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Die Rebellion gegen die französische Regierung dauert nun schon über zwanzig Jahre. Paris ist so gut wie zerstört und die Überlebenden haben sich in den Untergrund zurückgezogen. Jeden Tag verrichtet Alice ihren Dienst hinter der Mauer, den Überresten der Kathedrale Notre Dame, um ihr Lager gegen Angriffe zu verteidigen. Doch eines Tages tut sich für sie eine Möglichkeit auf, in Frieden zu leben. Die Frage ist nur: Um welchen Preis?
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Alice hinter der Mauer
Eine Novelle von Anja Stephan
Copyright © 2019 Anja Stephan
c/o Papyrus Autoren-Club
R.O.M. Logicware GmbH
Pettenkoferstr. 16-18
10247 Berlin
Cover: Grit Richter, Art Skript Phantastik Design
unter der Verwendung folgender Bildmaterialien
Notre Dame: Photo by Barry Bibbs on Unsplash
Hase: Designed by Freepik
Lektorat: Melanie Schneider, Seitenreise
Lektorat und Korrektorat: Melanie Vogltanz
Alle Rechte vorbehalten.
ISBN: 978-3-750400139
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.
Alice schulterte das Repetiergewehr und trat hinaus in die Sonne. Sie blinzelte. Bei 30° Grad im Schatten hinter der Mauer sitzen und durch ein Zielfernrohr starren – das würde ein harter Tag werden. Sie ging um die Ruine der Kathedrale herum und sah einen dunkelhäutigen, schlanken Mann auf ihrem Posten sitzen. Er hob die Hand.
„Salut, Fabrice!“
Sie begrüßten sich mit Handschlag und Alice ging in Position. Sie blickte auf eine Häuserfront, die sie im Auge behalten sollten.
„Wir haben lange nicht mehr zusammengearbeitet“, stellte Fabrice fest.
„Stimmt.“ Alice lächelte ihn an. „Ich habe dich schon richtig vermisst.“
Er lachte. Freundschaftlich klopfte er ihr auf die Schulter. „Entspann dich. Heute wird nicht viel passieren.“
Natürlich nicht. Seit zwei Monaten herrschte Waffenstillstand. So lange hatten die Anführer es noch nie ausgehalten. Diese Abkommen waren schon so häufig vorgekommen, dass sie sich beim letzten nicht einmal hatten freuen können. Nachdem sie das erste Mal die Waffen niedergelegt hatten, hatte es nur vierundzwanzig Stunden gedauert, bis sie wieder zum Kampf gerufen worden waren.
„Diesmal sieht es sogar ganz gut aus, findest du nicht?“ Alice suchte die Gegend mit dem Zielfernrohr ab. Aber alles war still.
„Das hoffe ich doch“, sagte der Mann neben ihr und schaute durch sein Fernglas. Fabrice war nach Ausbruch des Krieges geboren und Alice war noch so klein gewesen, dass sie sich nicht an die Zeit davor erinnern konnte. „Es wäre mal Zeit, dass wir Frieden kennenlernen.“
Alice stimmte zu. „Kannst du dich noch an die Geschichten deiner Eltern erinnern? Wie sie erzählt haben, dass sie über den Platz hier geschlendert sind, Eis gegessen und am Ufer der Seine gesessen haben, nur so zum Spaß?“
Fabrice seufzte tief. „Und wie sie getanzt haben, wie sie Wein in gemütlichen Restaurants getrunken haben, ohne Angst zu haben, erschossen zu werden.“
Alice lachte.
Sie saßen hier jeden Tag, sechs bis acht Stunden, bei Wind und Wetter. Und das seit knapp zwei Jahrzehnten. Es hatte schon andere Kriege gegeben, auch in Paris. Aber keiner hatte so lange gedauert. Das wusste sie aus Büchern, die sie in der Bibliothek gelesen hatte.
Der Krieg hatte als Revolution begonnen. Das französische Volk war schon immer sehr demonstrationsfreudig gewesen, da war es nachvollziehbar, dass sie sich irgendwann gegen die Regierung auflehnen würden: ungerechte Löhne, Diskriminierung von Frauen, Obdachlosigkeit, schlechte Gesundheitsversorgung, Naturkatastrophen. Demonstrationen folgten, weltweit. Die Mächtigen hatten zu lange auf dem Rücken der Menschen gewirtschaftet, um sich selbst zu bereichern. Die Situation eskalierte, als Schüsse auf friedliche Demonstranten abgefeuert wurden. Es folgten Attentate auf Politiker, brennende Autos, Streiks und Gewaltausbrüche. Nachdem Notre Dame zerstört war, zogen sich viele Menschen in den Untergrund zurück. Es bildeten sich Lager, Forts, die ihre Position gegen die Streitkräfte der Regierung verteidigten.
Und Alice saß an der Mauer, jeden Tag. Seit zehn Jahren.
Fabrice ließ das Fernglas sinken und setzte sich neben sie, mit dem Rücken an die Mauer gelehnt.
„He! Pass gefälligst auf!“
„Ach, Alice! Sei nicht so. Entspann dich mal.“
Sie verdrehte genervt die Augen. „Entspannen kannst du dich, wenn du tot bist.“