenische Eingriffe in die Wirtschafts-, Innen- und Dynastiepolitik Makedoniens abwehren.76 Teilweise war er dabei mit Sparta verbündet; auch zu Argos hatte er weiterhin gute Beziehungen.